Die Burgmauern, errichtet aus kunstvoll verfugten Quadern dunklen Granits, ragten wie eine steile Felswand vor ihnen in den Himmel. Während sie sich beim Verlassen der Brücke zwischen Richard und Cara schob, konnte Nicci kaum den Blick von dem verwirrenden Labyrinth aus Brustwehren, Bollwerken, Türmen, Verbindungsgängen und Brücken lösen. Irgendwie wirkte das Gemäuer beinahe lebendig, so als beobachtete es sie auf ihrem Weg hinauf zum gähnenden Steingewölbe des Eingangstors, wo die Straße unter dem Fundament der äußeren Ummauerung in einem Tunnel verschwand.
Ohne Zögern ließ Richard sein Pferd unter dem hochgezogenen massiven Fallgatter hindurchtraben. Hätte sie die Wahl gehabt, sie hätte bei der Annäherung an einen solchen Ort größere Vorsicht walten lassen. Noch nie hatte sie ein Gebäude erlebt, das ein so starkes Gefühl magischer Energie verströmte. Es war, als stünde sie allein auf weiter Flur, während sich ringsumher ein gewaltiges, kräftiges Unwetter zusammenbraute, ein Gefühl, das ihr einen Eindruck von den Schilden vermittelte, die die Burg der Zauberer bewachten. Nahezu unbemerkt hatten sich die dunstigen Schleierwolken am Himmel zu einer geschlossenen Wolkendecke zusammengezogen und den spätnachmittäglichen Himmel in ein kontrastloses Grau verwandelt. Das Dämmerlicht, das die strahlende Sonne abgelöst hatte, ließ das Mauerwerk der Burg noch düsterer und abweisender erscheinen, so als hätte sich die Burg beim Anblick einer nahenden Hexenmeisterin und eines Zauberers, die imstande waren, die an diesem Ort noch immer waltenden Kräfte zu beherrschen, selbst in diese Wolkendecke gehüllt. Nach Verlassen der überwölbten Öffnung in der mächtigen Außenmauer gelangten sie auf eine Straße, die in ihrem weiteren Verlauf durch die tiefe Schlucht im Burginnern führte, an deren Ende sich die Straße tunnelartig durch eine weitere düstere Mauer bohrte: eine zweite Barriere, für den Fall, dass eine solche je erforderlich sein sollte. Ohne Zögern ritt Richard auch in diesen zweiten langen Tunnel hinein, wo das Geräusch der Pferdehufe vom feuchten Mauerwerk des düsteren überwölbten Durchgangs widerhallte. Jenseits des Tunnels tat sich eine weitläufige, mit dichtem, üppigem Gras bewachsene Koppel vor ihnen auf. Rechter Hand führte die Schotterstraße an einer von mehreren Türen unterbrochenen Mauer entlang. Die ersten Türen, unmittelbar hinter dem Fallgatter, dürften vermutlich die Eingänge für die Besucher der Burg gewesen sein. Wahrscheinlich, überlegte Nicci, war dieser Zugang hinter der zweiten Ummauerung einst der ganz normale Burgeingang gewesen. Ein Zaun auf der anderen Straßenseite friedete die Koppel ein. Dahinter, auf der linken Seite, wurde die Koppel von der Burg selbst begrenzt. Ganz am Ende befanden sich die Stallgebäude. Richard saß wortlos ab, öffnete das auf die Koppel führende Gatter und scheuchte sein Pferd, obwohl noch immer gesattelt, dort hinein. Leicht verwundert folgten Cara und Nicci seinem Beispiel, ehe sie ihm über das Gelände zu einem Eingang mit einem Dutzend breiter, mit der Zeit durch Abnutzung glatt gewordener und ausgetretener Granitstufen folgten. Diese führten hinauf zu einem zurückversetzten Portal, dessen schlichte, wenngleich massive, ins Innere der eigentlichen Burg führende Flügeltür sich in diesem Moment knarrend öffnete.
