49 Der Dunkle König rührt sich

Rand erwachte in der Morgendämmerung. Trüber Sonnenschein hatte seine Augenlider zum Prickeln gebracht, als die Sonne zögernd über die Baumwipfel der Fäule hinwegspähte. Selbst zu dieser frühen Stunde lastete die Hitze wie eine schwere Decke auf dem gepeinigten Land. Er lag auf dem Rücken, den Kopf auf der Deckenrolle, und blickte zum Himmel hinauf. Der Himmel war immer noch blau. Selbst hier schien er unberührt geblieben zu sein.

Überrascht stellte er fest, daß er tatsächlich geschlafen hatte. Eine Minute lang erschien ihm die verschwommene Erinnerung an ein belauschtes Gespräch wie der Teil eines Traumes. Dann sah er Nynaeves rotgeränderte Augen. Offensichtlich hatte sie nicht geschlafen. Lans Gesicht wirkte härter als je zuvor, als habe er sich wieder eine Maske aufgesetzt und denke nicht daran, sie je wieder abzunehmen.

Egwene ging hinüber und kauerte sich mit besorgtem Gesicht neben der Seherin nieder. Er konnte nicht verstehen, was sie sagten. Egwene sprach, und Nynaeve schüttelte den Kopf. Egwene sagte noch etwas, und Nynaeve bedeutete ihr mit einer Handbewegung, sie solle gehen. Statt dessen beugte sich Egwene noch weiter zu Nynaeves Kopf hinunter, und ein paar Minuten lang unterhielten sich die beiden Frauen ein wenig leiser als vorher. Nynaeve schüttelte wieder den Kopf. Die Seherin beendete die Unterhaltung mit einem kurzen Auflachen, umarmte Egwene und — nach ihrem Gesichtsausdruck zu schließen — beruhigte sie. Als Egwene sich dann erhob, sah sie den Behüter böse an. Lan schien es nicht zu bemerken; er blickte überhaupt nicht in Nynaeves Richtung.

Rand schüttelte den Kopf und las seine Siebensachen zusammen. Er wusch Gesicht und Hände hastig und putzte sich die Zähne mit dem wenigen Wasser, das ihnen Lan für solche Dinge zugestanden hatte. Er fragte sich, ob Frauen wohl die Gedanken der Männer erraten könnten. Der Gedanke war beunruhigend. Alle Frauen sind Aes Sedai. Dann sagte er sich, daß er wohl schon zu sehr unter dem Eindruck der Fäule stehe, spülte seinen Mund aus und beeilte sich, den Braunen zu satteln.

Es konnte einen erheblich durcheinanderbringen, wenn man bemerkte, daß ihr Lager verschwand, bevor er auch nur die Pferde erreicht hatte, aber als sein Sattelgurt festgezurrt war, erschien mit einem Schlag alles wieder, was sich auf der Hügelspitze befand. Jeder beeilte sich.

Die sieben Türme waren im Licht des Morgens klar zu erkennen, ferne, abgebrochene Stümpfe wie riesige, unregelmäßig geformte Hügel, die nur einen Schatten ihrer einstigen Größe darstellten. Die hundert Seen leuchteten in klarem, durch keine Welle unterbrochenen Blau. An diesem Morgen durchbrach nichts ihre Oberfläche. Wenn er die Seen und die Ruinen der Türme so betrachtete, war er fast in der Lage, die kränklichen Dinge zu ignorieren, die um den Hügel herum wuchsen. Lan schien den Anblick der Türme nicht zu meiden, genausowenig wie er den Anblick Nynaeves mied, aber irgendwie blickte er doch nie richtig hin und konzentrierte sich ganz darauf, ihren Aufbruch vorzubereiten.

