Dicht gefolgt von Rikka, stürmte Zedd in den engen, steinernen Gang linker Hand hinein, wobei die Kugel in seiner Hand ihnen den Weg leuchtete. Weit vor ihnen leuchteten weitere in Wandhalterungen liegende Glaskugeln auf, sobald sie in Sicht kamen. Näherte er sich ihnen, wurden sie nacheinander immer heller, nur um allmählich wieder zu erlöschen, sobald er sie mit der Kugel in seiner Hand passiert hatte. Zedd nahm gleich die erste Treppe nach oben, zu der sie kamen, denn um zu ihrem Ziel hinabsteigen zu können, mussten sie erst mehrere unzugängliche Bereiche in den Untergeschossen der Burg hinter sich lassen, indem sie sie auf einer höheren Ebene überquerten.
Vor einer verzierten Tür wandte sich Zedd herum zu Rikka. »Dieser Durchgang ist mit einem Schild gesichert. Nehmt meine Hand, dann könnt Ihr ihn passieren.«
Sie zögerte nicht einen Augenblick. Zedd trat als Erster durch den Schild, der im Bereich der Öffnung ein sanftes Kribbeln auf seiner Haut erzeugte. Als er sich zu ihr herumdrehte und ihre Hand durch die Ebene des Schildes in der Türöffnung zog, zuckte sie leicht zusammen.
»Solange ich Eure Hand halte, wird es nicht wehtun«, versicherte er ihr. »Soll ich weitergehen?«
Sie nickte. »Es fühlt sich nur so kalt an. Das Gefühl kam ein wenig überraschend, das ist alles.«
Ihre Hand fest im Griff, zog er sie vollends durch die Türöffnung. Kaum war sie hindurch, rieb sie sich kräftig die Arme.
»Was wäre passiert, wenn ich versucht hätte, ihn ohne Euch zu passieren?«
»Schwer zu sagen, die Schilde reagieren jeweils unterschiedlich. Sagen wir einfach, Ihr hättet es auf keinen Fall geschafft. Dieser Schild besitzt kein Feld, das einen vorwarnt, also ist er vermutlich nicht tödlich. Es gibt jedoch eine Reihe von Schilden, die wir passieren müssen und die einem glatt das Fleisch von den Knochen reißen. Allerdings gehören sie zu der Sorte, die einen vorher ausgiebig warnen.«
Sie schien nicht übermäßig erfreut, das zu hören, beklagte sich aber auch nicht. Den Mord-Sith war alles Magische suspekt, er wusste also, dass sie sich große Mühe gab, ihren natürlichen Abscheu zu unterdrücken. Die verzierte Tür führte in einen an Decke, Seitenwänden sowie Fußboden vollständig mit weißem Marmor ausgekleideten Flur. Die weiße Farbe hatte den Zweck, gewisse magische Taktiken zu unterbinden, welche die jeweils am Ende eines Flures angebrachten Schilde mithilfe eines Farbzaubers zu überlisten versuchten. Am fernen Ende half Zedd Rikka erneut durch einen Schild, der diesmal allerdings nicht Kälte, sondern Wärme erzeugte.
Nachdem sie eine scheinbar endlose Flucht von Räumlichkeiten hinter sich gelassen hatten, gelangten sie schließlich in einen breiten Korridor aus derben grauen Granitquadern. Trotz seiner großen Breite war die Decke des Korridors so niedrig, dass sie in leicht gebückter Haltung gehen mussten, um sich nicht den Kopf zu stoßen. Es war ein Ort, der Zedd trotz seiner Leere und seines schlichten Äußeren stets bedrohlich erschienen war. Am Ende des breiten, niedrigen Korridors gelangten sie schließlich in einen der zentralen Flure, der verputzt und in einem sandfarbenen Ton gestrichen war. Vorgesetzte Pfeiler säumten den Korridor in gewissen Abständen, um ihm ein etwas prachtvolleres Aussehen zu verleihen. Als sie ungefähr in der Mitte waren, blieb Zedd endlich stehen und wies nach oben zur Decke.
