31

Sie durchquerten den Palast des Volkes auf einem verschlungenen, scheinbar planlosen und sich vermeintlich immer wieder überschneidenden Kurs. Diese knifflige, verwirrende Strecke durch das Labyrinth war notwendig, weil das Gebäude nicht mit dem Ziel errichtet worden war, eine möglichst mühelose Fortbewegung innerhalb seiner Mauern zu ermöglichen, vielmehr war es eigens in Form eines auf die Erdoberfläche gezeichneten Energiebanns konstruiert. Bemerkenswert fand Verna, dass es sich nicht nur um eine Bannform handelte, wie sie selbst sie schon ganz ähnlich gezeichnet hatte, sondern dass sie sich tatsächlich im Innern jener Bestandteile befand, aus denen sich dieser Bann zusammensetzte – was der Zauberei völlig neue Perspektiven eröffnete, und das in beeindruckendem Maßstab. Der Energiebann des Hauses Rahl war spürbar noch aktiv, weshalb sie überzeugt war, dass die Umrisse des Fundaments wahrscheinlich zuerst mit Blut – rahischem Blut! vorgezeichnet worden sein mussten.

Während die beiden durch die endlosen Hallen schritten, kam Verna aus dem Staunen über die vollendete Schönheit dieses Bauwerks – ganz zu schweigen von seiner Größe – nicht heraus. Gewiss, sie hatte auch schon in der Vergangenheit grandiose Bauwerke gesehen, dennoch waren die schieren Ausmaße des Palasts des Volkes Schwindel erregend. Er war nicht so sehr ein Palast als vielmehr eine komplette Stadt inmitten der Trostlosigkeit der Azrith-Ebene.

Der Palast selbst, oben auf dem ausgedehnten Felsplateau, stellte nur einen Teil des gewaltigen Komplexes dar. Das Innere des Felsplateaus war im Stil von Honigwaben mit abertausenden Räumen und Fluren durchzogen, darüber hinaus gab es zahllose Treppenhäuser, die auf unterschiedlichsten Wegen durch diese Räumlichkeiten nach oben führten. In den unteren Bereichen des Palasts boten zahlreiche Geschäftsleute ihre Waren und Dienstleistungen feil. Bis man den nach allen Regeln der Kunst errichteten, ganz oben gelegenen Palast erreicht hatte, war ein langer und mühseliger Aufstieg über endlose Treppenfluchten zu bewältigen, sodass viele Besucher, die den Palast zum Handeln oder zum Tätigen von Einkäufen aufsuchten, ihre Geschäfte bereits in diesen unteren Geschossen erledigten, ohne sich je die Zeit zu nehmen, bis zum eigentlichen Palast hinaufzusteigen. Eine noch größere Zahl von Menschen erledigte ihre Geschäfte gleich auf den unter freiem Himmel gelegenen Märkten am Fuß des Felsplateaus. Statuen aus schwarzem Stein zu beiden Seiten des breiten Flurs aus weißem Marmor blickten auf Verna und Berdine herab, als sie sich ihren Weg durch den endlosen Korridor bahnten. Der Schein der Fackeln spiegelte sich schimmernd im polierten schwarzen Marmor der hoch aufragenden Wächter, sodass sie fast lebendig wirkten, während die Farbkontraste des Gesteins und die schwarzen Skulpturen in dem weißen Marmorflur ein Gefühl düsterer Vorahnung verbreiteten. Die meisten Treppenhäuser, durch die sie nach oben stiegen, waren eher großzügig angelegt, einige besaßen sogar Balustraden aus poliertem Marmor von mehr als einer Armeslänge Durchmesser. Aber was Verna vor allem erstaunte, war die Vielfalt des im Innern des Palasts verwendeten Gesteins. Es schien, als wäre jedes Gemach, jeder Flur, jedes Treppenhaus in einer eigenen, einzigartigen Kombination von Farben gestaltet. Einige der eher praktischen Zwecken oder den Dienstboten vorbehaltenen Bereiche, durch die Berdine sie führte, waren in nichts sagendem beigefarbenem Kalkstein gehalten, in den wichtigeren, der Öffentlichkeit zugänglichen Bereichen dagegen hatte man erstaunlich lebendige Farben in kontrastierenden Mustern verwendet, die den Räumen ein erfrischendes, anregendes Gefühl der Lebendigkeit verliehen. Manche Privatflure, die den Beamten als Abkürzungen dienten, waren mit hochglanzpolierten Hölzern ausgekleidet, angestrahlt von silbernen Reflektorlampen, die alles in ein warmes Licht tauchten. Während diese Privatflure oftmals von eher bescheidener Größe waren, erstreckten sich die Hauptkorridore oft über mehrere Stockwerke. Einige der eindrucksvollsten – Hauptzweige der Bannform –wurden von Oberlichtern erhellt, durch die das Tageslicht hereinflutete. Die reihenweise emporstrebenden Säulen zu beiden Seiten reichten bis unter die weit oben liegende Decke, und die zwischen diesen gekehlten Pfeilern ausgesparten Balkone boten einen Blick hinunter auf die tief unten vorüberschlendernden Passanten. Immer wieder spannten sich Überführungen hoch oben über Vernas Kopf, und an einer Stelle erblickte sie sogar einen Übergang, der zwei übereinander liegende Geschosse gleichzeitig verband.

