61

Während Nicci und Cara sich anschickten, zu der Stelle hinunterzusteigen, wo sich nach Julians Aussage die übrigen Kundschafter der Imperialen Ordnung befanden, kletterte Richard noch einmal zurück in seine Grabkammer, um die kleinste der Glaskugeln zu holen. Diese verstaute er in seinem Bündel, damit sie sein nächtliches Sehvermögen nicht beeinträchtigte, aber griffbereit wäre, sobald sie gezwungen waren, eines der Gebäude der verlassenen Stadt zu betreten. Die Aussicht, im Dunkeln halb verfallene alte Gemäuer zu durchstöbern, gefiel ihm ganz und gar nicht.

Julian dagegen bewegte sich wie eine Katze, die mit jedem Winkel, jedem Versteck in der alten Stadt auf der Landzunge vertraut war. Sie kamen durch Straßen, die unter dem Geröll und Schutt längst eingestürzter Mauern fast vollständig verschwunden waren. An manchen Stellen hatten sich Staub und Sand zwischen den Trümmerbergen angesammelt und mit der Zeit sämtliche Hohlräume ausgefüllt, sodass zwischen den Überresten der Gebäude kleine Hügel entstanden waren, auf denen jetzt Bäume wuchsen. Es gab eine ganze Reihe von Gebäuden, die zu betreten Richard sich weigerte, weil nicht abzusehen war, ob sie nicht schon beim nächsten Umschlagen des Windes in sich zusammenfallen würden. Andere wiederum waren in verhältnismäßig gutem Zustand. Eines der größeren Gebäude, zu dem Julian ihn führte, hatte eine von Rundbogen unterbrochene Fassade, die einst wahrscheinlich Fenster enthalten oder möglicherweise einen offenen Durchgang in ein Geviert gebildet hatten, das eine Art Innenhof zu sein schien.

»Dies ist das Eingangsgebäude zu einem Teil des Friedhofs«, erklärte Julian. Die Stirn in Falten gelegt, beugte sich Richard ein Stück vor, um das Bild zu betrachten. Irgendetwas daran war merkwürdig. Das Mondlicht fiel auf einige Figuren des Mosaiks, die Servierteller voller Brotlaibe und Fleischspeisen auf den Friedhof trugen, während andere offenbar mit leeren Tellern von dort zurückkehrten. Als er einen entsetzlichen Schrei aus der Ferne zu ihnen heraufwehen hörte, richtete er sich auf. Wie angewurzelt standen er und Julian und lauschten. Die kühle Nachtluft trug noch weitere dieser fernen, schwachen Klagelaute heran.

»Was war das?«, fragte Julian im Flüsterton, die kupferfarbenen Augen weit aufgerissen. »Ich denke, Nicci ist im Begriff, sich der Eindringlinge zu entledigen. Sobald sie damit fertig ist, werdet ihr alle wieder in Sicherheit sein.«

»Ihr meint, sie tut ihnen etwas an?«

Es war unschwer zu erkennen, dass ein derartiger Gedanke dem Mädchen vollkommen fremd war. »Diese Männer sind bereit, deinem Volk schlimmstes Leid zuzufügen – deinen Großvater eingeschlossen. Verschont man sie, werden sie eines Tages wiederkommen und dann dein Volk umbringen.«

Sie drehte sich um und blickte durch die Rundbogen nach hinten. »Das wäre gar nicht gut. Aber bis dahin hätten die Träume sie längst vertrieben.«

»Haben sich deine Vorfahren etwa durch das Übertragen von Träumen retten können? Oder die Bewohner dieser Stadt?«

Sie sah ihm wieder in die Augen. »Das wohl nicht.«

»Das Wichtigste überhaupt ist, dass Menschen, die das Leben zu würdigen wissen, so wie du, dein Großvater und dein Volk, ein sicheres, selbstbestimmtes Leben führen können; und das bedeutet manchmal eben, dass man die, die einem Böses wollen, beseitigen muss.«

