56

»Führe uns, Meister Rahl. Lehre uns, Meister Rahl. Beschütze uns, Meister Rahl«, murmelte Kahlan nun schon zum wer-weiß-wievielten Mal.

»In deinem Licht werden wir gedeihen. Deine Gnade gebe uns Schutz. Deine Weisheit beschämt uns. Wir leben nur, um zu dienen. Unser Leben gehört dir.«

Vom langen Knien auf dem harten Boden, die Stirn auf die Fliesen gepresst, während sie wieder und wieder den Text der Andacht sprach, taten ihr die Schultern weh, und doch machte es ihr trotz ihrer quälenden Müdigkeit kaum etwas aus.

»Führe uns, Meister Rahl«, begann Kahlan erneut im Einklang mit dem Chor aus Stimmen, die leise durch die marmornen Flure hallten.

»Lehre uns, Meister Rahl. Beschütze uns, Meister Rahl. In deinem Licht werden wir gedeihen. Deine Gnade gebe uns Schutz. Deine Weisheit beschämt uns. Wir leben nur, um zu dienen. Unser Leben gehört dir.«

Tatsächlich fand sie es eher angenehm, wieder und wieder die immer gleichen Worte zu wiederholen. Es füllte ihren Geist aus und half ihr, das entsetzliche Gefühl völliger Leere zu betäuben. Die Worte gaben ihr das Gefühl, nicht vollkommen allein zu sein.

Nicht so verloren.

»Führe uns, Meister Rahl. Lehre uns, Meister Rahl. Beschütze uns, Meister Rahl. In deinem Licht werden wir gedeihen. Deine Gnade gebe uns Schutz. Deine Weisheit beschämt uns. Wir leben nur, um zu dienen. Unser Leben gehört dir.«

Einige der Gedanken brachten eine Saite in ihr zum Klingen, denn sie enthielten eine für sie durchaus tröstliche Vorstellung: ein erfülltes, erfolgreiches Leben in Sicherheit und Geborgenheit, beherrscht von Wissen und Weisheit. Es war ein Bild, das ihr gefiel, ein Bild voller Ideen, die ihr wie ein unfassbarer Traum erschienen. Eigentlich hatten ihre Begleiterinnen es eilig gehabt, doch als sie Soldaten in ihre Richtung blicken sahen, hatten sie entschieden, dass es klüger wäre, sich der breiten Masse anzuschließen, die sich auf dem zum bedeckten Himmel hin offenen Platz einzufinden begann. Unter dem bedeckten Himmel hatten sie eine Fläche weißen Sandes vorgefunden, der rings um einen dunklen, mit Narben übersäten Stein in konzentrischen Kreisen geharkt war. Und auf diesem Stein, in einem robusten Gestell, war eine Glocke angebracht, jene Glocke, deren Läuten die Menschen aufgefordert hatte, sich zu versammeln.

Die Öffnung im Deckengewölbe des Platzes wurde auf allen vier Seiten von Pfeilern gestützt. Auf dem gefliesten Boden zwischen diesen Pfeilern lagen die Menschen rings um Kahlan vornübergebeugt auf den Knien, berührten mit der Stirn die Fliesen und intonierten in einer Art harmonischem Sprechgesang die an den Lord Rahl gerichtete Andacht.

Unmittelbar vor dem Ende der nächsten Wiederholung erklang die Glocke auf dem dunklen, narbenübersäten Stein zweimal, und mit den abschließenden Worten »Unser Leben gehört dir«, verstummten die Stimmen rings um Kahlan.

In der plötzlichen Stille erhoben sich die Menschen bis auf die Knie, wobei sich viele erst einmal gähnend räkelten, ehe sie vollends aufstanden. Die Gespräche setzten wieder ein, die Menschen begannen sich zu entfernen und kehrten wieder in ihre Geschäfte zurück oder zu dem, was immer sie getan hatten, bevor die Glocke sie zur Andacht rief.

Als ihre Begleiterinnen winkten, gehorchte Kahlan sofort und begann, den Flur entlangzugehen, der von dem offenen Platz fortführte. Nachdem sie mehrere Statuen sowie eine Kreuzung passiert hatten, schwenkten sie zur Seite des breiten Flurs hinüber. Die drei anderen Frauen blieben stehen. Kahlan wartete schweigend und beobachtete die vorübergehenden Passanten.

Nach dem langen Aufstieg über nicht enden wollende Treppen, dem endlosen Weg durch ellenlange Flure, gefolgt von weiteren Treppenstufen, und das alles gleich im Anschluss an die Reise, die sie überhaupt erst hierher geführt hatte, war Kahlan so erschöpft, dass sie fast im Stehen einschlief. Sie hätte sich liebend gern hingesetzt, war aber klug genug, nicht darum zu bitten. Die Schwestern kümmerte ihre Erschöpfung nicht, schlimmer noch, sie konnte deutlich ihre Angespanntheit und Gereiztheit spüren, insbesondere nach der unerwarteten, durch den Sprechgesang verursachten Verzögerung. Bestimmt würden sie der Bitte, sich hinsetzen zu dürfen, nicht mit Verständnis oder gar Freundlichkeit begegnen. In ihrer derzeitigen Laune hätten sie, das wusste Kahlan, nicht die geringsten Bedenken, sie schon wegen einer solch harmlosen Anfrage zu schlagen. Vermutlich würden sie es nicht gleich hier besorgen, nicht in Gegenwart der vielen Passanten, dafür aber gewiss später. Deshalb stand sie schweigend da, versuchte, sich unsichtbar zu machen und nicht ihren Zorn zu erregen.

