44 Dunkelheit über den kurzen Wegen

In der Dunkelheit kurz vor Beginn der Dämmerung folgte Rand Moiraine hinunter zum rückwärtigen Flur, wo Meister Gill und die anderen bereits warteten. Nynaeve und Egwene wirkten genauso ängstlich wie Loial, während Perrin ebenso ruhig erschien wie der Behüter. Mat blieb Rand auf den Fersen, als habe er Angst davor, auch nur ein wenig allein zu sein, auch nur wenige Schritte entfernt zurückgelassen zu werden. Die Köchin und ihre Helferinnen richteten sich auf und sahen neugierig zu, wie die Gesellschaft leise in die Küche ging, die bereits hell erleuchtet war und wo die Frühstücksvorbereitungen auf vollen Touren liefen. Es war nichts Ungewöhnliches, daß zu dieser Stunde bereits Gäste auf den Beinen und unterwegs waren. Meister Gill sagte etwas Beruhigendes, und die Köchin schniefte vernehmlich und klatschte ihren Teig kraftvoll auf den Tisch. Sie waren alle bereits wieder damit beschäftigt, Backbleche einzufetten und Teig zu kneten, als Rand die Tür zum Stallhof erreichte.

Draußen herrschte immer noch pechschwarze Nacht. Rand nahm die anderen höchstens als noch dunklere Schatten wahr. Er folgte blind dem Wirt und Lan und hoffte, Meister Gills Kenntnis seines eigenen Stallhofs und Lans Instinkt würden sie hinüberbringen, ohne daß sich irgend jemand ein Bein brach. Loial stolperte mehr als einmal.

»Ich sehe nicht ein, warum wir nicht wenigstens ein kleines Licht mitführen sollten«, murrte der Ogier. »Im Stedding rennen wir auch nicht einfach in der Dunkelheit herum. Ich bin ein Ogier und keine Katze.« Rand stellte sich vor, wie Loials behaarte Ohren dabei nervös zuckten.

Plötzlich ragte der Stall in der Nacht vor ihnen auf -eine bedrohlichdunkle Masse, bis die Stalltür sich knarrend öffnete und sich ein schmaler Lichtstreifen in den Hof ergoß. Der Wirt öffnete sie nur gerade so weit, daß sie sich einzeln hindurchschieben konnten, und schloß sie hastig wieder hinter Perrin, dem er beinahe noch die Fersen eingequetscht hätte. Rand blinzelte in das unvermittelt helle Licht im Inneren.

Die Stallburschen waren bei ihrem Erscheinen nicht so überrascht wie die Köchin. Ihre Pferde waren bereits gesattelt und warteten. Mandarb stand arrogant da und beachtete niemanden außer Lan, aber Aldieb streckte die Nase in Moiraines Hand. Da standen noch ein Packpferd, das mit seinen auf beiden Seiten herunterhängenden Transportkörben unförmig wirkte, und ein riesiges Tier mit langem, zotteligem Haar selbst an den Fesseln -größer noch als der Hengst des Behüters -, das für Loial bestimmt war. Es sah groß genug aus, um ganz allein einen vollbeladenen Heuwagen zu ziehen, doch verglichen mit dem Ogier war es ein Pony.

Loial beäugte das große Pferd und murmelte zweifelnd: »Meine eigenen Füße sind bisher immer gut genug gewesen.«

Meister Gill winkte Rand heran. Der Wirt lieh ihm einen Braunen, der beinahe dieselbe Haarfarbe aufwies wie Rand selbst, mit großem, kräftigem Körperbau, jedoch — Rand war froh, das zu sehen — ohne das Feuer im Gang wie bei Wolke. Meister Gill sagte, er hieße Roter. Egwene ging geradewegs zu Bela hinüber und Nynaeve zu ihrer hochbeinigen Stute. Mat führte seinen Grauen zu Rand herüber. »Perrin macht mich nervös«, meinte er leise. Rand sah ihn durchdringend an. »Na ja, er benimmt sich so komisch. Merkst du das nicht auch? Ich schwöre dir, daß es keine Einbildung ist, oder... oder... «

Rand nickte. Dem Licht sei Dank, daß es nicht schon wieder der Dolch ist, der von ihm Besitz ergreift. »Das stimmt, Mat, aber nimm es nicht so schwer. Moiraine weiß Bescheid über... was es auch ist. Perrin geht es gut.« Er wünschte, er könne das glauben, aber Mat schien sich damit zufriedenzugeben, fürs erste jedenfalls.

»Natürlich«, beteuerte Mat schnell, während er Perrin aus den Augenwinkeln beobachtete. »Ich habe ja auch nie behauptet, er fühle sich nicht wohl.«

Meister Gill beriet sich mit dem Stallmeister. Der Mann mit der gegerbten Haut, dessen Gesicht auch an ein Pferd erinnerte, hob das Handgelenk an die Stirn und eilte zur Rückseite des Stalles. Der Wirt wandte sich mit einem zufriedenen Lächeln auf dem runden Gesicht an Moiraine. »Ramey sagt, daß der Weg frei ist, Aes Sedai.«

Die Rückwand des Stalles schien solide und stark gebaut. Schwere Gestelle zum Aufhängen von Geräten standen vor ihr. Ramey und ein weiterer Stallbursche räumten die Rechen, Harken und Schaufeln zur Seite und faßten dann hinter die Gestelle, um verborgene Riegel wegzuschieben. Plötzlich schwang ein ganzer Teil der Wand an so gut verborgenen Angeln nach innen, daß Rand noch nicht einmal sicher war, er könne sie auch jetzt, bei geöffneter Geheimtür, finden. Der Lichtschein aus dem Stall beleuchtete eine Ziegelsteinwand nur ein paar Schritte vor ihnen.