Nachdem die Tragekörbe am Packpferd festgemacht waren, nachdem jeder Krümel und jeder Fleck und jede Spur beseitigt war und alle anderen auf ihren Pferden saßen, stellte sich die Aes Sedai mitten auf die Hügelspitze, schloß die Augen und schien nicht einmal mehr zu atmen. Es geschah nichts, das Rand hätte sehen können — nur Nynaeve und Egwene zitterten trotz der Hitze und rieben sich heftig die Arme, als wollten sie sich aufwärmen. Egwenes Hände erstarrten plötzlich auf ihren Unterarmen, und sie öffnete den Mund und sah die Seherin an. Bevor sie etwas sagen konnte, hörte Nynaeve ebenfalls mit dem Reiben auf und blickte sie scharf an. Die beiden Frauen sahen sich an, und dann nickte Egwene und grinste, und einen Moment später tat Nynaeve es ihr gleich, auch wenn ihr Lächeln eher halbherzig wirkte.

Rand fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, das bereits mehr vom Schweiß durchnäßt war als von dem Wasser, das er daraufgespritzt hatte. Er war sicher, an diesem lautlosen Gedankenaustausch war etwas, das er verstehen sollte, aber die federleichte Berührung in seinem Geist verging, bevor er weiter darauf eingehen konnte.

»Worauf warten wir noch?« wollte Mat wissen. Er hatte sich den Schal wieder um die Stirn gewickelt. Sein Bogen war über das Sattelhorn gelegt, und einen Pfeil lag schußbereit auf der Sehne. Den Köcher hatte er an seinem Gürtel nach vorn gezogen, damit er ihn leichter erreichen konnte.

Moiraine öffnete die Augen und blickte den Hügel hinunter. »Damit ich die letzten Überreste dessen beseitigen konnte, was ich gestern abend hier tat. Sie wären wohl auch im Verlauf eines Tages von allein verflogen, aber ich werde jetzt kein Risiko mehr eingehen, das ich vermeiden kann. Wir sind zu nahe, und der Schatten ist hier zu stark. Lan?«

Der Behüter wartete nur lange genug, damit sie sich in Aldiebs Sattel zurechtsetzen konnte, und führte sie dann nach Norden auf die Berge des Verderbens zu, die unweit von ihnen aufragten. Selbst im Sonnenaufgang wirkten die Gipfel schwarz und leblos wie Zahnstümpfe. Sie erstreckten sich wie eine riesige Wand nach Osten und nach Westen — soweit sie sehen konnten.

»Werden wir heute noch das Auge erreichen, Moiraine Sedai?« fragte Egwene.

Die Aes Sedai sah Loial von der Seite her an. »Ich hoffe schon. Als ich es damals entdeckte, befand es sich gleich auf der anderen Seite der Berge, am Fuß der hohen Pässe.«

»Er sagt, es bewegt sich«, sagte Mat und nickte in Richtung Loial. »Was ist, wenn es sich gar nicht dort befindet, wo du glaubst?«

»Dann werden wir weitersuchen, bis wir es finden. Der Grüne Mann fühlt die Not, und es kann wohl keine größere Not geben als die unsere. Unsere Not ist die Hoffnung der Welt.«

Als die Berge näherrückten, kamen sie auch der eigentlichen Großen Fäule näher. Wo vorher die Blätter schwarz und gelb gefleckt ausgesehen hatten, da fielen sie jetzt schwer und feucht unter ihrem eigenen Gewicht faulend zu Boden. Die Bäume selbst waren gequälte, verkrüppelte Dinge mit verdrehten Ästen, die sich dem Himmel entgegenstreckten, als bäten sie eine Macht um Gnade, die sich weigerte, ihre Bitte zu erhören. Schleim rann wie Eiter aus aufgesprungener Rinde. Die Bäume zitterten von der Erschütterung durch die vorbeitrabenden Pferde, als sei an ihnen nichts wirklich Festes mehr.

»Sieht aus, als wollten sie nach uns greifen«, sagte Mat nervös. Nynaeve sah ihn aufgebracht und zornig an, worauf er heftig hinzufügte: »Na ja, sie sehen eben so aus!«

»Und einige davon wollen das tatsächlich«, sagte die Aes Sedai. Einen Augenblick lang wirkten ihre nach hinten gerichteten Augen härter als die Lans. »Aber sie wollen absolut nichts von mir, und meine Gegenwart schützt euch.«

Mat lachte unsicher, als glaube er, sie habe gescherzt. Rand war sich da nicht so sicher. Dies war schließlich die Fäule. Aber Bäume bewegen sich nicht. Warum sollte ein Baum einen Menschen ergreifen, selbst wenn er es könnte? Wir bilden uns doch so was nur ein, und sie will uns lediglich wachsam halten.