Ein alter Mann, das wellige weiße Haar in heillosem Durcheinander, steckte, einem von Besuchern überraschten Hausbesitzer nicht unähnlich, den Kopf heraus und schnappte nach Luft. Er war anscheinend noch etwas außer Atem, denn als er merkte, dass Besucher kamen, hatte er quer durch die ganze Burg eilen müssen. Zweifellos war er von den magischen Netzen gewarnt worden, die jeden ankündigten, sobald er die zur Burg hinaufführende Straße betrat. In früheren Zeiten hatte es gewiss näher bei der Tür postiertes Personal gegeben, das sich aller Neuankömmlinge annahm, jetzt dagegen gab es wohl nur den alten Mann. Nach seinem japsenden Atem musste er sich ganz am anderen Ende der Burg befunden haben, als die Warnsignale ihn aufgeschreckt hatten. Trotz des erstaunten Ausdrucks auf seinem hageren, faltigen Gesicht erkannte Nicci einige charakteristische Züge sofort wieder und wusste, dies konnte niemand anderer sein als Richards Großvater Zedd. Trotz seiner Körpergröße war er schlank wie ein junger Mann. Seine haselnussbraunen Augen waren vor Verwunderung und beinahe kindlicher, an Arglosigkeit grenzender Erregung weit aufgerissen, und sein schlichtes, schmuckloses Gewand wies ihn als großen Zauberer aus. Trotz seines Alters hatte er sich hervorragend gehalten, sodass er in gewisser Hinsicht einen recht ansehnlichen Ausblick darauf bot, wie Richard dereinst aussehen könnte.
Der alte Mann warf die Arme in die Luft. »Richard!« Ein freudiges Lächeln ließ sein Gesicht erstrahlen. »Verdammt, mein Junge, bist du’s wirklich?«
Zedd trat aus dem Portal und schickte sich an, im trüben Licht die ausgetretenen Stufen hinunterzueilen. Richard lief seinem Großvater entgegen, hob ihn mit einer stürmischen Umarmung von der Treppe und presste dem ohnehin schon atemlosen Mann den letzten Rest des Atems aus den Lungen. Beide lachten, ein herzerfrischendes Geräusch, das keinen Zweifel mehr an ihrer Verwandtschaft ließ. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie froh ich bin, dich zu sehen, Zedd!«
»Und ich erst junge«, erwiderte Zedd mit einer Stimme, unter die sich erste Freudentränen mischten. »Es ist so lange her, viel zu lange.«
Mit seiner zweigdürren Hand langte er an ihm vorbei und fasste Cara bei der Schulter. »Wie geht es Euch, meine Liebe? Ihr scheint mir sehr erschöpft zu sein. Geht es Euch gut?«
»Ich bin eine Mord-Sith«, erwiderte sie leicht empört. »Natürlich geht es mir gut. Wie kommt Ihr darauf, ich sehe nicht so aus, als ginge es mir ausgezeichnet?«
Mit einem amüsierten Lachen meinte Zedd: »Ach, einfach so, vermutlich. Ihr seht beide aus, als könntet ihr ein wenig Ruhe und eine oder zwei kräftige Mahlzeiten gebrauchen, das ist alles. Ansonsten aber seht Ihr prächtig aus, und ich bin verdammt froh, Euch wieder zu sehen.«
Das entlockte Cara ein Lächeln. »Ich habe Euch vermisst, Zedd.«
Er drohte ihr scherzhaft mit dem Finger. »Das sieht aber einer Mord-Sith gar nicht ähnlich, einen alten Mann zu vermissen. Rikka wird nicht schlecht staunen, wenn sie davon erfährt.«
»Rikka?«, fragte Cara überrascht. »Rikka ist hier?«
Mit einer fahrigen Handbewegung wies Zedd in die Richtung der halb geöffneten Tür. »Sie ist irgendwo da drinnen ... auf Rundgang, könnte ich mir denken. Es gibt zwei Dinge, die sie offenbar ganz in Anspruch nehmen ... ihre Rundgänge und ihr steter Drang, mir unaufhörlich auf den Nerv zu gehen. Lasst Euch gesagt sein, bei der Frau werde ich meinen Seelenfrieden nicht finden. Schlimmer, sie ist klüger, als gut für sie ist. Aber wenigstens ist sie eine leidlich begabte Köchin.«
