Getrieben von einer Mischung aus Neugier und Besorgnis, machte Ann sich augenblicklich daran, die staubigen Stufen hinab zusteigen. Jennsen folgte ihr dicht auf den Fersen. Ein Absatz zwang sie, sich nach rechts zu wenden, wo eine weitere Treppenflucht in die Tiefe führte. An einem dritten Absatz beschrieb die schier endlose Abfolge von Stufen einen Schwenk nach links. Die staubigen Steinwände standen unangenehm dicht beieinander, die Decke war bedrückend niedrig, selbst für Ann. Jennsen musste sogar den Kopf einziehen. Ann war, als würde sie durch einen modrigen Schlund in den Bauch des Friedhofs gesogen. Am Fuß der Treppe blieb sie ungläubig kurz stehen und starrte. Jennsen stieß einen leisen Pfiff aus. Vor ihnen tat sich nicht etwa ein Kerker auf, sondern ein seltsam verwinkelter Raum, wie Ann ihn noch nie gesehen hatte. Die Steinwände schwenkten in unregelmäßigen, immer wieder anders und ohne erkennbaren Bezug zu den übrigen Seitenflächen gestalteten Winkeln mal zur einen, mal zur anderen Seite ab. Einige der Steinwände waren mit einer Putzschicht bedeckt. Der gesamte Raum schien sich in stetem Hin und Her nach einer Reihe dieser verschlungenen Winkel in der Ferne zu verlieren, wobei er immer wieder hinter Vorsprüngen und vorstehenden Ecken verschwand.
Dem Raum war ein seltsam geordnetes Durcheinander eigen, das Ann als leicht beunruhigend empfand. Die dunklen Nischen da und dort in den verputzten Wänden waren von verblichenen blauen Symbolen und Verzierungen eingerahmt, die stellenweise bereits abgeblättert waren. Inschriften waren ebenfalls zu erkennen, doch sie waren zu alt und verblasst, als dass sie ohne eingehendes Studium zu entziffern gewesen wären. An verschiedenen Stellen vor den verwinkelten Wänden standen Bücherregale sowie einige uralte Holztische, allesamt mit einer dicken Staubschicht bedeckt.
Hinter durchscheinenden Vorhängen aus staubverklebten Spinnweben, inmitten eines Gevierts aus zusammengeschobenen massiven Tischen, stand Nathan. Auf den Tischen rings um ihn her türmten sich mächtige Bücherstapel.
»Ah, da bist du ja endlich«, rief Nathan inmitten seiner Bücherfestung. Ann warf einen Seitenblick auf Jennsen.
»Ehrlich, ich hatte keine Ahnung, dass sich hier unten dieser Raum befindet«, antwortete die junge Frau auf die unausgesprochene Frage, die Ann auf der Zunge lag. In ihren blauen Augen tanzten Lichtpunkte des Kerzenscheins.
Ann sah sich abermals um. »Ich bezweifle, dass überhaupt jemand während der letzten paar tausend Jahre von der Existenz dieses Raumes wusste. Mich würde allerdings interessieren, wie er ihn gefunden hat.«
Nathan klappte ein Buch zu und legte es hinter sich auf einen Stapel. Als er sich wieder herumdrehte, wischte sein glattes weißes Haar über seine Schultern. Er fixierte Ann mit seinen halb geöffneten dunkelblauen Augen. Ann verstand die unausgesprochene Aufforderung hinter Nathans Blick und wandte sich zu Jennsen herum. »Warum gehst du nicht nach oben und wartest bei Tom, Liebes? Es kann einem ziemlich einsam werden, wenn man auf einem Friedhof Wache stehen muss.«
Jennsen wirkte enttäuscht, schien aber zu verstehen, dass die beiden das Bedürfnis hatten, mit dieser Angelegenheit allein gelassen zu werden. Ein kurzes Lächeln, dann sagte sie: »Aber ja. Falls Ihr etwas braucht, ich bin gleich oben.«
Während das Geräusch von Jennsens Schritten allmählich zu einem fernen, hallenden Scharren verebbte, bahnte sich Ann einen gewundenen Pfad zwischen den schleierartigen Spinnweben hindurch. »Nathan, was in aller Welt ist das für ein Ort?«
»Es ist unnötig zu flüstern«, erwiderte er. »Siehst du, wie die Wände in ungleichmäßigen Winkeln abknicken? Dadurch wird das Echo unterdrückt.«
Zu ihrer milden Überraschung hörte Ann sofort, dass er Recht hatte. In kahlen steinernen Räumen entstand normalerweise ein unangenehmes Echo, aber in diesem seltsam verwinkelten Raum war es totenstill. »Irgendetwas an der Form des Raumes erscheint mir merkwürdig vertraut.«
»Ein Tarnbann«, erwiderte der Prophet beiläufig.
Ann runzelte die Stirn. »Ein was?«
»Der Form nach ist das Ganze einem Tarnbann nachempfunden.« Als er den verwirrten Gesichtsausdruck bemerkte, mit dem sie ihn ansah, wies er auf beide Seiten. »Nicht etwa der Grundriss der Gesamtanlage, also die Anordnung der Räume und der Verlauf der verschiedenen Flure und Gänge – wie im Palast des Volkes –, bildet hier die Bannform, vielmehr ist diese durch die präzise Ausrichtung der Mauern selbst vorgegeben, so als hätte jemand den Bann in großem Maßstab auf den Boden gezeichnet und anschließend die Mauern exakt entlang jener Linie errichtet, ehe er den Bereich dazwischen aushöhlte. Das hat zur Folge, dass wegen der überall einheitlichen Mauerdicke auch die Außenseiten der Mauern den Umrissen der Bannform entsprechen, wodurch das Ganze tendenziell noch verstärkt wird. Ziemlich gerissen, wenn man es recht bedenkt.«
Ein solcher Bann konnte vermutlich nur funktionieren, wenn er mit Blut und unter Zuhilfenahme menschlicher Knochen gezeichnet worden war; von Letzteren dürfte allerdings ein üppiger Vorrat zur Verfügung gestanden haben.
