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Mit hastigen Bewegungen hängte Ann die primitive Blechlaterne draußen vor der Tür an den Haken und ballte ihr Han zu einem Hitzekern zusammen, bis dieser über ihrer Hand zu einer kleinen Flamme aufloderte. Dann trat sie in die winzige Kammer und hielt die zuckende Flamme an den Docht einer auf dem Tisch stehenden Kerze. Nachdem diese Feuer gefangen hatte, schloss sie die Tür.

Es war schon eine Weile her, dass sie in ihrem Reisebuch eine Nachricht erhalten hatte, daher konnte sie es kaum erwarten, endlich einen Blick hineinzuwerfen.

Die Kammer war karg, die schmucklosen, verputzten Wände fensterlos. Ein kleiner Tisch sowie ein hölzerner Stuhl mit gerader Lehne, den man auf ihre Bitte hereingebracht hatte, nahm fast den gesamten nicht vom Bett beanspruchten Platz ein. Die Kammer diente ihr nicht nur als Schlafraum, sondern bildete auch ein gebührendes Sanktuarium, einen Ort, wo sie allein sein, wo sie nachdenken, meditieren und beten konnte. Außerdem bot sie ihr die nötige Ungestörtheit, wenn sie ihr Reisebuch benutzte. Auf dem Tisch wartete ein kleiner Teller mit Käse und geschnittenem Obst auf sie, den wahrscheinlich Jennsen dort zurückgelassen hatte, ehe sie mit Tom den Mond bewundern gegangen war. Trotz ihres mittlerweile fortgeschrittenen Alters erfüllte es Ann noch immer mit einem Gefühl heiterer Zufriedenheit, wenn sie den verliebten Ausdruck in den Augen eines Paares sah. Diese jungen Leute schienen stets in dem Glauben zu sein, es gelänge ihnen tatsächlich, ihre Gefühle vor anderen zu verbergen, dabei war ihr Benehmen für gewöhnlich so augenfällig, dass es ihnen ebenso gut in großen Lettern auf die Stirn hätte geschrieben sein können.

Manchmal, in stillen Augenblicken, bedauerte Ann, dass ihr diese Zeit unumschränkter, argloser und überschwänglicher gegenseitiger Zuneigung mit Nathan nie vergönnt gewesen war. Andererseits geziemte es einer Prälatin nicht, offen ihre Gefühle zu zeigen.

Ann stutzte; plötzlich fragte sie sich, woher genau es eigentlich kam, dass sie diese Überzeugung pflegte. Als sie noch Novizin war, hatte schließlich niemand Unterrichtsstunden abgehalten, in denen man eingetrichtert bekam:

›Falls du jemals zur Prälatin ernannt werden solltest, darfst du deine Gefühle niemals offen zeigen.‹ Mit Ausnahme von Missfallen natürlich. Eine gute Prälatin sollte imstande sein, die Knie ihres Gegenübers mit nicht mehr als einem scharfen Blick unkontrollierbar zum Zittern zu bringen – ein Lehrsatz, dessen Herkunft ihr nicht minder schleierhaft war, auch wenn sie stets den Bogen rausgehabt zu haben schien. Aber vielleicht hatte der Plan des Schöpfers von Anfang an vorgesehen, dass sie eines Tages Prälatin werden sollte, weshalb Er ihr die entsprechende Veranlagung für dieses Amt mit auf den Weg gegeben hatte. Manchmal vermisste sie es doch sehr.

Mehr noch, sie hatte es sich nie gestattet, sich ihre Gefühle für Nathan bewusst einzugestehen. Er war ein Prophet, und während ihrer Zeit als Prälatin der Schwestern des Lichts und unumschränkte Autorität im Palast der Propheten war er ihr Gefangener gewesen. Obschon sie es damals in dem Bemühen, der Situation einen humaneren Anstrich zu geben, etwas beschönigender formuliert hatten, war es nie komplizierter gewesen, denn nach allgemeiner Überzeugung galt es einfach als zu gefährlich, einen Propheten unter ganz normalen Menschen frei herumlaufen zu lassen.