Blitzschnell blickte er nach links hinüber, in den Wald hinein. Dieser Baum, kaum zwanzig Schritt entfernt, hatte gezittert, und das entsprang nicht seiner Einbildung. Er wußte nicht, welche Art von Baum das war oder gewesen war, so verdreht und gequält war seine Gestalt. Noch während er ihn betrachtete, ruckte der Baum wieder vor und zurück und neigte sich dann. Die Äste peitschten den Boden. Etwas schrie schrill und durchdringend. Der Baum richtete sich mit einem Ruck wieder auf. Seine Äste hatten sich um eine dunkle Masse geschlossen, die sich wand und fauchte und schrie.

Er schluckte heftig und bemühte sich, den Braunen wegzulenken, aber auf jeder Seite standen Bäume, und alle bebten nun. Der Braune rollte die Augen, bis man nur noch das Weiße darin sah. Rand befand sich inmitten eines wirren Knäuels von Pferden, da alle anderen dasselbe versuchten wie er. »Bewegt Euch!« befahl Lan und zog sein Schwert. Der Behüter trug nun seine stahlverstärkten Handschuhe und sein graugrünes Schuppenhemd. »Bleibt bei Moiraine Sedai!« Er riß Mandarb herum, nicht in Richtung des Baumes und seiner Beute, sondern in entgegengesetzter Richtung. Mit seinem farbverändernden Umhang wurde sein Anblick bereits von der Fäule verschlungen, bevor der schwarze Hengst außer Sicht war.

»Näher«, forderte Moiraine die anderen auf. Sie ließ ihre weiße Stute den Schritt nicht verlangsamen, bedeutete aber den anderen, sich dicht bei ihr zu halten. »Haltet euch so nahe wie möglich bei mir.«

Ein Brüllen erhob sich aus der Richtung, in die der Behüter geritten war. Es ließ Luft und Bäume erzittern, und als es verflog, hallte ein Echo nach. Dann erklang das Brüllen wieder, erfüllt von Wut und Tod.

»Lan«, sagte Nynaeve. »Er... «

Der schreckliche Laut schnitt ihr das Wort ab, doch es lag ein neuer Klang darin: Angst. Mit einem Schlag verstummte er.

»Lan kann auf sich selbst aufpassen«, sagte Moiraine. »Reitet, Seherin!«

Zwischen den Bäumen tauchte der Behüter wieder auf. Er hielt das Schwert am ausgestreckten Arm — weg von sich und seinem Roß. Schwarzes Blut klebte an der Klinge, und Dampf stieg davon auf. Sorgfältig wischte Lan die Klinge mit einem Tuch ab, das er einer Satteltasche entnahm. Er betrachtete den Stahl eingehend, um sicher zu sein, daß er jeden Fleck erreicht hatte. Als er das Tuch fallenließ, zerfiel es, bevor es den Boden berührte, und selbst die einzelnen Fetzen lösten sich noch auf.

Lautlos sprang ein massiger Körper zwischen den Bäumen hindurch auf sie zu. Der Behüter riß Mandarb herum, doch in dem Moment, als sich das Streitroß aufbäumte, bereit, mit stahlbewehrten Hufen loszuschlagen, zischte Mats Pfeil an ihnen vorbei und durchbohrte das einzige Auge in einem Kopf, der im wesentlichen aus Rachen und Zähnen bestand. Das Ding fiel zuckend und schreiend einen Sprung weit von ihnen entfernt zu Boden. Rand betrachtete das Ding, als sie vorbeihasteten. Es war bedeckt von einem borstigsteifen Pelz, und es besaß entschieden zu viele Beine, die in eigenartigen Winkeln aus einem Körper hervorwuchsen, der so groß war wie der eines Bären. Einige dieser Gliedmaßen zumindest — die aus seinem Rücken herausragten — waren zum Laufen nicht zu gebrauchen, aber die fingerlangen Klauen an ihren Enden wühlten die Erde im Todeskampf auf.