»Da hat jemand ganz offenbar keine Mühen gescheut«, bemerkte Ann, während sie den Raum erneut betrachtete. Jetzt dämmerte ihr auch zum ersten Mal, was es mit einigen der parallel angeordneten Formen und Winkel auf sich hatte. »Und wozu genau dient dieser Ort nun?«
»Darüber bin ich mir noch nicht ganz im Klaren«, erwiderte er mit einem Seufzer. »Ich weiß nämlich nicht, ob diese Bücher mit den Toten zusammen für alle Ewigkeit vergraben oder versteckt werden sollten – oder ob man einen noch ganz anderen Zweck verfolgte.« Er winkte sie mit einer Handbewegung zu sich. »Hier entlang. Ich möchte dir etwas zeigen.«
Ann folgte ihm durch mehrere zickzackförmige Schwenks und um mehrere Biegungen, bis sie in einen Bereich gelangten, wo die Wandnischen zu beiden Seiten in drei Reihen übereinander lagen. Nathan stützte sich mit dem Ellbogen an der Wand ab. »Sieh her«, forderte er sie auf, indem er mit seinem langen Finger nach unten auf eine der niedrigen, bogenförmigen Öffnungen in der Steinwand wies. Ann blieb stehen und spähte hinein. Sie enthielt einen menschlichen Leichnam, von dem außer ein paar in verstaubte Fetzen eines Gewandes gehüllten Knochen nichts mehr übrig war. Ein Ledergürtel umgab die Hüften, während ein breiter Gurt diagonal über eine Schulter lief. Die skelettierten Arme lagen verschränkt über der Brust, und um den Hals waren goldene Ketten drapiert. An der funkelnden Reflexion des Lichts auf dem an einer der Ketten befestigten Medaillon erkannte Ann, dass Nathan es zum Betrachten in die Hand genommen und dabei den Staub mit den Fingern entfernt haben musste. »Irgendeine Idee, wer es sein könnte?«, fragte sie, nachdem sie sich wieder aufgerichtet und die Hände vor dem Körper verschränkt hatte.
Nathan beugte sich ganz nah zu ihr.
»Ich glaube, er war ein Prophet.«
»Ich dachte, es sei überflüssig zu flüstern.«
Er zog eine Braue hoch und richtete sich ebenfalls wieder auf. »Es liegen noch eine ganze Reihe anderer Personen hier begraben.« Mit einer fahrigen Handbewegung deutete er in das Dunkel. »Gleich dort hinten.«
Ann fragte sich, ob das womöglich auch alles Propheten sein konnten. »Und was ist mit den Büchern?«
Wieder beugte sich Nathan zu ihr herab, und wieder sprach er mit gesenkter Stimme. »Prophezeiungen.«
Sie runzelte die Stirn und blickte den Weg zurück, den sie gekommen waren. »Prophezeiungen? Soll das etwa heißen, ausnahmslos? Alle diese Bücher enthalten Prophezeiungen?«
»Die meisten, ja.«
Ein aufgeregtes Kribbeln flutete durch ihren Körper. Bücher mit Prophezeiungen waren unschätzbar wertvoll, sie galten als höchst seltene Kleinode. Bücher wie diese dienten der Orientierung, sie konnten ihnen vergebliche Mühen ersparen, Lücken in ihrem Wissen füllen und ihnen dringend benötigte Antworten liefern, Antworten, die sie jetzt vielleicht mehr als zu irgendeinem anderen Zeitpunkt der Geschichte brauchten. Sie mussten unbedingt mehr über die entscheidende Schlacht in Erfahrung bringen, in der Richard sie angeblich anführen sollte. Bislang hatten sie noch nicht einmal in Erfahrung bringen können, wann diese Schlacht überhaupt stattfinden sollte – wegen der oft vorhandenen Unklarheit der Prophezeiungen konnte sie womöglich noch viele Jahre auf sich warten lassen, ja, es war sogar denkbar, dass sie erst stattfinden würde, wenn Richard bereits ein alter Mann wäre. Angesichts der ungeheuren Schwierigkeiten, auf die sie in den vergangenen Jahren gestoßen waren, konnten sie nur hoffen, dass sie noch ein paar Jahre entfernt war und ihnen somit Zeit zur Vorbereitung bliebe. Dabei konnten Prophezeiungen durchaus eine nützliche Hilfe sein. In den Kellergewölben des Palasts der Propheten waren tausende Bände mit Prophezeiungen eingelagert gewesen, die man jedoch ausnahmslos zusammen mit dem Palast vernichtet hatte, um zu verhindern, dass sie Kaiser Jagang in die Hände fielen. Es war allemal besser, diese Werke für alle Zeiten zu verlieren, als dem Bösen Einblick zu gewähren.
Andererseits hatte niemand Kenntnis von diesem unter einem Tarnbann verborgenen Ort. Schwindel erregende Möglichkeiten wirbelten Ann durch den Kopf.