Seine Einkerkerung von klein auf kam einer Absage an den freien Willen gleich, denn damit galt als vorab festgelegt, dass er ohnehin nur Unheil anrichten würde, selbst wenn er nie Gelegenheit erhalten würde, sich bewusst für diese seine Handlungsweise zu entscheiden. Sie hatten ihn für schuldig befunden, ohne dass er je ein Verbrechen begangen hatte – und dieser veralteten und irrationalen Denkweise war Ann den größten Teil ihres Lebens treu geblieben, ohne sie jemals zu hinterfragen. Wenn sie darüber nachdachte, beschlich sie bisweilen ein ungutes Gefühl, was das wohl über sie aussagte.

Jetzt, da sie und Nathan alt und wieder vereint waren – so unwahrscheinlich dies zu einer anderen Zeit auch erschienen sein mochte –, ließ sich ihr Verhältnis jedoch kaum als überschwängliche gegenseitige Zuneigung bezeichnen. Vielmehr hatte sie den weitaus größten Teil ihres Lebens damit verbracht, ihren Unmut über die Scherze dieses Mannes zu ertragen und dafür zu sorgen, dass er weder seinem Halsring noch seinem Gefängnis im Palast entkommen konnte, was ihr Widerspenstigkeit seinerseits sowie den Zorn der Schwestern eingetragen hatte und ihn – eine weitere Schleife im immer gleichen Teufelskreis – noch renitenter gemacht hatte. Ungeachtet der Unruhe, die er scheinbar nach Belieben zu stiften vermochte, irgendetwas an ihm hatte Ann im Stillen stets über ihn schmunzeln lassen. Mitunter benahm er sich wie ein kleines Kind, ein Kind von fast eintausend Jahren, das ein Zauberer war und die Gabe der Prophezeiung besaß. Ein Prophet brauchte nur den Mund aufzumachen, brauchte die ungebildeten Massen nur mit Prophezeiungen zu bedienen, um im günstigsten Falle einen Aufstand, im ungünstigsten Kriege auszulösen. Das zumindest war die allgemeine Befürchtung. Obwohl sie hungrig war, schob Ann den Teller mit Käse und Obst zur Seite. Das konnte warten. Die gespannte Erwartung, welche Neuigkeiten Vernas Nachricht wohl enthalten mochte, beschleunigte ihren Puls. Ann setzte sich und zog ihren Stuhl ganz nah an den hölzernen Tisch heran. Dann holte sie das kleine ledergebundene Reisebuch hervor und ließ die Seiten am Daumen vorbeilaufen, bis sie die Handschrift erblickte. Die Kammer war eng, die Beleuchtung schlecht. Sie kniff die Augen zusammen, um die Worte besser entziffern zu können, und schließlich musste sie die dicke Kerze etwas näher zu sich heranziehen. Meine verehrteste Ann, begann die von Verna in dem Buch niedergeschriebene Nachricht, ich hoffe, dies erreicht Euch und den Propheten bei guter Gesundheit. Ich weiß, Ihr sagtet, Nathan sei im Begriff, einen wertvollen Beitrag zugunsten unserer Sache zu liefern, trotzdem erfüllt mich Euer Zusammensein mit diesem Mann nach wie vor mit Sorge. Ich hoffe, seine Mitarbeit hat, seit ich zuletzt von Euch hörte, keinen Anlass zu Verdruss gegeben, und Ihr lasst Vorsicht walten. Ich habe den Propheten zu keiner Zeit wirklich ernsthaft erlebt – erst recht nicht, wenn ein Schmunzeln über seine Lippen spielt!

Ann musste selbst schmunzeln. Sie verstand nur zu gut, nur kannte Verna ihn eben nicht so gut wie sie. Manchmal konnte er einen schneller in Schwierigkeiten bringen als zehn junge Burschen mit nichts als Unfug im Kopf, und doch gab es jetzt, da alles gesagt und getan war und sie ihn schon so viele Jahrhunderte kannte, eigentlich niemanden, mit dem sie mehr verband.

Ann stieß einen Seufzer aus und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder der Nachricht in ihrem Reisebuch zu. Die Abwehr der Belagerung der nach D’Hara hineinführenden Pässe durch Jagangs Truppen hat uns ziemlich auf Trab gehalten, schrieb Verna, aber wenigstens waren wir erfolgreich. Vielleicht zu erfolgreich. Wenn Euch dies erreicht, Prälatin, antwortet bitte.

