50

Nicci öffnete eine eisenbeschlagene Eichentür ins gleißend helle Tageslicht. Unmittelbar über ihr, an einem strahlenden tiefblauen Himmel, der an jedem anderen Tag ihre Stimmung gehoben hätte, zogen bauschige weiße Wolken vorbei, und eine frische Brise wehte ihr das Haar ins Gesicht. Sie strich es zurück und blickte die schmale Brücke entlang zum fernen Wehrgang. Am Ende der Brücke, drüben an der gegenüberliegenden Mauer der Brustwehr, in einer Lücke zwischen den Zinnen, stand Richard und blickte den Berghang hinab. Cara stand ganz in der Nähe und drehte sich herum, als sie die Tür hörte. Mit hastigen Schritten überquerte Nicci die Brücke, die die tief unten liegenden Burghöfe überspannte. Unten, in einem Rosengarten am Fuß eines Turms, dort, wo sich mehrere Mauern trafen, konnte sie mehrere Steinbänke erkennen. Als sie endlich neben Richard stand, sah er zu ihr herüber und schenkte ihr ein kurzes, schmallippiges Lächeln. Ihr wurde ganz warm ums Herz bei diesem Anblick, auch wenn sie wusste, dass es kaum mehr als eine höfliche Geste war.

»Rikka war gerade bei mir, um mir mitzuteilen, dass sich jemand der Burg nähert. Ich hielt es für angebracht, dich holen zu kommen.«

Cara, nur drei Schritt entfernt, rückte ein wenig näher. »Weiß Rikka, um wen es sich handelt?«

Nikki schüttelte den Kopf. »Ich fürchte nein, und ich bin nicht eben wenig besorgt.«

Ohne sich zu rühren oder den Blick von der fernen Landschaft zu lösen, sagte Richard: »Es sind Ann und Nathan.«

Einen überraschten Ausdruck im Gesicht, warf Nicci einen Blick über den Mauerrand, als er mit dem Finger auf sie zeigte, tief unten auf der Straße, die sich in endlosen Serpentinen den Berg zur Burg der Zauberer heraufwand.

»Aber es sind drei Reiter«, bemerkte sie.

Richard nickte. »Sieht ganz so aus, als könnte Tom bei ihnen sein.«

Nicci lehnte sich weiter an ihm vorüber und spähte die Stirnfläche der Steinmauer hinab. Der Abgrund war beängstigend. Plötzlich überkam sie eine dunkle Ahnung, dass ihr die Stelle, wo er stand, ganz und gar nicht gefiel.

»Du kannst von hier aus mit Sicherheit sagen, dass es Ann und Nathan sind?«, fragte sie. »Ja.«

Nicci war nicht sonderlich begeistert, die Prälatin wieder zu sehen. Als Schwester des Lichts, die den größten Teil ihres Lebens im Palast der Propheten verbracht hatte, war ihr Bedarf an den Schwestern und deren Führerin mehr als gedeckt. Wie für alle Schwestern, war die Prälatin für sie in vieler Hinsicht eine Mutterfigur, eine Person, die stets zur Stelle war, um ihnen, wann immer sie sich als Enttäuschung erwiesen hatten, die Leviten zu lesen und sie daran zu erinnern, dass sie ihre Anstrengungen zugunsten der Bedürftigen verdoppeln müssten. In jungen Jahren war es ihre Mutter gewesen, die stets bereit gewesen war, jedweden Eigennutz ihrerseits mit größtmöglicher Strenge zu unterdrücken, sollte dieser jemals sein hässliches Haupt erheben. In ihrem späteren Leben dann hatte die Prälatin diese Rolle übernommen, wenn auch mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen. Aber ob mit einem Lächeln oder mit Strenge, der Zweck war stets der gleiche: Unterwerfung, auch wenn sie einen freundlicheren Namen trug.

Ganz anders dagegen verhielt es sich mit Nathan Rahl; eigentlich kannte sie den Propheten kaum. Es gab Schwestern, vor allem junge Novizinnen, die schon bei der bloßen Nennung seines Namens das große Zittern überkam. Nach allgemeinem Bekunden war er nicht nur gefährlich, sondern möglicherweise sogar geistesgestört, was, wenn es denn stimmte, ein beunruhigendes Licht auf Richards gegenwärtige Situation warf. Den Gerüchten zufolge, die unter den Stadtbewohnern kursierten, galt es als geradezu sicher, dass er böse war, da er ihnen Dinge über ihre Zukunft vorherzusagen vermochte. Besondere Talente waren stets dazu angetan, den Zorn der Massen zu wecken, insbesondere, wenn es sich um Talente handelte, die sich nicht ohne weiteres für ihre Bedürfnisse einspannen ließen.

