54

Das Schattenwesen prallte mit einem so gewaltigen hallenden Krachen gegen das Portal, dass Richard dachte, der Gang, in dem sie sich befanden, würde in Stücke gesprengt. Was ursprünglich eine einigermaßen zusammenhängende, dunkle Gestalt zu sein schien, zerschellte wie ein Stück Glas auf Granit und zersprang in tausende dunkle Splitter. Durch Mark und Bein gehende Klagelaute zutiefst empfundener Angst hallten mit entsetzlicher, herzzerreißender Unwiderruflichkeit durch den Gang, als ein blendender, tiefroter Lichtblitz aufloderte und die schwarzen Schattenfetzen von dem durch einen Schild gesicherten Portal in den mit den schimmernden, funkelnden Spiegelungen des Glasmosaiks erfüllten Raum zurückgeschleudert wurden – als die Bestandteile des Schattenwesens ein letztes Mal hell erglühend in alle Richtungen auseinander stoben, ehe sie tatsächlich erloschen.

Schlagartig war es bis auf das angestrengte Atmen der beiden totenstill. Die Bestie war verschwunden – fürs Erste zumindest.

Richard ließ ihre Hand los, dann sackten sie beide schwer zu Boden und ließen sich vor Erschöpfung keuchend gegen die irisierende Silberwand sinken.

»Das war genau die Art von Schild, die du gesucht hast, hab ich Recht?«, fragte Nicci, die immer noch nach Atem rang, um überhaupt sprechen zu können.

Richard nickte. »Was immer Zedd, Ann oder Nathan an magischen Kräften auf den Plan gerufen haben, hat die Bestie nicht aufhalten können, aber was Ihr getan habt, schien zumindest eine gewisse, wenn auch bescheidene Wirkung zu haben. Das brachte mich auf den Gedanken, es müsste doch eine Möglichkeit geben, der Bestie etwas entgegenzusetzen, wenn schon nicht in ihrer Gesamtheit, dann wenigstens in der Gestalt, in der sie sich diesmal zeigte.

Mir war klar, dass die Zauberer aus der Zeit, als dieser Ort errichtet wurde, eine Möglichkeit besessen haben mussten, alles von hier fern zu halten, was nicht hierher gehörte – schließlich stammte auch die Bestie aus dieser Zeit; sie war etwas, deren Beschreibung Jagang in uralten Schriften entdeckt hatte. Also schloss ich daraus, dass, wer immer die Schilde eingerichtet hat, gezwungen gewesen sein muss, auch diese Eventualitäten zu berücksichtigten.

Weil diese Schilde zur Abwehr ebendieser Gefahren geschaffen worden sind, ist zumindest ein gewisser Anteil subtraktiver Magie vonnöten, um sie zu überwinden. Nun verfügten die Feinde aber ebenfalls über subtraktive Kräfte, deshalb mussten diese Schilde, so meine Überlegung, darüber hinaus in der Lage sein, das Wesen dessen zu durchschauen, der sie überwinden will, um so die drohende Gefahr einschätzen zu können. Es könnte sogar sein, dass sie, während wir durch die Burg gejagt wurden und dabei immer wieder Schilde überwinden mussten, nicht nur über unser Wesen, sondern auch über das der Bestie Informationen angesammelt haben, um diese, als wir schließlich an diesen höherschwelligen Schild gelangten, als Bedrohung einzustufen und zurückzuhalten.«

Nicci strich sich eine verschwitzte Strähne ihres blonden Haars aus dem Gesicht, während sie über seine Ausführungen nachdachte. »Über die mit der Gabe Gesegneten von damals ist eigentlich kaum etwas bekannt, trotzdem ist es nachvollziehbar, dass diese alten Schutzvorrichtungen in der Lage gewesen sein müssen, eine solche, aus jener Zeit stammende Gefahr abzuwehren.« Sie runzelte die Stirn, als wäre ihr ein Gedanke gekommen. »Vielleicht wären diese Schilde sogar eine Möglichkeit, dich zu beschützen, für den Fall, dass sie sich noch einmal blicken lassen sollte.«

»Sicher – vorausgesetzt, ich hätte die Absicht, mich hier wie ein Maulwurf zu vergraben«, erwiderte er trocken. Sie sah sich um. »Irgendeine Ahnung, wo wir uns befinden?«

»Nein.« Erschöpft stieß er einen Seufzer aus. »Aber ich denke, wir täten gut daran, es herauszufinden.«

Mühsam kamen sie wieder auf die Beine und machten sich daran, den Rest der Strecke durch den kurzen Gang hinter sich zu bringen. An seinem Ende gelangten sie in einen Raum aus simplen Steinquadern, die einst verputzt gewesen sein mussten; mittlerweile befand sich der Putz aber längst im Zustand der Auflösung. Der Raum war nicht mehr als fünfzehn Schritte lang und nicht einmal annähernd so breit, und der größte Teil der linken Seitenwand war mit Regalen voller Bücher zugestellt.

Trotz der nicht eben zahlreichen Bücher diente er, anders als viele andere, die er in der Burg der Zauberer gesehen hatte, nicht als Bibliothek. Einerseits war er dafür viel zu klein, zum anderen war er alles andere als elegant, ja nicht einmal ansehnlich, sondern eher ziemlich nüchtern gehalten, sodass man ihn bestenfalls als praktisch bezeichnen konnte. Am anderen Ende, neben der wieder hinausführenden Tür, war neben den Bücherregalen gerade noch Platz für einen Tisch mit einer dicke Kerze darauf, unter den man einen hölzernen Stuhl geschoben hatte. Der Gang drüben auf der anderen Seite i glich im Großen und Ganzen dem, durch den sie hereingekommen waren.