»Nathan ... das ist ja wunderbar.«
Sie drehte sich um und sah ihn an. Als er sie daraufhin mit einem Blick betrachtete, der sie nervös machte, legte sie ihm eine Hand auf den Arm.
»Nathan, das ist mehr, als wir uns jemals erhoffen konnten.«
»Es ist sogar erheblich mehr«, erwiderte er düster und schickte sich an zurückzugehen. »Es gibt hier Bücher, die mich an meinem Verstand zweifeln lassen«, setzte er mit einer unwirschen Armbewegung hinzu. »Ah«, spöttelte sie, während sie ihm dicht auf den Fersen folgte. »Endlich haben wir die Bestätigung.«
Er blieb abrupt stehen und maß sie mit durchdringendem Blick. »Darüber macht man keine Scherze.«
Ann spürte, wie eine Gänsehaut ihre Arme heraufkroch. »Dann zeig es mir«, sagte sie, plötzlich ernst. »Was hast du herausgefunden?«
Er schüttelte den Kopf, als wäre sein vorübergehender Anfall von Missmut verflogen. »Dessen bin ich mir nicht einmal sicher.« Von seinem üblicherweise lauten Wesen war nicht mehr viel zu spüren, als er sich zwischen den Tischen hindurchzwängte, die er zusammengeschoben hatte. Seine düstere Stimmung wich einer gewissen Vorsicht. »Ich habe damit begonnen, die Bücher zu ordnen.«
Ann wollte ihn zur Eile drängen und endlich auf den Kern seiner Entdeckung zu sprechen kommen, andererseits wusste sie, dass man Nathan in diesem beunruhigten und verwirrten Zustand die Dinge am besten auf seine Art erklären ließ, erst recht, wenn es um geheimnisvolle Vermutungen ging. »Zu ordnen?«
Er nickte. »Diese hier, auf diesem Stapel, scheinen mir für uns nur bedingt von Nutzen zu sein. Die meisten bestehen aus längst überholten Prophezeiungen, enthalten nur belanglose Aufzeichnungen oder sind in unbekannten Sprachen abgefasst – und Ähnliches mehr.«
Er drehte sich um und ließ seine Hand geräuschvoll auf einen anderen Stapel fallen. Eine Staubwolke stieg auf. »Dies hier sind alles Bücher, die wir auch damals im Palast hatten.« Er fuchtelte mit seiner Hand vor den hoch aufgeschichteten Bücherstapeln auf dem Tisch hinter ihm hin und her. »Ausnahmslos, der ganze Tisch.«
Die Augen staunend aufgerissen, ließ Ann den Blick über die Regale und Mauernischen wandern, die sich bis in den Hintergrund des eigenartigen Raumes erstreckten. »Aber außer denen, die du hier auf den Tischen liegen hast, steht hier doch noch eine Unmenge von anderen Büchern herum. Das ist doch nur ein winziger Bruchteil.«
»Ganz recht. Ich bin bisher noch nicht dazu gekommen, sie mir alle anzusehen, deshalb habe ich schließlich auch beschlossen, es wäre besser, Tom nach dir zu schicken. Zum einen wollte ich, dass du siehst, was ich gefunden habe, aber darüber hinaus gibt es natürlich auch noch eine Menge Lesearbeit zu erledigen. Ich habe immer jeweils ein Buch herausgenommen, es durchgesehen und es anschließend einem der Stapel hier auf den Tischen zugeordnet.«
Ann fragte sich, wie viele Bücher nach tausenden von Jahren unter der Erde noch entwicklungsfähige Prophezeiungen enthalten, also noch brauchbar sein mochten. Sie hatte auch früher schon durch die Einwirkung von Zeit und Elementen – insbesondere durch Schimmel und Wasser – zerstörte Bücher entdeckt. Prüfend ließ sie den Blick über Wände und Decke schweifen, konnte aber nichts entdecken, was auf das Eindringen von Wasser hätte schließen lassen.