»Es ist nur ein schmaler Durchgang zwischen den Gebäuden«, sagte der Wirt, »aber außerhalb dieses Stalles kann niemand sehen, daß es von hier aus einen Weg da hinein gibt. Weißmäntel oder weiße Abzeichen — es wird keine Beobachter geben, die sehen, wo Ihr herauskommt.«

Die Aes Sedai nickte. »Denkt daran, guter Wirt, falls Ihr befürchtet, deswegen in Schwierigkeiten zu kommen, dann schreibt an Sheriam Sedai von der Blauen Ajah in Tar Valon, und sie wird Euch helfen. Ich fürchte, meine Schwestern und ich haben bereits eine Menge gutzumachen an denjenigen, die mir geholfen haben.«

Meister Gill lachte. Es war nicht das Lachen eines besorgten Mannes. »Aber, Aes Sedai, Ihr habt mir doch schon die einzige Schenke in Caemlyn verschafft, in der es keine Ratten gibt. Was kann ich mir sonst noch wünschen? Damit allein kann ich die Zahl meiner Gäste verdoppeln.« Sein Grinsen verflog, und er wurde ernst. »Was immer Ihr auch vorhabt: Die Königin hält zu Tar Valon, und ich halte zur Königin, und so wünsche ich Euch Glück. Das Licht leuchte Euch, Aes Sedai. Das Licht leuchte Euch allen.«

»Das Licht leuchte auch Euch, Meister Gill«, antwortete Moiraine, und sie nickte ihm zu. »Aber wenn das Licht auf uns scheinen soll, dann müssen wir uns nun beeilen.« Sie wandte sich kurz und bündig an Loial. »Bist du bereit?«

Nach einem mißtrauischen Blick auf das Gebiß des Pferdes nahm der Ogier die Zügel des großen Tieres in die Hand. Er bemühte sich, das Pferdegebiß auf Zügellänge von seiner Hand entfernt zu halten. So führte er das Tier zu der Öffnung in der Stallrückwand. Ramey hüpfte vor Ungeduld von einem Fuß auf den anderen. Er wollte die Tür wieder schließen. Einen Moment lang hielt Loial mit schräggehaltenem Kopf inne, als spüre er einen Lufthauch auf seiner Wange. »Hier entlang«, sagte er und bog in den schmalen Durchgang ein.

Moiraine folgte gleich hinter Loial. Danach kam Rand, dann Mat. Rand war als erster dran, das Packpferd zu führen. Nynaeve und Egwene bildeten den Mittelteil der Gruppe, Perrin kam dahinter, und am Ende ritt Lan. Die verborgene Tür schloß sich hastig, sobald Mandarb in den Schmutz der Gasse geschritten war. Das Klick-Klack der vorgeschobenen Riegel, das sie von der Schenke abschnitt, klang für Rand unnatürlich laut.

Der Durchgang, wie ihn Meister Gill genannt hatte, war tatsächlich sehr eng und noch dunkler als der Stallhof, falls das überhaupt möglich war. Auf beiden Seiten befanden sich hohe Ziegelsteinmauern oder Holzwände, und über ihnen war nur ein schmaler Streifen Himmel zu erkennen. Die großen, grobgeflochtenen Körbe, die man dem Packpferd umgeschnallt hatte, schabten zu beiden Seiten an den Gebäuden entlang. Die Körbe waren voll von Vorräten für ihre Reise. Vor allem Tonkrüge mit Öl befanden sich darinnen. Ein Bündel Stangen war der Länge nach auf den Rücken des Pferdes geschnallt, und an jedem Ende baumelte eine Laterne. In den Kurzen Wegen, so hatte Loial gesagt, sei es dunkler als in der dunkelsten Nacht.

In den zum Teil gefüllten Laternen schwappte das Öl bei jeder Bewegung des Pferdes, und sie schlugen mit einem blechernen Geräusch gegeneinander. Es war kein sehr lautes Geräusch, doch in der Stunde vor Beginn der Dämmerung herrschte in Caemlyn Stille. Die gedämpften, metallischen Geräusche klangen, als könne man sie eine Meile weit hören.

Als der Durchgang sie schließlich auf eine Straße hinausführte, wählte Loial ohne Zögern eine Richtung. Er schien nun genau zu wissen, wohin er sich wenden mußte, als werde ihm die Strecke, der er folgen mußte, immer klarer. Rand verstand nichts wie der Ogier das Wegetor finden konnte, und Loial hatte es auch nicht richtig erklären können. Er wußte es einfach, sagte er; er könne es fühlen. Loial behauptete, es sei genauso schwer wie zu erklären, auf welche Weise er atme.