Bei näherem Hinsehen jedoch entdeckte Richard, dass er die gleichen silbrig schimmernden Wände sowie einen weiteren Schild aufwies, ganz ähnlich dem, den sie beim Betreten überwunden hatten, sodass er, anders als viele andere Räume in der Burg, unmöglich zu umgehen und über eine andere, nicht durch solch mächtige Schilde gesicherte Route zu betreten war. Entweder man gelangte durch einen der beiden Schilde hinein oder gar nicht. »Nach der Unmenge von Staub zu urteilen«, sagte Nicci, »ist hier offenbar schon seit Jahrtausenden nicht mehr sauber gemacht worden.«

Sie lag mit ihrer Einschätzung richtig. Abgesehen von dem schmutzigen Grau, das sich über alles gelegt hatte, wies der Raum praktisch keine Farben auf. Die feinen Härchen in seinem Nacken stellten sich auf, als Richard dämmerte, was möglicherweise der Grund dafür war.

»Und zwar, weil ihn seit Jahrtausenden kein Mensch mehr betreten hat.«

»Wirklich?«

Er wies auf den Ausgang, den er gerade untersucht hatte. »Die beiden einzigen hier hineinführenden Wege sind mit Schilden gesichert, für deren Überwindung subtraktive Magie benötigt wird. Nicht einmal Zedd, der Oberste Zauberer höchstselbst, kann diesen Raum jemals betreten haben, da es ihm unmöglich ist, subtraktive Schilde zu passieren.«

Fröstelnd rieb Nicci sich die Hände. »Und erst recht nicht diese hier. Ich habe mich einen Großteil meines Lebens mit Schilden beschäftigt; nach dem Gefühl, das mich bei diesen hier überkam, sind sie von absolut tödlicher Kraft. Ohne deine Hilfe hätte ich sie vermutlich schon beim ersten Mal nur unter beträchtlichen Schwierigkeiten überwinden können.«

Den Kopf leicht zur Seite geneigt, um die Titel besser entziffern zu können, ließ Richard den Blick über die Bücher in den Regalen wandern. Auf manchen Buchrücken war überhaupt kein Titel angegeben, manche waren in Sprachen verfasst, deren er nicht mächtig war. Wieder andere schienen dem Aussehen nach Tagebücher zu sein. Ein schmales Bändchen trug den Titel Gegendrauss, was Gegenmaßnahmen auf Hoch-D’Haran bedeutete.

Gleich daneben zog er ein anderes von ähnlich schmalem Format hervor, das den Titel Theorie der Ordnung trug. Er war noch damit beschäftigt, den Staub herunterzublasen, da dämmerte ihm, dass es vermutlich deswegen seine Aufmerksamkeit erregt hatte, weil der Begriff »Ordnung« im Titel ihn an die Kästchen der Ordnung erinnerte. Er fragte sich, ob da möglicherweise eine Verbindung bestand. »Sieh dir das an, Richard«, rief Nicci vom gegenüberliegenden Durchgang her. Richard warf das Buch auf den Tisch, ging hinüber zum Durchgang und näherte sich dem Schild. »Was ist denn?«

»Ich weiß nicht.« Ihre Stimme hatte einen hallenden Klang, kurz darauf sah er das tiefrote Leuchten erst kurz aufflackern und anschließend wieder verblassen. Sofort wurde ihm klar, dass sie den Schild durchquert haben musste. Seine anfängliche Besorgnis wich gewaltiger Erleichterung, als er sah, dass nichts wirklich Schlimmes passiert war. Nicci war schließlich eine erfahrene Hexenmeisterin, die, so seine Vermutung, nach dem Durchqueren des letzten Schildes genau gewusst haben musste, auf welche Gefahren es zu achten galt, wenn man herausfinden wollte, ob dieser Schild sich ebenfalls passieren ließ. Entschlossen trat er durch die Ebene erhöhten Drucks und kurzfristig sengender Hitze und gelangte dahinter in einen kleinen, mit Glasmosaiken ausgekleideten Raum, ganz ähnlich dem am anderen Ende des winzigen Lesesaals. Offenbar handelte es sich in beiden Fällen um eine Art Vorraum vor den eigentlichen Schilden, die entweder das Nahen einer Person ankündigen sollten oder der Unterstützung der eigentlichen Schilde dienten. Nicci stand unmittelbar dahinter vor einer offenen Eisentür und kehrte ihm den Rücken zu. Er trat neben sie bis an das Geländer der Plattform und blickte in das Innere eines runden Turmes von mindestens einhundert Fuß Durchmesser, an dessen gekrümmter Außenmauer Treppen spiralförmig nach oben führten. Über ihnen erhob sich der Turm bis zu einer Höhe von mehr als zweihundert Fuß. In unregelmäßigen Abständen, dort, wo es eine Türöffnung gab, waren die Treppenstufen von kleinen Plattformen unterbrochen, ganz ähnlich der, auf der sie standen. Balken schräg einfallenden Lichts durchstachen das Dunkel in dem düsteren weiten Rund hoch über ihnen. Es herrschte ein Gestank nach Fäulnis und Verwesung. Am Fuß des Turmes, nicht übermäßig weit von ihrer Plattform entfernt, erblickte er einen Rundgang mit eisernem Handlauf, der sich wie ein Ring an der Innenwand des Turmes entlangzog. Unten, in der Mitte des Turmfundaments, hatte sich durch die weiter oben gelegenen Öffnungen einfallender Regen sowie Sickerwasser aus dem Innern des Berges angesammelt, eine stehende, tintenschwarze Wasserlache, über der sich die Insekten tummelten, während andere über die Oberfläche huschten.