»Auf den ersten Blick scheint keines dieser Bücher einen Wasserschaden aufzuweisen. Wieso ist dieser unterirdische Ort so trocken? Man sollte doch annehmen, dass das Wasser durch die Mauerfugen dringt und alles hier unten mit Feuchtigkeit und Moder durchzieht. Ich finde es fast unglaublich, dass sie in so gutem Zustand zu sein scheinen.«
»Wobei scheinen das entscheidende Wort ist«, gab Nathan im Flüsterton zurück. Sie drehte sich herum und musterte ihn fragend. »Was willst du damit sagen?«
Gereizt winkte er ab. »Gleich, Augenblick noch. Das Interessante ist, Decken und Wände wurden, um den Schutz gegen das Wasser zu verbessern, mit Blei verkleidet. Darüber hinaus jedoch ist dieser Ort von einem magischen Schild umgeben, um den Schutz noch zu verstärken. Übrigens war auch der Eingang mit einem Schild gesichert.«
»Aber das Volk Bandakars besitzt keinerlei magische Kräfte, und ihr Land war hermetisch von der Außenwelt abgeriegelt. Im Übrigen gab es niemanden, der über magische Kräfte verfügte, gegen den man die Gruft hätte sichern müssen.«
»Immerhin hat das Siegel ihres geächteten Landes letztendlich versagt«, erinnerte sie Nathan. »Ja, das ist wohl wahr.« Nachdenklich tippte sich Ann mit dem Zeigefinger gegen das Kinn. »Ich frage mich, wie es dazu kommen konnte.«
Nathan zuckte mit den Achseln. »Das Wie ist im Moment gar nicht so wichtig, obwohl der Gedanke auch mich beunruhigt.«
Er machte eine Handbewegung, wie um das Thema abzuschließen. »Was im Moment entscheidend ist, ist die Tatsache als solche. Wer immer diese Bücher hier eingelagert hat, wollte sie in einem gesicherten Versteck wissen und hat keine Mühen gescheut, dafür zu sorgen, dass dies so bleibt. Die von der Gabe völlig unbeleckten Menschen hier hätten sich von den magischen Schilden nicht abhalten lassen. Das Gewicht des steinernen Grabmals an sich wäre zwar ein Hindernis gewesen, nur hätten sie eben gar keine Veranlassung gehabt, es überhaupt erst beiseite zu schieben, es sei denn, sie hätten guten Grund zu der Annahme gehabt, dass sich darunter etwas verbirgt. Was könnte einen solchen Verdacht ausgelöst haben? Dass dieser Ort jahrtausendelang unberührt geblieben ist, beweist doch, dass sie von der Existenz dieses Verstecks hier unten nichts geahnt haben. Meiner Meinung nach wurden die Schilde zur Abwehr möglicher Invasoren Bandakars angebracht – wie zum Beispiel der Soldaten Jagangs.«
»Ja, ich denke, das klingt durchaus logisch«, murmelte sie, während sie darüber nachsann. »Demnach waren die Schilde einfach eine Vorsichtsmaßnahme – für den eher unwahrscheinlichen Fall, dass das Siegel, das über Bandakar lag, jemals erbrochen würde.«
»Oder aber ein Werk der Prophezeiung«, setzte Nathan hinzu.
Ann sah auf. »Schon möglich.« Um solche Schilde zu überwinden, war ein Zauberer von Nathans Fähigkeiten nötig, denn nicht einmal Ann verfügte über die Kräfte, die man brauchte, um einen solchen Schild zu brechen. Zudem wusste sie, dass es in alten Zeiten angebrachte Schilde gab, die nur mithilfe subtraktiver Magie überwunden werden konnten.
»Möglicherweise war die Unterbringung der Bücher hier, an diesem Ort, nur als sichere Aufbewahrungsart für solch wichtige Werke gedacht – für den Fall, dass anderen Werken dieser Art etwas zustößt.«
»Glaubst du wirklich, dass sich jemand dafür diese Mühe gemacht hätte?«
»Nun, immerhin ist der gesamte Buchbestand des Palasts der Propheten verloren gegangen, oder etwa nicht? Bücher mit Prophezeiungen sind stets gefährdet; einige wurden vernichtet, andere fielen in Feindeshand, wieder andere sind schlicht verschollen. Orte wie dieser dienen als eine Art vorsorgliche Abschrift für diese anderen Werke – insbesondere, wenn die Notwendigkeit solcher Vorkehrungen in den Prophezeiungen vorhergesagt wurde.«
»Du könntest Recht haben, schätze ich. Ich habe von diesen seltenen Funden von Prophezeiungen gehört, die man aus Gründen der Bewahrung, oder um sie vor den Augen Unwissender zu schützen, versteckt hat.«
Kopfschüttelnd ließ sie den Blick durch den Raum schweifen. »Trotzdem, von einem Fund von auch nur annähernd diesen Ausmaßen habe ich noch nie gehört.«
Nathan reichte ihr ein Buch, dessen einstmals roter Ledereinband merklich ins Braune verschossen war. Nichtsdestoweniger hatte sein Äußeres, insbesondere die verblassten vergoldeten Rippen des Buchrückens, etwas Vertrautes. Sie klappte den Deckel auf und schlug die erste unbeschriebene Seite um. »Du liebe Güte«, murmelte Ann versonnen, als sie den Titel las. »Glendhills Theorie der Abweichungen. Welch ein erhebendes Gefühl, es wieder in Händen zu halten.« Sie klappte den Einband zu und presste das Buch an die Brust. »Es ist, als sei ein alter Freund von den Toten wieder auferstanden.«
Das Buch war einer ihrer Lieblingstitel zum Thema gegabelte Prophezeiungen gewesen. Es galt als zentrales Werk, das wertvolle Informationen über Richard enthielt, daher hatte sie sich eingehend damit befasst und während der Jahrhunderte, die sie auf seine Geburt wartete, immer wieder darin nachgeschlagen, sodass sie es praktisch auswendig kannte. Als es zusammen mit allen anderen Büchern aus den Gewölbekellern des Palasts der Propheten hatte vernichtet werden müssen, war sie untröstlich gewesen, denn es enthielt nach wie vor eine Unmenge von Informationen über die Unwägbarkeiten dessen, was noch vor ihnen lag. Nathan entnahm einem der Stapel einen weiteren Band und fuchtelte damit, eine Braue herausfordernd hochgezogen, vor ihr herum. »Präzessionen und binäre Umkehrungen.«
»Nein!« Sie riss es ihm förmlich aus den Händen. »Das ist völlig ausgeschlossen.«
In keinem Verzeichnis hatte mit Sicherheit nachgewiesen werden können, dass dieses schwer auffindbare Werk je tatsächlich existiert hatte. Jedes Mal, wenn sie auf Reisen war, hatte Ann es auf Nathans Bitten immer wieder höchstselbst aufzuspüren versucht, sie hatte sogar Schwestern, wann immer diese auf Reisen gingen, mit der Suche danach beauftragt. Ab und zu waren Hinweise aufgetaucht, doch am Ende waren alle diese Spuren in eine Sackgasse gemündet.