Im Grunde jedoch scherte es Nicci wenig, was die Leute über Nathan redeten. Sie hatte ihre eigenen Erfahrungen mit wahrhaft gefährlichen Menschen gemacht, Jagang war nur der Jüngste unter ihnen, der es auf ihrer Liste boshafter Menschen je bis ganz nach oben gebracht hatte.

»Wir sollten ihnen entgegengehen«, bemerkte Nicci an Richard und Cara gewandt. Richard blickte noch immer hinaus in die Landschaft. »Geht nur, wenn Ihr wollt.«

Seinem Tonfall nach hätte er kaum weniger Interesse für einen Besucher zeigen können, oder dafür, wer dieser Besucher war. Offensichtlich war er mit seinen Gedanken ganz woanders und wollte nur, dass sie wieder ging. Nicci strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Meinst du nicht, du solltest dich wenigstens erkundigen, was sie wollen? Schließlich hatten sie ganz sicher einen weiten Weg bis hierher. Sie wollen bestimmt nicht einfach nur auf eine Tasse Milch und ein Stück Kuchen vorbeischauen.«

Richards einzige Reaktion auf ihren Versuch, komisch zu sein, war ein einseitiges Schulterzucken. »Darum soll Zedd sich kümmern.«

Wie sehr vermisste sie den klaren Blick in seinen Augen! Sie war mit ihrer Geduld am Ende, die Situation wurde unerträglich. Mit einem Seitenblick auf die Mord-Sith sagte sie ruhig, gleichwohl in un-missverständlich gebieterischem Ton: »Cara, warum vertretet Ihr Euch nicht ein wenig die Beine? Bitte.«

Cara, überrascht über Niccis ungewöhnliche, aber klare Anweisung, besah sich kurz den vor der Maueröffnung stehenden Richard, dann nickte sie ihr verschwörerisch zu. Nicci sah ihr hinterher, wie sie den Wehrgang verließ, ehe sie erneut das Wort an Richard richtete, diesmal allerdings geradeaus und ohne Umschweife. »Das muss endlich ein Ende haben, Richard.«

Der hüllte sich in Schweigen, den Blick über die weite, sich unten ausbreitende Landschaft gerichtet. Sie legte eine Hand auf die steinerne Zinne, sodass er sie unmöglich übersehen konnte, und schlug einen beherzteren Ton an: »Oder hast du es etwa aufgegeben, für deine Überzeugungen zu kämpfen?«

»Das Kämpfen überlasse ich anderen.« Es war nicht Verzweiflung, die aus seiner Stimme sprach, sie klang, als hätte er sich endgültig aufgegeben.

»Das habe ich nicht gemeint.« Nicci fasste seinen Arm und drehte ihn sanft, aber bestimmt zu sich herum, drehte ihn fort von dem Abgrund und zwang ihn, ihr in die Augen zu sehen. »Hast du etwa nicht die Absicht, dich zu wehren?«

Er erwiderte ihren Blick, antwortete aber nicht.

»Und an allem ist Zedds Behauptung schuld, er sei von dir enttäuscht.«

»Ich denke eher, das Grab, das ich geöffnet habe, könnte ein wenig damit zu tun haben.«

»Du magst das vielleicht denken, aber ich nicht. Warum sollte es ? Du bist auch früher schon am Boden zerstört gewesen und hast schwere Rückschläge hinnehmen müssen. Ich habe dich gefangen genommen und in die Alte Welt verschleppt, und was hast du getan? Du hast dich gewehrt und bist, ganz wie es deine Art ist, für deine Überzeugungen eingetreten – innerhalb der Grenzen dessen, was ich dir zugestanden habe. Indem du der warst, der du bist, hast du deine Liebe für das Leben bewiesen, und das hat mein Leben von Grund auf verändert. Du hast mir wahre Lebensfreude gezeigt und alles , was sie bedeutet. Diesmal bist du, dem Tod knapp entronnen, wieder aufgewacht, nur um festzustellen, dass weder ich noch Cara oder sonst jemand dir deine Erinnerung an Kahlan abnimmt, aber nicht einmal das konnte dich aufhalten. Was immer wir auch vorgebracht haben, du bist nach wie vor für deine Überzeugungen eingetreten.«