»Hier hindurch«, sagte Berdine, als sie im Zentrum des Palasts an eine Doppeltür aus Mahagoni gelangten. Die Türflügel überragten Verna um eine volle Körperlänge. In deren Oberfläche aus massivem Mahagoniholz war ein Schlangenpaar geschnitzt, auf jedem Flügel eine, die ihre Schwänze um darüber wachsende Zweige ringelten, sodass ihre Körper von oben herabhingen und ihre Köpfe sich in Augenhöhe befanden. Spitze Fangzähne ragten aus ihren weit aufgerissenen Mäulern, so als könnten sie jeden Augenblick zubeißen. Die beiden Bronzetürgriffe knapp unterhalb der Schlangenköpfe – lebensgroßen grinsenden Totenschädeln nachempfunden – waren mit einer in vielen Jahren gereiften, von ihrem Alter zeugenden Patina überzogen. »Reizend«, murmelte Verna.

»Sie dienen als Warnung«, erklärte Berdine, »die Unbefugte davon abhalten soll, diese Räume zu betreten.«

»Hätte man nicht einfach ›Betreten verboten‹ auf die Tür pinseln können?«

»Nicht jeder ist des Lesens mächtig.« Berdines Miene bekam einen schlauen Zug. »Und nicht jeder, der des Lesens mächtig ist, würde dies auch zugeben, wenn man ihn beim Öffnen der Tür erwischt. Aber auf diese Weise ist es einem unmöglich, die Schwelle aus angeblicher Unwissenheit zu übertreten, außerdem macht es jedem un-missverständlich klar, dass er keine Chance hat, sich herauszureden, wenn er von den Gardisten zur Rede gestellt wird.«

Nach dem Frösteln zu urteilen, das sie beim Anblick der Doppeltür überlief, konnte sich Verna gut vorstellen, dass so ziemlich jeder einen weiten Bogen um sie machen würde. Berdine musste ihr ganzes Körpergewicht einsetzen, um die schwere Tür zu ihrer Rechten aufzuziehen.

In dem gemütlichen, mit Teppichen ausgelegten Raum, getäfelt mit dem gleichen Mahagoniholz wie die große Tür, wenn auch ohne weitere Schlangenschnitzereien, standen vier kräftige Soldaten Wache, die erheblich furchterregender aussahen als die bronzenen Totenschädel. Der Soldat, der ihnen am nächsten stand, stellte sich ihnen lässig in den Weg. »Dieser Bereich ist für Unbefugte verboten.«

Berdine setzte eine düstere Miene auf und ging einfach um ihn herum. »Gut. Sorgt dafür, dass das so bleibt.«

Verna – sich der Tatsache nur allzu bewusst, dass ihre Kräfte im Innern des Palasts nahezu nutzlos waren – blieb ihr dicht auf den Fersen. Der Soldat, sichtlich nicht erpicht darauf, gegenüber einer Mord-Sith handgreiflich zu werden, blies stattdessen in eine Pfeife, die einen dünnen, schrillen Ton erzeugte, dessen man sich zweifellos bediente, weil er durch das Treppenhaus bis zu den anderen Gardisten auf Patrouille trug. Doch da rückten die beiden am weitesten entfernten Soldaten bereits zusammen und versperrten den Weg durch den Raum. Einer der beiden forderte sie höflich, aber bestimmt mit erhobener Hand zum Stehen bleiben auf. »Tut mir Leid, Herrin, aber wie mein Kamerad bereits sagte und Ihr eigentlich wissen solltet, ist dieser Bereich für Unbefugte verboten.«

Berdine stemmte eine Hand auf ihre vorgeschobene Hüfte. Sofort schnellte ihr Strafer in die andere Hand, mit dem sie beim Sprechen gestikulierte.