Als sie die Straße schnell hinaufritten, blickte Rand zurück in die Richtung, wo Der Königin Segen lag. Wie Lambgwin behauptet hatte, befanden sich immer noch ein halbes Dutzend Weißmäntel nicht weit von der nächsten Ecke entfernt. Sie konzentrierten sich ganz auf die Schenke, doch ein lautes Geräusch würde sie schnell aufmerksam machen. Zu dieser Stunde befand sich niemand draußen, jedenfalls nicht aus einem anständigen Anlaß. Die Hufeisen klangen wie Glocken auf dem Pflaster. Die Laternen klapperten, als schüttle sie das Packpferd mit Absicht. Er hörte erst auf sich umzusehen, als sie eine weitere Ecke hinter sich hatten. In dem Moment hörte er auch die erleichterten Seufzer der anderen Emondsfelder.

Loial schien den direktesten Weg zum Wegetor zu wählen, wo auch immer er sie hinführte. Manchmal ritten sie breite Straßen entlang, die bis auf einen gelegentlichen Hund, der sich im Dunklen herumtrieb, leer waren. Manchmal trabten sie durch enge Gassen, die genauso schmal waren wie der Durchgang hinter dem Stall, wo Dinge unter den unbedachten Tritten der Pferde zermatscht wurden. Nynaeve beklagte sich leise über die davon herrührenden Gerüche, aber keiner ritt deswegen langsamer.

Die Dunkelheit wich allmählich und wandelte sich zu einem dunklen Grau. Über den Dächern im Osten war der Himmel gesprenkelt von dem ersten schwachen Lichtschimmer der Dämmerung. Ein paar Leute erschienen auf den Straßen, der Morgenkälte wegen vermummt, die Köpfe gesenkt und mit den Gedanken noch im Bett. Die meisten achteten nicht auf andere. Nur eine Handvoll warf einen Blick auf die von Loial angeführte Reihe der Menschen und Pferde, und nur einer davon nahm sie wirklich wahr.

Dieser eine Mann blickte sie wie die anderen uninteressiert an und wollte schon wieder in seine eigenen Gedanken versinken, doch dann stolperte er plötzlich und wäre beinahe gestürzt, als er herumfuhr und sie noch einmal anblickte. Das Licht reichte gerade aus, um die Umrisse zu erkennen, aber selbst das war schon zuviel. Wenn man ihn einzeln auf eine gewisse Entfernung gesehen hätte, hätte man ihn für einen großen Mann mit einem normalen Pferd halten können oder für einen normalgroßen Mann mit einem etwas kleingeratenen Pferd. Doch sie alle bewegten sich in einer Linie hintereinander, und aus dieser Perspektive sah Loial so groß aus, wie er tatsächlich war, nämlich um die Hälfte größer, als ein Mann sein durfte. Dieser Mann also sah sie an und rannte mit einem erstickten Schrei und flatterndem Umhang weg.

Bald würden sich mehr Menschen auf den Straßen befinden — zu bald. Rand beobachtete eine Frau, die auf der anderen Straßenseite vorbeihastete und nichts als das Pflaster vor ihren Füßen sah. Bald würden weitere Leute sie bemerken. Der Himmel im Osten wurde heller.

»Dort«, verkündete Loial schließlich. »Es ist da drunter.« Er zeigte auf einen Laden, der immer noch von der Nacht her geschlossen hatte. Die Tische vor der Tür waren leer, die Markise darüber war fest zusammengerollt und die Tür verrammelt. Die Fenster oben, wo der Ladeninhaber wohnte, waren nach dunkel.

»Drunter?« fragte Mat ungläubig. »Wie beim Licht können wir...?«

Moiraine hob eine Hand und schnitt ihm das Wort ab. Dann bedeutete sie ihnen, ihr in die Gasse neben dem Laden zu folgen. Die Pferde und sie zusammen füllten die Gasse zwischen den beiden Gebäuden. Im Schatten der Hauswände war es dunkler als auf der Straße, beinahe wieder wie in der Nacht.

»Es muß doch eine Kellertür geben«, murmelte Moiraine. »Ah, ja.«

Plötzlich glühte ein Licht auf. Ein kühl glimmender Ball von der Größe einer Männerfaust schwebte über der Handfläche der Aes Sedai und bewegte sich, wenn sich ihre Hand bewegte. Rand dachte bei sich, daß es schon deutlich zeigte, was sie durchgemacht hatten, wenn jeder das als ganz selbstverständlich hinnahm. Sie hielt es nahe an die Tür, die sie entdeckt hatte. Die befand sich als Falltür beinahe waagrecht angebracht im Boden und wurde durch ein Schließband mit dicken Bolzen und einem Eisenschloß gesichert, das größer als Rands Hand war und von altem Rost verkrustet. Loial zog an dem Schloß. »Ich kann es wegreißen, mitsamt dem Verschluß und allem, aber das wird so viel Lärm machen, daß die ganze Nachbarschaft aufwacht.«

»Wir sollten das Eigentum dieses Bürgers nicht beschädigen, wenn wir es vermeiden können.« Moiraine betrachtete eine Weile lang das Schloß ganz intensiv. Plötzlich berührte sie das rostige Eisen leicht mit ihrem Stab, und das Schloß öffnete sich problemlos. Schnell nahm Loial das Schloß ab, schwenkte die Türflügel auf und lehnte sie nach hinten, wo sie von den Scharnieren festgehalten wurden. Moiraine ging die so enthüllte Rampe hinunter und leuchtete mit dem glühenden Ball voraus. Aldieb schritt vorsichtig hinter ihr her. »Zündet die Laternen an, und kommt herunter«, rief sie leise. »Es ist genug Platz. Bald wird es draußen hell.«

Rand band hastig die Laternen an den Stangen vom Packpferd los, aber schon bevor die erste entzündet war, wurde ihm bewußt, daß er Mats Gesichtszüge erkennen konnte. In wenigen Minuten würden die Straßen mit Menschen angefüllt sein, und der Ladeneigentümer würde herunterkommen, um sein Geschäft zu öffnen. Alle würden sich fragen, wieso die Gasse mit Pferden verstopft sei. Mat murmelte nervös irgend etwas darüber, Pferde ins Haus mitzunehmen, aber Rand war froh, als er seines die Rampe hinunterführte. Mat folgte, zwar brummelnd, aber nicht weniger schnell.