Sie blickte zu dem groß gewachsenen Propheten auf. »Ist es echt? Es gibt nicht wenige Darstellungen, in denen bestritten wird, dass es jemals existiert hat.«
»In einigen gilt es als verschollen, in anderen wird es als Mythos bezeichnet. Ich habe ein wenig darin gelesen; nach den Ergänzungen zu bestimmten Zweigen von Prophezeiungen zu urteilen, kann es nur echt oder aber eine brillante Fälschung sein. Um das zu entscheiden, müsste ich mich eingehender damit befassen, aber nach allem, was ich bis jetzt gesehen habe, neige ich zu der Annahme, dass es echt ist. Außerdem, welchen Sinn hätte es, eine Fälschung zu verstecken? Fälschungen werden gewöhnlich angefertigt, um sie zu Geld zu machen.«
Das war allerdings wahr. »Und es hat all die vielen Jahre hier gelegen, vergraben unter den Gebeinen.«
»Zusammen mit einer Unmenge anderer Bücher, die vermutlich nicht minder wertvoll sind.«
Ann schnalzte mit der Zunge und ließ ihren Blick noch einmal über all die Bücher schweifen, während ihre ehrfürchtige Scheu mit jedem Moment wuchs. »Du bist auf einen Schatz gestoßen, Nathan, einen Schatz von unglaublichem Wert.«
»Schon möglich«, sagte er. Als sie ihm darauf einen verwunderten Blick zuwarf, wuchtete er einen schweren Band von einem anderen Stapel herunter. »Du wirst nicht glauben, was das hier ist. Schlag es auf und lies selbst den Titel.«
Widerstrebend legte Ann Präzessionen und binäre Umkehrungen zur Seite, um den schweren Band in Empfang zu nehmen, den Nathan ihr reichte. Sie legte ihn ebenfalls auf den Tisch und beugte sich ganz dicht darüber, ehe sie, äußerst behutsam, den Buchdeckel aufklappte. Fassungslos kniff sie die Augen zusammen, dann richtete sie sich wieder auf.
»Die sieben Pflichten von Sellerson!« Offenen Mundes starrte sie den Propheten an. »Aber ich dachte, davon gibt es nur eine einzige Abschrift, und die wurde vernichtet.«
Nathans linker Mundwinkel verzog sich zu einem spitzfindigen Schmunzeln. Er hielt ihr ein weiteres Buch vors Gesicht. »Zwölf letzte Worte über die Vernunft. Zwilling des Schicksals hab ich ebenfalls gefunden.« Mit einer vagen Geste deutete er auf einen Bücherstapel. »Muss irgendwo dazwischen liegen.«
Einen Moment lang arbeitete Anns Kiefer stumm, ehe sie die Worte schließlich hervorbrachte. »Und ich dachte, diese Prophezeiungen wären für alle Zeit verloren.« Er schaute sie nur an, auf den Lippen noch immer dieses eigentümliche Lächeln. Ihre Hand schnellte vor und fasste seinen Arm. »Sollte uns tatsächlich das Glück beschieden sein, dass davon Kopien angefertigt wurden?«
Mit einem Nicken bestätigte Nathan ihre Vermutung, doch dann erlosch sein Lächeln. »’Ann«, erklärte er, während er ihr Zwölf letzte Worte über die Vernunft reichte, »wirf einen Blick hinein und sag mir, was du denkst.«
Verwirrt von der düsteren Miene, die sich über sein Gesicht gebreitet hatte, legte sie das Buch auf einen freien Platz und begann, behutsam die Seiten umzuschlagen. Die Schrift war ein wenig verblasst, wenn auch nicht mehr als in anderen Büchern gleichen Alters. Trotz seiner Betagtheit war es in gutem Zustand und recht gut lesbar.
Bei Zwölf letzte Worte über die Vernunft handelte es sich um einen Band, der zwölf Kernprophezeiungen sowie eine Reihe untergeordneter Verästelungen enthielt. Diese untergeordneten Verästelungen stellten, sofern sie sorgfältig durch Querverweise abgesichert waren, die Verbindung von tatsächlichen Ereignissen zu einer Reihe von anderen Büchern der Prophezeiungen her, die sich anderweitig unmöglich in die korrekte zeitliche Reihenfolge bringen ließen. Die zwölf Kernprophezeiungen selbst waren im Grunde gar nicht so wichtig, vielmehr waren es die untergeordneten, als Bindeglied zwischen anderen Hauptstämmen und Verzweigungen des Baumes der Prophezeiungen fungierenden Verästelungen, die Zwölf letzte Worte über die Vernunft so unschätzbar wertvoll machten.