»Seht Ihr das eiserne Gitter dort oben, das der Burg das Atmen ermöglicht und durch das Frischluft nach hier unten strömt?«
Sie spähte zu dem verzierten Gitter hinauf. »Soll das etwa ein Buch darstellen?«
Der Mittelteil der aus Eisenstangen gebildeten Konstruktion war den Umrissen eines aufgeschlagenen Buches nachempfunden. Die Konstruktion selbst, die der schnellen visuellen Orientierung dienen sollte, gab einen Bereich der Burg wieder, der eine Reihe von Bibliotheken enthielt. »So ist es. Das Gitter wird Euch helfen, daran zu denken, dass Ihr an dieser Stelle abbiegen müsst. Dieser Flur mit dem darüber angebrachten Gitter ist einer der Hauptverbindungswege. Es gibt eine Reihe von Strecken, die bis hier hinunterführen, und von hier aus gelangt man auf verschiedenen Wegen praktisch in jeden Winkel der Burg, an dieser Stelle jedoch, unter diesem Gitter, müsst Ihr in diesen Flur abbiegen.« Er wies mit einer Handbewegung auf einen kleinen Seitengang. »Es ist die einzige Möglichkeit, dorthin zu gelangen, wohin wir wollen.«
Zedd beobachtete sie, als sie sich die Umgebung einprägte und nochmals zu dem über ihren Köpfen angebrachten Gitter hinaufsah. Als sie sich ihrer Sache sicher war und kurz genickt hatte, betraten sie den kleinen Seitengang.
Der Flur führte an einer Reihe von Räumen vorbei, in denen früher, vermutete Zedd, zur Instandhaltung verwendete Materialien aufbewahrt wurden; einer der Räume enthielt seines Wissens noch immer jede Menge Werkzeug. Dahinter, gegen Ende des Flures, gab es einige Räumlichkeiten mit unverputztem Mauerwerk, an die sich schmale, rechteckige Gänge anschlössen, die in den unterschiedlichsten Richtungen davon abgingen. Schließlich endete der zentrale Flur, und sie gelangten in ein Labyrinth aus einer Reihe kurzer, niedriger Versorgungsschächte, die es auf einer verwinkelten Strecke, deren Niveau sich von Zeit zu Zeit um einige Fuß hob oder senkte, zu durchqueren galt.
Als sie jenseits dieses Labyrinths auf eine steinerne Wendeltreppe stießen, stiegen sie in eine tiefschwarze Dunkelheit hinab, und auf einmal erfüllte die lautlose Glaskugel Orte mit greller Helligkeit und tiefen Schatten, in die seit Jahren kein Licht mehr gedrungen war. Die Stufen waren unglaublich schmal und gerade breit genug, dass sich jeweils nur eine Person über sie nach unten tasten konnte – was das Gefühl, vom Schlund eines steinernen Ungeheuers verschluckt zu werden, noch verstärkte. Am Fuß der Wendeltreppe warf das Licht harte Schlagschatten in die grob in den Fels gehauenen Gänge, die einst als Prüfschächte in bestimmte Teile des Burgfundaments getrieben worden waren. In den Steinquadern des Burgfundaments, die manchmal die Größe kleiner Paläste hatten, leuchteten Quarzadern auf, sobald der Lichtschein auf sie fiel. Zedd geleitete Rikka zu der engen Treppe, die unmittelbar neben der glitzernden Fundamentmauer in die Tiefe führte, wo sie beide einen Blick über den Rand des Bodenspalts warfen, ehe sie sich an den Abstieg machten.
Unten angekommen, folgten sie dem engen, parallel zur Unterkante der Fundamentquader verlaufenden Spalt, wo sich das Felsgestein oben in der Dunkelheit verlor und das glitzernde Quarz hoch über ihren Köpfen funkelte, wie ein sternenübersäter Himmel. Rechter Hand befand sich eine grob aus dem Fels gehauene Wand aus brüchigem Gestein, die sie, sollte das weichere Material dort jemals nachgeben, bei lebendigem Leib unter sich begraben würde – an einem Ort, wo niemand jemals nach ihnen suchen würde. In diesem Teil der Burg hatte man zwischen dem Fundament und dem umliegenden weicheren Gestein an den Seiten etwas Spielraum gelassen, sodass es, falls nötig, ein wenig arbeiten konnte, unten hingegen waren die Quader des Fundaments fest im härteren Muttergestein verankert. Der schmale Spalt bildete gleichzeitig einen Durchgang, der es ermöglichte, das Fundament zu inspizieren. Zu seiner Verwunderung hatte Zedd bislang noch nie einen fehlerhaften Fundamentquader entdeckt. Einige wiesen zwar Risse auf, doch die waren angeblich nicht auf Fehler in der Gesteinsstruktur zurückzuführen. Schließlich gelangten sie am Ende des Spalts an eine weitere Treppenflucht, wo ihr Weg sie abermals nach unten führte, immer tiefer hinab in die pechschwarze Klamm. »Nimmt das eigentlich nie ein Ende?«, wollte Rikka wissen.
Zedd sah über seine Schulter nach hinten, wo die leuchtende Glaskugel ihr Gesicht in grelles gelbliches Licht tauchte. »Wir befinden uns tief im Innern des Berges und nähern uns einem der Seitenhänge, aber bis dahin ist es noch ein ziemliches Stück.«
Mit einem Nicken fügte sie sich in ihr Schicksal.