»Ich kenne diesen Ort«, bemerkte Richard, während er sich umschaute, um sich zu orientieren. »Ach, ja?«

»Ja, kommt mit.« Er stieg die Stufen hinab.

Unten angelangt, folgte er dem eisernen Handlauf zu einer breiteren Plattform vor einer Stelle in der Wand, in der sich früher eine Tür befunden hatte. Die Türöffnung war herausgesprengt worden, sodass das dadurch entstandene Loch jetzt das Doppelte seiner ursprünglichen Größe hatte. An manchen Stellen waren die schartigen Kanten des zertrümmerten Gesteins geschwärzt, an anderen war das Mauerwerk geschmolzen, als wäre es nicht härter gewesen als Wachs. Gezackte rußige Streifen an der Oberfläche der gemauerten Wand führten von dem herausgesprengten Loch in alle Richtungen und markierten die Stelle, wo die Mauer von einer Art Blitz beschädigt und versengt worden war.

Voller Verwunderung starrte Nicci das Loch an. »Was in aller Welt mag hier vorgefallen sein?«

»Wie die gesamte Alte Welt, so war auch dieser Raum einst hermetisch versiegelt. Als ich die Barriere zur Alten Welt niederriss, wurde dabei auch dieses Siegel weggesprengt.«

»Aber wieso? Was befindet sich hier drin?«

»Der Brunnen der Sliph.«

»Dieses Wesen, von dem du mir erzählt hast, das die Menschen aus alter Zeit benutzten, um große Entfernungen zurückzulegen? Das Wesen, in dem du gereist bist?«

»So ist es«, bestätigte er und trat durch den schartigen türartigen Durchbruch. Der Raum dahinter war rund und maß vielleicht sechzig Fuß im Durchmesser; seine Wände waren ebenfalls mit chaotischen Brandspuren übersät, so als wäre dort ein Blitz Amok gelaufen. Eine kreisrunde, etwa hüfthohe Steinmauer, die eine Art großen Brunnen einzufassen schien, nahm die Mitte des Raumes ein.

Die Höhe der gewölbten Decke entsprach in etwa dem Durchmesser des Raumes, es gab weder Fenster noch irgendwelche weiteren Türen. Auf der fernen Seite des Brunnens der Sliph standen ein Tisch sowie ein paar Regale. An dieser Stelle war Richard auf die Überreste jenes Zauberers gestoßen, den man vor langer Zeit, als der Große Krieg mit der Errichtung der Barrieren zu Ende ging, dort eingesperrt hatte. Gefangen in seiner ausweglosen Falle, war der Mann in dem hermetisch versiegelten Raum zu Tode gekommen, nicht ohne aber ein Tagebuch zu hinterlassen, das sich jetzt in Berdines Besitz befand – ein Tagebuch, das in der Vergangenheit, als Richard und Berdine an seiner Übersetzung arbeiteten, schon mehrfach wertvolle Informationen geliefert hatte. Wegen der großen Bedeutung der dem Tagebuch entnommenen Informationen hatten sie seinem Verfasser den Namen Koloblicin gegeben, ein Begriff aus dem Hoch-D’Haran, der so viel wie »kluger Ratgeber« bedeutete. Mit der Zeit waren Richard und Berdine schließlich dazu übergegangen, den rätselhaften Zauberer einfach Kolo zu nennen.

Nicci hielt die leuchtende Glaskugel über den Rand und spähte in den Brunnen. Die glatten Seitenwände schienen endlos in die Tiefe zu stürzen, sodass sich das Licht, welches das Gestein bis zu einer Tiefe von mehreren hundert Fuß beleuchtete, schließlich im schwarzen Nichts verlor. »Und du sagst, du hast die Sliph schlafen gelegt?«

»Richtig, und zwar hiermit.« Dabei tippte er auf die Innenseiten seiner ledergepolsterten Silberarmbänder, die er seitenverkehrt trug. »Sie sagte, wenn sie ›schlafe‹, wie sie es nannte, dann begebe sie sich an einen fernen Ort, um sich mit ihrer Seele zu vereinen. Schlaf, sagte sie, sei für sie die pure Verzückung.«

»Und könntest du sie auf die gleiche Weise noch einmal herbeirufen? Mit diesen Armreifen?«

»Schon, aber dazu müsste ich von meiner Gabe Gebrauch machen, und das würde ich lieber vermeiden. Vor allem möchte ich mich nicht ausgerechnet in diesem mit nur einem einzigen Ausgang versehenen Raum aufhalten, wenn die Blutbestie im selben Moment, da ich die Sliph rufe, ebenfalls hier auftaucht.«

Sie verstand, worauf er hinauswollte, und nickte. »Was glaubst du? Wäre die Bestie imstande, dir durch die Sliph zu folgen?«