»Da wir beide der gleichen Sache dienen, werde ich davon absehen, Euch auf der Stelle zu töten. Ihr könnt von Glück reden, dass ich heute nicht meinen roten Lederanzug trage, denn sonst würde ich mir die Zeit nehmen, Euch Manieren beizubringen. Und wie Ihr sehr wohl wissen solltet, sind wir Mord-Sith die persönlichen Leibwächter des Lord Rahl und somit befugt, jeden Bereich nach Belieben zu betreten.«

Der Soldat nickte. »Dessen bin ich mir sehr wohl bewusst. Aber da ich Euch eine Weile nicht im Palast gesehen habe ...«

»Ich war bei Lord Rahl.«

Er räusperte sich. »Wie dem auch sei, während Eurer Abwesenheit hat der befehlshabende Offizier die Sicherheitsvorkehrungen in diesem Bereich verschärft.«

»Ausgezeichnet. Tatsächlich bin ich hier, um Kommandant General Trimack in ebendieser Angelegenheit zu sprechen.«

Der Mann neigte kurz sein Haupt. »Sehr wohl, Herrin. Die Treppe hinauf. Dort wird sich gewiss jemand Eures Anliegens annehmen.«

Als die beiden Frauen auf einem breiten Treppenabsatz die Richtung wechselten, erblickten sie am oberen Ende der Stufen nicht nur ein paar Soldaten auf Patrouille, sondern eine ganze Armee von ihnen, die sie offenbar bereits erwartete – alles Männer, an denen sich Berdine nicht so ohne weiteres würde vorbeimogeln können. »Was tun all diese Soldaten Eurer Meinung nach wohl hier?«, fragte Verna. »Am Ende eines der Flure dort oben«, erwiderte Berdine mit gesenkter Stimme, »befindet sich der Garten des Lebens. Wir hatten früher einige Probleme dort.« Aus ebendiesem Grund hatte Verna nach dem Rechten sehen wollen. Sie hörte, wie Befehle erteilt wurden, gefolgt von einem leisen metallischen Klirren, als sich mehrere Soldaten im Laufschritt näherten.

»Wer hat hier das Kommando?«, wandte sich Berdine dann in gebieterischem Ton an die ihr entgegenstarrenden jungen Gesichter.

»Ich«, rief ein etwas erwachsener wirkender, etwas älterer Mann, während er sich energisch einen Weg durch den dichten Ring aus Soldaten bahnte. Trotz seiner stechenden blauen Augen waren es vor allem die verblassten Narben an Wange und Kinn, die sofort Vernas Aufmerksamkeit erregten. Berdines Miene hellte sich auf, als sie den Mann erblickte. »General Trimack!«

Seine Männer machten ihm den Weg frei, sodass er nach vorn treten konnte. »Willkommen zu Hause, Herrin Berdine. Ich habe Euch eine ganze Weile nicht gesehen.«

»Mir kommt es vor wie eine Ewigkeit. Es tut gut, wieder zu Hause zu sein.« Mit einer vorstellenden Geste deutete sie auf Verna. »Das ist Verna Sauventreen, Prälatin der Schwestern des Lichts. Sie ist eine persönliche Freundin des Lord Rahl und befehligt die mit der Gabe Gesegneten bei den d’Haranischen Streitkräften.«

Er neigte kurz den Kopf, ohne jedoch seine wachsamen Augen von ihr zu lassen. »Prälatin.«

»Verna, das ist Kommandant General Trimack von der Ersten Rotte im Palast des Volkes in D’Hara.«

»Erste Rotte?«

»Wann immer Lord Rahl in seinem Palast weilt, bilden wir den Ring aus Stahl um ihn, Prälatin. Wir würden uns bis zum letzten Mann aufopfern, ehe auch nur die leiseste Gefahr bestünde, dass ihm ein Unheil zustößt.« Sein Blick ging zwischen den beiden hin und her. »Wegen der großen Entfernung sagt uns unser Gespür nur, dass sich Lord Rahl lange Zeit in der Alten Welt, seit kurzem aber weit drüben im Westen befindet. Kennt Ihr zufällig seinen genauen Aufenthaltsort? Habt Ihr eine Vermutung, wann er wieder bei uns sein wird?«

»Auf diese Frage wüsste eine ganze Reihe von Menschen gern eine Antwort, General Trimack. Ich fürchte, Ihr werdet Euch am Ende der Schlange anstellen müssen.«

Der Mann wirkte aufrichtig enttäuscht. »Aber was ist mit dem Krieg? Bringt Ihr vielleicht neue Nachrichten?«

Verna nickte. »Die Imperiale Ordnung hat ihre Streitmacht aufgeteilt.«

Die umstehenden Soldaten wechselten wissende Blicke. Trimacks Gesicht verhärtete sich vor Sorge, während er darauf wartete, dass sie ausführlicher wurde.