Das Knien eben würde ihr als Rast genügen müssen. Mehr würde man ihr gewiss nicht zugestehen. Soldaten in schmucken Uniformen, ein Sammelsurium blank polierter Waffen griffbereit am Körper, patrouillierten in den Fluren und hatten dabei auf jeden ein wachsames Auge. Wann immer diese Wachen sie passierten, sei es zu zweit oder in einer größeren Gruppe, nahmen sie sorgfältig Notiz von den drei bei Kahlan stehenden Frauen. Die drei Schwestern taten dann jedes Mal, als bestaunten sie irgendwelche Statuen oder die kunstvollen, ländliche Szenen darstellenden Wandbehänge. Einmal drängten sie sich, um der Aufmerksamkeit der passierenden Wachen zu entgehen, sogar zu einer kleinen Gruppe zusammen und zeigten, die Soldaten scheinbar nicht beachtend, mit dem Finger auf die pompöse Statue einer Frau, die, eine Weizengarbe in der Hand, auf einen Speer gestützt stand. Dabei tuschelten sie mit lächelnden Mienen leise untereinander, als vergnügten sie sich bei einer freundlichen Plauderei über die künstlerischen Vorzüge des Werkes, bis die Soldaten weitergegangen waren.

»Würdet ihr zwei euch jetzt endlich auf diese Bank dort setzen«, knurrte Schwester Ulicia. »Ihr benehmt euch wie Katzen, die von einem Rudel Hunde beschnuppert werden.«

Schwester Tovi und Schwester Cecilia, beide schon etwas betagt, blickten sich kurz um, ehe sie die Bank entdeckten, die ein paar Schritte hinter ihnen vor der weißen Marmorwand stand. Sie strichen ihre Kleider glatt und ließen sich nebeneinander darauf nieder. Vor allem Tovi mit ihrem schweren Körper machte einen erschöpften Eindruck. Vom Knien mit der Stirn auf den Fliesen war ihr faltiges Gesicht rot angelaufen, während die stets auf ihr Äußeres bedachte Cecilia die sich ihr durch das Platznehmen auf der Bank bietende Gelegenheit nutzte, überflüssigerweise ihr ergrautes Haar zu richten.

Erleichtert angesichts der Gelegenheit, sich hinsetzen zu können, steuerte auch Kahlan auf die Bank zu. »Du nicht«, fuhr Schwester Ulicia sie an. »Kein Mensch wird Notiz von dir nehmen. Stell dich einfach neben sie, damit ich dich besser im Auge behalten kann.« Sie hob bedrohlich eine Braue, um ihrer Warnung Nachdruck zu verleihen.

»Ja, Schwester Ulicia«, beeilte sich Kahlan zu erwidern.

Schwester Ulicia erwartete stets eine Antwort, wenn sie mit jemandem sprach, eine Lektion, die Kahlan erst schmerzhaft hatte lernen müssen. Sie hätte gewiss schneller geantwortet, wenn sie nach dem Hinweis, dass das Angebot, sich hinzusetzen, für sie nicht galt, nicht aufgehört hätte, richtig zuzuhören. Sie ermahnte sich, trotz ihrer Müdigkeit aufmerksamer hinzuhören, denn sonst würde sie sich erst einmal eine Ohrfeige und irgendwann später womöglich Schlimmeres einhandeln.

Aber Schwester Ulicia ließ sie nicht aus den Augen und erlaubte ihr auch nicht fortzusehen, sondern schob ihr die Spitze ihres robusten Eichenstabes unters Kinn und zwang sie, den Kopf zu heben.

»Der Tag ist noch nicht um; du musst noch immer deine Schuldigkeit tun. Und denk nicht einmal im Traum daran, mich irgendwie zu hintergehen. Hast du verstanden?«

»Ja, Schwester Ulicia.«

»Gut. Wir sind nämlich alle genauso müde wie du.«

Kahlan wollte schon einwenden, dass sie vielleicht müde sein mochten, aber immerhin doch geritten seien, während sie selbst stets zu Fuß mit den Pferden hatte Schritt halten müssen. Mitunter hatte sie sogar in Trab fallen oder laufen müssen, um nicht den Anschluss zu verlieren. Schwester Ulicia war stets alles andere als erfreut gewesen, wenn sie ihr Pferd kehrtmachen lassen und umkehren musste, um ihre hinterher hängende Sklavin wieder aufzulesen.

Staunend blickte sich Kahlan nach all den im Korridor ausgestellten wundersamen Dingen um, bis ihre Neugier schließlich über ihre Vorsicht siegte und sie fragte: »Schwester Ulicia, was ist dies für ein Ort?«

Mit ihrem Eichenstab gegen ihre Hüfte klopfend, erfasste die Schwester mit einem kurzen Rundblick ihre Umgebung. »Der Palast des Volkes. Ein wahrhaft prachtvoller Ort. Dies ist das Zuhause des Lord Rahl.«

Sie wartete, offenbar, um abzuwarten, ob Kahlan etwas erwidern würde, doch Kahlan wusste nichts zu sagen. »Lord Rahl?«

»Du weißt schon, der Mann, zu dem wir eben gebetet haben. Richard Rahl, um genau zu sein. Er ist der derzeitige Lord Rahl.« Schwester Ulicias Blick verengte sich. »Hast du jemals von ihm gehört, Schätzchen?«

Kahlan überlegte angestrengt. Lord Rahl, Lord Richard Rahl. Ihr Geist schien leer. Nur zu gern hätte sie bestimmte Dinge gedacht, hätte sie sich erinnert, aber es wollte ihr nicht gelingen. Vermutlich gab es einfach nichts, an das sie sich hätte erinnern können.