Sie schluckte. »Ja, Lord Rahl.«

Lächelnd legte er ihr eine Hand auf die Schulter. »Richard. Ich bin zwar der Lord Rahl, aber trotzdem möchte ich, dass die Menschen in Frieden so leben können, wie sie selbst dies wünschen.« Endlich ging ein Lächeln über ihre Lippen. Richard wandte sich wieder dem Mosaik zu und betrachtete das Bild. »Weißt du, was das bedeutet? Dieses Bild, meine ich.«

»Nun, seht Ihr die Mauer dort?« Sie zeigte mit dem Finger darauf. »In den Weissagungen heißt es, dass diese Mauern einst die Gräber der Bewohner dieser Stadt beherbergten. Diese Stelle hier bezeichnet den Ort, an dem wir uns jetzt befinden. Dies ist der Durchgang, der zu den Toten führt. Weiterhin heißt es dort, dass es zwar stets Tote gab, aber nur diesen einen Ort, um sie innerhalb der Stadtmauer zu beerdigen. Die Menschen damals wollten nicht, dass ihre Lieben weit von ihnen entfernt lagen, fernab jener Stelle, die sie als heilige Stätte ihrer Ahnen betrachteten, daher legten sie diese Durchgänge an, wo sie eine Ruhestätte für sie finden konnten.«

Shotas Worte fielen ihm wieder ein. Du musst die Stätte der Gebeine im Herzen der Leere finden. Was du suchst, ist lange begraben.

»Zeig mir diesen Ort«, bat er Julian.

Die Stelle war unzugänglicher, als er erwartet hatte. Der Weg zurück durch das Gebäude führte durch ein wahres Labyrinth aus Durchgängen und Räumen, streckenweise wurden sie zwischen Mauern hindurchgeleitet, die zu den Sternen hin offen waren, nur um gleich darauf wieder in die dunklen Tiefen des Gemäuers einzutauchen. »Dies ist der Weg der Toten«, klärte Julian ihn auf. »Auf diesem Weg wurden die Verstorbenen hereingetragen. Es heißt, man habe ihn so angelegt, weil man hoffte, die Seelen der Toten würden sich durch diese Gänge verwirren lassen, sodass es den Seelen der frisch Verstorbenen unmöglich wäre, diesen Ort wieder zu verlassen. Eingesperrt an diesem Ort und unfähig, sich wieder unter die Lebenden zu mischen, würden sie stattdessen ihren Weg bis zu ihrem Platz in der Welt der Seelen fortsetzen, wo sie hingehörten.« Schließlich traten sie wieder hinaus in die Nacht. Soeben ging über der alten Stadt Caska ein sichelförmiger Mond auf. Hoch über ihnen zog Lokey seine Kreise und machte seine kleine Freundin mit einem Ruf auf sich aufmerksam, die zurückwinkte. Der Friedhof, der sich vor ihnen ausbreitete, war von beachtlicher Größe, trotzdem schien er für eine ganze Stadt unzureichend. Richard ging auf dem zwischen den dicht beieinander liegenden Gräbern hindurchführenden Fußweg neben Julian her. Ab und an waren ein paar knorrige Bäume zu erkennen, im Großen und Ganzen aber machte der Ort, mit seiner wildblumenübersäten Landschaft, im Mondschein einen friedlichen Eindruck. »Wo sind denn nun diese Durchgänge, von denen du gesprochen hast?«, wandte er sich nach einer Weile an sie. »Tut mir Leid, Richard, aber das weiß ich nicht. In den Weissagungen ist von ihnen die Rede, aber wo genau sie sich befinden, wird dort nicht erwähnt.«

»Kennst du denn noch andere Orte, wo sich diese Durchgänge befinden könnten, von denen in den Weissagungen die Rede ist?«