Ann runzelte die Stirn. Wie konnte man zu erfolgreich dabei sein, marodierende Truppen am Überrennen der eigenen Verteidigungsstellungen, am Niedermetzeln der Verteidiger und der Versklavung eines in Freiheit lebenden Volkes zu hindern? Beunruhigt zog sie die Kerze näher heran. Tatsächlich war sie eher nervös, was Jagang jetzt, da der Winter vorbei war und der Morast des Frühlings hinter ihnen lag, im Schilde führen mochte. Der Traumwandler war ein geduldiger Gegner. Seine Soldaten stammten tief unten aus dem Süden, aus der Alten Welt, und waren die strengen Winter hoch oben im Norden der Neuen Welt nicht gewöhnt. Nicht wenige waren den harten Witterungsbedingungen zum Opfer gefallen, eine weitaus größere Zahl jedoch war elend an den Krankheiten zugrunde gegangen, die sein Winterlager heimgesucht hatten. Trotz der großen im Kampf, durch Krankheit sowie eine Vielzahl anderer Ursachen erlittenen Verluste strömten die Invasoren unablässig in immer größeren Scharen nach Norden, sodass Jagangs Armee allen Widrigkeiten zum Trotz unaufhaltsam immer weiter anschwoll. Dessen ungeachtet opferte er keinen seiner unzähligen Soldaten in ebenso sinn- wie aussichtslosen Winterfeldzügen. Nicht dass ihm viel am Leben seiner Soldaten gelegen hätte, wohl aber lag ihm sehr viel an der Eroberung der Neuen Welt, weshalb er seine Truppen nur bewegte, wenn das Wetter günstig war. Jagang vermied es stets, unnötige Risiken einzugehen. Was zählte, war allein die Unterwerfung der Welt, nicht, wie viel Zeit dies kostete. Er betrachtete die Welt des Lebendigen durch das Prisma der Glaubensüberzeugungen der Bruderschaft der Ordnung. Das Leben des Einzelnen, sein eigenes eingeschlossen, war ohne Belang; was zählte, war allein, welchen Beitrag das individuelle Leben zum Erfolg des Ordens zu leisten vermochte.

Jetzt, da diese gewaltige Armee in der Neuen Welt stand, waren die Streitkräfte des d’Haranischen Reiches den nächsten Schachzügen des Traumwandlers auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Gewiss, auch D’Hara verfügte über eine formidable Streitmacht, die aber gewiss nicht reichen würde, um der vollen Angriffswucht der anscheinend unerschöpflichen Massen der Truppen der Imperialen Ordnung standzuhalten, geschweige denn sie zurückzuwerfen. Zumindest nicht, solange Richard nicht alles in seiner Macht Stehende tat, um das Blatt in diesem Krieg zu wenden.

Die Prophezeiungen bezeichneten Richard als »Kiesel im Teich«, womit gemeint war, dass er jene Wellen schlug, die alles durchdrangen, alles beeinflussten. Weiterhin war dort, auf unterschiedlichste Weise und in einer Vielzahl verschiedener Texte, die Rede davon, dass sie nur dann eine Chance hätten, den Sieg davonzutragen, wenn Richard sie in der entscheidenden Schlacht anführte.

Für den Fall, dass es nicht dazu käme, waren die Prophezeiungen klar und unmissverständlich: Dann, so hieß es dort, sei alles verloren.

Ann presste ihre geballte Faust gegen das schmerzhafte Gefühl von Übelkeit auf ihre Magengrube und zog den Stift aus dem Rücken des Buches, das ein genaues Gegenstück zu dem in Vernas Besitz war. Deine Nachricht hat mich erreicht, Verna, schrieb sie, aber Prälatin bist jetzt du. Der Prophet und ich sind längst tot und begraben.