Richard überlegte einen Moment. »Das kann ich nicht mit Sicherheit sagen, aber vermutlich wäre es möglich. Doch selbst wenn nicht, sie kann überall dort auftauchen, wo ich mich gerade befinde. Ich bin nicht sicher, ob sie sich überhaupt die Mühe machen müsste, die Sliph zu benutzen. Nach allem, was ich von Euch und Shota über ihr Wesen in Erfahrung bringen konnte und was ich aus eigener Erfahrung weiß, drängt sich mir der üble Verdacht auf, dass sie durch die Unterwelt reisen kann.«

»Und andere Personen?«, wollte Nicci wissen. »Könnte außer dir noch jemand dies hier benutzen?«

»Wer durch die Sliph reisen will, braucht zumindest einen Funken von beiden Seiten der Gabe; eben das machte es zu Zeiten des Großen Krieges so problematisch, weshalb man einen Zauberer als Wache in diesem Raum zurückließ und ihn schließlich versiegeln müsste. Man wollte verhindern, dass der Feind durch sie unmittelbar bis in die Burg der Zauberer vordringen konnte.

Nun gibt es aber wegen dieser Bedingung nur sehr wenige Menschen, welche die Sliph benutzen können. Cara hat mit der Gabe Gesegnete gefangen genommen, die über additive Magie verfügten, darüber hinaus einen Mann, der nach Kahlans Aussage nicht ganz menschlich war und daher zufällig einen Funken subtraktiver Magie besaß – genug, um Cara das Reisen in der Sliph zu ermöglichen. Die Kraft einer Konfessorin stammt aus alter Zeit und enthält ebenfalls Spuren subtraktiver Magie, somit kann auch Kahlan in der Sliph reisen. Meines Wissens sind das – mit Ausnahme der Schwestern der Finsternis – die beiden Einzigen, auf die das zutrifft. Eine meine früheren Ausbilderinnen, Merissa, ist mir durch die Sliph gefolgt, und Ihr könntet wohl ebenfalls in ihr reisen. Aber das war’s dann auch schon. Dennoch wäre es nach wie vor gefährlich, sie zu wecken, da Jagang theoretisch auch jede seiner Schwestern der Finsternis hindurchschicken könnte.«

»Und was würde passieren, wenn man nicht den Anforderungen entspricht?«, fragte Nicci. »Wenn es zum Beispiel jemand wie Zedd versuchen würde, ein mit der Gabe Gesegneter, der nur über additive Magie verfügt?«

»Nun, mit dieser Art des Reisens lassen sich zwar große Entfernungen zurücklegen, trotzdem dauert es eine gewisse Zeit – jedenfalls funktioniert es nicht von jetzt auf gleich. Die Reisedauer hängt vermutlich von der Entfernung ab, in jedem Fall aber dauert es mehrere Stunden. Ihrem Erscheinungsbild nach erinnert die Sliph an lebendiges Quecksilber. Um in ihr zu überleben, während sie einen an das gewünschte Ziel bringt, muss man sie, das heißt besagte silbrige Flüssigkeit, einatmen. Hat man sie, also diese Flüssigkeit, eingeatmet, hält sie einen irgendwie am Leben. Wenn man nicht im Besitz zumindest eines Funkens beider Seiten der Magie ist, funktioniert das nicht, und man stirbt ganz einfach.«

Einen flüchtigen Moment lang spielte Richard mit dem Gedanken, die Sliph zu wecken und sie zu fragen, ob sie sich an Kahlan erinnere, doch dann besann er sich, dass die Zauberer aus alter Zeit, Männer von beachtlichen Fähigkeiten, die Sliph aus einer überaus exklusiven und kostspieligen Hure geschaffen hatten, einer Hure, die in irgendwelche politischen Intrigen verwickelt gewesen war, was sie am Ende das Leben gekostet hatte. Und ein ganz spezieller Zug dieser Frau war – zumindest teilweise – auch in der Sliph noch zu erkennen. Niemals, unter keinen Umständen, würde sie die Identität eines »Kunden« preisgeben. »Wir sollten jetzt besser wieder nach oben gehen und Zedd wissen lassen, dass wir wohlauf sind.« Richard richtete seine Gedanken wieder auf unmittelbarere Probleme. »Cara dürfte mittlerweile so außer sich sein, dass sie nur noch mit Fesseln zu bändigen ist.«

»Richard?« Niccis sanfte Stimme hielt ihn zurück, als er sich gerade anschicken wollte zu gehen. Er wandte sich herum und bemerkte, dass sie ihn eigentümlich ansah. »Ja?«

»Was gedenkst du, in Bezug auf Ann und Nathan zu unternehmen?«

Er zuckte mit den Achseln. »Gar nichts. Wieso, was meint Ihr?«

»Ich meine, wie willst du auf die Forderungen reagieren, die sie dir gestellt haben? Wie willst du dich hinsichtlich des Krieges verhalten? Der Zeitpunkt ist gekommen, sich zu entscheiden, und ich denke, dessen bist du dir bewusst. Du kannst nicht immer weiter deiner Wahnvorstellung hinterher)agen, während alle anderen im Begriff sind, alles zu verlieren, was ihnen lieb und teuer ist – und sie vor dem Ende aller Träume und Hoffnungen stehen.«

Einen Moment lang starrte er sie durchdringend an, doch sie hielt seinem Blick stand. »Ihr habt es selbst gesagt, der Leichnam dort unten beweist gar nichts.«