Cara machte ein erstauntes Gesicht. »Rikka kann kochen?«
Zedd zuckte zusammen und sog die Luft zwischen den Zähnen hindurch. »Erzählt ihr bloß nicht, ich hätte das behauptet, sonst liegt sie mir damit nur ohne Ende in den Ohren. Diese Frau ...«
»Zedd«, fiel Richard ihm ins Wort. »Ich stecke in großen Schwierigkeiten und brauche dringend Hilfe.«
»Ist alles in Ordnung mit dir? Du bist doch nicht etwa krank, oder? Irgendwie scheinst du mir nicht ganz der Alte zu sein, mein Junge.« Er presste ihm die Hand auf die Stirn. »Fiebrige Erkrankungen im Sommer, wenn es ohnehin heiß ist, sind die schlimmsten, mein Junge. Eine ganz üble Kombination.«
»Ja – nein – ich meine, darum geht es nicht. Ich muss dich dringend sprechen.«
»Dann sprich. Wir haben uns eine Ewigkeit nicht gesehen, viel zu lange. Wie lange ist das jetzt her? Zwei Jahre im letzten Frühling, wenn ich mich nicht irre.« Zedd trat ein Stück zurück, fasste ihn bei den Armen und musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Wo ist eigentlich dein Schwert, Richard?«
»Hör zu, darüber werden wir uns später unterhalten«, erwiderte Richard gereizt, befreite sich aus Zedds Griff und tat die Frage mit einer wegwerfenden Handbewegung ab.
»Eben sagtest du, du möchtest reden, also rede und erzähl mir endlich, wo dein Schwert geblieben ist.« Zedd richtete sein strahlendes Lächeln auf Nicci. »Und wer diese überaus reizende Hexenmeisterin ist, die du mitgebracht hast.«
Fassungslos betrachtete Richard Zedds strahlend lächelndes Gesicht, ehe er zu Nicci hinübersah. »Oh, entschuldige, Zedd, das ist Nicci. Nicci, das ist...«
»Nicci!«, stieß Zedd hervor und sprang zwei Stufen weit zurück nach oben, als hätte er eine giftige Viper erblickt. »Die Schwester der Finsternis, die dich in die Alte Welt verschleppt hat? Doch nicht etwa diese Nicci? Was in aller Welt hast du mit dieser widerwärtigen Person zu schaffen? Wie kannst du es nur wagen, eine solche Frau hierher zu bringen ...«
»Zedd«, schnitt Richard ihm eindringlich das Wort ab. »Nicci ist eine gute Freundin.«
»Sieh an, eine Freundin! Hast du den Verstand verloren, Richard? Wie in aller Welt kannst du erwarten ...«
»Zedd, sie steht jetzt auf unserer Seite.« Er gestikulierte aufgebracht. »Genau wie Cara oder Rikka. Die Dinge ändern sich. Früher hätte jede von ihnen ...« Er ließ den Satz unbeendet, als er sah, dass sein Großvater ihn anstarrte. »Du weißt schon, was ich meine. Mittlerweile würde ich Cara mein Leben anvertrauen, sie hat sich meines Vertrauens mehr als einmal als würdig erwiesen. Und Nicci traue ich nicht minder. Beiden würde ich mein Leben anvertrauen.«
Schließlich fasste Zedd ihn bei den Schultern und rüttelte ihn voller Zuneigung. »Ja, schätze, ich weiß, was du meinst. Seit ich dir das Schwert der Wahrheit überreicht habe, hast du vieles zum Besseren verändert. Ich hätte mir zum Beispiel nie im Leben träumen lassen, eines schönen Tages frohgemut von einer Mord-Sith zubereitete Mahlzeiten zu verspeisen, und noch dazu recht schmackhafte, wie ich hinzufügen möchte.« Er fing sich wieder und zeigte mit dem Finger auf Cara. »Wenn sie von Euch erfährt, dass ich das gesagt habe, ziehe ich Euch bei lebendigem Leib das Fell über die Ohren. Die Frau ist so schon kaum zu bändigen.«
Cara lächelte nur.