Rands Laterne baumelte an der Stange hin und her, und wenn er unvorsichtig war, schlug sie gegen die Decke. Weder Roter noch das Packpferd fanden sich so leicht mit der Rampe ab. Aber dann war er unten und wich Mat aus. Moiraine ließ ihr schwebendes Licht ersterben, aber als die anderen sich zu ihnen gesellten, erleuchteten die Laternen den sie umgebenden Raum.

Der Keller war genauso lang und breit wie das Haus darüber. Eine Menge Raum wurde von gemauerten Säulen eingenommen, die sich von einem schmalen Sockel nach oben hin erweiterten, bis sie unter der Decke fünfmal so dick waren. Der Raum schien aus einer ganzen Reihe von Gewölbebögen zu bestehen. Es gab eine Menge Platz, und doch fühlte sich Rand eingeengt. Loials Kopf berührte die Decke. Wie sie schon an dem verrosteten Schloß gesehen hatten, war der Keller lange Zeit über nicht benützt worden. Der Boden war leer, abgesehen von ein paar kaputten Fässern, die mit allem möglichen Kram gefüllt waren, und einer dicken Staubschicht. Staubkörner, von so vielen Füßen aufgewirbelt, tanzten im Laternenschein.

Lan war der letzte, der eintrat, und sobald er Mandarb die Rampe hinuntergeführt hatte, stieg er zurück und zog die Türflügel zu.

»Blut und Asche«, grollte Mat. »Wieso haben sie eines dieser Wegetore an einem Ort wie diesem erbaut?«

»Er war nicht immer so wie jetzt«, sagte Loial. Seine polternde Stimme hallte in dem höhlenähnlichen Raum wider. »Nicht immer. Nein!« Der Ogier war zornig, erkannte Rand völlig überrascht. »Einst haben hier Bäume gestanden. Alle Arten von Bäumen, die an diesem Ort gedeihen konnten; jede Art von Baum, den die Ogier hier zum Wachsen bringen konnten. Die Großen Bäume, hundert Spannen hoch! Schatten unter den Zweigen und eine kühle Brise, die den Duft von Blatt und Blüte auffing und das Angedenken an den Frieden im Stedding bewahrte. All das hat man dafür gemordet!« Seine Faust krachte gegen eine Säule.

Die Säule schien unter dem Schlag zu erzittern. Rand war sicher, daß er das Brechen von Ziegelsteinen gehört hatte. Eine Sturzflut trockenen Zements staubten die Säule herunter.

»Was bereits gewebt ist, kann nicht mehr ungewebt werden«, sagte Moiraine sanft. »Es wird die Bäume nicht wieder wachsen lassen, wenn du das Gebäude über uns zum Einstürzen bringst.« Loials herunterhängende Augenbrauen ließen ihn zerknirschter aussehen, als es ein menschliches Gesicht jemals fertiggebracht hätte. »Mit deiner Hilfe, Loial, können wir vielleicht die Haine, die immer noch stehen, davor bewahren, unter den Schatten zu fallen. Du hast uns dorthin gebracht, wohin wir wollten.«

Als sie sich auf eine der Wände zubewegte, erkannte Rand, daß diese Wand sich von den anderen unterschied. Sie bestanden aus gewöhnlichem Ziegelstein, diese jedoch aus fein behauenem Stein, mit verspielt verschlungenen Reben und Blättern verziert, die selbst unter dieser Staubschicht blaß hervorschimmerten. Ziegelstein und Zement waren alt, doch etwas an diesem Stein sagte aus, daß er lange dort gestanden hatte, lange, bevor der Ziegelstein gebrannt wurde. Spätere Baumeister, die auch schon vor Jahrhunderten dahingegangen waren, hatten das, was bereits bestand, in etwas Neues eingebaut, und wiederum später hatten Menschen es zum Teil eines Kellers gemacht.

Ein Teil der reliefgeschmückten Wand, genau im Zentrum, war noch üppiger geschmückt als der Rest. So gut ausgearbeitet der Rest auch war, im Vergleich hierzu erschien er wie eine rohe Kopie. Obwohl sie aus dem harten Gestein herausgearbeitet waren, erschienen diese Blätter weich, in einem Augenblick eingefangen, als sie gerade von einer sanften Sommerbrise bewegt wurden. Trotzdem fühlte man das Alter an ihnen — so viel älter als der Rest des Steins, wie dieser älter als die Ziegelsteine war. So alt und noch älter. Loial sah sie an, als befände er sich lieber irgendwo anders, selbst draußen auf der Straße, wieder mal mit einem Mob auf den Fersen.