»Nein, das tut er nicht, nur eins, das aber ganz sicher: Du hast dich in dem, was wir dort finden würden, getäuscht. Das Offnen des Grabes hat, um es vorsichtig auszudrücken, nicht den erhofften Beweis erbracht. Womit sich die Frage nach dem Warum stellt. Warum war die Situation dort anders, als du es angekündigt hattest? Wenn ich darüber nachdenke, fällt mir darauf nur eine einzige denkbare Antwort ein: Jemand hat den Leichnam dort hineingelegt, damit du ihn findest. Nur, warum sollte jemand so etwas tun? Die Nacht dort unten am Grab liegt schon eine ganze Weile zurück, und doch bist du seitdem keinen Schritt weitergekommen. Vielleicht wird es ja langsam Zeit, dass du dir die größeren Zusammenhänge klar machst. Ich bin mir darüber im Klaren, wie sehr man sich an den Gedanken klammert, dass eine geliebte Person noch lebt – sofern sie denn tatsächlich existiert –, aber findest du nicht auch, dass man dieses eine Menschenleben gewissermaßen gegen das aller anderen abwägen muss?«

Nachdenklich entfernte sich Richard ein paar Schritte und ließ die Finger über die Mauerkrone des Brunnens der Sliph gleiten. Bei seiner letzten Reise in der Sliph hatte er Kahlan zu den Schlammmenschen mitgenommen, damit sie dort getraut werden konnten.

»Ich muss sie wieder finden, unbedingt.« Abrupt wandte er sich wieder herum zu Nicci. »Und überhaupt, ich bin nicht das Werkzeug der Prophezeiungen.«

»Aber wo willst du anfangen? Was könntest du als Nächstes tun? Du warst bereits bei Shota, anschließend bist du hierher gekommen, zu Zedd. Niemand weiß etwas, weder über diese Kahlan noch über diese ominöse ›Feuerkette‹ oder all die anderen Dinge. Du hast alle deine Möglichkeiten ausgeschöpft. Wann, wenn nicht jetzt, wäre der geeignete Zeitpunkt, den Tatsachen ins Gesicht zu sehen?«

Im Raum war es totenstill. Sein Schuldgefühl drohte ihn schier zu erdrücken, weil er dem Ruf nicht gefolgt war, das d’Haranische Volk in den Kampf gegen die fürchterliche Bedrohung seiner Freiheit zu führen. Wie oft dachte er an die zahllosen anständigen Menschen, die er nicht einmal kannte, deren Angehörige und Freunde ebenfalls der tödlichen Bedrohung des unmittelbar bevorstehenden Ansturms der Imperialen Ordnung ausgesetzt waren. Durfte er all diese Menschen im Stich lassen, nur um auf der Suche nach Kahlan für alle Zeiten durch das Land zu irren?

Nicci kam näher.

»Richard.« Ihre sanfte, seidenweiche Stimme war erfüllt von Mitgefühl. »Ich weiß, wie schwer das Eingeständnis fällt, dass es vorbei ist ... es offen auszusprechen und einzusehen, dass es weitergehen muss.«

Es war Richard, der den Blickkontakt als Erster brach. »Ich kann es nicht, Nicci. Ich bin mir darüber im Klaren, dass meine Erklärungen niemanden mehr zufrieden stellen, aber ich bin dazu einfach nicht fähig. Ich meine, wenn sie krank geworden und gestorben wäre, wäre ich am Boden zerstört, mit der Zeit jedoch hätte sich das Bewusstsein durchgesetzt, dass ich mich wieder um die Dinge des Lebens kümmern muss. Aber der Fall liegt ja anders. Es ist fast, als wüsste ich, dass sie irgendwo um Hilfe rufend in einem dunklen Fluss dahintreibt, und ich bin der Einzige, der sie hören kann – der weiß, dass sie in entsetzlicher Gefahr schwebt zu ertrinken.«

»Richard ...«

»Glaubt Ihr wirklich, all die unschuldigen Menschen sind mir gleichgültig, die von den Horden bedroht werden die bereits im Anmarsch sind, um sie abzuschlachten oder zu versklaven? Das sind sie nicht. Ich mache vor Sorge kaum noch ein Auge zu, und diese Sorge gilt nicht nur Kahlan. Könnt Ihr nicht wenigstens versuchen zu verstehen, wie innerlich zerrissen ich mich fühle? Ich wache mitten in der Nacht in kalten Schweiß gebadet auf und sehe nicht nur Kahlans Gesicht vor mir, sondern das Gesicht von Menschen, die nie eine Chance im Leben erhalten werden, wenn Jagang nicht Einhalt geboten wird. Und wenn ich mir dann anhören muss, wie sehr diese Menschen auf mich angewiesen sind, bricht es mir das Herz – weil ich ihnen helfen möchte, aber auch, weil sie mich zu brauchen glauben, weil sie glauben, ich, ein einzelner Mann, könnte den Ausschlag geben in einem Krieg, in den Millionen verwickelt sind. Wie können sie es wagen, mir diese ungeheure Verantwortung aufzubürden?«

Sie legte ihm sachte die Hand auf den Arm und fuhr ihm in einer begütigenden Geste darüber. »Du weißt, ich würde niemals wollen, dass du etwas tust, das du für falsch hältst, Richard. Nicht einmal, wenn es dazu diente, dich glauben zu machen, sie sei tot – aufgrund von Beweisen, von denen ich weiß, dass sie nicht stichhaltig sind, die ich aber dennoch glaube, wenn auch aus anderen Gründen.«

»Ich weiß.«

»Aber auch ich habe viel nachgedacht, seit der Nacht, in der du das Grab geöffnet hast, während du umhergeirrt bist und überlegt hast, was du tun könntest.«