»Nein, Schwester. Ich glaube nicht, dass ich jemals von diesem Lord Rahl gehört habe.«

»Nun«, erwiderte diese mit dem durchtriebenen Lächeln, das sie bisweilen an den Tag legte, »das hätte mich auch sehr gewundert. Wer bist du schließlich, ein Niemand. Ein Nichts, eine Sklavin.«

Kahlan unterdrückte den Drang, ihr zu widersprechen. Wie hätte sie das auch anstellen sollen? Was hätte sie dagegenhalten sollen?

Schwester Ulicias Grinsen wurde breiter. Es schien, als könnten ihre Augen bis auf den Grund ihrer Seele blicken. »Ist es vielleicht nicht so, Schätzchen? Du bist eine wertlose Sklavin, die sich glücklich schätzen kann, die milde Gabe einer Mahlzeit zu erhalten.«

Kahlan wollte etwas einwenden, wollte sagen, dass sie mehr war als das, dass ihr Leben wertvoll war und wert, gelebt zu werden, aber sie wusste, diese Dinge waren nur ein Traum. Sie war bis auf die Knochen müde. Und jetzt war ihr auch noch das Herz schwer.

»Ja, Schwester Ulicia.«

Sobald sie über sich selbst nachzudenken versuchte, war da nichts außer einem leeren Nichts. Ihr Leben schien so trist, so öde. Sie fand, es sollte nicht so sein, und doch war es so. Als Schwester Ulicia bemerkte, dass Kahlans Blick auf die zurückkehrende Schwester Arminia fiel, eine reife Frau von offenem Wesen, wandte sie sich herum. Soeben bahnte sich Arminia unter dem Geraschel ihres dunkelblauen Kleides immer wieder ausweichend mit eiligen Schritten einen Weg zwischen den einherschlendernden, in Unterhaltungen vertieften und nicht weiter auf ihren Weg achtenden Passanten hindurch und durchquerte den breiten Flur.

»Und?«, erkundigte sich Schwester Ulicia, als Schwester Arminia bei ihnen anlangte. »Ich wurde aufgehalten, von einer Menschenmenge, die eine Andacht an unseren Lord Rahl intonierte.«

Schwester Ulicia seufzte. »Uns ist es genauso ergangen. Was hast du herausgefunden?«

»Es ist die richtige Stelle – gleich hinter mir, an der nächsten Kreuzung rechts und dann durch den Flur. Aber wir müssen unter allen Umständen vorsichtig sein.«

»Warum?«, wollte Schwester Ulicia wissen, als die Schwestern Tovi und Cecilia herbeieilten, um mitzuhören. Die vier Schwestern steckten die Köpfe zusammen.

»Die Tür befindet sich gleich dort, an der Seite des Flurs. Völlig unmöglich, ungesehen dort hineinzugelangen. Es ist ziemlich offensichtlich, dass niemand auch nur auf den Gedanken kommen soll, den Raum zu betreten.«

Schwester Ulicia warf einen Blick rechts und links in den Flur, um sich zu vergewissern, dass niemand sie beachtete. »Was soll das heißen, es ist ziemlich offensichtlich?«

»Die Gestaltung der Türen zielt eindeutig darauf ab, Unbefugte abzuschrecken. Sie sind über und über mit Schlangen bedeckt.«

Erschrocken wich Kahlan einen Schritt zurück. Schlangen waren ihr verhasst. Schwester Ulicia, die Lippen aufeinander gepresst, klopfte mit ihrem Stab gegen ihr Bein. Schäumend vor Wut, wandte sie sich mit säuerlicher Miene schließlich herum zu Kahlan. »Weißt du noch, was du zu tun hast?«

»Ja, Schwester«, antwortete Kahlan augenblicklich.

Sie wollte es endlich hinter sich bringen. Je eher die Schwestern glücklich und zufrieden waren, desto besser. Außerdem war die Stunde bereits vorgerückt. Der lange Aufstieg im Innern des Felsplateaus und der anschließende Sprechgesang hatten mehr Zeit in Anspruch genommen, als ursprünglich vorgesehen. Die Schwestern waren davon ausgegangen, um diese Zeit längst fertig und wieder auf dem Rückweg zu sein. Insgeheim hoffte Kahlan, sie könnte, sobald sie ihre Arbeit erledigt hätte, ein Lager aufschlagen und ein wenig schlafen. Man erlaubte ihr nie, genügend Schlaf zu bekommen. Zwar war das Errichten eines Lagers für sie mit zusätzlicher Arbeit verbunden, aber zumindest konnte sie sich darauf freuen, ein wenig zu schlummern sofern sie sich nicht den Unmut der Schwester zuzog und sich eine Tracht Prügel einhandelte. »Na schön, das ändert praktisch nichts. Wir werden uns lediglich etwas mehr im Hintergrund halten müssen, das ist alles.« Schwester Ulicia kratzte sich an der Wange und benutzte dies als Vorwand, sich ausgiebig umzusehen und nach Wachen Ausschau zu halten, ehe sie erneut den Kopf vorstreckte. »Cecilia, du bleibst hier und behältst dieses Ende des Flurs nach Anzeichen drohender Gefahr im Blick. Arminia, du gehst zurück bis hinter die Einmündung und hältst dort auf der anderen Seite die Augen offen. Und zwar jetzt gleich, damit es für einen zufälligen Beobachter nicht so aussieht, als gehörten wir zusammen, wenn wir uns der Tür nähern.«

Schwester Arminia ließ ein verschlagenes Grinsen aufblitzen.