»Avendesora«, murmelte Moiraine, und ihre Hand ruhte dabei auf einem in Stein gehauenen dreiteiligen Blatt. Rand suchte die verzierten Teile ab: Es war das einzige Blatt dieser Art, das er finden konnte. »Das Blatt vom Baum des Lebens ist der Schlüssel«, sagte die Aes Sedai, und das Blatt löste sich und fiel in ihre Hand. Rand blinzelte, und von hinten her hörte er überraschtes Nach-Luft-Schnappen. Das Blatt schien genauso wie alle anderen ein Teil der Wand gewesen zu sein. Ganz selbstverständlich fügte die Aes Sedai es nun eine Handspanne tiefer in das Muster ein. Das Blatt mit seinen drei Spitzen paßte hinein, als sei dieser Platz dafür vorgesehen gewesen, und so war es nun wieder Teil eines Ganzen. Sobald es sich dort befand, änderte sich die gesamte Natur der zentralen Steinplatte.

Er war jetzt sicher, daß er sah, wie die Blätter von einer nicht fühlbaren Brise bewegt wurden. Er bildete sich beinahe ein, sie grünten unter dem Staub — ein Gewebe kräftigen Frühlingsgrüns hier in dem von Laternen erleuchteten Keller. Zuerst fast unmerklich öffnete sich ein Spalt in der Mitte des uralten Frieses. Er weitete sich, als die beiden Hälften langsam herausklappten, bis sie in rechtem Winkel abstanden. Die Rückseiten des Tores waren genauso geschmückt wie die Vorderseiten; das gleiche üppige Gewirr von Ranken und Blättern, die beinahe zu leben schienen. Dahinter, wo sich Erdboden oder der Keller des nächsten Gebäudes befinden sollte, spiegelten sich ihre Gestalten schwach in einem matten, reflektierenden Glimmen. »Ich habe gehört«, sagte Loial halb trauernd und hab ängstlich, »daß die Wegetore einst wie Spiegel glänzten. Einst ging der, der die Wege benützte, durch die Sonne und den Himmel. Einst.«

»Wir haben keine Zeit zu warten«, sagte Moiraine.

Lan ging an ihr vorbei. Er führte Mandarb und hatte die an der Stange befestigte Laterne in der Hand. Sein schattenhaftes Spiegelbild kam auf ihn zu und führte ein Schattenpferd. Mensch und Spiegelbild schienen an der schimmernden Oberfläche ineinander zu fließen, und dann waren beide verschwunden. Einen Augenblick lang scheute der schwarze Hengst, als ihn ein scheinbar ununterbrochener Zügel mit dem trüben Umriß seines eigenen Spiegelbilds verband. Der Zügel straffte sich, und auch das Streitroß verschwand.

Eine Weile lang standen alle da und starrten das Wegetor an. »Beeilt Euch«, trieb Moiraine sie an. »Ich muß als letzter durch. Wir können das nicht offen stehen lassen und riskieren, daß es jemand durch Zufall findet.

Schnell!«

Mit einem schweren Seufzer schritt Loial in das Schimmern hinein. Das große Pferd warf den Kopf auf und versuchte, sich von der Oberfläche fernzuhalten, aber es wurde einfach hindurchgezogen. Sie waren genauso vollständig verschwunden wie der Behüter und Mandarb. Zögernd streckte Rand seine Laterne in Richtung auf das Tor aus. Die Laterne sank in ihr Spiegelbild ein. Die beiden verschmolzen, bis sie verschwunden waren. Er zwang sich weiterzugehen, beobachtete, wie die Stange Stück um Stück verschwand, und dann schritt er auf sich selbst zu und betrat das Tor. Er öffnete überrascht den Mund. Etwas Eisiges glitt an seiner Haut entlang, als schreite er durch einen Vorhang aus kaltem Wasser. Die Zeit dehnte sich; die Kälte umschloß ein Haar nach dem anderen und zitterte sich Faden um Faden durch seine Kleidung.

Mit einem Schlag zerplatzte die Kälte wie eine Blase, und er blieb stehen, um Luft zu schöpfen. Er befand sich innerhalb der Kurzen Wege. Ein Stück vor ihm warteten Lan und Loial geduldig neben ihren Pferden. Um sie herum war eine Schwärze, die sich in die Unendlichkeit zu erstrecken schien. Ihre Laternen warfen kleine Lichtkreise um sie, zu klein; als drücke jemand das Licht weg oder verzehre es.

Plötzlich ängstigte er sich und riß an dem Zügel. Roter und das Packpferd sprangen durch und überrannten ihn beinahe. Er stolperte, fing sich und eilte zu dem Behüter und dem Ogier hinüber. Die scheuenden Pferde zog er hinter sich her. Die Tiere wieherten leise. Selbst Mandarb schien die Gegenwart der anderen Pferde gutzutun.

»Geh ganz entspannt hinein, wenn du durch ein Wegetor willst, Rand«, ermutigte ihn Loial. »Es ist drinnen in den Wegen... anders als draußen. Schau!«

Er blickte nach hinten, wohin der Ogier deutete. Er glaubte, er werde von hier aus das gleiche matte Schimmern sehen. Statt dessen jedoch blickte er in den Keller wie durch eine große, geschwärzte Glasscherbe. Es beunruhigte ihn, daß der ebenfalls schwarze Rahmen um dieses Fenster in den Keller hinein einen Eindruck von Tiefe erweckte, als stünde die Öffnung im leeren Raum -nichts daneben oder dahinter als die Dunkelheit. Er sprach das mit unsicherem Lachen aus, doch Loial nahm es durchaus ernst.