Julian verzog den Mund, während sie nachdachte. »Tut mir Leid, nein. Aber sobald die Luft rein, können wir zu meinem Großvater hinuntergehen und mit ihm sprechen. Wie vorhin schon gesagt: Er weiß ungeheuer viel – viel mehr als ich.«

Richard war sich keineswegs sicher, ob er noch genug Zeit hatte, sich die Geschichten ihres Großvaters anzuhören. Lokey war unterdessen flatternd nicht weit entfernt auf dem Boden gelandet und tat sich an den frisch aus der Erde kommenden Zikaden gütlich. Siebzehn Jahre hatten sie in der Erde überlebt, und jetzt krabbelten sie in immer größeren Scharen aus der Erde hervor, nur um sogleich von einem Raben aufgepickt zu werden.

Noch einmal rief sich Richard die Prophezeiung ins Gedächtnis, die Nathan ihm vorgelesen hatte. Darin war von ebendiesen Zikaden die Rede gewesen. Es war die Rede davon gewesen, dass in dem Augenblick, da sich die Zikaden zeigten, die letzte und entscheidende Schlacht unmittelbar bevorstehe. Die Welt, so hieß es dort, stehe am Rande der Finsternis.

Am Rande der Finsternis. Richards Blick wanderte hinüber zu der Stelle, wo die Zikaden hervorkamen, und sah ihnen zu, wie sie aus der Erde krabbelten.

Und während er dieses Schauspiel beobachtete, dämmerte ihm plötzlich, dass sie alle durch einen Spalt in einem Grabstein hervorgekrochen kamen, der mit dem Gesicht nach unten auf dem leicht ansteigenden Boden lag. Lokey hatte offenbar die gleiche Beobachtung gemacht, weshalb er jetzt dort saß und sie verspeiste. »Das ist seltsam«, sagte er bei sich.

»Was ist seltsam?«

»Na, schau doch. Die Zikaden arbeiten sich nicht durch die Erde an die Oberfläche, sie scheinen geradewegs unter dem Grabstein her vorzukrabbeln.«

Unter den Blicken Lokeys, der ihn mit seitlich geneigtem Kopf beobachtete, ließ Richard sich auf die Knie hinunter und schob seine Finger in den Spalt. Darunter schien sich ein Hohlraum zu befinden. Ächzend vor Anstrengung zog Richard an dem Stein. Der begann sich zu lösen, und als er sich allmählich heben ließ, erkannte er, dass er auf der linken Seite mit Angeln versehen war. Schließlich gab er endgültig nach und ließ sich umklappen.

Richard starrte hinab in das Dunkel. Bei dem Stein handelte es sich mitnichten um eine Gedenktafel, sondern um die steinerne Abdeckung eines Einstiegsschachts. Sofort entnahm er seinem Bündel die Glaskugel und hielt sie, sobald sie zu leuchten begonnen hatte, in den dunklen Schlund. Julian stockte der Atem. »Da ist ja eine Treppe!«

»Komm mit, aber sieh dich vor.«

Die Stufen waren aus Stein, unregelmäßig und schmal. Jede einzelne Trittkante war ausgetreten und von den unzähligen Füßen abgerundet, die über sie hinweggegangen waren. Der Gang war mit Gesteinsquadern gesäumt, sodass man ungehindert bis tief unter die Erde hinabsteigen konnte – bis die Stufen schließlich auf einen Absatz mündeten und dort nach rechts abschwenkten. Nach einer weiteren langen Treppenflucht bogen sie nach links ab und führten dort weiter in die Tiefe hinab.

Als sie schließlich am unteren Ende anlangten, mündete der Durchgang in eine Reihe breiterer Gänge, die in das massive, aber weiche Gestein des eigentlichen Untergrunds geschlagen worden waren.