»Guter Schuß, Schafhirte.« Lans Augen hatten bereits vergessen, was hinter ihnen lag, und suchten den Wald ab. Moiraine schüttelte den Kopf. »Es hätte eigentlich nicht freiwillig jemandem so nahe kommen sollen, der Kraft aus der Wahren Quelle schöpft.«

»Agelmar sagte, daß sich in der Fäule einiges rührt«, meinte Lan dazu. »Vielleicht spürt auch die Fäule, daß sich im Großen Muster ein neues Gewebe formt.«

»Beeilt euch!« Moiraine grub die Fersen in Aldiebs Flanken. »Wir müssen die oberen Pässe schnell überqueren.«

Doch noch während sie sprach, erhob sich die Fäule gegen sie. Bäume peitschten mit ihren Ästen, versuchten, sie zu erreichen, und sie kümmerten sich nicht darum, ob Moiraine die Wahre Quelle berührte oder nicht. Rand hielt sein Schwert in der Hand. Er erinnerte sich nicht daran, es gezogen zu haben. Er schlug immer wieder zu. Die Klinge mit dem Reiherzeichen durchschnitt faulende Zweige. Hungrige Äste zuckten als abgehackte, sich windende Stümpfe zurück — er glaubte beinahe, sie schreien zu hören -, aber immer neue kamen, wanden sich wie Schlangen, versuchten, sich um seine Arme, seine Taille, seinen Hals zu wickeln. Die Zähne in starrem Knurren gefletscht, suchte er das Nichts und fand es in dem steinigen, zähen Erdboden der Zwei Flüsse.

»Manetheren!« Er schrie es den Bäumen zu, bis sein Hals schmerzte. Die Klinge mit dem Reiherzeichen blitzte im kraftlosen Sonnenschein. »Manetheren! Manetheren!«

Mat stand in den Steigbügeln und sandte einen Pfeil nach dem anderen in den Wald, zielte auf verformte Gestalten, die knurrten und unzählige Zähne auf den Pfeilen zerbissen, die sie töteten, schoß auf die klauenbewehrten Umrisse, die sich über die Gestürzten hinwegquälten, um die berittenen Figuren zu erreichen. Auch Mat nahm die Welt um sich herum nicht mehr richtig wahr. »Carai an Caldazar!« schrie er, während er die Sehne an die Wange zog und losließ. »Carai an Ellisande! An Ellisande! Mordero daghain pas duente cuebiyar! An Ellisande!«

Auch Perrin stand in den Steigbügeln, schweigend und ernst. Er hatte die Führung übernommen, und seine Axt hieb ihnen einen Pfad durch Holz und faulendes Fleisch, was auch immer sich vor ihnen befand. Um sich schlagende Bäume und jaulende Wesen scheuten vor dem stämmigen Axtträger zurück, sowohl vor den wilden goldenen Augen als auch vor der durch die Luft pfeifenden Axt. Er zwang sein Pferd entschlossen vorwärts, Schritt für Schritt.

Feuerbälle schossen aus Moiraines Händen hervor, und wo sie aufkamen, da wurde ein sich windender Baum zur Fackel, da schrie eine zahnbewehrte Gestalt auf und schlug mit menschlichen Händen auf sich ein, zerkratzte das eigene brennende Fleisch mit grimmen Klauen, bis es verendete.

Wieder und wieder lenkte der Behüter Mandarb zwischen die Bäume. Seine Klinge und Handschuhe trieften von blasenschlagendem, dampfendem Blut. Wenn er nun zurückkehrte, sah man häufiger Risse in seinem Schuppenpanzer und blutende Kratzer in seiner Haut, und auch sein Streitroß stolperte und blutete. Jedesmal hielt die Aes Sedai inne und legte ihre Hände auf seine Wunden, und wenn sie sie wieder wegnahm, war nur das Blut auf heiler Haut zurückgeblieben. »Ich entzünde Signalfeuer für die Halbmenschen«, sagte sie in bitterem Tonfall. »Weiter voran! Weiter voran!« Langsam, Schritt für Schritt, kamen sie vorwärts.