»Die Imperiale Ordnung hat einen Großteil ihrer Truppen oben, auf der anderen Seite des Gebirges, in der Nähe von Aydindril zurückgelassen, sodass wir gezwungen waren, ebenfalls Soldaten sowie einige mit der Gabe Gesegnete zur Bewachung der Pässe diesseits der Berge zurückzulassen, um zu verhindern, dass der Feind dort durchbricht und bis nach D’Hara vorrücken kann. Zurzeit befindet sich ein großes Truppenkontingent der Imperialen Ordnung auf dem Weg quer durch die Midlands. Soweit wir wissen, planen sie, ihre Hauptstreitmacht um die Rückseite der Berge herumzuführen und anschließend nach Norden abzuschwenken, um D’Hara von Süden her anzugreifen. Im Augenblick lassen wir unsere Hauptstreitmacht nach Süden marschieren, um uns dort dem Feind entgegenzuwerfen.«

Keiner der Soldaten sagte ein Wort, schweigend standen sie da, ohne auch nur die geringste Reaktion auf die vermutlich schicksalsträchtigste Nachricht zu zeigen, mit der sie in ihrem jungen Leben je konfrontiert worden waren. Eine bewundernswerte Haltung.

Der General wischte sich mit der Hand durchs Gesicht, als hätte sich ihrer aller Besorgnis allein auf ihm niedergelassen. »Demnach befindet sich unsere südwärts marschierende Armee also in der Nähe des Palasts.«

»Nein. Die Truppen befinden sich noch immer ein gutes Stück nördlich von hier. Armeen bewegen sich nicht schnell, es sei denn, sie sind dazu gezwungen. Da wir eine nicht annähernd so große Entfernung zurückzulegen haben wie die Imperiale Ordnung und Jagang seine Truppen in gemächlichem Tempo marschieren lässt, hielten wir es für klüger, die Gesundheit und Leistungsfähigkeit unserer Soldaten zu erhalten, statt sie auf einem langen Gewaltmarsch zu erschöpfen. Berdine und ich sind vorausgeritten, weil ich hier unbedingt einige Schriften einsehen muss ... Bücher über Fragen, die mit Magie zu tun haben. Da ich schon einmal hier bin, hielt ich es für angebracht, im Garten des Lebens nach dem Rechten zu sehen und mir Gewissheit zu verschaffen, dass alles zum Besten steht.«

Trimack holte tief Luft und trommelte mit den Fingern auf seinen Waffengurt. »Ich würde Euch wirklich gerne behilflich sein, Prälatin, aber ich habe von drei Zauberern den ausdrücklichen Befehl, niemanden dort hineinzulassen. In diesem Punkt waren sie überaus präzise: Niemand, nicht einmal das Gartenpersonal, darf dort hineingelassen werden.«

Vernas Stirn legte sich fragend in Falten. »Welche drei Zauberer?«

»Der Oberste Zauberer Zorander, dann Lord Rahl selbst sowie zu guter Letzt Zauberer Nathan Rahl.«

Nathan. Sie hätte sich denken können, dass er versuchen würde, sich im Palast den Anschein von Wichtigkeit zu geben – zweifellos, indem er die Rolle des mit der Gabe gesegneten Rahl und Ahnen Richards bühnenreif dramatisierte. Sie fragte sich, in welchen anderen Schwierigkeiten sich der Mann während seines Aufenthaltes im Palast des Volkes wohl noch gesuhlt haben mochte.

»Kommandant General, ich bin eine Ordensschwester und Prälatin der Schwestern des Lichts. Wir kämpfen auf derselben Seite.«

Seine Antwort wurde von einem anklagenden, funkelnden Blick aus zusammengekniffenen Augen begleitet, wie ihn nur ein Armeeoffizier zustande brachte. »Ihr seid nicht die erste Ordensschwester, die uns mit ihrem Besuch beehrt, Prälatin. Es liegt schon ein paar Jahre zurück, erinnert Ihr Euch noch, Männer?« Er ließ seinen Blick über die grimmig entschlossenen Mienen schweifen, ehe er sich erneut Verna zuwandte. »Welliges, schulterlanges braunes Haar, ungefähr Eure Größe, Prälatin. An ihrer rechten Hand fehlte ihr der kleine Finger. Vielleicht erinnert Ihr Euch an sie? War eine von Euren Schwestern, glaube ich.«

»Odette«, bestätigte Verna mit einem Nicken. »Lord Rahl hat mir von den Scherereien erzählt, die Ihr mit ihr hattet. Sie war eine vom Glauben abgefallene Schwester, könnte man sagen.«

»Ist mir völlig egal, ob sie am Tag, als sie zu uns kam, in der Gnade des Schöpfers stand oder nicht. Ich weiß nur eins: Sie hat auf ihrem Weg in den Garten des Lebens fast dreihundert meiner Männer umgebracht. Dreihundert! Und fast einhundert weitere auf ihrem Weg hinaus. Wir waren völlig machtlos gegen sie.« Die Zornesröte in seinem Gesicht ließ seine Narben noch deutlicher hervortreten. »Wisst Ihr, wie das ist, die eigenen Männer krepieren zu sehen, wenn man unfähig ist, auch nur das Geringste dagegen zu tun? Wisst Ihr, wie es ist, nicht nur für deren Leben verantwortlich zu sein, sondern zu wissen, dass es die eigene verdammte Pflicht ist, diese Frau am Betreten dieses Ortes zu hindern ... und nichts tun zu können, um die Gefahr abzuwenden?«