»Ich werde über den Flur schlendern und wie eine von ehrfürchtiger Scheu ergriffene Besucherin aussehen, bis sie wieder zurück ist.«

Ohne ein weiteres Wort zog sie los.

»Tovi«, fuhr Schwester Ulicia fort, »du wirst mich begleiten. Wir werden als zwei Freundinnen auftreten, die auf Besuch schwatzend durch den prunkvollen Palast des Lord Rahl schlendern. Unterdessen wird sich Kahlan hier ihrer Aufgabe annehmen.«

Sie packte Kahlans Oberarm und wirbelte sie zu sich herum. »Komm mit.«

Mit einem derben Schubs wurde Kahlan vor ihnen hergestoßen und, noch während sie ihr Bündel auf den Rücken schwang, den Flur entlang gescheucht. Die beiden Schwestern folgten ihr. Als sie sich der Einmündung näherten, wo sie rechts abbiegen mussten, kamen zwei Soldaten um die Ecke und hielten genau auf sie zu. Schwester Tovi sahen sie kaum an, Schwester Ulicias Lächeln dagegen veranlasste sie zurückzulächeln. Wenn sie wollte, konnte sie auf ganz unschuldige Weise bezaubernd wirken, zudem war sie attraktiv genug, um die Blicke der Männer auf sich zu ziehen.

Auf Kahlan achtete niemand.

»Hier«, zischte Schwester Ulicia. »Bleib hier stehen.«

Kahlan hielt an und starrte zu den beiden massiven Mahagonitüren auf der anderen Seite des Flurs hinüber, von wo aus ihr die in die Tür geschnitzten Schlangen entgegenblickten, deren hintere Enden sich um zwei in den oberen Türrand geschnitzte Äste wanden, von denen ihre Körper herabhingen, sodass ihre Köpfe sich etwa in Augenhöhe befanden. Aus ihren klaffenden Kiefern ragten spitze Fangzähne hervor, so als wären sie bereit, jeden Moment zu attackieren. Warum jemand eine Tür ausgerechnet mit Schnitzereien von solch abscheulichen Geschöpfen schmückte, überstieg Kahlans Begriffsvermögen. Alles andere in diesem Palast war von ausgesuchter Schönheit, nur diese beiden Türen nicht.

Schwester Ulicia schob sich ganz dicht neben sie. »Hast du dir deine Anweisungen genau gemerkt?«

Kahlan nickte. »Ja, Schwester.«

»Falls du noch Fragen hast, dies ist der Augenblick, sie zu stellen.«

»Nein, Schwester. Ich erinnere mich an alles, was Ihr mir aufgetragen habt.«

Manchmal fragte sich Kahlan, wie es kam, dass sie sich an bestimmte Dinge genau erinnerte, während andere wie von einem dichten Nebel verhüllt schienen.

»Und trödle nicht rum«, sagte Tovi.

»Nein, Schwester Tovi. Werde ich nicht.«

»Das, was du für uns holen sollst, benötigen wir dringend, aber vor allem kommt es darauf an, dass du dich nicht zu irgendwelchen Dummheiten hinreißen lässt.« In Tovis Augen blitzte Bosheit auf. »Hast du das verstanden, Mädchen?«

Kahlan schluckte. »Ja, Schwester Tovi.«

»Wäre auch besser für dich«, setzte Tovi hinzu. »Wenn nicht, wirst du mir Rede und Antwort stehen, und das wird dir nicht gefallen, glaub mir.«

»Verstehe, Schwester Tovi.«

Sie wusste, wie todernst es ihr damit war. Für gewöhnlich war sie von vergleichsweise ruhigem Gemüt, aber wenn man sie provozierte, konnte sie im Nu bösartig werden, schlimmer noch, hatte sie erst einmal angefangen, genoss sie es, sich an den hilflosen Qualen anderer zu weiden. »Dann also los«, drängte Schwester Ulicia. »Und denk daran, du darfst mit niemandem sprechen. Sollte dich einer der Soldaten dort vorne ansprechen, beachte ihn ganz einfach nicht. Sie werden dich nicht weiter behelligen.«

Der Blick in Schwester Ulicias Augen ließ Kahlan stutzen. Sie nickte kurz, dann entfernte sie sich mit zügigen Schritten den Flur entlang. Ihre Erschöpfung war vergessen, und sie wusste, was sie zu tun hatte, vor allem wusste sie, dass sie sich andernfalls großen Ärger einhandeln würde. An der Tür angelangt, packte sie einen Knauf, der einem grinsenden Totenschädel nachempfunden, allerdings aus Bronze war, und musste ihre ganze Kraft aufbieten, um die schwere Tür aufzuziehen. Dabei vermied sie es ganz bewusst, die Schlangen anzusehen.