Er schnippte ein paar Steinsplitter von der Mauerkrone in den Brunnen, um ihr nicht in die Augen sehen zu müssen. »Und zu welchem Ergebnis seid Ihr gekommen?«

»Nun, als ich dich über die Festungswälle spazieren sah, hatte ich plötzlich einen beunruhigenden Gedanken. Ich habe bislang noch nichts davon erwähnt, teils, weil ich nicht sicher weiß, ob es die Antwort darauf sein könnte, was dir im Moment widerfährt, und teils, weil es, wenn dem so ist, ein noch größeres Problem darstellen würde als bloß eine durch deine Verwundung hervorgerufene Selbsttäuschung. Ob es tatsächlich die Antwort ist, vermag ich also nicht zu sagen, aber ich fürchte, die Möglichkeit besteht. Vor allem aber habe ich deswegen nichts gesagt, weil das Beweisstück verschwunden ist und ich folglich nichts de facto beweisen kann. Aber ich finde, der Zeitpunkt ist gekommen, das Thema anzusprechen.«

»Beweisstück? Sagtet Ihr nicht eben, das Beweisstück sei verschwunden?«

Nicci nickte. »Der Armbrustbolzen, der dich getroffen hat. Ich fürchte, dies alles könnte durch diesen Bolzen verursacht worden sein, wenngleich ganz anders und auf sehr viel verstörendere Weise, als wir es uns bislang vorgestellt haben.«

Ihre ernste Miene machte Richard stutzig. »Was wollt Ihr damit andeuten?«

»Hast du gesehen, wer den Bolzen abgeschossen hat, der dich traf? Wer die Armbrust in Händen hielt?«

Den Blick in die Ferne gerichtet, holte Richard tief Luft, ehe er sorgfältig noch einmal die vagen Bruchstücke seiner Erinnerung an jenen Morgen durchging, an dem der Kampf stattgefunden hatte. Er war erst kurz zuvor aufgewacht – nachdem das Heulen eines Wolfs ihn aus dem Schlaf gerissen hatte. Es war, als hätten sich schattenhafte Baumstämme durch die Dunkelheit bewegt. Dann plötzlich hatte es ringsum nur so von Soldaten gewimmelt, und er hatte sich der von allen Seiten auf ihn einstürmenden Krieger erwehren müssen. Er erinnerte sich noch deutlich an das Gefühl, das Schwert der Wahrheit in Händen zu halten, das Gefühl des drahtumwickelten Hefts in seiner Hand, an seine Kraft, die ihn durchströmte. Er erinnerte sich, Männer weiter hinten zwischen den Bäumen Pfeile auf ihn abschießen gesehen zu haben. Die meisten hatten sich mit Bogen bewaffnet, aber es waren auch einige Armbrustschützen darunter gewesen – was für eine solche Patrouille der Imperialen Ordnung durchaus nicht ungewöhnlich war. »Nein ... ich kann nicht behaupten, mich zu erinnern, den Schützen des Bolzens gesehen zu haben, der mich getroffen hat. Wieso? Was ist Euch denn nun eingefallen?«

Eine Zeit lang, fast eine Ewigkeit, so schien es, musterte Nicci abschätzend seine Augen. Es war einer dieser Momente, in denen er sich durch ihre alterslosen Augen an andere erinnert fühlte, die magische Kräfte besaßen, an die ehemalige Prälatin Ann, an Verna, ihre Nachfolgerin, an Adie, Shota und an ... Kahlan. »Die Widerhaken, mit denen dieser Bolzen versehen war, machten es unmöglich, ihn einfach wieder herauszuziehen, um dir das Leben zu retten. Ich hatte es ungeheuer eilig, deshalb kam ich gar nicht auf die Idee, den Pfeil zu untersuchen, ehe ich ihn mithilfe subtraktiver Magie vernichtete.«

Ihre Besorgnis schien in eine Richtung zu zielen, die Richard überhaupt nicht behagte. »Untersuchen – auf was denn?«

»Auf einen Bann. Einen teuflisch simplen Bann von ungeheuer zerstörerischer Kraft.«

Mittlerweile war Richard sogar sicher, dass ihm ihr Gedanke nicht gefiel, dabei hatte sie ihn noch nicht einmal ausgesprochen.

»Was denn für ein Bann?«

»Ein Betörungsbann.«

»Betörung?« Richard runzelte verwirrt die Stirn. »Wie funktioniert denn so etwas?«

»Nun, stell es dir etwa so vor wie einen Liebestrank.«

Er sah sie überrascht an. »Ein Liebestrank?«

»Ja, so ungefähr.« Sie überlegte, wie sie es am besten erklären konnte. »Ein Betörungsbann bewirkt, dass vor deinem inneren Auge das Bild einer Frau entsteht. Gegenstand eines solchen Banns wäre normalerweise eine tatsächlich existierende Person, aber je länger ich darüber nachdachte, desto klarer wurde mir, dass es ebenso gut bei einer imaginären Frau funktionieren würde. Wie auch immer, ein solcher Bann würde bewirken, dass du dich in sie verliebst, aber damit wäre dieser überaus wirkungsvolle Zauber nur unzureichend beschrieben. Vielmehr würde diese Frau für einen solchen Menschen zu einer Obsession, einer Obsession, die praktisch alles andere ausschließt.