Unter den durchdringenden blauen Augen des Generals senkte Verna den Blick zu Boden. »Tut mir Leid, General. Aber sie hat gegen Lord Rahl gekämpft, ich nicht, ich stehe auf derselben Seite wie Ihr. Ich kämpfe dafür, Menschen ihres Schlages das Handwerk zu legen.«

»Das mag ja alles stimmen, aber mein Befehl, sowohl von Zedd als auch von Lord Rahl persönlich, nachdem er dieses abstoßende Weibsstück getötet hatte, lautet, dass niemandem der Zutritt zu diesem Ort gewährt werden darf. Und zwar ohne Ausnahme. Selbst wenn Ihr meine Mutter wärt – es stünde nicht in meiner Macht, Euch dort hineinzulassen.«

Irgendetwas erschien ihr daran unlogisch. Misstrauisch geworden, neigte sie den Kopf zur Seite und fragte:

»Wenn Schwester Odette diesen Ort betreten konnte, ohne dass Eure Männer imstande waren, sie daran zu hindern« – sie zog eine Braue hoch –, »was macht Euch dann so sicher, dass Ihr mich aufhalten könnt?«

»Ich würde mir wünschen, dass es dazu nicht kommt, aber sollten die Umstände es erfordern, verfügen wir über die nötigen Mittel, um unseren Befehlen Geltung zu verschaffen. Hilflos sind wir nicht mehr.«

Verna runzelte die Stirn. »Was wollt Ihr damit andeuten?«

Kommandant General Trimack zupfte einen schwarzen Handschuh aus seinem Gürtel und streifte ihn über, bewegte seine Finger hin und her, um das eng anliegende Leder ganz über seine Hand zu ziehen, ehe er mit Daumen und Zeigefinger ebendieser Hand behutsam einen der rot befiederten Pfeile aus dem Sechserfutteral im Köcher eines neben ihm stehenden Soldaten zog. Einen dieser Bolzen hatte der Soldat bereits in seine Armbrust eingelegt, sodass noch deren vier in dem speziellen Köcherfutteral steckten. Er fasste den Bolzen am eingekerbten Ende und hielt ihr die überaus feine Stahlspitze vors Gesicht, sodass sie sie von nahem betrachten konnte. »Er ist nicht bloß mit Stahl armiert, sondern mit dem Vermögen ausgestattet, alle niederzustrecken, die über magische Kräfte verfügen.«

»Mir ist noch immer nicht ganz klar, wovon Ihr sprecht.«

»Er ist mit einer Magie bewehrt, die angeblich jeden von einem mit der Gabe Gesegneten errichteten Schild durchschlagen kann.«

Verna streckte die Hand aus und berührte das hintere Ende des Schafts vorsichtig mit dem Finger. Augenblicklich, noch ehe sie ihren Arm wieder zurückziehen konnte, schoss ein Schmerz durch Hand und Handgelenk. Trotz ihrer im Palast verminderten Gabe hatte sie keine Mühe, die machtvolle Aura zu spüren, die das magische Netz verströmte, mit dem die tödliche Spitze umgeben war. Es war in der Tat eine überzeugende Waffe. Selbst im Vollbesitz ihrer magischen Kräfte würden die mit der Gabe Gesegneten gewaltige Probleme bekommen, käme plötzlich einer dieser Bolzen auf sie zugeflogen. »Und wieso konntet Ihr Schwester Odette nicht aufhalten, wenn Ihr diese Pfeile habt?«

»Damals hatten wir sie ja noch nicht.«

Vernas Stirn furchte sich noch tiefer. »Und woher habt Ihr sie?«

Das Lächeln des Generals verriet die Zufriedenheit eines Mannes, der sich sicher war, nie wieder hilflos einem mit der Gabe gesegneten Gegner ausgeliefert zu sein. »Als Zauberer Rahl im Palast weilte, erkundigte er sich bei mir nach den Verteidigungsmaßnahmen. Ich berichtete ihm von dem Angriff der Hexenmeisterin und von unserer Machtlosigkeit gegenüber ihren Kräften. Daraufhin durchsuchte er den Palast und fand diese Waffen. Offenbar lagerten sie an irgendeinem gesicherten Ort, aus dem sie nur ein Zauberer entnehmen konnte. Er hat meine Männer persönlich mit diesen Bolzen und den für das Abschießen nötigen Armbrüsten ausgestattet.«

»Wie überaus aufmerksam von Zauberer Rahl.«

»Ja, das war es.«

Vorsichtig steckte der General den Bolzen in das spezielle Futteral zurück, in dem die Bolzen voneinander getrennt aufbewahrt wurden. Jetzt verstand sie endlich, warum das nötig war, denn auch wenn das genaue Alter dieser Waffen nicht festzustellen war, so vermutete sie, dass es sich um Überbleibsel des Großen Krieges handelte.