»Du könntest ganz außen herumgehen und würdest von der anderen Seite her absolut nichts sehen. Ich würde dir das aber nicht raten. Die Bücher drücken sich nicht gerade klar darüber aus, was sich hinter den Wegetoren befindet. Ich glaube, dort könntest du dich verirren und nie wieder den Weg zurück finden.«

Rand schüttelte den Kopf und bemühte sich, sich auf das Wegetor selbst zu konzentrieren und nicht auf das, was dahinter lag. Aber auf gewisse Weise wirkte auch das ziemlich beunruhigend. Wenn es in der Dunkelheit neben dem Wegetor etwas zum Ansehen gegeben hätte, hätte er dorthin geblickt. Der Blick durch die rauchige Düsternis in den Keller hinein zeigte ihm wohl Moiraine und die anderen ganz deutlich, doch sie bewegten sich wie in einem Traum. Jedes Augenzwinkern erschien wie eine bewußte, übertriebene Geste. Mat ging zum Wegetor, als schreite er durch einen See aus durchsichtiger Gelatine. Seine Beine bewegten sich wie schwimmend vorwärts.

»In den Kurzen Wegen dreht sich das Rad schneller«, erklärte Loial. Er sah in die sie umgebende Dunkelheit hinein, und sein Kopf sank tiefer zwischen seine Schultern. »Kein Lebender kennt mehr als nur Bruchstücke davon. Ich habe Angst vor dem, was ich über die Kurzen Wege nicht weiß, Rand.«

»Man kann den Dunklen König nicht besiegen«, sagte Lan, »wenn man kein Risiko eingeht. Aber jetzt sind wir am Leben, und wir können darauf hoffen, am Leben zu bleiben. Gib nicht auf, bevor du nicht geschlagen bist, Ogier.«

»Du würdet nicht so selbstsicher darüber sprechen, wenn du schon jemals die Kurzen Wege betreten hättest.« Loials normalerweise nach fernem Donner klingende Stimme klang nun gedämpft. Er blickte in die Dunkelheit hinein, als sehe er dort etwas. »Ich bin auch noch nie drinnen gewesen, aber ich habe Ogier gesehen, die durch ein Wegetor gegangen und wieder herausgekommen waren. Du würdest nicht so sprechen, hättest du dasselbe hinter dir.«

Mat schritt durch das Tor und gewann an Geschwindigkeit. Einen Augenblick lang sah er in die scheinbar endlose Dunkelheit hinein, und dann rannte er hinüber zu den anderen. Seine Laterne hüpfte an ihrer Stange, und sein hinter ihm hergaloppierendes Pferd hätte ihn beinahe zu Fall gebracht. Einer nach dem anderen kam nun durch: Perrin und Egwene und Nynaeve. Jeder hielt in erschreckter Lautlosigkeit inne und beeilte sich dann, sich zu den anderen zu gesellen. Jede Laterne verstärkte den Lichtschein, doch nicht in dem Maße, wie es hätte sein sollen. Es schien, als verdichte sich die Dunkelheit, je mehr Licht in sie fiel, als kämpfe sie gegen jede Verminderung an.

Diesen Gedankengang wollte Rand nicht weiter verfolgen. Es war schon schlimm genug, überhaupt hier zu sein. Da mußte man nicht auch noch der Dunkelheit einen Eigenwillen zuschreiben. Alle schienen aber diese erdrückende Stimmung zu fühlen. Hier kamen keine trockenen Kommentare von Mat, und Egwene sah aus, als wünschte sie, sie könne ihre Entscheidung mitzukommen noch einmal überdenken. Sie beobachteten alle schweigend das Wegetor, dieses letzte Fenster in die Welt, die sie kannten.

Schließlich befand sich nur noch Moiraine im Keller, der von ihrer mitgebrachten Laterne schwach beleuchtet wurde. Die Bewegungen der Aes Sedai wirkten traumähnlich. Ihre Hand kroch mühsam vorwärts, als sie das Avendesora-Blatt gefunden hatte. Auf dieser Seite befand es sich niedriger im Steinfries, bemerkte Rand. Es war genau dort, wo sie es auf der anderen Seite angedrückt hatte. Sie pflückte es und brachte es in die ursprüngliche Position zurück. Er fragte sich, ob sich das Blatt auf der anderen Seite gleich mit zurückbewegt habe.

Die Aes Sedai kam mit Aldieb im Schlepptau hindurch, und dann begannen sich die Torflügel hinter ihr langsam, ganz langsam zu schließen. Sie kam zu ihnen herüber. Der Lichtschein ihrer Laterne auf dem Tor verschwand, bevor es sich ganz geschlossen hatte. Der immer kleiner werdende Anblick des Kellers wurde schließlich von der Schwärze verschlungen. Der eingeschränkte Lichtkreis ihrer Laternen war völlig von Schwärze umgeben.