»Was in diesem Sarg lag, ist etwas ganz anderes und hat, würde ich sagen, etwas mehr Gewicht als ein harmloser Streit, weil jemand einem nicht glaubt.«

»Ist es das? Ich denke nicht. Es war ein Skelett. Na und?«

»Na und?« Verdruss schlich sich in seine Züge. »Habt Ihr den Verstand verloren? Was soll das heißen ›na und‹?«

»Es liegt mir wahrlich fern, für deine Sicht der Dinge einzutreten, obwohl ich nicht an sie glaube, aber ich möchte dich auch nicht von einer Wahrheit überzeugen, für die es meiner Meinung nach keine Beweise gibt. Ich will dich mit echten Fakten überzeugen, nicht mit solch fadenscheinigen Belegen.«

»Was wollt Ihr damit sagen?«

»Nun, hast du etwa, zum Beweis, dass es sich tatsächlich um sie handelt, Kahlans Gesicht gesehen? Nein, das wäre auch schlecht möglich gewesen, da kein Gesicht mehr vorhanden war, sondern nur ein Schädel – ohne Gesicht, Augen oder sonstige Merkmale. Das Skelett trug das Kleid der Mutter Konfessor. Und wenn schon? Ich war im Palast der Konfessoren; dort gibt es unzählige Kleider wie dieses. Oder reicht dir etwa ein auf ein goldenes Band gestickter Name als Beweis? Als hinreichender Beweis, um deine Suche zu beenden, deine Überzeugungen aufzugeben? Nach all den Gesprächen mit Cara und mir, nach all den Auseinandersetzungen und dem guten Zureden hast du auf einmal das Gefühl, dass dieser fadenscheinige Beleg deine Selbsttäuschung beweist? Ein Skelett in einem Sarg mit einem auf ein Band gestickten Namen in den Händen genügt dir, um dich plötzlich davon zu überzeugen, dass du diese Frau nur zusammenfantasiert hast, so wie wir es dir von Anfang an beizubringen versucht haben, obwohl du nichts davon wissen wolltest? Findest du nicht, dass dieses Namensband ein wenig zu gelegen kommt?«

Richard musterte sie stirnrunzelnd. »Worauf wollt Ihr hinaus?«

»Ich glaube, das ist es gar nicht, was wirklich mit dir los ist. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass du dich in deinen Erinnerungen täuschst, trotzdem glaube ich nicht, dass der Richard, den ich kenne, sich von den zweifelhaften Beweisstücken in diesem Grab überzeugen lassen würde. Und es geht auch nicht darum, dass Zedd deinen Erinnerungen nicht mehr Glauben schenkt als Cara oder ich.«

»Aber worum geht es dann?«

»Darum, dass du dich von irgendeinem Leichnam in einem Sarg hast überzeugen lassen, er sei diese Frau, und zwar nur, weil du, nachdem dein Großvater dir gesagt hatte, er sei von dir enttäuscht und du hättest ihn im Stich gelassen, Angst hattest, es könnte die Wahrheit sein.«

Richard machte Anstalten, sich abzuwenden, doch Nicci bekam sein Hemd zu fassen, zog ihn wieder herum und zwang ihn, ihr in die Augen zu sehen.

»Das ist meiner Meinung nach der Grund«, stieß sie wild entschlossen hervor. »Du schmollst, weil dein Großvater dir gesagt hat, du hättest dich geirrt, weil er gesagt hat, du hättest ihn enttäuscht.«

»Vielleicht habe ich das ja.«

»Na und?«

Die Verwirrung ließ Richard das Gesicht verzerren. »Schon wieder dieses ›Na und‹!«

»Nun, das soll ganz einfach heißen, was ist schon dabei, wenn er von dir enttäuscht ist? Was ist schon dabei, wenn du in seinen Augen eine große Dummheit begangen hast? Du bist dein eigener Herr. Du hast lediglich getan, was du nach reiflicher Überlegung meintest, tun zu müssen.«

»Aber ich habe ...«

»Was denn, ihn enttäuscht? Dir mit deinen Entscheidungen seinen Zorn zugezogen? Er hatte eine ach so hohe Meinung von dir, und nun hast du ihn enttäuscht, weil du seiner Ansicht nach nicht seinen Erwartungen entsprochen hast?«

Richard, nicht bereit, es offen zuzugeben, musste schlucken.