Wenn die Bäume nicht so blindwütig auf die gesamte Masse angreifenden Fleisches und nicht nur auf die Menschen eingeschlagen hätten, wenn die Kreaturen, von denen keine der anderen glich, nicht auch gegen die Bäume und die anderen ihrer Art gekämpft hätten, sondern ausschließlich gegen die Menschen, dann — da war Rand sicher — wären sie überwältigt worden. Er war aber keineswegs sicher, ob das nicht doch noch geschehen würde. Dann erhob sich hinter ihnen ein flötenartiger Schrei. Fern und dünn drang er durch das Fauchen der Bewohner der Fäule um sie herum. Das Fauchen und Knurren war mit einem Schlag beendet — wie mit einem Messer abgeschnitten. Die angreifenden Gestalten erstarrten; die Bäume verharrten bewegungslos. So plötzlich, wie die Dinge mit den vielen Beinen aufgetaucht waren, verschwanden sie auch wieder in den verkrüppelten Wald hinein.

Der schrille Ton erklang erneut, wie eine gesprungene Hirtenflöte, und wurde von einem ganzen Chor der gleichen Art begrüßt. Ein halbes Dutzend, die vor sich hin sangen — weit hinter dem ersten.

»Würmer«, sagte Lan grimmig, was Loial zum Aufstöhnen brachte. »Sie haben uns eine Pause verschafft, falls wir Zeit genug haben, sie zu nutzen.« Seine Augen maßen die Entfernung zu den Bergen. »Wenige Dinge in der Fäule werden sich einem Wurm entgegenstellen, wenn es vermieden werden kann.« Er grub die Fersen in Mandarbs Flanken. »Reitet!« Die ganze Gesellschaft galoppierte hinter ihm her durch eine Fäule, die ihnen plötzlich wirklich tot erschien, außer natürlich, was das Flöten hinter ihnen betraf.

»Sie wurden von den Würmern verscheucht?« fragte Mat ungläubig. Er hüpfte im Sattel auf und ab und versuchte, sich den Bogen über den Oberkörper zu hängen.

»Ein Wurm« — die Art, wie der Behüter das aussprach, klang ganz anders als bei Mat — »kann einen Blassen töten, falls der Blasse nicht alles Glück des Dunklen Königs auf seiner Seite hat. Wir haben ein ganzes Rudel auf den Fersen. Reitet! Reitet!« Die dunklen Gipfel waren nun näher. Eine Stunde, schätzte Rand, bei dem Tempo, das der Behüter anschlug.

»Werden uns die Würmer nicht in die Berge folgen?« fragte Egwene atemlos, und Lan lachte bitter.

»Das werden sie nicht. Die Würmer haben Angst vor dem, was auf den oberen Pässen lauert.« Loial stöhnte wieder.

Rand wünschte, der Ogier würde damit aufhören. Es war ihm durchaus klar, daß der Ogier mehr über die Fäule wußte als alle außer Lan, selbst wenn es nur aus Büchern stammte, die er in der Sicherheit des Steddings gelesen hatte. Aber warum muß er mich immer daran erinnern, daß noch Schlimmeres auf uns wartet als das, was wir bereits gesehen haben?

Die Fäule flog an ihnen vorbei. Unkraut und Gras klatschte fauligzäh unter den galoppierenden Hufen. Bäume von der Art, die sie zuvor angegriffen hatten, zuckten noch nicht einmal, selbst wenn sie direkt unter ihren verdrehten Zweigen einherritten. Die Berge des Verderbens füllten den Himmel vor ihnen, schwarz und kahl und fast schon nahe genug, um sie zu berühren, so schien es. Das Flöten klang scharf und klar, und hinter ihnen erklangen matschige Geräusche, lauter als von den Dingen, die unter den Pferdehufen zerquetscht wurden. Zu laut; als würden die halbverfaulten Bäume von riesigen Körpern zerdrückt, die über sie hinwegglitten. Zu nahe. Rand blickte nach hinten. Dort hinten bäumten sich die Baumwipfel auf und wurden wie Gras niedergedrückt. Es ging langsam aufwärts, auf die Berge zu, in einem Winkel, der ihm sagte, daß ihr Aufstieg begann.