Plötzlich schien es ihnen, als seien die Laternen das einzige Licht, das in der Welt noch vorhanden war. Rand fiel erst jetzt auf, daß er Schulter an Schulter zwischen Perrin und Egwene eingequetscht war. Egwene sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an und drückte sich noch mehr an ihn, während Perrin sich nicht bewegte, ihm aber auch nicht Platz machte. Es lag etwas Beruhigendes darin, einen anderen Menschen zu berühren, wenn die ganze Welt gerade von der Dunkelheit verschluckt worden war. Selbst die Pferde schienen zu fühlen, daß sie von den Kurzen Wegen immer enger aneinander gedrängt wurden. Nach außen hin unbeeindruckt, schwangen sich Moiraine und Lan in die Sättel, und die Aes Sedai beugte sich nach vorn, den Arm auf ihren geschnitzten Stab gestützt, der quer über dem hohen Sattelhorn lag. »Wir müssen uns auf den Weg machen, Loial.«

Loial fuhr hoch und nickte lebhaft. »Ja. Ja, Aes Sedai, du hast recht. Wir sollten keine Minute länger als notwendig verharren.« Er deutete auf einen breiten, weißen Streifen unter ihren Füßen, und Rand trat hastig von ihm herunter. Alle von den Zwei Flüssen sprangen ab. Rand glaubte, der Boden sei einst ganz glatt gewesen, aber die Glätte war jetzt durchbrochen, als habe der Stein die Pocken. Die weiße Linie war an mehreren Punkten unterbrochen. »Dies führt uns vom Wegetor zum ersten Wegweiser. Von hier... « Loial sah sich ängstlich um. Dann kletterte er ohne die zuvor an den Tag gelegte Zurückhaltung auf sein Pferd. Das Pferd trug den größten Sattel, den der Stallmeister hatte finden können, aber Loial füllte ihn von einem Ende zum anderen aus. Seine Beine hingen auf beiden Seiten beinahe bis zu den Fesseln des Tieres herunter. »Keine Minute länger als notwendig«, murmelte er. Zögernd saßen die anderen auf.

Moiraine und Lan flankierten den Ogier, als dieser der weißen Linie durch die Dunkelheit folgte. Alle anderen drückten sich dahinter so nahe heran wie möglich. Die Laternen hüpften über ihren Köpfen auf und ab. Die Laternen hätten an sich genug Licht abgeben müssen, um ein ganzes Haus zu beleuchten, aber der Lichtschein reichte nur zehn Fuß weit. Die Schwärze hielt ihn so unvermittelt zurück, als sei er auf eine Wand getroffen. Das Knarren der Sättel und das Klappern der Hufeisen schien mit dem Ende des Lichtscheins ebenfalls zu enden.

Rands Hand kehrte immer wieder zu seinem Schwert zurück. Es war nicht so, daß er glaubte, hier gebe es irgend etwas, wogegen er sein Schwert hätte gebrauchen können, um sich zu verteidigen. Es schien vielmehr, daß es überhaupt nichts gab, wo dieses Etwas hätte sein können. Die Lichtblase um sie herum hätte auch eine von Stein umhüllte Höhle sein können, aus der heraus es keinen Weg gab. Die Pferde hätten sich genauso um eine Tretmühle herum bewegen können, so wenig abwechslungsreich war ihre Umgebung. Er umklammerte den Knauf, als könne der Druck seiner Hand den Stein wegdrücken, dessen Last er auf sich ruhen fühlte. Wenn er das Schwert berührte, konnte er sich an die Lehren Tams erinnern. Eine Zeitlang fand er die Ruhe im Nichts. Aber die Last kehrte immer wieder zurück und zerdrückte das Nichts zu einer bloßen Höhle in seinem Geist, und dann mußte er wieder von vorn beginnen und Tams Schwert berühren, um sich erneut darauf konzentrieren zu können.

Es war eine echte Erleichterung, als sich schließlich doch etwas änderte, auch wenn es nur eine hohe Felsplatte war, die hochkant vor ihnen aus der Dunkelheit auftauchte. Die breite weiße Linie hörte an ihrem unteren Ende auf. Die breite Oberfläche wurde von eingelegten, elegant gekrümmten Metallfäden durchzogen, die Rand in ihrer Anmut an Ranken und Blätter erinnerten. Verfärbte Pockennarben verunzierten sowohl Stein als auch Metall.

»Der Wegweiser«, sagte Loial, und er beugte sich aus dem Sattel, um finster auf die geschwungene Metalleinlage zu starren.

»Ogierschrift«, sagte Moiraine, »aber so weit zerstört, daß ich kaum lesen kann, was da steht.«

»Mir fällt es auch schwer«, sagte Loial, »aber ich kann genug erkennen, um zu wissen, daß wir dort hinüber müssen.« Er drehte sein Pferd von dem Wegweiser weg.

Am Rand des Lichtscheins waren andere Steingegenstände zu sehen. Es schien sich um Brücken mit Steingeländern zu handeln, die in die Dunkelheit hineinführten, und manchmal auch um sanft geneigte Rampen ohne irgendein Geländer, die hinauf oder hinab führten. Zwischen den Brücken und den Rampen zog sich eine brusthohe Balustrade entlang, als sei die Gefahr des Fallens dort in jedem Fall gegeben. Die Balustrade bestand aus einfachem weißen Stein, dessen sanfte Kurven und Rundungen zu komplizierten Mustern zusammengefügt waren. Etwas daran kam Rand irgendwie bekannt vor, aber er wußte, daß seine Einbildung nach allem griff, was in dieser fremdartigen Umgebung nach Bekanntem aussehen mochte.