Nicci bog sein Kinn nach oben und zwang ihn, ihr in die Augen zu sehen. »Du bist nicht verpflichtet, den Erwartungen anderer zu entsprechen, Richard.«

Er schien sprachlos und sah sie aus halb zugekniffenen Augen an. »Es ist dein Leben, Richard«, beharrte sie. »Du selbst hast mir das beigebracht. Du hast getan, was du glaubtest, tun zu müssen. Hast du Shotas Angebot etwa abgelehnt, weil Cara nicht einer Meinung mit dir war? Nein. Hättest du es abgelehnt, wenn du gewusst hättest, dass ich es für einen Fehler halte, ihr dein Schwert zu überlassen? Oder hättest du sie abgewiesen, wenn wir beide erklärt hätten, es wäre töricht, ihr Angebot zu akzeptieren? Nein, ich glaube kaum.

Und warum nicht? Weil du getan hast, was du glaubtest, tun zu müssen, und sosehr du auch gehofft haben magst, wir wären mit dir einer Meinung, letztendlich hat das keine Rolle gespielt, denn aufgrund deiner Überzeugung musstest du so handeln. Du hast dich nicht vor der Entscheidung gedrückt, sondern hast gehandelt – aus Gründen, die nur du allein kennen kannst, und das war vollkommen richtig. Ist es nicht so?«

»Nun ... ja.«

»Was also sollte es für einen Unterschied machen, wenn dein Großvater denkt, du hättest einen Fehler begangen? War er etwa dabei? Ist er auf demselben Kenntnisstand wie du? Sicher, es wäre schön, wenn er dein Vorgehen für richtig hielte, wenn er dich unterstützte und ein paar nette Worte für dich fände, aber so ist es nun mal nicht. Ist dein Entschluss deshalb etwa falsch? Ist er das?«

»Nein.«

»Dann darfst du auch dein Denken nicht davon beherrschen lassen. Die Menschen, die uns lieben, setzen manchmal größte Erwartungen in uns, und manchmal werden diese Erwartungen zum Ideal erhoben. Du hast angesichts deiner Überzeugungen und deines Kenntnisstandes getan, was du tun musstest, um die Antworten zu erhalten, die du zur Lösung deines Problems brauchtest. Du bist nicht dazu verpflichtet, den Erwartungen anderer gerecht zu werden, wohl aber ist es deine Pflicht, deinen eigenen Erwartungen gerecht zu werden.«

Ein Hauch der alten Klarheit, des alten Feuers, war in seine wachen grauen Augen zurückgekehrt. »Soll das etwa heißen, dass Ihr mir glaubt, Nicci?«

Betrübt schüttelte sie den Kopf. »Nein, Richard. Ich denke noch immer, dass dein Glaube an die Existenz Kahlans auf deine Verletzung zurückzuführen ist. Ich denke, sie ist ein Geschöpf deiner Fantasie.«

»Und das Grab?«

»Willst du die Wahrheit hören?« Als er nickte, holte sie tief Luft. »Ich denke, dass dort tatsächlich die echte Mutter Konfessor liegt, Kahlan Amnell.«

»Verstehe.«

Wieder fasste Nicci sein Kinn und zwang ihn, ihr ins Gesicht zu sehen. »Aber das bedeutet noch lange nicht, dass ich Recht habe. Ich gründe meine Überzeugung auf andere Dinge – Dinge, die ich sicher weiß. Aber sosehr ich davon überzeugt sein mag, dass sie es ist, glaube ich nicht, dass irgendetwas, das ich in diesem Sarg gesehen habe, tatsächlich als Beweis dafür herhalten kann. Es wäre nicht das erste Mal, dass ich mich irre. Deiner Meinung nach habe ich die ganze Zeit über in diesem Punkt falsch gelegen. Willst du etwa tun, was jemand sagt, der sich deiner Ansicht nach irrt? Warum solltest du?«

»Aber es ist so schwer, wenn niemand einem glaubt.«

»Sicher, das ist es, aber was soll’s? Das setzt diese Leute doch noch lange nicht ins Recht und dich ins Unrecht.«