»Was meint Ihr, würdet Ihr den Weg bis hierher wieder finden –vorausgesetzt, Richard oder ich bringen Euch durch die Schilde?«
Mittlerweile hatten sie eine Reihe von Schilden passiert, deren Durchquerung für sie nicht immer angenehm gewesen war, denn wer nicht über den Schutz der Gabe verfügte, für den konnte dies trotz Zedds Unterstützung mitunter eine recht unerquickliche Erfahrung sein. »Ich denke ja«, antwortete sie.
»Seht Ihr, dort drüben auf der anderen Seite?« Inmitten eines gigantischen Hohlraums wies Zedd auf einen gewaltigen dunklen Gang, der, wie er wusste, zu den rings um die Höhle angelegten Rampen führte. »Den hat man zuerst angelegt. Es ist der Hauptstollen, durch den die Fundamentquader aus dieser Höhle bis zum Fundament dieses Teils der Burg geschleppt wurden. Seht Ihr, wie der Boden durch die Arbeiten abgeschliffen worden ist?«
Der Boden des zu dem gähnenden dunklen Abgrund führenden Stollens war so glatt geschliffen, dass man meinen konnte, er wäre poliert.
»Wieso sind wir nicht auf diesem Weg hergekommen – die Strecke wäre doch viel kürzer gewesen.«
Er staunte nicht schlecht, weil sie erkannt hatte, dass der Hauptstollen in ebenjener Richtung verlief, aus der sie gekommen waren andererseits wären die Gesteinsquader für das Fundament wohl schwerlich auf dem umständlichen Umweg transportiert worden, den sie genommen hatten. »Ihr habt Recht, kürzer wäre sie gewesen, allerdings gibt es dort Schilde, die zu passieren mir nicht möglich ist. Und da mir wegen der Schilde der Weg dort hinein verwehrt ist, weiß ich auch nicht, was genau sich dort verbirgt, ich vermute aber, dass die Baumeister dort drinnen Räume angelegt haben, in denen Gegenstände aufbewahrt wurden, die eines besonderen Schutzes bedurften. Ich wüsste nicht, welchen Grund es sonst geben sollte, diese Schilde dort zu errichten.«
»Und wie kann es sein, dass Ihr sie nicht passieren könnt? Ihr seid doch schließlich der Oberste Zauberer.«
»Die Zauberer aus jener Zeit besaßen beide Seiten der Gabe. Richard ist seit tausenden von Jahren der Erste, der sowohl mit der subtraktiven als auch mit der additiven Seite der Gabe geboren wurde. Normalerweise sind die mit subtraktiver Magie ausgestatteten Schilde den gefährlichsten Orten vorbehalten, oder aber jenen Verstecken, in denen Gegenstände von außerordentlicher Bedeutung gelagert werden, deren Sicherung den Zauberern am meisten am Herzen lag.«
Er führte sie auf einem Pfad durch die riesige Höhle, der es ihnen ermöglichte, sich dicht an der äußeren Höhlenwand zu halten. Da er nur selten hier herunterkam, musste er die Felswand auf dem Weg zur anderen Seite sorgfältig im Auge behalten. Als er die gesuchte Stelle endlich gefunden hatte, fasste er Rikka beim Arm und zwang sie, stehen zu bleiben.
»Hier ist es.«
Die Augen halb zugekniffen, blickte sie sich um. Für den ungeschulten Blick schien sich diese Stelle nicht vom Rest der Höhle zu unterscheiden. »Hier ist was?«
»Der geheime Ort.«
Alles sah genauso aus wie der Rest der Höhle, die Seitenwände waren mit Vertiefungen übersät, hinterlassen von Werkzeugen, welche die Arbeiter einst, vor tausenden von Jahren, benutzt hatten. Zedd hielt die Glaskugel in die Höhe, damit sie sehen konnte, wohin er zeigte. »Hier, seht Ihr die Vertiefung dort oben? Die in schrägem Winkel einem Riss im Gestein folgt und zur Mitte hin ein wenig breiter wird? Schiebt Eure linke Hand hinein, ganz hinten in der Vertiefung befindet sich eine Spalte, die noch tiefer in den Riss hineinführt.«
Rikka musterte ihn argwöhnisch, doch dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen und schob ihre Hand bis zu den Knöcheln in die Rille.