»Zauberer Rahl war es auch, der uns im Gebrauch dieser überaus gefährlichen Waffen unterwiesen hat.« Er bewegte die Finger seiner erhobenen Hand hin und her. »Dabei hat er uns erklärt, dass wir beim Hantieren mit den Pfeilen stets diese Spezialhandschuhe tragen müssten.«

Er zog den Handschuh wieder aus und stopfte ihn zu seinem Gegenstück hinter den Gürtel zurück. Verna holte tief Luft, um ihre Worte mit dem nötigen Bedacht zu formulieren. »General, ich kenne Nathan Rahl schon seit lange vor der Geburt Eurer Großmutter. Er ist nicht immer aufrichtig, was die Gefahren betrifft, die mit seinem Tun verbunden sind. An Eurer Stelle würde ich diese Waffen mit äußerster Vorsicht behandeln und absolut alles, was er Euch, und sei es noch so beiläufig, über sie erklärt hat, so behandeln, als ginge es um Leben und Tod.«

»Wollt Ihr damit andeuten, er ist leichtsinnig?«

»Nein, absichtlich nicht, aber oft neigt er dazu, Dinge herunterzuspielen, die er als ... lästig empfindet. Davon abgesehen ist er sehr alt und mit zahllosen Talenten gesegnet, weshalb er leicht vergisst, dass seine Kenntnisse von gewissen geheimnisvollen Dingen sehr viel umfassender sind als bei den meisten Menschen oder dass seine Gabe ihn zu Dingen befähigt, die für andere undenkbar, geschweige denn nachvollziehbar sind. Man könnte sagen, er gleicht ein wenig einem alten Mann, der seinen Besuchern zu erzählen vergisst, dass sein Hund bissig ist.«

Ringsum wechselten die Soldaten viel sagende Blicke. Nicht wenige von ihnen rückten mit Ellbogen oder Hand ein Stück von den Bolzen in ihren Köchern ab.

General Trimack hakte einen Daumen hinter das Heft seines in der Scheide an seiner linken Hüfte steckenden Kurzschwerts. »Ich nehme Eure Warnung durchaus ernst, Prälatin, dennoch hoffe ich auf Euer Verständnis, wenn ich das Leben von hunderten meiner Männer, die beim letzten Auftauchen einer Schwester umgekommen sind, gegen deren Magie wir machtlos waren, ebenfalls ernst nehme genauso ernst wie das Leben dieser Männer hier. Ich möchte nicht, dass sich so etwas jemals wiederholt.«

Verna benetzte ihre Lippen und ermahnte sich, dass dieser Mann nur seine Arbeit tat, zumal sie angesichts der Tatsache, dass der Palast ihr Han aufzehrte, sein Gefühl von Machtlosigkeit auf beklemmende Weise nachempfinden konnte.

»Verstehe, General Trimack.« Sie strich sich eine Locke ihres Haars aus dem Gesicht. »Auch mir ist die Bürde der Verantwortung für das Leben anderer nicht unbekannt. Das Leben Eurer Soldaten ist selbstverständlich kostbar und jede Maßnahme berechtigt, die den Feind daran hindert, es ihnen zu nehmen. In diesem Sinne möchte ich Euch dringend ans Herz legen, die mit Magie versehenen Waffen vorsichtig zu handhaben. Diese Dinge sind normalerweise nicht für den unkontrollierten Gebrauch durch nicht mit der Gabe Gesegnete gedacht.«

Er nickte einmal knapp. »Wir werden Eure Warnung beherzigen.«

»Gut. Weiterhin solltet Ihr wissen, dass das, was sich in diesem Raum befindet, extrem gefährlich ist – und diese Gefahr betrifft uns alle. Es wäre daher in unserem gemeinsamen Interesse, wenn ich mich, da ich schon einmal hier bin, kurz vergewissere, dass es sicher untergebracht ist.«

»Ich verstehe Eure Sorge durchaus, Prälatin, aber Ihr müsst verstehen, dass mir meine Befehle keinen Ermessensspielraum für Ausnahmen lassen. Allein auf Euer Wort, dass Ihr die seid, die Ihr zu sein vorgebt, und uns lediglich helfen wollt, kann ich Euch keinen Zutritt zu diesem Raum gewähren. Angenommen, Ihr wärt eine Spionin, eine Verräterin oder gar der Leibhaftige höchstselbst? So aufrichtig Ihr auch wirken mögt, ich bin nicht zum Rang eines befehlshabenden Generals aufgestiegen, weil ich mich von attraktiven Frauen zu irgendetwas überreden lasse.«