Schließlich richtete Zedd seinen Blick wieder auf Nicci; das Raubtierhafte der Rahls fehlte ihm ein wenig, aber auf seine Art war er nicht minder entwaffnend und schien die gleichermaßen ausgeprägte Fähigkeit zu besitzen, einen zu verwirren.
»Willkommen, Hexenmeisterin. Wenn Richard sagt, Ihr seid eine Freundin, dann wird es wohl stimmen. Tut mir Leid, dass ich so gereizt reagiert habe.«
Mit einem Lächeln erwiderte Nicci: »Das ist nur zu verständlich. Ich konnte mich damals genauso wenig ausstehen, schließlich stand ich unter dem Einfluss finsterer Selbsttäuschungen und wurde nicht ohne Grund Herrin des Todes genannt.« Sie blickte in Richards graue Augen. »Euer Enkelsohn hier hat mich dazu gebracht, die Schönheiten des Lebens zu erkennen.«
Ein stolzes Lächeln ging über Zedds Gesicht. »Ja, das ist es, genau darum geht es, die Schönheit des Lebens.«
Richard ergriff die Gelegenheit beim Schopf. »Und eben darum geht es auch mir. Hör zu, Zedd, ich brauche unbedingt...«
»Ja, ja«, machte Zedd und tat Richards Ungeduld mit einer Handbewegung ab. »Immer brauchst du irgendwas, du bist nicht einmal lange genug zurück, um durch die Tür zu treten, und schon willst du irgendetwas wissen. Wenn ich mich recht entsinne, war das erste Wort, das du sprechen konntest, ›warum‹. Komm jetzt, nun komm schon mit nach drinnen. Ich will endlich wissen, warum du das Schwert der Wahrheit nicht bei dir hast. Ich weiß, du würdest niemals zulassen, dass ihm etwas zustößt, aber trotzdem, ich will die ganze Geschichte hören. Und komm mir ja nicht auf die Idee, irgendetwas auszulassen. Nun komm schon.«
Richards Großvater schickte sich an, die Stufen zum Eingang hinaufzusteigen, und bedeutete ihnen allen mit einer Handbewegung, ihm zu folgen.
»Zedd! Ich brauche unbedingt...«
»Ja, sicher, Junge. Du brauchst etwas; ich hab dich schon beim ersten Mal verstanden. Ich denke, es sieht aus, als könnte es Regen geben. Hat keinen Sinn, noch anzufangen, wenn man jeden Moment durchnässt werden kann. Komm mit nach drinnen, dann höre ich mir an, was du zu sagen hast.« Zedds Stimme bekam einen halligen Klang, als er im Dunkeln verschwand. »Du siehst aus, als könntest du eine ordentliche Mahlzeit vertragen. Ist sonst noch jemand hungrig? So ein Wiedersehen macht Appetit.«
Wasserplätschern hallte durch das Innere des düsteren Vorraums. Zedd machte eine beiläufige Handbewegung zur Seite hin, und schon erstrahlte eine Lampe, bei deren Entzünden Nicci das kurze nochmalige Aufflackern jenes Energiefunkens bemerkte, der sie als Schlüssellampe auswies. Gleichzeitig zu beiden Seiten des Eingangs beginnend, folgte eine Reihe leiser, gedämpfter Explosionen, als der magische Funke von der Schlüssellampe auf die Lampenpaare übersprang und hunderte von Lampen rings um den riesigen Raum jeweils paarweise aufleuchteten, sodass der Eindruck entstand, ein Feuerring schließe sich in Sekundenschnelle rings um die gesamte Eingangshalle. Wäre die eine spezielle Lampe mit einer Flamme statt mit Magie entzündet worden, es hätte genauso funktioniert, das wusste Nicci. Die Helligkeit im Raum nahm immer mehr zu, und Sekunden später war der Vorraum nahezu taghell erleuchtet.