»Wir schaffen es nicht«, verkündete Lan. Er hielt Mandarbs Galopp nicht zurück, hatte aber plötzlich wieder sein Schwert in der Hand. »Sei auf den Paßhöhen besonders vorsichtig, Moiraine, dann kommst du durch.«

»Nein, Lan!« rief Nynaeve.

»Schweig, Mädchen! Lan, selbst du kannst kein Wurmrudel aufhalten. Ich lasse das nicht zu. Ich brauche dich am Auge.«

»Pfeile«, rief Mat atemlos.

»Die Würmer würden sie nicht einmal fühlen«, schrie der Behüter. »Man muß sie in Stücke hacken. Sie fühlen nicht viel — nur Hunger. Manchmal Angst.«

Rand klammerte sich furchtsam an seinen Sattel. Er zuckte die Achseln in dem Versuch, die Verspannung seiner Schultern zu lösen. Sein ganzer Brustkorb war im Griff einer eisernen Klammer, so daß er kaum atmen konnte, und seine Haut schmerzte unter heißen Nadelstichen. Die Fäule hatte sich zu einem niedrigen Vorgebirge gewandelt. Er konnte den Weg sehen, den sie emporklimmen mußten, sobald sie die Berge erreicht hatten; einen sich windenden Pfad und die Paßhöhe an seinem Ende. Der Paß sah aus, als habe eine Axt den schwarzen Fels gespalten. Licht, was ist dort droben, das sogar die hinter uns das Fürchten lehren kann? Licht, hilf mir, ich habe noch nie solche Angst gehabt! Ich will nicht weiter dort hinauf. Nicht weiter! Er suchte die Flamme und das Nichts und schimpfte dabei auf sich selbst. Narr! Angsthase! Feiger Narr! Du kannst nicht hierbleiben, und du kannst nicht zurück. Willst du Egwene im Stich lassen, damit sie alledem allein gegenüber steht? Das Nichts entwich ihm, formte sich, zerplatzte in tausend Lichtpunkte, formte sich erneut und zerbrach wieder. Jeder Lichtpunkt brannte sich in seine Knochen ein, bis er vor Schmerz zitterte und glaubte, er müsse zerbersten. Licht, hilf mir, ich kann nicht weiter! Licht, hilf mir!

Er straffte schon die Zügel des Braunen, um ihn wenden zu lassen und sich den Würmern und allem zu stellen, nur nicht dem, was vor ihm lag, als sich der Charakter der Landschaft veränderte. Zwischen einem Hügelabhang und dem nächsten, zwischen Kamm und Gipfel, war die Fäule verschwunden.

Grüne Blätter verdeckten friedlich sich ausbreitende Äste. Wildblumen bildeten einen bunten Fleckenteppich in Gras, das von einer süßduftenden Frühlingsbrise bewegt wurde. Schmetterlinge flatterten von Blüte zu Blüte, zusammen mit summenden Bienen, und Vögel zwitscherten ihre Lieder.

Mit offenem Mund galoppierte er weiter, bis ihm plötzlich zu Bewußtsein kam, daß Moiraine und Lan und Loial und die anderen angehalten hatten. Langsam brachte er den Braunen zum Stehen, das Gesicht in Erstaunen erstarrt. Egwene fielen beinahe die Augen aus dem Kopf, und Nynaeves Kinnlade hing herunter. »Wir sind in Sicherheit«, sagte Moiraine. »Das ist der Wohnort des Grünen Mannes, und das Auge der Welt befindet sich auch hier. Nichts aus der Fäule kann hier eindringen.«

»Ich dachte, es sei auf der anderen Seite der Berge«, nuschelte Rand. Er konnte die Gipfel noch sehen, die den Horizont im Norden füllten, und die Pässe dazu. »Ihr sagtet, es sei immer jenseits der Pässe.«

»Dieser Ort«, sagte eine tiefe Stimme von den Bäumen her, »ist immer, wo er ist. Alles was sich ändert, ist der Ort, an dem sich die befinden, die ihn in Not suchen.«