Unter Hexenmeisterinnen gilt der Betörungsbann als eine Art dunkles Geheimnis, das üblicherweise von der Mutter an die Tochter weitergegeben wird. Normalerweise wird er dazu benutzt, einen bestimmten Menschen auf das Objekt des Banns zu fixieren, gewöhnlich eine reale Person – in den meisten Fällen die Hexenmeisterin selbst. Wie ich schon sagte, handelt es sich um eine Art Liebeszauber. Nun gab es immer wieder mit der Gabe gesegnete Frauen, die der Versuchung nicht widerstehen konnten, diesen Bann bei Männern anzuwenden. Der Bann ist so wirkungsvoll, dass es für eine Schwester im Palast der Propheten als überaus ernste Angelegenheit galt, seines Gebrauchs auch nur verdächtigt zu werden. Wer gar bei seiner Anwendung ertappt wurde, hatte sich eines schwerwiegenden Vergehens schuldig gemacht, das moralisch gesehen einer Vergewaltigung gleichkam. Dementsprechend hart war die Bestrafung. Im günstigsten Fall wurde die betreffende Hexenmeisterin aus dem Palast verbannt, es konnte aber auch sein, dass sie gehenkt wurde. Nicht wenige sind dieses Verbrechens überführt worden.

Wenn ich mich recht erinnere, wurde die Letzte vor über fünfzig Jahren im Palast verurteilt, eine Novizin namens Valdora. Das Tribunal befand zu gleichen Teilen auf Verbannung und Hängen, bis die Prälatin schließlich das Patt aufhob und die junge Novizin aus dem Palast verbannen ließ. Ich würde davon ausgehen, dass die Schwestern in Jagangs Gewalt wissen, wie man einen Betörungsbann ausspricht; auch dürfte es ihnen nicht schwer gefallen sein, diesen Bolzen, oder womöglich eine ganze Reihe von ihnen, an jenem Morgen mit einem solchen Bann zu versehen. Wenn der Bolzen dich nicht tötete, würde er dich eben verzaubern.«

»Dies ist kein Zauber«, beharrte Richard, dessen Gesichtsausdruck sich zusehends verfinsterte. Nicci überging nicht nur seinen Tonfall, sondern ignorierte auch seinen Einwand. »Aber es würde eine Menge Dinge erklären. Dem Opfer selbst erscheint der Betörungsbann vollkommen real, er verbiegt ihm, soweit es das Objekt seiner Besessenheit betrifft, sozusagen den Verstand, sein ganzes Denken.«

Richard fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, bemüht, nicht wütend auf Nicci zu werden. »Aber was für einen Sinn sollte ein solches Vorgehen haben? Jagangs Absicht ist es, mich umzubringen. Ihr selbst seid zu mir gekommen und habt mir erklärt, dass er eigens für diesen Zweck eine Bestie hat erschaffen lassen. Dieser Bann, von dem Ihr redet, ergibt einfach keinen Sinn.«

»Oh, das tut er durchaus. Er würde sehr viel mehr bewirken als nur deinen Tod. Begreifst du nicht, Richard? Er würde deine Glaubwürdigkeit zerstören. Er würde dich leben lassen und es dir selbst überlassen, dein Anliegen zunichte zu machen.«

»Was wollt Ihr damit sagen?«

»Nun, indem er dich dazu bringt, aufgrund deiner Besessenheit für das Objekt des Banns alles andere zu vernachlässigen, würde er die Menschen glauben machen, dass mit dir etwas nicht in Ordnung ist – dass du verrückt geworden bist. Die Menschen würden an dir zu zweifeln beginnen, und damit an deinem Anliegen. Dieser Bann würde dich zu einem trostlosen Dasein verdammen, denn er würde alles vernichten, was dir etwas bedeutet. Er würde dich mit einer wahnhaften Besessenheit infizieren, die du für absolut real hältst, aber nie wirklich befriedigen könntest. Nicht ohne Grund galt die Anwendung eines Betörungsbanns einst als schwerwiegendes Vergehen. Während du in diesem Fall also alles daransetzt, das Objekt deiner künstlich erzeugten Erinnerung zu finden, siehst du, wie dein Anliegen allmählich zu verfallen beginnt, denn die ehedem so von dir beeindruckten Menschen, die an dich geglaubt haben, werden zu denken beginnen, dass du, ein Verrückter, auch nur Verrücktheiten von dir gegeben haben kannst.«

Vermutlich, überlegte Richard, wäre das Opfer eines solchen magischen Netzes gar nicht imstande, zu erkennen, ob jemand einen solchen Bann über es ausgesprochen hatte. Und eines war gewiss unbestreitbar: Unter nahezu allen in seiner Umgebung machte sich mittlerweile die Überzeugung breit, dass er den Verstand verloren hatte. »Aber die Wahrheit ist unabhängig von der Person, die sie ausspricht. Die Wahrheit bleibt immer die Wahrheit, auch wenn jemand sie ausspricht, den man nicht respektiert.«

»Mag sein, Richard, nur handeln die meisten Menschen nicht aus dieser klaren Erkenntnis heraus.« Er seufzte. »Vermutlich nicht.«

»Und was die Bestie betrifft, so dürfte Jagang kaum darauf zählen, den gewünschten Erfolg nur auf eine Art zu erzielen, zumal er niemals abgeneigt ist, weit mehr zu tun als unbedingt nötig, um seine Gegner zu vernichten. Vielleicht war er ja der Ansicht, dass zwei Geißeln der Gefahr namens Richard Rahl weit schneller ein Ende machen würden als eine allein.«