Vor allen diesen Leuten als »attraktive Frau« bezeichnet zu werden machte Verna für einen Moment stutzig. »Eins kann ich Euch jedoch persönlich garantieren, niemand – absolut niemand – hat diesen Raum seit Lord Rahls letztem Besuch betreten, nicht einmal Nathan Rahl. Was immer sich im Garten des Lebens befindet, ist nach wie vor unberührt.«

»Verstehe, General.« Bis sie es schaffte, den Palast erneut aufzusuchen, würde eine Ewigkeit vergehen, und niemand konnte sagen, wo Richard sich derzeit befand oder wann er zurückkehren würde. Nachdenklich rieb sie sich mit den Fingern über die Stirn und suchte nach einem Ausweg aus dieser vertrackten Situation. »Ich mache Euch einen Vorschlag. Angenommen, ich betrete den Raum gar nicht, sondern bleibe stattdessen einfach außerhalb des Gartens des Lebens in der Tür stehen und werfe einen Blick hinein, um mich zu vergewissern, dass die drei dort aufbewahrten Kästchen unbeschädigt sind? Von mir aus könnt Ihr sogar ein Dutzend Eurer Männer diese tödlichen Bolzen auf meinen Rücken richten lassen.«

Nachdenklich biss er sich auf die Lippe. »Jeweils eine Gruppe vor Euch, zu beiden Seiten und in Eurem Rücken wird Euch, den Finger am Abzug, mit vorgehaltener Waffe in Schach halten. Ihr dürft an meinen Leuten vorbei einen Blick durch die geöffnete Tür in den Garten des Lebens werfen, aber es ist Euch bei Todesstrafe untersagt, die Schwelle zu übertreten.«

Genau genommen musste Verna gar nicht so nahe heran, dass sie die Kästchen berühren konnte – und, um der Wahrheit gerecht zu werden, sie wollte es auch gar nicht. Im Grunde wollte sie sich nur vergewissern, dass sich niemand an ihnen zu schaffen gemacht hatte, auch wenn ihr die Vorstellung ein gewisses Unbehagen bereitete, dass einer der Soldaten nur mit dem Finger zu zucken brauchte, um einen dieser tödlichen Bolzen auf sie abzufeuern. Der Gedanke, nach den Kästchen der Ordnung zu sehen, war schließlich nur eine nachträgliche Überlegung gewesen, da sie sich ohnehin im Palast aufhielt. Der eigentliche Grund für ihren Besuch war ein ganz anderer. Nun, wie auch immer jetzt war sie so dicht davor.

»Einverstanden, General. Ich will mich lediglich vergewissern, dass sie unbeschädigt sind, damit wir alle ein wenig unbeschwerter schlafen können.«

»Für unbeschwerten Schlaf bin ich immer zu haben.«

Kommandant General Trimack führte Berdine und Verna inmitten eines Knäuels aus Soldaten durch einen breiten Korridor aus poliertem Granit, dessen in weiten Abständen vor die Wand gesetzte Stützpfeiler wuchtige Steinplatten einrahmten, als handelte es sich um Kunstwerke. In Vernas Augen waren sie der sichtbare Beweis für die Hand des Schöpfers, es waren Kunstwerke aus dem von ihm selbst bestellten Garten, der die Welt des Lebens repräsentierte. Das Geräusch der sie eskortierenden Soldaten hallte in beiden Richtungen durch den riesigen Flur, als sie eine Reihe von Einmündungen passierten, Seitenzweige der Bannform, die ausnahmslos dem durch den Garten des Lebens gebildeten Mittelpunkt zustrebten. Zu guter Letzt gelangten sie zu einer mit Schnitzereien einer sanft geschwungenen Wald- und Hügellandschaft bedeckten vergoldeten Doppeltür. »Hinter dieser Tür befindet sich der Garten des Lebens«, erklärte ihr der General feierlich. Während die Soldaten mit angelegter Armbrust einen Ring um sie bildeten, ging der General daran, einen der mächtigen vergoldeten Türflügel aufzuziehen. Einige der seitlich von ihr und in ihrem Rücken stehenden Soldaten richteten ihre Bolzen auf ihren Kopf, vier weitere nahmen vor ihr Aufstellung und zielten auf ihr Herz. Zu ihrer Erleichterung zielte wenigstens niemand direkt auf ihr Gesicht. Eigentlich fand sie das Ganze ziemlich albern, doch diesen Soldaten war es bitterernst, also verhielt sie sich entsprechend. Als der goldbeschlagene Türflügel aufgestoßen wurde, schob sich Verna, umringt von der dicht geschlossenen Formation ihrer persönlichen Meuchlertruppe, behutsam näher an die Türöffnung heran, um besser sehen zu können. Sie musste ihren Hals recken und schließlich sogar einen der Soldaten behutsam mit einer Handbewegung auffordern, ein kleines Stück zur Seite zu treten, damit sie ungehinderte Sicht in das Innere des riesigen Raums hatte.