»Aber wenn alle sagen, man hat Unrecht, kommen einem irgendwann Zweifel.«

»Stimmt, das Leben kann bisweilen ziemlich schwierig sein. Aber in der Vergangenheit haben dich Zweifel stets nur noch energischer nach der Wahrheit suchen lassen, um dich von der Richtigkeit deines Tuns zu überzeugen, denn das Wissen um die Wahrheit kann einem die Kraft zum Weiterkämpfen geben. Diesmal jedoch war alles zu viel für dich – der Schock über den Anblick des Leichnams im Grab der Mutter Konfessor, nachdem du nicht einmal mit der Möglichkeit gerechnet hattest, dort einen vorzufinden, und dann auch noch die unerwartet harte Schelte deines Großvaters im Moment deines größten Schocks. Ich kann dich durchaus verstehen, es war dein letzter Strohhalm gewesen, danach hattest du alldem nichts mehr entgegenzusetzen. Jeder stößt irgendwann an die Grenzen dessen, was er ertragen kann, und gibt auf – selbst du, Richard Rahl. Du bist sterblich, und du hast Grenzen wie jeder andere auch. Aber damit musst du fertig werden und weitermachen. Du hattest Zeit, um vorübergehend aufzugeben, aber jetzt musst du dein Leben wieder in den Griff bekommen.«

Sie konnte förmlich sehen, wie er nachdachte, abwog. Es war ein erhebender Anblick, Richards Verstand wieder arbeiten zu sehen, auch wenn sie seine Unschlüssigkeit sehr wohl bemerkte. Sie wollte unbedingt vermeiden, dass er sich jetzt wieder zurückfallen ließ, nachdem er es so weit geschafft hatte. »Es muss doch schon früher vorgekommen sein, dass jemand dir nicht geglaubt hat, in anderen Situationen«, sagte sie. »Hat es nie Momente gegeben, da diese Kahlan dir nicht glaubte? Wenn sie tatsächlich existiert, muss sie dir doch irgendwann widersprochen, an dir gezweifelt, mit dir gestritten haben. Und wenn es dazu kam, hast du doch gewiss getan, was du meintest, tun zu müssen, auch wenn sie der Ansicht war, du habest dich geirrt oder seist sogar ein wenig verrückt. Gütiger Himmel, Richard, es ist wahrlich nicht das erste Mal, dass ich dich für verrückt halte.«

In seinen Mundwinkeln zuckte kurz ein Lächeln, dann fing er an, darüber nachzudenken, und zu guter Letzt ging ein breites Grinsen über sein Gesicht.

»Ja, solche Augenblicke, in denen sie mir nicht glaubte, hat es mit Kahlan bestimmt gegeben.«

»Und trotzdem hast du getan, was du meintest, tun zu müssen, hab ich Recht?«

Immer noch lächelnd, nickte Richard.

»Also lass diesen Zwischenfall mit deinem Großvater nicht dein ganzes Leben ruinieren.«

Er hob den Arm, ließ ihn aber kraftlos wieder fallen. »Nur ist es eben so, dass ...«

»... Zedds Bemerkungen dich zum Aufgeben gebracht haben, ohne dass du von dem, was du von Shota bekommen hast, auch nur Gebrauch gemacht hättest.«

Er hob abrupt den Kopf, plötzlich war seine ganze Aufmerksamkeit auf sie gerichtet. »Was wollt Ihr damit sagen?«

»Shota hat dir im Tausch gegen das Schwert der Wahrheit Informationen gegeben, die dir helfen sollten, die Wahrheit herauszufinden. Und eine dieser Informationen lautete: ›Was du suchst, ist lange begrabene Aber das war nicht alles; Cara hat mich und Zedd genauestens über Shotas Worte unterrichtet. Das offenbar wichtigste Detail, das sie dir verraten hat – weil es das erste war und sie glaubte, dich damit abspeisen zu können –, war der Begriff Feuerkette. Richtig?« Richard, ganz Ohr, nickte.

»Anschließend erklärte sie dir, du müsstest die Stätte der Knochen im Herzen der Leere finden, des Weiteren riet sie dir, dich vor der vierköpfigen Viper in Acht zu nehmen.

Was also ist diese Feuerkette? Was hat es mit dem Herzen der Leere auf sich, und was bedeutet diese vierköpfige Schlange? Du hast für diese Information einen hohen Preis bezahlt, Richard, aber was hast du damit angefangen? Du bist hierher gekommen und hast Zedd gefragt, ob er es wisse, worauf er verneinte und dir anschließend zu verstehen gab, wie enttäuscht er von dir sei.