Drinnen blieb sie kurz stehen, um ihren Augen Gelegenheit zu geben, sich an das trübe Licht der Lampen zu gewöhnen. Die dicken, m Gold- und Blautönen gehaltenen Teppiche dämpften jedes Geräusch im Raum und verhinderten das Entstehen eines Echos, wie es m den meisten Fluren vorkam. Der persönliche Raum, ganz im gleichen Mahagoni getäfelt, aus dem auch die Türen bestanden, erschien ihr in dem ansonsten so geräuschvollen Palast wie eine stille Zuflucht.

Kaum hatte sie die Tür hinter sich geschlossen, wurde ihr bewusst, dass sie endlich vollkommen von der Gesellschaft der vier Schwestern befreit war. Sie konnte sich gar nicht mehr erinnern, wann dies zuletzt der Fall gewesen war, eine der Schwestern schien immer ein Auge auf sie zu haben, auf ihre Sklavin. Dabei wusste sie gar nicht, warum sie sie unter so strenger Bewachung hielten, sie hatte nie einen Fluchtversuch unternommen. Mehrfach hatte sie ernsthaft mit dem Gedanken gespielt, aber der war nie so weit gediehen, dass sie es tatsächlich versucht hätte.

Andererseits erzeugte der bloße Gedanke, den Schwestern fortzulaufen, einen derart entsetzlichen Schmerz, dass sie das Gefühl hatte, das Blut sickere ihr aus den Ohren und ihre Augen müssten jeden Moment zerplatzen. Sobald sie daran dachte, die Schwestern zu verlassen – während der Schmerz sie dann mit seiner ungeheuren Heftigkeit fast zu erdrücken drohte –, war es ihr unmöglich, den Gedanken wieder schnell genug aus ihrem Kopf zu verbannen, und selbst wenn es ihr gelang, klang er noch eine Weile nach. Nach einem solchen Zwischenfall war ihr normalerweise vom Magen her so übel, dass es Stunden dauerte, bis sie wieder aufrecht stehen oder gar laufen konnte.

Zudem wussten die Schwestern jedes Mal Bescheid, wenn es passiert war, vermutlich, weil sie sie als erbärmliches, am Boden zusammengebrochenes Häuflein Elend vorfanden. Und wenn die Schmerzen in ihrem Kopf dann endlich abgeklungen waren, wurde sie geschlagen. Am schlimmsten führte sich dabei Schwester Ulicia auf, denn sie benutzte den robusten Stab, den sie stets bei sich trug; und der hinterließ nur sehr langsam verheilende Schwielen. Einige waren noch immer nicht wieder verheilt. Diesmal jedoch hatten sie Kahlan den Befehl gegeben, sie zu verlassen und das Zimmer allein zu betreten, hatten ihr erklärt, solange sie sich an ihre Anweisungen halte, werde der Schmerz nicht ausgelöst. Das Gefühl, diese vier schrecklichen Frauen endlich los zu sein, hatte eine so beflügelnde Wirkung auf Kahlan, dass sie vor Freude beinahe in Tränen ausgebrochen wäre.

Doch dann warteten im Innern des Raumes bereits vier hoch gewachsene Wachen, um an die Stelle der vier Schwestern zu treten. Unschlüssig, wie sie weiter vorgehen sollte, blieb sie zögernd stehen. Schlangen zu beiden Seiten der mit Schlangenschnitzereien verzierten Tür, Schlangen überall – sie schien einfach nirgendwo zur Ruhe kommen zu können.

Einen Moment lang verharrte Kahlan wie erstarrt auf der Stelle. Sie hatte Angst, einfach an den Wachen vorbeizugehen, hatte Angst, was sie ihr antun könnten, jetzt, da sie sich an einem Ort aufhielt, an dem sie ganz offenkundig nichts zu suchen hatte.

Die Soldaten starrten auf höchst merkwürdige Weise in ihre Richtung. Kahlan nahm all ihren Mut zusammen, strich sich eine Strähne ihres langen Haars hinters Ohr und steuerte auf das Treppenhaus zu, das sie auf der gegenüberliegenden Zimmerseite erblickte. Zwei der Wachen traten auf sie zu, um ihr den Weg zu verstellen. »Was glaubst du eigentlich, wo du hinwillst?«

Kahlan, den Kopf gesenkt, ging einfach weiter und drehte den Körper leicht zur Seite, um zwischen ihnen hindurchzuschlüpfen.

Sie befand sich unmittelbar neben ihm, als der zweite Gardist den ersten fragte: »Was hast du gesagt?«

Der erste, der Kahlan gefragte hatte, wohin sie eigentlich zu gehen meinte, starrte ihn nur verständnislos an. »Was? Gar nichts hab ich gesagt.«

Sie war bereits auf dem Weg zur Treppe, als die zwei anderen Wachen zu den beiden hinüberschlenderten, die Kahlan den Weg zu verstellen versucht hatten.

»Was plaudert ihr zwei denn da?«, wollte der eine wissen.

Der erste winkte ab. »Nichts weiter, schon gut.«

Kahlan hastete die Stufen hinauf, so schnell ihre müden Beine sie trugen. Auf dem Treppenabsatz legte sie eine kurze Verschnaufpause ein, auch wenn sie wusste, dass sie sich nicht allzu lange ausruhen durfte. Augenblicke später packte sie den Handlauf aus poliertem Stein und eilte den Rest des Weges hinauf. Das Geräusch ihrer nahenden Schritte ließ einen Soldaten am oberen Ende der Treppe augenblicklich herumfahren. Er starrte sie die ganze Zeit an, während sie die letzten Stufen hinauf bis zum Flur erklomm, aber dann lief sie einfach an ihm vorbei. Er stutzte nur kurz, ehe er abdrehte und gemächlichen Schritts seinen Patrouillengang fortsetzte.