Für jeden, der mit Prophezeiungen zu tun hatte, stellte die zeitliche Reihenfolge der Ereignisse meist die größte Herausforderung dar, denn oft war es unmöglich, festzustellen, ob eine Prophezeiung am nächsten Tag oder erst in hundert Jahren eintreffen würde. Alle Geschehnisse befanden sich in einem Zustand permanenter Veränderung, weshalb die Einordnung einer Prophezeiung in einen zeitlichen Zusammenhang von entscheidender Bedeutung war – nicht nur, um zu erkennen, wann eine spezielle Prophezeiung entwicklungsfähig werden sollte, sondern auch, weil ein Ereignis, das im nächsten Jahr noch von überragender Bedeutung sein mochte, im zeitlichen Zusammenhang des darauf folgenden Jahres vielleicht nicht mehr als eine unbedeutende Begebenheit sein würde. Solange unbekannt war, in welchem Jahr eine Prophezeiung sich erfüllen sollte, wusste man auch nicht, ob sie eine Gefahr verhieß oder nichts weiter war als eine Fußnote. Die meisten Propheten überließen es späteren Generationen, ihre niedergeschriebenen Prophezeiungen zu gegebenem Zeitpunkt in das tatsächliche Geschehen einzuordnen. Ob dies mit Absicht geschah, aus Sorglosigkeit oder weil der Prophet, ganz in Anspruch genommen von seinen Visionen, sich gar nicht bewusst war, wie wichtig – und schwierig – es später sein würde, seine Visionen chronologisch einzuordnen, darüber waren die Meinungen geteilt. Am Beispiel Nathans hatte sie oft beobachten können, dass dem Propheten selbst die Prophezeiungen so klar erschienen, dass er gar nicht begriff, welch ungeheure Mühe es anderen bereiten könnte, sie zu deuten und in das Rätsel des Lebens einzufügen.
»Warte«, stieß Nathan plötzlich hervor, als sie die Seiten umschlug. »Blättere eine Seite zurück.«
Ann sah kurz zu ihm hoch, dann blätterte sie das Pergament wieder zurück. »Da«, sagte Nathan und tippte mit dem Finger auf das Blatt. »Sieh doch. Hier fehlen mehrere Zeilen.«
Ann nahm die kleine Lücke im Text in Augenschein, ohne jedoch zu erkennen, was daran so bedeutsam sein sollte. Es kam oft vor, dass Bücher leere Stellen aufwiesen – aus den unterschiedlichsten Gründen. »Und?«
Statt zu antworten, forderte er sie mit einer ungeduldigen Geste auf fortzufahren. Sie blätterte durch die Seiten, bis Nathan plötzlich seine Hand dazwischenschob, um ihr Einhalt zu gebieten, und mit dem Finger auf eine weitere leere Stelle tippte, um sie darauf aufmerksam zu machen. Unmittelbar darauf drängte er sie weiterzublättern.
Ann fiel auf, dass die leeren Stellen sich zu häufen begannen, bis sie schließlich auf gänzlich unbeschriebene Seiten stieß. Aber selbst das war nichts völlig Unbekanntes. Es gab zahllose Schriften, die einfach mittendrin abbrachen. Man nahm an, dass der Prophet, der an einem solchen Text gearbeitet hatte, höchstwahrscheinlich verstorben war und seine Nachfolger entweder nicht in das Werk ihres Vorgängers eingreifen oder aber sich mit Verzweigungen von Prophezeiungen befassen wollten, die ihnen interessanter oder nützlicher erschienen. »Zwölf letzte Worte über die Vernunft ist eines der raren Bücher der Prophezeiungen in chronologischer Reihenfolge«, erinnerte er sie mit milder Stimme.
Das war ihr natürlich bekannt, schließlich machte gerade dies das Buch zu einem so wertvollen Hilfsmittel, nur vermochte sie sich nicht vorzustellen, warum er es für so wichtig erachtete, sie gesondert darauf hinzuweisen. »Na ja«, meinte Ann mit einem Seufzer, als sie zum Schluss kam, »merkwürdig ist es schon, nehme ich an. Wofür hältst du diese leeren Stellen?«
Statt ihr direkt zu antworten, reichte er ihr ein weiteres Buch. »Unterteilung der Wurzel Burketts. Wirf da mal einen Blick hinein.«
Ann blätterte durch die Seiten eines weiteren Fundes von unschätzbarem Wert, immer auf der Suche nach etwas Ungewöhnlichem, bis sie auf drei leere Seiten stieß, hinter denen weitere Prophezeiungen folgten. Allmählich machten Nathans Spielchen sie ungehalten. »Wonach soll ich hier denn überhaupt suchen?«
Nathan ließ sich einen Moment lang Zeit mit der Antwort. Als er sie schließlich gab, schwang in seiner Stimme ein Unterton mit, der dazu angetan war, ein eisiges Frösteln ihre Wirbelsäule hinaufkriechen zu lassen. »Ann, dieses Buch hatten wir unten in unseren Gewölbekellern.«
Sie verstand noch immer nicht, was daran für ihn von so offenkundig entscheidender Bedeutung war. »Stimmt, hatten wir. Ich erinnere mich recht gut.«
»In unserer Abschrift gab es diese leeren Seiten nicht.«
Die Stirn gerunzelt, wandte sie sich wieder dem Buch zu, blätterte abermals durch die Seiten, bis sie die unbeschriebene Stelle gefunden hatte.
»Nun«, sagte sie, nachdem sie sich erst die Stelle angesehen hatte, wo die Prophezeiung endete, und anschließend jene, wo der Text im Anschluss an die leeren Seiten mit einem völlig neuen Zweig der Prophezeiung fortgesetzt wurde, »wer immer diese Abschrift angefertigt haben mag, hat offenbar aus irgendeinem Grund beschlossen, auf bestimmte Passagen zu verzichten. Vielleicht hatte er einen triftigen Grund zu der Annahme, dass jener Zweig eine Sackgasse sei, und ihn einfach weggelassen, statt den Baum der Prophezeiungen mit einem abgestorbenen Ast zu belasten. Und um nicht den Eindruck zu erwecken, jemanden täuschen zu wollen, hat er die entsprechende Stelle freigelassen, um sie als Auslassung zu kennzeichnen.«
Sie sah auf. Die tiefblauen Augen des Propheten waren auf sie gerichtet. Ann fühlte den Schweiß zwischen ihren Schulterblättern herabrinnen.