So wenig er ihre Einschätzung im Hinblick auf Jagang bezweifelte, er weigerte sich einfach, daran zu glauben. »Jagang kannte nicht einmal meinen Aufenthaltsort. Diese Truppen sind einfach zufällig auf mich gestoßen, als sie die Wälder auf der Suche nach möglichen Gefahren für ihren Nachschubkonvoi durchkämmten.«

»Er weiß, dass du den Aufstand in Altur’Rang angezettelt hast. Vielleicht hat er seinen Truppen ja Befehl gegeben, Armbrustbolzen mitzuführen, die von den Schwestern – für den Fall, dass sie auf dich stoßen – verzaubert worden waren.«

Richard sah ein, dass sie tatsächlich eine Menge nachgedacht hatte; auf alles wusste sie eine Antwort. Er breitete die Arme aus und reckte dramatisch sein Kinn vor. »Dann legt Hand an mich an, Hexenmeisterin. Packt den Bann und reißt seine schändlichen Tentakel aus meinem Körper. Macht, dass ich wieder klar denken kann. Wenn Ihr wirklich überzeugt seid, dass ein Betörungsbann schuld an alldem ist, dann benutzt Eure Gabe, um ihn zu finden und ihm den Garaus zu machen.«

Doch Nicci wandte nur den Blick ab und starrte durch die zertrümmerte Türöffnung hinaus in das Dämmerlicht auf dem Grund des mächtigen Turmes.

»Dafür brauchte ich den Bolzen, aber der existiert nicht mehr. Tut mir Leid, Richard, ich habe schlicht vergessen, den Bolzen auf einen Bann hin zu untersuchen, bevor ich ihn vernichtete. Ich hatte es ungeheuer eilig, ihn aus deinem Körper zu entfernen, um dir das Leben zu retten. Trotzdem, ich hätte nachsehen sollen.«

Er legte ihr eine tröstende Hand auf die Schulter. »Ihr habt nichts falsch gemacht. Immerhin habt Ihr mir das Leben gerettet.«

»Hab ich das?« Sie wandte sich zu ihm herum. »Oder habe ich dich zu einem Leben in absoluter Hoffnungslosigkeit verdammt?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich denke nicht. Wie Ihr schon sagtet: Ihr würdet niemals zulassen, dass ich etwas glaube, solange Ihr die Beweise für unzureichend haltet – und genau das trifft auf die dort unten verscharrte Leiche zu. Eigentlich hätte sie dort gar nicht liegen dürfen, weshalb ich überzeugt bin, dass irgendetwas vor sich geht. Ich bin nur noch nicht dahinter gekommen, was.«

»Oder aber sie beweist, dass deine Geschichte nichts weiter als Teil einer Erfindung ist, hervorgerufen durch die wahnhafte Besessenheit eines Betörungsbanns.«

»Niemand außer mir erinnert sich, was passiert ist und dass Kahlan dort nicht begraben liegt. In meinen Augen ist das ein handfester Beweis – zumindest dafür, dass ich mir nicht alles einbilde.«

»Oder aber es ist Teil der Selbsttäuschung – was immer deren Ursache sein mag. Richard, so kann es nicht ewig weitergehen, irgendwann muss diese Geschichte zum Abschluss kommen. Du hast dich längst verrannt. Hast du überhaupt schon eine Idee, was du jetzt noch versuchen könntest?«

Er legte seine Hände auf die gemauerte Umrandung des Brunnens der Sliph. »Schaut, Nicci, ich gebe ja zu, dass mir allmählich die Ideen ausgehen, aber noch bin ich nicht bereit, Kahlan aufzugeben. Dafür bedeutet sie mir zu viel.«

»Und wie lange glaubst du noch durch die Gegend irren und sie nicht aufgeben zu können, während die Imperiale Ordnung unaufhaltsam auf unsere Truppen zumarschiert? Mir gefällt es ebenso wenig wie dir, dass Ann sich in unser Leben einmischt, aber sie tut es schließlich nicht aus Boshaftigkeit, sie tut es, weil sie die Freiheit erhalten will – um unschuldige Menschen davor zu bewahren, von brutalen Rohlingen abgeschlachtet zu werden.«

Richard schluckte den Kloß hinunter, der ihm in die Kehle gestiegen war. »Ich muss über einige Dinge nachdenken und meine Gedanken ordnen. In dem Lesesaal dort hinten habe ich einige Bücher entdeckt, die ich mir eine Weile etwas näher ansehen möchte – nur eine Weile –, um die Dinge noch einmal zu durchdenken und vielleicht herauszufinden, was hier eigentlich gespielt wird und warum. Wenn ich dabei zu keinem Ergebnis komme – nun, dann werde ich mir eben überlegen müssen, wie ich weiter vorgehen will.«

»Und wenn du dabei wiederholt zu keinem Ergebnis kommst?«

Auf seine beiden Hände gestützt, starrte Richard in den dunklen Brunnen hinab und konnte nur mit größter Mühe seine Tränen zurückhalten.

»Bitte ...«

Wenn es nur eine Möglichkeit gäbe zu kämpfen, wenn es einen Feind gäbe, auf den er einprügeln könnte ... aber gegen die Schatten, die sich über seinen Verstand gelegt hatten, wusste er kein Mittel. Sachte legte Nicci ihm eine Hand auf die Schulter. »Schon gut, Richard. Es ist schon gut.«

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