In der Mitte des gefliesten Fußbodens stand ein kleeblattförmiger Brunnen, über dessen oberster Schale eine Fontäne in die Höhe schoss, um von dort kaskadenartig über mehrere Stufen immer breiter werdender, muschelartiger Schalen herabzustürzen, ehe sie sich aus der untersten in perfekt aufeinander abgestimmten Bögen in das darunter liegende Becken ergoss, das von einer niedrigen Mauer aus buntem Marmor umgeben war, breit genug, um als Sitzbank zu dienen.
Ganz im Widerspruch zu dem ersten Eindruck, den die Burg der Zauberer vermittelte, bildete dieser Saal den von eleganter Pracht und Herzlichkeit geprägten Eingang eines Gebäudes, das nur von außen kalt und abweisend wirkte, und erinnerte an das Leben, das dieses Gemäuer einst beherbergt hatte. Die Leere, die jetzt dort herrschte, stimmte Nicci ziemlich traurig, nicht anders als im Fall der verlassenen Stadt tief unten im Tal. »Willkommen in der Burg der Zauberer. Vielleicht sollten wir alle erst einmal...«
»Zedd!« Richard fiel seinem Großvater mit unüberhörbarem Unmut ins Wort. »Ich muss dich dringend sprechen. Jetzt gleich, es ist wichtig.«
Geliebter Großvater hin oder her, Nicci konnte sehen, dass Richard mit seiner Geduld am Ende war. Die Knöchel seiner zu Fäusten geballten Hände traten deutlich sichtbar unter seiner sonnengebräunten Haut hervor, ebenso die Sehnen auf dem Handrücken. Nach seinem Aussehen zu urteilen, hatte er in den letzten Tagen weder ausreichend Schlaf noch genug zu essen bekommen. Vermutlich hatte sie ihn noch nie so erschöpft und am Ende seiner geistigen Fähigkeiten erlebt. Selbst Cara schien die Grenze dessen, was sie zu ertragen vermochte, weit überschritten zu haben, auch wenn sie sich alle Mühe gab, es sich nicht anmerken zu lassen; Mord-Sith waren schließlich darin ausgebildet, körperliches Unbehagen auszuhalten. Sosehr er sich über das Wiedersehen mit seinem Großvater freute, war Richard doch von seinen Bestrebungen, diese Frau aus seiner Fantasie wieder zu finden, sehr stark in Anspruch genommen. Die irrwitzige Hatz, in die sich sein Leben seit dem beinahe tödlichen Treffer durch den Armbrustbolzen verwandelt hatte, schien in diesem Moment ihren Höhepunkt erreicht zu haben.
Zedd, ganz naive Unschuld, musterte ihn überrascht. »Aber ja, gewiss, Richard, selbstverständlich.« Die Arme ausgebreitet, setzte er mit milder Stimme hinzu. »Du weißt doch, dass ich jederzeit für dich zu sprechen bin. Was immer du auf dem Herzen hast, du weißt, ich ...«
»Was verbirgt sich hinter dem Begriff ›Feuerkette‹?«
Zedd verharrte regungslos auf der Stelle. »Feuerkette«, wiederholte er mit ausdrucksloser Stimme. »Richtig, Feuerkette.«
Zedd wandte sich herum zum Brunnen und dachte mit ernster Miene sorgfältig über die Frage nach. Das Warten wurde fast zur körperlichen Qual; das Sprudeln und Plätschern des Brunnens hallte durch den ansonsten völlig stillen Raum.