Die leuchtende Glaskugel in der einen Hand und Julians Hand in der anderen, beugte sich Richard ein wenig vor, um sich nicht an der niedrigen Decke zu stoßen, und führte sie immer tiefer nach unten. Binnen kurzem erreichten sie einen Quergang. »Lassen sich deine Weissagungen irgendwie darüber aus, wie man sich hier unten zurechtfindet?« Sie schüttelte den Kopf. »Was ist mit all den Irrgängen, die du dir eingeprägt hast? Was meinst du, könnten sie dir hier unten vielleicht weiterhelfen?«

»Ich weiß nicht. Ich wusste ja nicht einmal, dass es diesen Ort überhaupt gibt.«

Mit einem Seufzer warf Richard einen Blick in jeden der beide Gänge. »Also gut, dann gehe ich eben einfach weiter hinein. Wenn d der Meinung bist, irgendetwas wieder zu erkennen, oder dir ein Streckenabschnitt bekannt vorkommt, lass es mich wissen.«

Nachdem sie eingewilligt hatte, begannen sie, die linke Abzweigung entlangzugehen. Kurz darauf stießen sie auf die ersten, zu beiden Seiten des engen Ganges in die Wände geschlagenen Nischen, in denen jeweils die Überreste eines Körpers lagen. Mitunter waren die Toten dort zu sogar dritt oder zu fünft aufgeschichtet, in einigen aber lagen nur deren zwei, vermutlich Ehemann nebst Gemahlin. Der schmale Durchgang mündete in eine Kammer, von der zehn Öffnungen in unterschiedlichen Richtungen abgingen und sich tunnelartig in das Gestein hineinbohrten. Richard wählte aufs Geratewohl einen aus und folgte ihm ein kleines Stück. Auch dieser Gang mündete schließlich in einen geräumigeren Hohlraum, von dem abermals ein Labyrinth aus weiteren unterirdischen Gängen abzweigte, wobei sich das Niveau des Fußbodens laufend veränderte; ab und zu senkte er sich noch weiter ab, gelegentlich aber ging es auch wieder ein Stück nach oben.

Kurz darauf stießen sie auf die ersten Gebeine.

Es gab Räume, in denen sich ähnliche Knochen jeweils in einer eigenen Wandnische stapelten; so lagen in einer, sorgfältig aufeinander geschichtet, ausschließlich Schädel, in einer anderen dagegen, alle gleich ausgerichtet, übereinander geschichtete Beinknochen, Armknochen in wieder einer anderen. Große steinerne Behältnisse, die man in die Seitenwände geschlagen hatte, enthielten kleinere Knochen, allesamt säuberlich hineingelegt. Richard und Julian durchquerten Gruft auf Gruft, und überall stießen sie auf ganze Wände aus menschlichen Schädeln, deren Zahl gewiss in die Zehntausende ging. Er war sich bewusst, dass er nur einen zufällig ausgewählten Durchgang vor sich hatte, und gerade deswegen überstieg die Zahl der hier, in diesen Katakomben, beigesetzten Menschen sein Vorstellungsvermögen. So schaurig, ja sogar erschreckend der Anblick so vieler Toter sein mochte, jeder einzelne ihrer Knochen schien mit einer gewissen Ehrerbietung eingelagert worden zu sein. Nicht einer war einfach achtlos in eine Ecke geworfen worden, im Gegenteil, man hatte ihnen die gleiche Sorgfalt zuteil werden lassen wie einem geachteten lebenden Wesen. Weit über eine Stunde, so schien es ihnen, bahnten sie sich einen Weg durch dieses Tunnellabyrinth, in dem sich jeder Abschnitt vom vorherigen unterschied. Mal waren die Durchgänge breit, mal eng, einige waren auf beiden Seiten von Räumen gesäumt. Nach einer Weile dämmerte Richard, dass jede dieser Grabkammern offenbar aus dem weichen Gestein geschlagen worden war, um Platz für eine Familie zu schaffen. Was wohl auch der Grund dafür war, dass die Wandnischen den gesamten verfügbaren Platz auf so willkürliche Weise auszufüllen schienen.