Der Flur war voller Soldaten – überall waren Soldaten. Offenbar hatte Lord Rahl eine Menge Soldaten in seinen Diensten, und alle waren sie große, entschlossen aussehende Kerle. Der Anblick so vieler Soldaten zwischen ihr und ihrem auftragsgemäßen Ziel ließ Kahlan schlucken, die Augen angsterfüllt weit aufgerissen. Schwester Ulicia würde ganz sicher nicht verständnisvoll reagieren, wenn sie sich von diesen Männern aufhalten ließe. Einige erblickten Kahlan und machten bereits Anstalten, auf sie zuzugehen, doch kaum waren sie bei ihr angelangt, wich das Interesse aus ihrem Blick, und sie gingen einfach an ihr vorbei. Während sie den Flur entlangeilte, wandten sich andere Wachen aufgeregt an ihre Offiziere, nur um, nach dem Grund befragt, zu erklären, es sei nichts und man möge es vergessen. Andere hatten schon den Arm gehoben, um auf sie zu zeigen, ließen ihn dann aber wieder sinken und gingen einfach weiter ihres Weges. Während immer mehr Soldaten sie erblickten und sogleich wieder vergaßen, eilte Kahlan unbeirrt den Flur entlang, ihrem Ziel entgegen, das sie unbedingt, so hatte man es ihr eingeschärft, erreichen musste. Allerdings beunruhigte sie, dass so viele Soldaten mit Armbrüsten ausgerüstet waren und schwarze Handschuhe trugen und ihre gespannten Waffen mit tödlich aussehenden rot befiederten Bolzen bestückt waren. Schwester Ulicia hatte ihr erklärt, dieselbe Magie, welche die Schmerzen hervorrief, um sie an der Flucht zu hindern, umgebe sie mit magischen Netzen, die verhinderten, dass sie bemerkt wurde. Kahlan hatte zu ergründen versucht, warum die Schwestern so etwas tun sollten, doch ihre Gedanken sträubten sich gegen jeden logischen Zusammenhang, wollten sich einfach nicht zu einer Erkenntnis verknüpfen lassen. Das war das Allerschlimmste, dieses völlige Unvermögen, einen bestimmten Gedanken zu verfolgen, sobald sie den Wunsch danach verspürte. Für gewöhnlich begann sie mit einer Frage, aber sobald sich die Antwort abzuzeichnen begann, lief das Ganze ins Leere, so als käme danach nichts mehr.

Auch wenn sie ein magischer Schleier umhüllte, sie wusste nur zu gut, dass sie auf der Stelle tot wäre, wenn einer der Soldaten seine Armbrust auf sie richtete und auf den Abzug drückte, ehe er sie wieder vergaß.

Sie hätte nicht einmal etwas dagegen gehabt, tot zu sein, denn dann wäre sie wenigstens von dem quälenden Albtraum befreit, zu dem ihr Leben geworden war. Aber Schwester Ulicia hatte sie gewarnt, dass die Schwestern großen Einfluss beim Hüter des Totenreichs besäßen, und in diesem Zusammenhang einfließen lassen, sie seien Schwestern der Finsternis – wie um ihr die Glaubwürdigkeit ihrer Warnung nachdrücklich vor Augen zu führen. Eine Beteuerung, deren Kahlan wirklich nicht bedurfte. Sie hatte nie daran gezweifelt, dass jede der vier Schwestern imstande wäre, sie bis in den hintersten Winkel zu verfolgen und dort wieder hervorzuholen, selbst wenn dieser Winkel eine Grabstelle war, wie jene, die sie in einer finsteren Nacht geöffnet hatten – aus Gründen, die Kahlan sich nicht vorzustellen vermochte und die sie auch gar nicht wissen wollte. Ein Blick in die schauderhaften Augen der Schwester hatte ihr die Gewissheit gegeben, dass sie die Wahrheit sprach. Danach war der Tod für sie keine verlockende Erlösung mehr gewesen, sondern ein Versprechen von grauenhaftem Schrecken.

Kahlan wusste nicht, ob ihr Leben schon immer das einer Leibeigenen gewesen war, über die andere nach Belieben verfügen konnten. Aber sosehr sie sich auch bemühte, sie konnte sich an kein anderes erinnern. Immer wieder schlüpfte sie unbemerkt an Patrouillen vorbei, passierte sie mehrere Kreuzungen, die ihr Schwester Ulicia auf dem Weg hierher in verschiedenen Nachtlagern in den Sand gezeichnet hatte, und nicht ein einziges Mal versuchte jemand sie auf ihrem Weg durch die Flure, die sie sich eingeprägt hatte, aufzuhalten. Es hatte beinahe etwas Erniedrigendes, dass kein einziger Mann ihr Beachtung schenkte. Es war überall das Gleiche: Niemand bemerkte sie, und wenn doch, zeigte ihr der Betreffende sofort seine Gleichgültigkeit und widmete sich wieder seinen eigenen Angelegenheiten. Sie war eine Sklavin ohne eigenes Leben, sie gehörte anderen. Es gab ihr das Gefühl, unsichtbar zu sein, bedeutungslos, unwichtig – ein Niemand. Ab und zu versuchte sie sich vorzustellen, wie es wohl wäre, jemanden zu haben, der einen mochte und schätzte ... und diese Gefühle zu erwidern.