Na und? Willst du deswegen alles abtun, was deine Suche dir bisher eingetragen hat? Weil ein alter Mann, der keinen Schimmer hat, was diese Kahlan dir bedeutet oder was du in den letzten Jahren durchgemacht hast, glaubt, du hättest töricht gehandelt? Willst du etwa hier einziehen und sein Schoßhündchen spielen? Willst du das eigenständige Denken ganz einstellen und dich einfach darauf verlassen, dass er es für dich übernimmt?«

»Natürlich nicht.«

»Zedd war am Grab verärgert. Immerhin hatte er, um das Schwert der Wahrheit in seinen Besitz zu bringen, Dinge durchgemacht, die wir wahrscheinlich gar nicht ermessen können. Was also erwartest du von ihm? Hätte er vielleicht sagen sollen: ›Oh ja, ausgezeichnete Idee, Richard, gib es ihr nur zurück, schon in Ordnung‹? Er hatte eine Menge investiert, um dieses Schwert von ihr zurückzubekommen, und fand, dass du dich auf einen törichten Handel eingelassen hast. Na und? Das ist seine Sicht der Dinge, und vielleicht hat er sogar Recht. Du dagegen dachtest, die Information sei wichtig genug, um einen Gegenstand zu opfern, den er dir anvertraut hatte, um dafür etwas noch Wertvolleres einzuhandeln. Du warst überzeugt, es sei ein gutes Geschäft. Cara berichtete, zunächst habest du geglaubt, Shota könnte dich vielleicht hereingelegt haben, schließlich jedoch seist du zu der Überzeugung gelangt, dass sie dir einen angemessenen Gegenwert gegeben hat. Hat Cara das richtig wiedergegeben?«

Richard nickte.

»Wie hat sich Shota über dein Geschäft geäußert?«

Richards Blick wanderte zu den himmelwärts strebenden Türmen hinter Niccis Rücken, während er sich die Worte ins Gedächtnis rief. »Shota sagte: ›Du wolltest eine Information von mir, die dir bei der Suche nach der Wahrheit helfen kann, und die habe ich dir gegeben: Feuerkette. Ob du dir in diesem Augenblick dessen bewusst bist oder nicht, du hast einen angemessenen Gegenwert bekommen, ich habe dir die Antworten gegeben, die du brauchst. Du bist der Sucher – oder warst es zumindest. Du wirst die Bedeutung suchen müssen, die sich hinter diesen Antworten verbirgt.‹«

»Und – glaubst du ihr?«

Richard senkte den Blick und überlegte einen Moment. »Ja, das tue ich.« Als er ihn wieder hob und ihr in die Augen sah, sprühten sie vor neu erwachter Lebendigkeit. »Ich glaube ihr.«

»Nun, dann solltest du mir und Cara und auch deinem Großvater klar machen, dass wir dir, wenn wir dir schon nicht helfen wollen, wenigstens nicht im Weg stehen und dich tun lassen sollten, was du tun musst.«

Ein Lächeln ging über seine Lippen, wenn auch ein etwas trauriges. »Ihr seid eine ziemlich bemerkenswerte Frau, Nicci, dass Ihr mich überreden wollt weiterzukämpfen, obwohl Ihr nicht einmal an das glaubt, wofür ich kämpfe.« Er beugte sich vor und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Ich wünsche wahrhaftig, das könnte ich, Richard ... um deinetwillen.«

»Ich weiß. Ich danke Euch. Ihr seid eine Freundin – und das sage ich, weil nur einer guten Freundin mehr daran gelegen wäre, mir zu helfen, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen, als daran, was das für sie bedeutet.« Er streckte die Hand vor und wischte ihr mit dem Daumen eine Träne von der Wange. »Ihr habt mehr für mich getan, als Ihr ahnt, Nicci. Und dafür danke ich Euch.«

Nicci verspürte eine Mischung aus überschwänglicher Freude und erdrückender Enttäuschung darüber, dass sie praktisch wieder dort waren, wo sie angefangen hatten.

Trotzdem hätte sie ihm am liebsten die Arme um den Hals geschlungen – stattdessen aber ergriff sie seine auf ihrer Wange liegende Hand mit beiden Händen.

»Und jetzt«, sagte er, »denke ich, sollten wir besser Ann und Nathan begrüßen. Und danach muss ich unbedingt herausfinden, welche Rolle der Begriff Feuerkette in dieser Geschichte spielt. Werdet Ihr mir dabei helfen?«

Nicci, ein Lächeln auf den Lippen, nickte, zu gerührt, um auch nur ein Wort hervorzubringen, ehe sie ihm schließlich, unfähig, sich länger zurückzuhalten, die Arme um den Hals schlang und ihn ganz fest an sich drückte.

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