Es war ein Täuschungsmanöver, das die beiden in die Lage versetzt hatte, eine Vielzahl von Menschenleben zu retten. Es gab Zeiten, da vermisste es Ann, Prälatin zu sein, da vermisste sie die Schar ihrer Ordensschwestern. Vielen von ihnen war sie von Herzen zugetan gewesen, zumindest jenen, die sich später nicht als Schwestern der Finsternis entpuppt hatten, und der bohrende Schmerz dieses Verrats – nicht nur an ihrer Person, sondern auch am Schöpfer selbst – hatte noch immer nichts von seiner Heftigkeit verloren. Immerhin, die Befreiung von dieser übergroßen Verantwortung versetzte sie in die Lage, sich mehr auf andere, wichtigere Dinge zu konzentrieren. So schmerzlich der Verlust ihres alten Lebens für sie sein mochte, in dem sie den Palast der Propheten als Prälatin geleitet hatte, ihre Berufung galt einem höheren Ziel und nicht irgendeinem Gemäuer oder der Verwaltung eines ganzen Palasts voller Ordensschwestern, Novizinnen und jungen, in der Ausbildung befindlichen Zauberern. Ihre wahre Berufung galt dem Erhalt der Welt des Lebendigen, und zu diesem Zweck war es allemal besser, wenn die Schwestern des Lichts sowie alle anderen auch sie und Nathan für tot hielten.

Ann richtete sich erwartungsvoll auf, als sich Vernas Handschrift auf der Seite abzuzeichnen begann. Ann, es ist mir ein Trost, Euch wieder bei mir zu wissen, wenn auch nur über das Reisebuch. Nur noch so wenige von uns sind übrig. Ich gestehe, manchmal sehne ich mich nach den friedlichen Zeiten im Palast zurück, jenen Zeiten, als alles so viel einfacher und sinnvoller schien und ich nur glaubte, es sei so schwierig. Seit Richards Geburt hat sich die Welt unzweifelhaft verändert.

Dem mochte Ann nicht widersprechen. Sie ließ einen Käsehappen in ihrem Mund verschwinden, beugte sich vor und begann zu schreiben.

Jeden Tag bete ich dafür, dass diese Ordnung, dieser Friede, in der Welt wieder Einzug halten möge und wir uns über nichts Schlimmeres als das Wetter beklagen müssen.

Ich bin verwirrt, Verna. Was meintest du, als du schriebst, ihr wärt bei der Verteidigung der Pässe möglicherweise zu erfolgreich gewesen? Bitte erklär es mir. Ich erwarte deine Antwort.

Ann lehnte sich auf ihrem einfachen Holzstuhl zurück und aß ein Stück Birne, während sie wartete. Da ihr Reisebuch das genaue Gegenstück zu dem von Verna war, erschien alles, was in das eine geschrieben wurde, exakt zur gleichen Zeit im anderen. Es war einer der wenigen magischen Gegenstände, die aus dem Palast der Propheten hatten gerettet werden können.

Wieder begann Vernas schnörkelige Handschrift, sich über die leere Seite auszubreiten. Wie unsere Späher und Fährtenleser berichten, hat jagang mit dem Abmarsch seiner Truppen begonnen. Da er am Pass nicht durchbrechen konnte, hat der Kaiser seine Streitmacht aufgeteilt und führt nun eine Armee nach Süden – ein Schachzug, den General Meiffert schon seit längerem befürchtet hatte. Seine Strategie ist unschwer zu erraten. Zweifellos plant Jagang, eine mächtige Unterabteilung seiner Truppen durch das Tal des Flusses Kern und anschließend nach Süden um das Gebirge herumzuführen. Sobald er sämtliche Hindernisse umgangen hat, wird er in den südlichen Teil D’Haras abschwenken und von dort weiter Richtung Norden vorrücken.

Für uns bedeutet dies die denkbar schlechtesten Nachrichten. Zum einen dürfen wir die Sicherung der Pässe auf keinen Fall vernachlässigen – nicht, solange ein Teil seiner Armee auf der anderen Seite auf der Lauer liegt. Andererseits können wir aber auch nicht zulassen, dass jagangs Truppen uns von Süden her umgehen. Nach Ansicht General Meifferts werden wir ein ausreichendes Truppenkontingent zur Bewachung der Pässe hier zurücklassen müssen, während die Hauptmacht unserer Truppen nach Süden marschiert, um sich den Invasoren entgegenzuwerfen.