»Wirf einen Blick in Glendhills Theorie der Abweichungen«, forderte er sie mit ruhiger Stimme auf, ohne seinen durchdringenden Blick von ihr abzuwenden.
Ann löste den Blickkontakt zu ihm und zog die Ausgabe von Glendhills Theorie der Abweichungen zu sich heran. Wie beim vorherigen Folianten blätterte sie hier ebenfalls flüchtig durch die Seiten, wenn auch etwas zügiger.
Hier gab es allerdings deutlich mehr leere Seiten.
Sie zuckte mit den Achseln. »Ich würde sagen, es handelt sich um keine sehr genaue Abschrift.«
Vor lauter Ungeduld ging Nathan mit seinem langen Arm dazwischen und klappte den Stoß Seiten wieder zum Anfang um. Dort, auf einer der Seiten gleich zu Beginn, war das Zeichen des Autors zu erkennen. »Beim gütigen Schöpfer«, hauchte Ann, als sie das winzige Symbol erblickte. Es schimmerte noch immer schwach von der Magie, mit der der Autor seine Signatur versehen hatte. Sie fühlte, wie sie von den Zehen an aufwärts eine Gänsehaut überlief. »Dies ist keine Abschrift, es ist das Original.«
»So ist es. Wie du dich erinnern wirst, war das Exemplar in unseren Gewölbekellern eine Abschrift.«
»Ja, stimmt, ich erinnere mich.«
Sie hatte angenommen, dies sei ebenfalls eine von einer ganzen Reihe von Abschriften, wie dies für viele Bücher der Prophezeiungen zutraf, ohne dass dadurch ihr Wert gemindert wurde. Sie wurden von anerkannten Gelehrten durchgesehen und gegengezeichnet, die anschließend, als Gewähr für die Richtigkeit der Abschrift, ihre eigene Signatur hinterließen. Der Wert eines Buches der Prophezeiungen bemaß sich nach der Genauigkeit und Wahrhaftigkeit seines Inhalts, nicht daran, ob es sich um das Original handelte. Als wertvoll galt die Prophezeiung als solche, nicht die Hand, die sie einst niedergeschrieben hatte. Trotzdem, das Original eines Buches vor sich zu sehen, das sie so sehr liebte wie dieses spezielle Exemplar, war schon ein denkwürdiges Erlebnis. Dies war der ursprüngliche Text, eigenhändig niedergeschrieben von ebenjenem Propheten, der diese wertvollen Prophezeiungen einst abgegeben hatte.
»Was soll ich sagen, Nathan? Es ist mir eine ganz persönliche Freude. Du weißt, wie viel mir dieses Buch bedeutet.«
Nathan holte geduldig Luft. »Und die leeren Seiten?«
Ann zuckte mit einer Schulter. »Ich weiß nicht. Ich bin nicht wirklich vorbereitet, eine Vermutung zu wagen. Worauf willst du hinaus?«
»Betrachte die Stelle, wo sich die Auslassungen in den Text einfügen.«
Ann richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Buch, überflog eine unmittelbar vor einer der Leerstellen stehende Textpassage, anschließend ein Stück des sich unmittelbar anschließenden Textes. Es war eine Prophezeiung über Richard. Nach Gutdünken wählte sie eine weitere Leerstelle aus und überflog den Text davor und danach. Wieder handelte der Abschnitt von Richard.
»Es scheint«, sagte sie, während sie die dritte Stelle begutachtete, »dass die Leerstellen immer dort auftauchen, wo von Richard die Rede ist.«
Nathans Anspannung schien mit jedem Moment zuzunehmen. »Das liegt daran, dass sich Glendhills Theorie der Abweichungen größtenteils mit Richard befasst. Aber sobald man die anderen Bücher hinzuzieht, verliert das Muster der leeren, sich auf Richard beziehenden Seiten seine Gültigkeit.«
In einer hilflosen Geste hob Ann die Arme und ließ sie wieder fallen. »Ich gebe auf. Ich sehe nicht, was du siehst.«
»Es geht eher darum, was wir beide nicht sehen. Das eigentliche Problem sind die Leerstellen.«
»Was veranlasst dich zu dieser Behauptung?«
Mit etwas mehr Nachdruck in der Stimme fuhr er fort: »Die Tatsache, dass alle diese Leerstellen etwas recht Seltsames gemein haben.«
Ann steckte eine verirrte Haarsträhne zurück in den Knoten, zu dem sie ihr Haar am Hinterkopf stets gebunden trug. Sie wurde zunehmend erschöpft.
»Und das wäre?«
»Sag du es mir«, antwortete er. »Ich möchte wetten, soweit es Glendhills Theorie der Abweichungen anbelangt, bist du praktisch zitatfest.«
Ann zuckte mit den Schultern. »Schon möglich.«
»Nun, ich bin zitatfest, zumindest, was unsere Abschrift damals aus den Gewölbekellern anbetrifft. Ich bin dieses Buch genau durchgegangen und habe es mit meiner Erinnerung verglichen.«
Aus irgendeinem Grund drehte sich Ann vor innerer Beklemmung der Magen um. Eine düstere Ahnung drängte sich ihr auf: Waren die vom ursprünglichen Autor offen gelassenen Leerstellen in ihrer Abschrift aus den Gewölbekellern des Palasts damals womöglich in betrügerischer Absicht mit falschen Prophezeiungen aufgefüllt worden? Ein solcher Betrug war fast zu niederschmetternd, um ihn auch nur in Betracht zu ziehen. »Und zu welchem Ergebnis bist du gelangt?«, fragte sie.