»Feuerkette«, wiederholte Zedd gedehnt bei sich, während er sich mit seinem zweigdürren Finger über das glatt rasierte Kinn strich, den Blick auf die munter über die in mehreren Stufen angeordneten Schalen herabstürzenden Wasserkaskaden gerichtet. Nicci warf einen verstohlenen Seitenblick auf Cara, doch die Mord-Sith zeigte keinerlei Regung. Ihr ausgezehrtes Gesicht wirkte ebenso müde und ausgezehrt wie Richards, trotzdem bewahrte sie, ganz Cara, ihre aufrechte gerade Haltung, ohne sich von ihrer Erschöpfung übermannen zu lassen. »Ganz recht, Feuerkette«, presste Richard ungeduldig zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Weißt du, was es bedeutet?«
Zedd wandte sich wieder zu seinem Enkelsohn herum und hob die offenen Hände. Er wirkte nicht bloß verwirrt, sondern hatte offenbar das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen. »Tut mir Leid, Richard, aber den Begriff ›Feuerkette‹ habe ich noch nie gehört.«
Jetzt, da sein Zorn schlagartig verflog, sah Richard aus, als könnte er jeden Moment zusammenbrechen. Die Enttäuschung stand ihm überdeutlich ins Gesicht geschrieben. Seine Schultern sackten herab, und er stieß einen Seufzer aus. Aufmerksam und doch kaum merklich schob sich Cara einen Schritt näher zu ihm hin, bereit, ihn im Falle eines Zusammenbruchs sofort aufzufangen — eine Möglichkeit, die Nicci durchaus gegeben schien. »Richard«, sagte Zedd mit plötzlicher Schärfe in der Stimme, »wo ist dein Schwert?«
Richard explodierte. »Das ist doch nur ein Stück Stahl!«
»Bloß ein Stück ...«
Richards Gesicht wurde tiefrot. »Richtig, bloß ein blödes Stück Metall! Meinst du nicht, es gibt wichtigere Dinge, um die man sich sorgen müsste?«
Zedd neigte den Kopf leicht zur Seite. »Wichtigere Dinge? Was redest du da?«
»Ich will mein altes Leben wiederhaben!«
Zedd starrte ihn an, sagte aber nichts, was fast einer Aufforderung an seinen Enkelsohn gleichkam, sich etwas näher zu erklären.
Mit bedächtigen Schritten entfernte sich Richard vom Brunnen und hielt auf eine breite dreistufige Treppe zu, die zwischen zwei der roten Marmorsäulen nach oben führte. Dahinter schloss sich ein langer, rotgoldener, von schlichten schwarzen geometrischen Mustern umsäumter Teppich an, der sich zwischen den Säulen unterhalb der Galerie in der Dunkelheit verlor.
Er fuhr sich mit den Fingern beider Hände durch das Haar. »Aber was würde das ändern? Mir glaubt ohnehin kein Mensch. Niemand wird mir helfen, sie wieder zu finden.«
Auf einmal empfand Nicci tiefes Mitleid mit ihm. In diesem Moment taten ihr all die Schroffheiten Leid, die sie ihm bei ihrem Versuch, ihm beizubringen, dass er sich Kahlan nur einbildete, an den Kopf geworfen hatte. Gewiss, er brauchte dringend Hilfe, um von seinen Wahnvorstellungen loszukommen, aber in diesem Augenblick hätte sie ihm nur zu gern erlaubt, daran festzuhalten, und sei es nur, damit ein Funke von Lebendigkeit in seine Augen zurückkehrte.
Cara, die Arme schlaff an den Seiten, schien nicht minder betrübt, ihn sich so quälen zu sehen. Vermutlich, überlegte Nicci, wäre auch die Mord-Sith nur zu bereit, ihm seinen wunderschönen Traum von der Frau, die er liebte, zu lassen. Nur wäre eine Lüge kaum geeignet, seinen ganz realen Schmerz zu lindern. »Richard, ich weiß nicht, was du da redest, aber was hat das alles mit dem Schwert der Wahrheit zu tun?« Die Schärfe war in Zedds Stimme zurückgekehrt.