Schließlich gelangten sie in einen teilweise eingefallenen Abschnitt des Tunnelsystems. Ein mächtiger Gesteinsbrocken war herabgestürzt und mit ihm ein Haufen von Geröll ringsum. Richard blieb stehen und besah sich das steinerne Chaos. »Schätze, hier ist unser Weg zu Ende.«

Julian ging in die Hocke und spähte unter den Gesteinsbrocken, der den Durchgang in schrägem Winkel versperrte. »Ich kann einen Weg erkennen, der drunter durchführt.« Sie wandte sich zu Richard um; wie sie so hinter der quer über ihr Gesicht gemalten Maske hervorlugten, hatten ihre kupferfarbenen Augen etwas Furchterregendes. »Ich bin kleiner. Wollt Ihr, dass ich kurz mal einen Blick hineinwerfe?«

Richard hielt die leuchtende Glaskugel in die Öffnung, um ihr den Weg zu leuchten. »Also gut. Aber sobald du das Gefühl hast, dass es gefährlich werden könnte, will ich, dass du auf keinen Fall weiter kriechst. Hier unten gibt es abertausende unterirdischer Gänge, es gibt also noch genügend andere, in denen wir uns umsehen können.«

»Aber diesen Gang habt Ihr gefunden, und Ihr seid der Lord Rahl. Er muss also etwas zu bedeuten haben.«

»Ich bin auch nur ein Mensch, Julian – und nicht irgendein mit Weisheit gesegneter, aus dem Totenreich zurückgekehrter Geist.«

»Wenn Ihr meint, Richard.« Wenigstens ging ein Lächeln über ihre Lippen, als sie dies sagte. Dann verschwand Julian in der spitzwinkligen Öffnung, ganz ähnlich einem kleinen Vogel, der durch ein Dornengestrüpp schlüpft. Augenblicke später war ihre hallende Stimme zu hören. »Hier ist alles voller Bücher!«

»Bücher?«, rief er in die Öffnung hinein.

»Ja, jede Menge. Es ist stockfinster hier, aber es sieht aus, als gebe es hier einen großen Raum voll mit Büchern.«

»Ich komme«, rief er.

Er musste sein Bündel abnehmen und vor sich herschieben, als er sich hineinzwängte, trotzdem erwies sich die Kriecherei als nicht ganz so mühselig wie befürchtet, sodass er bald hindurch war. Als er sich auf der anderen Seite wieder aufrichtete, sah er, dass der riesige Gesteinsquader, der in schrägem Winkel quer im Durchgang lag, früher eine Tür gewesen war. Eine Tür, die offenbar so konstruiert war, dass sie aus einem in die Seitenwand gehauenen Spalt hervorglitt. Irgendwann jedoch war die massive Tür zerbrochen und zur Seite gekippt. Als Richard den Staub entfernte, um sich das Chaos näher zu betrachten, entdeckte er eine Metallplatte, wie sie zum Aktivieren eines Schildes verwendet wurde.

Der Gedanke, dass diese Bücher einst mit einem Schild gesichert gewesen waren, ließ sein Herz schneller schlagen.

Er drehte sich wieder zu dem Raum herum. Der warme Schein der leuchtenden Glaskugel enthüllte tatsächlich eine Kammer voller Bücher, deren Seitenwände, scheinbar ohne erkennbaren Grund, seltsam verwinkelt waren. Den staunenden Blick auf die unzähligen Bücher gerichtet, schlenderten Richard und Julian durch den Mittelgang. Ganz ähnlich wie in den letzten Ruhestätten der Toten waren auch hier die meisten Regale aus Platzgründen direkt in den massiven Fels hineingetrieben worden. Richard hielt die Kugel in die Höhe und ließ den Blick über die Regale wandern.