Am Fuß einer der Brücken hielt Loial sein Pferd an und las die einzige Zeile auf der engen Steinsäule am Aufgang. Er nickte und ritt auf die Brücke hinaus. »Das ist die erste Brücke auf unserem Weg«, sagte er nach hinten zu.

Rand fragte sich, was die Brücke überhaupt vor dem Einsturz bewahrte. Die Pferdehufe knirschten derart, als blätterte bei jedem Tritt Stein ab. Alles, was er sah, war mit flachen Aushöhlungen bedeckt, manche nur wie winzige Nadelstiche, während andere unregelmäßig geformten, flachen, einen vollen Schritt breiten Kratern glichen. Hatte es hier Säure geregnet, oder verfaulte der Stein? Auch das Geländer wies Risse und Löcher auf. An manchen Stellen war es bis zu einer Spanne weit ganz verschwunden. Die Brücke mochte ja aus festem Stein bestehen, der bis hinunter zum Mittelpunkt der Erde reichte, aber das, was er sah, ließ ihn hoffen, daß sie wenigstens noch lange genug stehen würde, damit sie das andere Ende noch erreichten. Wo auch immer das sein mag.

Die Brücke war dann schließlich zu Ende, und es sah dort nicht anders aus als an ihrem Anfang. Alles, was Rand sehen konnte, war das, was von ihrem kleinen Lichtkreis berührt wurde, aber er gewann den Eindruck, daß sie sich auf einer großen Fläche befanden, wie ein abgeflachter Hügel, von dem nach allen Seiten Brücken und Rampen wegführten. Loial nannte das eine Insel. Ein weiterer von Schriftzeichen bedeckter Wegweiser war auch vorhanden. Rand nahm an, daß er in der Mitte der Insel stand, hatte aber keine Möglichkeit, die Richtigkeit seiner Annahme zu überprüfen. Loial las und führte sie dann eine der Rampen hinauf, die sich immer weiter nach oben wand.

Nach einer endlosen, ständig gewundenen Klettertour führte sie die Rampe auf eine weitere Insel, die genauso aussah wie die am Anfang ihres Weges. Rand versuchte, sich die Lage der Rampe vorzustellen und die Windungen nachzuvollziehen, doch gab er es bald auf. Diese Insel kann sich doch nicht direkt auf der anderen befinden. Das kann nicht sein.

Loial studierte eine weitere mit Ogierschrift bedeckte Felsplatte, fand wieder eine Wegweisersäule und führte sie auf die nächste Brücke. Rand hatte keine Ahnung mehr, in welche Richtung sie sich eigentlich bewegten.

In ihrem heimeligen kleinen Lichtkreis inmitten des Dunkels sah eine Brücke genauso aus wie die andere, mit dem Unterschied, daß bei einigen das Geländer Lücken aufwies und bei anderen nicht. Nur der Grad der Beschädigung der Wegweiser ließ die Inseln unterschiedlich aussehen. Rand verlor jegliches Zeitgefühl. Er war sich nicht einmal mehr sicher, wie viele Brücken sie überquert und wie viele Rampen sie erklommen hatten. Doch der Behüter mußte wohl eine Uhr im Kopf haben. Gerade als Rand den ersten Hunger verspürte, verkündete Lan ruhig, daß es Mittag sei. Er stieg ab und verteilte Brot und Käse und Trockenfleisch von den Vorräten auf dem Packpferd. Perrin war gerade mit dem Führen des Tieres an der Reihe. Sie befanden sich auf einer Insel, und Loial war damit beschäftigt, die Inschrift auf dem Wegweiser zu entziffern.

Mat wollte schon aus dem Sattel steigen, doch Moiraine sagte: »Die Zeit in den Kurzen Wegen ist zu kostbar, als daß wir sie verschwenden könnten. Viel zu kostbar für uns. Wir werden anhalten, wenn es an der Zeit ist zu schlafen.« Lan saß bereits wieder auf Mandarb.

Rand verging der Appetit, als er sich vorstellte, in den Kurzen Wegen zu schlafen. Hier herrschte wohl immer Nacht, aber es war keine Nacht zum Schlafen. Aber er aß, wie auch die anderen, beim Reiten. Es war eine ziemlich schwierige Angelegenheit zu versuchen, das Essen, die Laternenstange und die Zügel gleichzeitig zu halten, aber trotz seiner eingebildeten Appetitlosigkeit leckte er sich die letzten Brot- und Käsekrümel von den Händen, als er fertig war. Er stellte sich mit Vergnügen vor, mehr davon zu essen. Er neigte sogar allmählich zu der Ansicht, daß die Kurzen Wege doch nicht so schlimm seien, jedenfalls lange nicht so schlimm, wie Loial behauptete. Sie lösten ja vielleicht das schwere Gefühl der Stunde vor einem Sturm aus, aber es änderte sich nichts. Nichts geschah. Die Kurzen Wege waren schon beinahe langweilig.

Dann wurde die Stille von einem überraschten Laut Loials gebrochen. Rand stand in seinen Steigbügeln auf, um an dem Ogier vorbeischauen zu können, und er schluckte schwer bei dem Anblick. Sie befanden sich in der Mitte einer Brücke, und ein paar Fuß weit vor Loial brach die Brücke mit einem Mal an einer zerfetzt erscheinenden Kante ab.

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