Richard schloss einen Moment die Augen, um sich für die Tortur zu wappnen, laut auszusprechen, was er schon unzählige Male wiederholt hatte, ohne dass ihm jemand geglaubt hätte. »Ich muss unbedingt Kahlan wieder finden.«
Nicci konnte sehen, wie seine innere Anspannung wuchs, als er sich auf die üblichen, einen aus der Fassung bringenden Fragen gefasst machte, von wem er denn da eigentlich spreche und wie er überhaupt auf eine solche Idee komme. Deutlich konnte sie sehen, dass er es kaum würde ertragen können, sich ein weiteres Mal anhören zu müssen, er bilde sich das alles nur ein und er sei wohl nicht recht bei Verstand – umso mehr, als es von seinem Großvater kam.
Fragend neigte Zedd seinen Kopf ein Stück zur Seite. »Kahlan?«
»Ganz recht, Kahlan«, wiederholte Richard seufzend, ohne aufzusehen. »Aber du weißt bestimmt nicht einmal, von wem ich überhaupt spreche.«
Normalerweise hätte Richard in diesem Moment zu einer schlagfertigen Erklärung ausgeholt, doch jetzt wirkte er viel zu niedergeschlagen, um den Wunsch zu verspüren, sich wieder einmal zu erklären, nur um ein weiteres Mal nichts als Fassungslosigkeit und ungläubige Fragen zu ernten. »Kahlan.« Die Stirn in Falten gelegt, fragte Zedd behutsam nach. »Kahlan Amnell? Ist das die Kahlan, von der du sprichst?«
Nicci erstarrte.
Richard sah auf, die Augen weit aufgerissen. »Was hast du da gesagt?«, stieß er leise hervor. »Kahlan Amnell? Ist das die Kahlan, die du meinst?«
Niccis Herz setzte einen Schlag aus. Caras Kinnlade berührte fast den Boden. Im Nu hatte Richard die Vorderseite von Zedds Gewand mit beiden Händen gepackt und hob den alten Mann vom Boden hoch. Seine schweißbedeckten Muskeln schimmerten im Schein der Lampen. »Du hast sie soeben bei ihrem vollen Namen genannt, Kahlan Amnell. Aber den habe ich dir gar nicht genannt, du hast ihn von dir aus erwähnt.«
Zedds Verwirrung schien mit jedem Augenblick zuzunehmen. »Ja, sicher, weil es die einzige Kahlan ist, die ich kenne, Kahlan Amnell.«
»Du kennst Kahlan also – du weißt, von wem ich spreche?«
»Die Mutter Konfessor?«
»Ja, die Mutter Konfessor!«
»Aber natürlich. Vermutlich dürfte sie den meisten Menschen bekannt sein. Richard, was ist nur in dich gefahren? Lass mich runter.«
Mit zitternden Händen setzte Richard seinen Großvater wieder auf dem Boden ab. »Was meinst du damit, jeder kennt sie?«
Zedd zupfte abwechselnd an seinen Ärmeln und zog sie wieder über seine spindeldürren Arme, ehe er sein in Unordnung geratenes Gewand an den Hüften richtete, ohne seine Augen auch nur einen Moment von seinem Enkelsohn zu lassen. Richards Benehmen schien ihn zutiefst bestürzt zu haben. »Was ist bloß mit dir los, Richard? Wieso sollte sie ihnen nicht bekannt sein? Sie ist die Mutter Konfessor, das weiß doch jedes Kind.«
Richard schluckte. »Wo ist sie?«
Zedd warf erst Cara, dann Nicci einen kurzen, verwirrten Blick zu, ehe er wieder Richard ansah. »Na, unten, beim Palast der Konfessoren.«
Richard stieß einen Freudenschrei aus und schloss seinen Großvater in die Arme.