Wir haben keine Wahl. Jetzt, da die eine Hälfte der Truppen Jagangs im Norden, auf der anderen Seite des Passes, steht, die andere Hälfte jedoch das Gebirge umgeht, um von Süden her vorzurücken, gerät der Palast des Volkes mitten zwischen sie – eine Aussicht, bei der sich Jagang zweifellos bereits die Lippen leckt. Ich fürchte, Ann, mir bleibt nicht mehr viel Zeit. Das gesamte Feldlager ist in Aufruhr. Die Nachricht, dass Jagang seine Streitmacht geteilt hat, hat uns eben erst erreicht; wir sind dabei, auf schnellstem Wege unser Zudem werde ich die Schwestern aufteilen müssen, auch wenn es aufgrund der großen Verluste kaum noch welche aufzuteilen gibt. Manchmal komme ich mir vor, als lägen wir im Wettstreit mit Jagang, auf wessen Seite zuletzt noch Schwestern übrig sind. Ich bin in tiefer Sorge, was aus all den Menschen wird, falls niemand von uns überleben sollte. Ohne diese entmutigenden Ängste würde ich zufrieden meinen Abschied aus dieser Welt nehmen und mich zu Warren in der Welt der Seelen gesellen.

Soeben erklärt mir General Meiffert, dass wir keinen Augenblick länger warten können und bei Tagesanbruch abmarschieren müssen. Die Vorbereitungen werden mich die ganze Nacht über auf den Beinen halten; ich werde dafür sorgen müssen, dass genügend Truppen und Schwestern zur Verteidigung aller Pässe zurückbleiben und sie die Schilde überwachen, um ihre Unversehrtheit zu garantieren. Sollte die nördliche Armee der Imperialen Ordnung hier oben durchbrechen, wäre dies für uns alle ein noch schnellerer Tod.

Wenn Ihr nichts Wichtiges mehr zu besprechen habt, das keinen Aufschub duldet, muss ich, fürchte ich, jetzt fort.

Während des Lesens hatte Ann sich die Hand vor den Mund geschlagen, die Nachrichten waren in der Tat entmutigend. Um Verna nicht in Bedrängnis zu bringen, verfasste sie auf der Stelle eine Antwort. Nein, meine Liebe, im Augenblick gibt es nichts Wichtiges. Wie du weißt, bin ich dir stets von ganzem Herzen zugetan.

Die Antwort kam fast augenblicklich.

Wir haben die Pässe aufgrund ihrer Enge mit Erfolg verteidigen können; in diesem engen, unwegsamen Gelände vermag die Imperiale Ordnung ihre überwältigende zahlenmäßige Überlegenheit nicht einzusetzen. Ich bin recht zuversichtlich, dass sie halten werden. Der Umstand, dass Jagang das Gebirge nicht überqueren konnte, hat seinen Vormarschplan vorerst vereitelt, was uns einen Zeitgewinn verschafft, während er gezwungen ist, jetzt, da die Witterungsbedingungen für ihn günstig sind, eine Armee bis hinunter in den Süden und anschließend wieder hinauf nach D’Hara zu führen. Da von dort die größte Gefahr droht, werde ich die Armee auf ihrem Marsch nach Süden begleiten.

Betet für uns. Womöglich wird uns nichts anderes übrig bleiben, als uns jagangs Horden in der offenen Ebene zu stellen, wo er genügend Raum hat, uns die volle Angriffswucht seiner Streitmacht entgegenzuwerfen. Ich fürchte, falls sich bis dahin nichts mehr ändert, sind unsere Chancen, diese Schlacht zu überleben, nahezu null. Ich kann nur hoffen, dass Richard die Prophezeiungen erfüllt, ehe wir alle ums Leben kommen.

Ann musste schlucken, ehe sie antwortete. Verna, du hast mein Wort, dass ich alles Nötige tun werde, um dies zu garantieren. Du sollst wissen, dass Nathan und ich uns voll und ganz der Erfüllung dieser Prophezeiung verschrieben haben. Außer dir vermag vielleicht niemand wirklich zu begreifen, dass ich mir genau dies seit über einem halben Jahrtausend zum Ziel gemacht habe. Und dieses Ziel werde ich nicht aufgeben. Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um zu garantieren, dass Richard tut, wozu allein er fähig ist. Möge der Schöpfer mit dir und allen unseren tapferen Verteidigern sein. Ich werde dich in meine täglichen Gebete einschließen. Hab Vertrauen in den Schöpfer, Verna, und gib dieses Vertrauen an alle weiter, die bei dir sind.