Eine Gestalt trat aus dem Laub hervor, menschlich geformt, doch um so vieles größer als Loial, wie dieser Rand überragte. Eine menschliche Gestalt aus verwobenen Ranken und Blättern, grün und wachsend. Sein Haar war Gras, das bis auf die Schultern herunter fiel; seine Augen waren riesige Haselnüsse; seine Fingernägel Eicheln. Sein Hemd und seine Hose bestanden aus grünen Blättern, seine Stiefel aus glatter Rinde. Schmetterlinge umflatterten ihn, setzten sich auf seine Finger, seine Schultern, sein Gesicht. Nur eine Sache verhinderte die blumige Perfektion: Ein tiefer Riß zog sich über seine Wange, durch die Schläfe und über den Kopf, und dort waren die Ranken braun und verwelkt.

»Der Grüne Mann«, flüsterte Egwene, und das zernarbte Gesicht lächelte. Einen Moment lang schien es, als sängen die Vögel lauter.

»Natürlich bin ich das. Wer sonst würde sich wohl hier befinden?« Die Haselnußaugen betrachteten Loial. »Es ist gut, dich zu sehen, kleiner Bruder. In der Vergangenheit kamen viele von euch, mich zu besuchen, doch in jüngster Zeit nur noch wenige.«

Loial kletterte von seinem großen Pferd und verbeugte sich höflich. »Du ehrst mich, Baumbruder. Tsingu ma choshih, T'ingshen.«

Lächelnd legte der Grüne Mann einen Arm um die Schultern des Ogiers. Neben Loial wirkte er wie ein Mann neben einem Jungen. »Es sind keine Ehrenbezeugungen nötig, kleiner Bruder. Wir werden zusammen Baumlieder singen und uns an die Großen Bäume und die Stedding erinnern, und wir werden uns der Sehnsucht verweigern.«

Er betrachtete die anderen, die jetzt gerade von den Pferden stiegen, und sein Blick ruhte auf Perrin. »Ein Wolfsbruder! Werden die alten Zeiten wirklich wieder wahr?«

Rand starrte Perrin an. Perrin wandte sein Pferd um, so daß es sich zwischen ihm und dem Grünen Mann befand, und beugte sich nieder, um den Gurt zu überprüfen. Rand war sicher, daß er lediglich den forschenden Blick des Grünen Mannes meiden wollte. Plötzlich sprach der Grüne Mann Rand an: »Seltsame Kleider trägst du, Kind des Drachens. Hat sich das Rad schon so weit gedreht? Kehrt das Drachenvolk wieder zum Ersten Pakt zurück? Aber du trägst ein Schwert. Das gehört weder der Gegenwart noch der Vergangenheit an.«

Rand mußte erst wieder Speichel im Mund sammeln, bevor er zu sprechen in der Lage war. »Ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht. Was meint Ihr damit?«

Der Grüne Mann berührte die braune Narbe an seinem Kopf. Einen Augenblick lang schien er verwirrt. »Ich... kann es nicht sagen. Meine Erinnerungen sind zerrissen und oft nur flüchtig, und viel von dem, was noch übrig ist, ist wie ein Blatt, das von Raupen besucht wurde. Und doch bin ich sicher... Nein, es ist wieder weg. Aber du bist hier willkommen. Du, Moiraine Sedai, bist mehr als eine Überraschung für mich. Als dieser Ort geschaffen wurde, wurde er so geschaffen, daß niemand ihn zweimal finden konnte. Wie bist du hierher gekommen?«

»Not«, antwortete Moiraine. »Meine Not, die Not der Welt. Vor allem ist es die Welt, die in Not ist. Wir sind gekommen, um das Auge der Welt zu sehen.«

Der Grüne Mann seufzte. Der Wind seufzte durch dicht beblätterte Zweige. »Dann ist es wieder geschehen. Diese Erinnerung ist vollständig. Der Dunkle König rührt sich. Ich habe das befürchtet. Mit jedem Jahreswechsel versucht die Fäule energischer, hier einzudringen, und dieses Mal war der Kampf, sie fernzuhalten, härter als je zuvor seit Anbeginn. Kommt, ich werde euch hinbringen.«

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