Kahlan wischte sich eine Träne von der Wange, sie wusste, so weit würde es nie kommen. Sklaven besaßen kein eigenes Leben, sie waren dazu da, dem Willen ihrer Herrn und Meister zu gehorchen – das hatte Schwester Ulicia ihr unmissverständlich klar gemacht. Eines Tages hatte sie diesen boshaften Blick in den Augen bekommen, der sie manchmal überkam, und gesagt, sie spiele mit dem Gedanken, Kahlan sich fortpflanzen zu lassen, damit sie ihnen einen Nachkommen gebären könne.

Aber wie war es nur dazu gekommen? Woher stammte sie? Die Vergangenheit anderer Menschen verschwand gewiss nicht einfach so aus ihrer Erinnerung, wie dies bei ihr der Fall war. Sie schaffte es einfach nicht, ihren von nebulösen Vorstellungen eingelullten Verstand zu zwingen, dem Problem auf den Grund zu gehen. Gewiss, sie konnte die Fragen formulieren, aber die Antworten schienen sofort von einem trüben Dunst aus Nichtigkeit aufgesogen zu werden. Diese absolute Unfähigkeit zu denken war ihr zutiefst verhasst. Wieso konnten andere denken, sie dagegen nicht? Selbst diese Frage schwand in dem Sumpf aus ineinander verschlungenen Schatten rasch zu Bedeutungslosigkeit – genau wie sie selbst, sobald jemand sie erblickte.

Kahlan gelangte zu einer riesigen vergoldeten Doppeltür und blieb stehen. Die Tür entsprach genau Schwester Ulicias Beschreibung – sie trug die Darstellung einer sanft geschwungenen, bewaldeten Hügellandschaft und war gänzlich mit Gold überzogen. Ein kurzer Blick nach beiden Seiten, dann legte sie sich mit ihrem ganzen Gewicht ins Zeug und zog einen der massiven Türflügel weit genug auf, um hindurchzuschlüpfen. Ein letzter Blick ergab, dass keine der Wachen sie beobachtete. Sie zog die Tür hinter sich wieder zu. Drinnen war es beträchtlich heller als auf dem Flur. Obwohl der Tag bedeckt war, ließen die Oberlichter eine Flut von Licht herein, die einen durch und durch erstaunlichen Garten beleuchtete. Schwester Ulicia hatte ihr den Garten in groben Zügen geschildert, aber als sie ihn jetzt hier oben im Palast mit eigenen Augen sah, übertraf er ihre kühnsten Erwartungen. Er war fantastisch!

Dieser Richard Rahl konnte sich glücklich schätzen, einen solchen Garten zu besitzen, den er jederzeit, wann immer es ihm beliebte, aufsuchen konnte. Sie fragte sich, ob er ihn wohl während ihres Aufenthalts aufsuchen, sie sehen und ... sogleich wieder vergessen würde.

Dann fiel ihr wieder ein, weshalb sie hergekommen war, und sie schalt sich, mit ihren Gedanken bei der Sache zu bleiben, bei dem, was man ihr aufgetragen hatte. Sie lief einen der durch eine weite Fläche von Blumenbeeten führenden Pfade entlang, wo der Boden mit abgefallenen roten und gelben Blütenblättern übersät war, und sofort kam ihr der Gedanke, ob dieser Richard Rahl hier womöglich Blumen für seine Geliebte pflückte. Ihr gefiel der Klang seines Namens; darin schwang etwas Ermutigendes mit. Sie überlegte, wie er wohl sein mochte, und ob er selbst genauso angenehm war wie der Klang seines Namens in ihren Ohren. Während sie den Pfad entlanglief, blickte sie zu den kleinen Bäumen hinauf, die rings um sie her wuchsen. Sie mochte Bäume sehr, sie erinnerten sie an ... an irgendetwas. Vor lauter Frust entfuhr ihr ein wütendes Knurren; sie konnte es nicht ausstehen, wenn es ihr nicht gelang, sich an Dinge zu erinnern, von denen sie sicher wusste, dass sie wichtig waren. Und selbst wenn nicht, sie hasste es, ständig irgendetwas zu vergessen. Es war, als vergäße man Teile der Erinnerung an die eigene Herkunft.

Sie lief an Sträuchern und rankenüberwucherten Steinmauern vorbei, bis sie eine grasbewachsene Fläche erreichte, die sich laut Schwester Ulicias Beschreibung genau in der Mitte des Gartens befand. Gegenüber war die kreisrunde Grasfläche von einem keilförmigen Gesteinsblock unterbrochen, auf dem eine granitene Platte lag, die stark an einen Tisch erinnerte.

Und auf dieser Granitplatte sollten ebenjene Gegenstände stehen, die zu holen man Kahlan hierhin geschickt hatte. Als ihr Blick unvermittelt auf sie fiel, verließ sie schlagartig aller Mut. Die drei Gegenstände waren schwarz wie der Tod höchstselbst, sie schienen dem Raum, den Oberlichtern, ja sogar dem Himmel alles Licht zu entziehen und in sich aufzusaugen.