Einen Augenblick später begann sich eine Antwort abzuzeichnen. Ich danke Euch, Ann. Ich werde auf unserem Marsch jeden Abend einen Blick in mein Reisebuch werfen, ob Ihr Neuigkeiten von Richard habt. Ich vermisse Euch und hoffe sehr, dass wir uns in diesem Leben wieder sehen.

Ann wählte ihre letzte Erwiderung mit Bedacht.

Ich auch, mein Kind. Gute Reise.

Ann stützte sich auf ihre Ellbogen und massierte sich die Schläfen. Die Nachrichten waren nicht eben erfreulich, aber sie waren auch nicht durch und durch schlecht. Jagang hatte vorgehabt, bei den Pässen durchzubrechen und den Feldzug zügig zu beenden, aber die Pässe hatten standgehalten, sodass er am Ende sogar gezwungen war, seine Armee aufzuteilen und sich auf einen langen und strapaziösen Marsch zu begeben. Noch blieb ihnen also etwas Zeit, noch standen ihnen eine ganze Reihe von Möglichkeiten offen. Sie selbst, vor allem aber Richard, würde sich schon etwas einfallen lassen. In den Prophezeiungen war ihnen zugesichert worden, dass er eine Chance zu ihrer aller Rettung in sich barg.

Sie durfte sich nicht dem Glauben überlassen, dass sich das Böse wie ein dunkler Schatten über die Welt legen würde.

Ein Klopfen an der Tür ließ sie erschrocken auffahren, und sie presste ihre Hand auf ihr wild pochendes Herz. Ihr Han hatte sie gar nicht gewarnt, dass jemand in der Nähe war. »Ja?«

»Ann, ich bin es, Jennsen«, war eine gedämpfte Stimme auf der anderen Seite der Tür zu hören. Ann steckte den Stift zurück an seinen Platz, stopfte das Reisebuch wieder hinter ihren Gürtel und schob ihren Stuhl zurück. Sie strich ihre Röcke glatt und atmete einmal tief durch, um ihren Puls wieder auf die normale Frequenz zu drosseln, dann öffnete sie, ein Lächeln für Richards Schwester auf den Lippen, die Tür. »Komm nur herein, Liebes. Und vielen Dank für den Teller mit Obst.« Sie wies mit dem Arm hinter sich zum Tisch. »Möchtest du vielleicht etwas abhaben?«

Jennsen schüttelte den Kopf. »Nein, vielen Dank.« Ihr von roten Locken eingerahmtes Gesicht war ein Bild der Besorgnis. »Ann, Nathan schickt mich. Er möchte Euch sprechen. Er hat ziemlich nachdrücklich darauf bestanden. Ihr wisst ja selbst, wie er sein kann, wenn er ganz große, aufgerissene Augen bekommt, sobald er sich über irgendetwas aufregt.«

»Ja«, sagte Ann gedehnt, »zu dieser Art von Verhalten neigt er in der Tat, sobald er irgendein Unheil ausheckt.«

Jennsen musterte sie erstaunt und wirkte leicht verwirrt. »Ich fürchte, da könntet Ihr Recht haben. Er hat mir unmissverständlich zu verstehen gegeben, Euch umgehend zu holen und zu ihm zu bringen.«

»Nathan erwartet immer, dass alles springt, sobald er pfeift.« Ann bedeutete der jungen Frau mit einer Handbewegung vorauszugehen. »Schätze, ich werde mich am besten sofort darum kümmern. Wo also befindet sich der Prophet?«

Jennsen hielt ihre Laterne in die Höhe, um sich den Weg zu leuchten, und machte Anstalten, die enge Kammer zu verlassen. »Auf einem Friedhof.«

Ann bekam sie am Ärmel ihres Kleids zu fassen. »Auf einem Friedhof? Und er möchte, dass ich auch dorthin komme?« Jennsen sah über ihre Schulter und nickte. »Was in aller Welt tut er auf einem Friedhof?«

Jennsen schluckte. »Als ich ihm diese Frage stellte, sagte er, er sei dabei, die Toten auszugraben.«

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