»Dass ich dieses Original exakt zitieren kann – nicht mehr und nicht weniger.«
Ann stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. »Aber das ist doch großartig, Nathan. Das bedeutet, dass unsere Abschrift nicht mit erfundenen Prophezeiungen ergänzt wurde. Warum solltest du dir den Kopf zerbrechen, bloß weil dir ein paar Leerstellen entfallen sind? Es sind Leerstellen, dort steht nichts. Da ist nichts, dessen du dich erinnern könntest.«
»Unsere Abschrift damals im Palast wies keine Leerstellen auf.«
Die Augen zusammengekniffen, versuchte Ann, sich zu erinnern. »Nein, das tat sie nicht. Daran erinnere ich mich genau.« Sie schenkte dem Propheten ein begütigendes Lächeln. »Aber begreifst du nicht? Wenn du dieses Exemplar rezitieren kannst, nicht mehr und nicht weniger, und deine Kenntnis des Textes sich auf unsere Abschrift bezieht, kann das nur eins bedeuten: Wer immer die Abschrift angefertigt hat, hat den Text einfach komprimiert, statt die sinnlosen, von dem ursprünglichen Propheten hinterlassenen Leerstellen mit zu übertragen. Wahrscheinlich hatte der sie einfach offen gelassen für den Fall, dass er noch weitere Visionen bezüglich dieser Prophezeiungen hätte und er den bereits niedergeschriebenen Text ergänzen müsste. Offenbar ist dieser Fall aber nie eingetreten, und die Stellen sind leer geblieben.«
»Ich weiß genau, dass unsere Abschrift mehr Seiten enthielt.«
»Dann vermag ich dir nicht mehr zu folgen.«
Diesmal war es an Nathan, die Hände verzweifelt in die Luft zu werfen. »Ann, begreifst du denn nicht? Hier, sieh ins Buch.« Er drehte es zu ihr herum. »Sieh dir die vorletzte Verzweigung der Prophezeiung an. Sie umfasst eine Seite, gefolgt von sechs Leerseiten. Kannst du dich an eine einzige Prophezeiung in unserer Abschrift von Glendhills Theorie der Abzweigungen erinnern, die nur eine einzige Seite umfasste? Nein, so kurz war keine, dafür waren sie zu komplex. Du weißt, dass diese Prophezeiung mehr umfasste, und ich weiß es, und doch herrscht in meinem Kopf eine ebensolche Leere wie auf diesen Seiten. Was ursprünglich dort stand, ist nicht nur aus diesem Buch, sondern auch aus meinem Gedächtnis verschwunden. Und sofern du mir nicht den Rest der Prophezeiung, so wie er deines Wissens hier niedergeschrieben sein sollte, zitieren kannst, ist er auch aus deinem Gedächtnis gelöscht worden.«
»Nathan, das ist doch einfach nicht – ich meine, ich wüsste wirklich nicht...«, stammelte Ann konsterniert. »Hier«, unterbrach er sie und schnappte sich ein hinter ihm liegendes Buch. »Gesammelte Ursprünge. Ich bin sicher, du erinnerst dich.«
Voller Ehrfurcht nahm Ann das Buch aus seinen Händen entgegen. »Oh, Nathan, natürlich erinnere ich mich. Wie könnte man ein so unscheinbares und dennoch wundervolles Buch vergessen?«
Bei Gesammelte Ursprünge handelte es sich insofern um eine äußerst seltene Prophezeiung, als sie von Anfang bis Ende in Form einer Geschichte verfasst war. Ann mochte die Geschichte sehr, sie hatte eine Schwäche für Abenteuer- und Liebeserzählungen, auch wenn sie das anderen gegenüber nie eingestehen mochte. Der Umstand, dass es sich bei dieser romantischen Erzählung in Wahrheit um eine Prophezeiung handelte, bot also praktisch die Gewähr dafür, dass sie bestens mit ihr vertraut war.
Lächelnd klappte sie den Einband des schmalen Büchleins auf.
Die Seiten waren leer – alle.
»Erklär mir«, sagte Nathan mit der ruhigen, Achtung gebietenden, sonoren Stimme eines Rahl, »wovon Gesammelte Ursprünge handelt.«
Ann öffnete den Mund, brachte jedoch kein Wort hervor.
»Dann nenn mir bitte«, fuhr Nathan in der ihm eigenen ruhigen, kraftvollen Stimme fort, die Steine zum Bersten bringen zu können schien, »eine einzige Zeile aus deinem ach so geliebten Buch. Erzähl mir, von wem es handelt. Erzähl mir, wie es anfängt, womit es endet, oder irgendeine Begebenheit aus der Mitte.«
In ihrem Gedächtnis herrschte völlige, absolute Leere.
Als sie aufsah und in Nathans durchdringende Augen schaute, beugte er sich näher zu ihr hin. »Erzähl mir irgendetwas, an das du dich aus diesem Buch erinnerst.«
»Nathan«, brachte sie schließlich, die Augen weit aufgerissen, mit leiser Stimme hervor, »du hattest dieses Buch so oft auf deinem Zimmer, du kennst es besser als ich. Was ist dir aus Gesammelte Ursprünge im Gedächtnis geblieben?«
»Nicht... ein einziges... Wort.«