Mit ängstlich pochendem Herzen überquerte Kahlan die Grasfläche und lief zu dem granitenen Tisch hinüber. Die Nähe dieser düster aussehenden Gegenstände machte sie nervös. Sie ließ die Trageriemen von den Schultern gleiten und stellte ihr Bündel neben den drei Kästchen ab, deretwegen man sie hergeschickt hatte, doch wegen des darunter geschnallten Bettzeugs wollte es nicht aufrecht stehen bleiben, sodass sie es ein wenig zur Seite kippen lassen musste. Einen Moment lang legte sie ihre Hand auf das Bettzeug und ertastete die fließenden Konturen dessen, was darin eingewickelt war ihr wertvollster Besitz. Dann fiel ihr ein, dass sie sich besser wieder ihrer eigentlichen Aufgabe widmete, und schlagartig wurde ihr klar, dass sie ein Problem bekommen würde. Die Kästchen waren um einiges größer, als sie nach Schwester Ulicias Beschreibung hätten sein dürfen. Jedes einzelne von ihnen war fast so groß wie ein Laib Brot. Damit stand fest, dass auf keinen Fall alle drei in ihr Bündel passen würden.

Doch genau das waren ihre ausdrücklichen Instruktionen gewesen. Die Wünsche der Schwestern standen im Widerspruch zu der Tatsache, dass die Kästchen nicht in ihr Bündel passten, und es gab keine Möglichkeit, diesen Widerspruch aufzulösen.

Die Erinnerung an frühere Bestrafungen schoss ihr durch den Kopf und ließ ihr kalten Schweiß auf die Stirn treten. Als die Bilder dieser Folterqualen zurückkehrten, musste sie sich den Schweiß aus den Augen wischen. Ausgerechnet jetzt musste sie sich daran erinnern, fluchte sie leise. Zu guter Letzt entschied sie, dass sie keine andere Wahl hatte: Sie würde es eben ausprobieren müssen. Gleichzeitig bereitete ihr die Vorstellung bohrendes Unbehagen, etwas aus dem Garten des Lord Rahl zu entwenden. Sie waren schließlich nicht das Eigentum der Schwestern, und Lord Rahl hätte wohl kaum so viele Wachen rings um den Garten postiert, wenn ihm die Kästchen nichts bedeuten würden. Sie war keine Diebin, aber war es die Art der Bestrafung wert, die sie im Falle einer Weigerung ereilen würde? War ihr Blut den Schatz des Lord Rahl wert? Gehörte er zu der Sorte Männer, die wollen würde, dass sie diesen Diebstahl verweigerte – und als Folge davon die Foltern der Schwestern über sich ergehen lassen musste? Warum, wusste sie nicht, vielleicht tat sie es nur, um ihre Zweifel auszuräumen, aber sie redete sich ein, dass Lord Rahl ihr eher raten würde, die Kästchen mitzunehmen, statt ihr Leben aufzuopfern.

Sie schlug die Lasche ihres Bündels zurück und versuchte, den Inhalt fester zusammenzupressen, doch da war kaum noch Luft. Er war bereits so fest gepackt, wie es nur irgend ging. Getrieben von der wachsenden Sorge, sie könnte sich zu lange Zeit lassen, zerrte sie, auf der Suche nach etwas, in das sie das erste schwarze Kästchen wickeln konnte, an den Kleidungsstücken, und plötzlich kam ein Zipfel ihres glänzend weißen Kleides zum Vorschein.

Kahlan starrte auf den seidigen, fast weißen Stoff in ihren Fingern. Es war das schönste Kleid, das sie je gesehen hatte, aber wieso befand es sich in ihrem Besitz? Sie war ein Niemand, eine Sklavin. Was sollte eine Sklavin mit einem so schönen Kleid anfangen? Wieder einmal gelang es ihr nicht, ihren Verstand so weit zum Arbeiten zu bewegen, dass er diese Frage klären konnte.

Ihre Gedanken wollten sich einfach nicht zu einer schlüssigen Antwort fügen. Sie griff sich eines der Kästchen, wickelte es in das Kleid und stopfte das Ganze in ihr Bündel, dann stützte sie sich mit ihrem ganzen Gewicht auf das Kästchen und versuchte, es tiefer hineinzupressen, ehe sie die Lasche schloss, um zu prüfen, ob es passte. Die Lasche bedeckte kaum die Oberseite des Kästchens, dabei hatte sie erst eines von ihnen verstaut. Es war völlig undenkbar, dass sich die anderen auch noch in ihrem Bündel verstauen ließen.

Schwester Ulicia hatte ausdrücklich darauf bestanden, die Kästchen in ihrem Bündel zu verstecken, da die Soldaten sie sonst bemerken würden. Gewiss, Kahlan selbst würden sie sofort wieder vergessen, aber die Kästchen, die sie aus dem geschlossenen Garten herauszuschaffen versuchte, würden sie wieder erkennen und augenblicklich Alarm schlagen. Kahlan war unmissverständlich klar gemacht worden, dass sie die Kästchen unbedingt verstecken musste, und doch war auf den ersten Blick zu erkennen, dass sie unmöglich alle hineinpassen würden.

Nur wenige Nächte zuvor, am Lagerfeuer, hatte Schwester Ulicia ihr Gesicht ganz dicht an Kahlans herangeschoben und ihr mit leiser Stimme und in aller Ausführlichkeit erklärt, was sie mit ihr machen würde, wenn sie sich nicht peinlich genau an ihre Anweisungen hielt. Die Erinnerung an Schwester Ulicias Schilderungen in jener schrecklichen Nacht ließen sie am ganzen Körper erzittern; dann dachte sie an Schwester Tovi, und das Zittern wurde heftiger. Was sollte sie nur tun?

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