»Hör zu«, sagte er zu Julian. »Ich suche etwas ganz Bestimmtes, das den Namen ›Feuerkette‹ trägt. Möglicherweise handelt es sich um ein Buch. Du beginnst auf der einen Seite, ich übernehme die andere. Und achte bitte sorgfältig darauf, dass du dir jeden einzelnen Buchtitel genau ansiehst.«

Julian nickte. »Wenn es hier drin ist, werden wir es auch finden.«

Die gewaltigen Ausmaße der alten Bibliothek hatten etwas Entmutigendes. Zoll für Zoll arbeiteten sie sich voran, bis sie um eine Ecke bogen, wo sie auf eine Reihe von Nebenkammern stießen, die zwar kleiner als der Hauptraum, nichtsdestoweniger aber auch voller Bücher waren. Die Suche ging nur langsam voran, da sie auf gleicher Höhe arbeiten mussten, um beide etwas sehen zu können. Mehrere Stunden arbeiteten sie sich gewissenhaft durch die gesamte Bibliothek. Ab und an mussten sie kurz stehen bleiben, um den Staub von einem Buchrücken zu blasen.

Richard war müde und zunehmend frustriert, bis sie endlich an eine Stelle gelangten, wo er eine weitere Metallplatte entdeckte. Er presste seine Hand dagegen, und sofort geriet die Felswand vor ihnen in Bewegung. Die Tür war nicht groß, und nach einer kurzen Drehung tat sich dahinter tiefste Dunkelheit auf. Er hoffte, dass die Schilde unmittelbar auf das Erkennen seiner Gabe ansprangen und nicht erst dadurch ausgelöst wurden, dass sie seine magischen Kräfte zwangen, auf ein lautloses unmerkliches Signal zu reagieren. Wenn sich die Bestie plötzlich zeigte, wollte er sich wirklich nicht ausgerechnet hier unten in den Katakomben befinden. Richard hielt das Licht in das Dunkel und erblickte eine kleine Kammer voller Bücher. Des Weiteren gab es einen Tisch, der jedoch vor langer Zeit schon unter der Last eines darauf gestürzten Teils der Decke zusammengebrochen war.

Während Julian, voll konzentriert mit dem Finger die Titel entziffernd, an den Buchrücken entlangfuhr, eilte Richard mit fünf großen Schritten zur gegenüberliegenden Wand hinüber, wo er tatsächlich eine weitere Metallplatte entdeckte. Er presste seine Hand darauf.

Langsam schwang eine weitere schmale Tür von ihm fort, hinein in das Dunkel. Er zog den Kopf noch etwas tiefer zwischen die Schultern, trat in die Türöffnung und hielt das Licht ein Stück weit hinein. »Wünschst du zu reisen, Herr?«, schlug ihm eine hallende Stimme entgegen. Er starrte auf einen hellen Lichtpunkt, der vom silbrigen Gesicht der Sliph zurückgeworfen wurde. Es war der Brunnenraum, durch den sie hergekommen waren. Die Türöffnung befand sich genau gegenüber den Treppenstufen, neben denen sie die erste Metallplatte entdeckt hatten, mit der sich die Decke hatte öffnen lassen. Sie hatten den größten Teil der Nacht damit verbracht, im Kreis herumzulaufen, nur um letztendlich wieder dort zu landen, wo sie angefangen hatten.

»Seht mal, was ich hier habe, Richard.«

Richard drehte sich zu Julian herum und sah sich dem roten Ledereinband eines Buches gegenüber, das sie ihm vor die Nase hielt.

Es trug den Titel Feuerkette.

Richard war so verblüfft, dass er kein Wort hervorbrachte.

Julian folgte ihm, breit grinsend über ihren Fund, in den Raum der Sliph, als er diesen rückwärts gehend betrat und ihr das Buch dabei aus den Händen nahm.

Ihm war, als hätte er seinen Körper verlassen und betrachtete sich selbst, in den Händen das Buch mit dem Titel Feuerkette.

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