»Hier unten gibt es einen kleinen Vorsprung im Gestein«, erklärte er. »Ich hab ihn immer benutzt, als ich noch kleiner war. Stellt Euch darauf, wenn Ihr nicht ganz hineinlangen könnt.«
»Nicht nötig, ich hab ihn schon. Und jetzt?«
»Ihr seid erst zur Hälfte drin. Jetzt schiebt Eure Hand tiefer hinein.«
Durch Hin-und-her-Bewegen ihrer Finger gelang es ihr, ihre Hand tiefer hineinzuschieben, bis der Spalt sie bis zum Handgelenk aufgenommen hatte. »Weiter geht nicht. Ich stoße mit den Fingerspitzen schon gegen massiven Fels.«
»Bewegt Euren längsten Finger auf und ab, bis Ihr ein Loch findet.«
Sie verzog das Gesicht, tat dann aber wie geheißen. »Ich hab’s.«
Zedd nahm ihre rechte Hand und führte sie zu einer ganz ähnlichen Vertiefung an einer anderen Stelle desselben Spalts, ungefähr in Hüfthöhe. »Und nun sucht noch das Loch in dieser Vertiefung. Wenn Ihr es gefunden habt, steckt Ihr Eure Finger in beide fest hinein.«
Vor Anstrengung entfuhr ihr tief in der Kehle ein leises Ächzen. »Gefunden. Jetzt hab ich alle beide und schiebe die Finger hinein.«
»Sehr gut. Und wenn Ihr jetzt beide Finger hineindrückt, stellt Ihr Euren rechten Fuß hier oben auf den Vorsprung jenseits dieses Schlitzes und stemmt Euch einmal kräftig dagegen.«
Sie sah ihn verwundert an, tat aber, wozu er sie aufgefordert hatte. Nichts tat sich. »Könnt Ihr nicht fester drücken? Oder wollt Ihr mir etwa weismachen, Ihr seid nicht einmal so kräftig wie ein spindeldürrer alter Greis?«
Sie warf ihm einen ärgerlichen Blick zu, dann benutzte sie ihren Griff an den Haltepunkten, um sich abzustützen, und versetzte dem Felsvorsprung, begleitet von einem Ächzen, einen festen Tritt. Augenblicklich begann die glatte Felswand nach hinten zu schwenken. Zedd forderte sie auf, rasch einen Schritt zurückzutreten, dann sahen die beiden zu, wie ein Teil der Felswand geräuschlos zur Seite schwebte, ganz ähnlich einer riesigen Tür, was sie genau genommen ja auch war. Trotz ihres ungeheuren Gewichts war sie so perfekt ausbalanciert, dass nach dem Lösen der beiden Fingerriegel bereits ein kräftiger Stoß genügte, um sie in Drehung zu versetzen. »Bei den Gütigen Seelen«, hauchte Rikka kaum hörbar, als sie ihren Oberkörper an die Öffnung heranschob und in den dunklen Schlund hineinspähte. »Wie habt Ihr es bloß geschafft, diesen Ort zu finden?«
»Gefunden habe ich ihn schon als Kind, das heißt, genau genommen hatte ich das andere Ende gefunden. Nachdem ich dann hier herausgekommen war, kannte ich natürlich auch diese Stelle und habe sie mir sorgfältig gemerkt, um sie jederzeit wieder finden zu können. Aber die ersten Male ist es mir nicht gelungen, deshalb musste ich noch ein zweites Mal von der anderen Seite hindurch.«
»Und was ist es nun?«
»Damals, als ich noch ein kleiner Junge war, war es meine Rettung. Auf diesem Weg konnte ich mich in die Burg zurückstehlen, ohne über die Brücke gehen und wie alle anderen den Vordereingang nehmen zu müssen.«
Argwöhnisch zog sie eine Braue hoch. »Ihr müsst ein ziemlich anstrengendes Kind gewesen sein.«
Ein Lächeln huschte über Zedds Lippen. »Ich muss zugeben, es mag damals den einen oder anderen gegeben haben, der dieser Einschätzung zugestimmt hätte. Immerhin hat mir dieser Gang gute Dienste geleistet. Durch ihn konnte ich mich hineinschleichen, als die Schwestern der Finsternis die Burg übernommen hatten. Sie waren sich sicher, nur den Vordereingang bewachen zu müssen, aber wie alle anderen lebenden Personen wussten sie nichts von der Existenz dieses Ganges.«
»Das ist es also, was Ihr mir zeigen wolltet, einen geheimen Zugang zur Burg?«
»Oh, nein, das ist das bei weitem Unwichtigste und am wenigsten Bemerkenswerte an diesem Ort. Kommt mit, dann zeige ich es Euch.«
Sofort flackerte ihr Argwohn wieder auf. »Also, was hat es denn nun mit dieser Stelle auf sich?«
Zedd hielt die Glaskugel in die Höhe, beugte sich verschwörerisch zu ihr und sagte leise: »Jenseits dieser Stelle herrscht ewige Finsternis, es ist der Durchgang in das Totenreich.«