Als Verna aus dem eher schlecht beleuchteten Korridor ins Innere des Raums blickte, sah sie, dass er dank der bleiverglasten hohen Deckenfenster selbst bei bedecktem Himmel in all seiner Pracht ausgeleuchtet wurde. Überrascht stellte sie fest, dass der Garten des Lebens, hier oben im Herzen des Palasts des Volkes, im Großen und Ganzen einem ... ganz normalen üppigen Garten glich.

Soweit sie erkennen konnte, gab es entlang der Außenwand des Raums mehrere Fußwege, die sich durch die Blumenbeete wanden. Der Boden war überall mit Blütenblättern übersät, einige noch immer kräftige Rot- und Gelbtöne konnte man ausmachen, die meisten aber waren längst eingetrocknet und verwelkt. Jenseits der Blumen wuchsen ein paar kleine Bäume, hinter denen wiederum einige niedrige, rankenüberwucherte Steinmäuerchen zu sehen waren. Innerhalb dieser Mauern herrschte ein wildes Durcheinander aus Sträuchern und Zierpflanzen, die sich allerdings mangels Pflege in einem erbärmlichen Zustand befanden. Viele der mit langen, frischen Sprösslingen übersäten Pflanzen waren in die Höhe geschossen und mussten dringend beschnitten werden, andere waren von aggressiven Ranken durchzogen. Allem Anschein nach hatte General Trimack die Wahrheit gesagt. Niemandem, nicht einmal den Gärtnern, war der Zutritt zum Garten gestattet worden.

In der Mitte des beeindruckenden Raumes befand sich eine verwahrloste Rasenfläche, die einen fast geschlossenen Kreis bildete. Die einzige Unterbrechung im Grasring war ein weißer Steinklotz, und auf diesem Stein befanden sich zwei niedrige gekehlte Sockel, die eine glatte Granitplatte stützten. Auf diesem granitenen Altar standen drei Kästchen mit einer Oberfläche von undurchdringlicher Schwärze. Es überraschte Verna fast ein wenig, dass sie dem Raum nicht alles Licht entzogen und ihn mitsamt der ganzen Welt in die ewige Finsternis der Unterwelt hineinsogen. Schon der bloße Anblick dieser Gegenstände mit ihrer unheilvollen Ausstrahlung ließ ihr das Herz bis zum Hals schlagen.

Verna kannte die drei Kästchen unter dem Begriff »das Tor«, und tatsächlich waren sie exakt, was dieser Name besagte. In diesem Fall bildeten sie alle drei zusammen eine Art Durchgang zwischen der Welt des Lebens und dem Totenreich, das Tor selbst war aus der Magie beider Welten konstruiert. Falls dieser Durchgang zwischen den Welten jemals geöffnet wurde, würde der Schleier zerreißen, und der Namenlose, der Hüter der Toten, wäre von dem Siegel befreit.

Da diese Information in nur einem sehr beschränkten Personenkreis zugänglichen Büchern zu finden war, kannten nur wenige Personen im Palast der Propheten das Tor unter seinem alten Namen: Kästchen der Ordnung. Die drei Kästchen funktionierten nur gemeinsam, und zusammen bildeten sie das Tor. Soweit im Palast der Propheten bekannt, galt es seit über dreitausend Jahren als verschollen – jeder war überzeugt, es sei verloren, auf Nimmerwiedersehen verschwunden und für alle Zeiten dahin. Über die Jahrhunderte waren immer wieder Spekulationen darüber angestellt worden, ob es überhaupt jemals existiert hatte, und selbst die bloße Möglichkeit seiner Existenz hatte Anlass zu zahlreichen hitzigen theologischen Disputen gegeben. Aber das Tor – die Kästchen der Ordnung – existierte tatsächlich, und Verna hatte Mühe, ihre Augen davon loszureißen. Der Anblick dieser abscheulichen Gegenstände ließ ihr Herz schneller schlagen, kalter Schweiß ließ ihre Kleider klamm werden.

Es konnte kaum verwundern, dass drei Zauberer dem General den Befehl gegeben hatten, niemanden in diesen Raum zu lassen. Verna sah sich gezwungen, ihre Meinung über Nathan zu revidieren, der die Erste Rotte der Palastwache mit derart gefährlichen Waffen ausgerüstet hatte. Die juwelenbesetzte Abdeckung war entfernt worden, sodass nur die unheimliche Schwärze der Boxen selbst zu sehen war. Einst hatte Darken Rahl die Kästchen mit dem Ziel ins Spiel gebracht, mithil-fe der Macht der Ordnung die Herrschaft über die Welt des Lebens an sich zu reißen. Richard hatte dies zum Glück verhindern können.

Ein Diebstahl der Kästchen zu diesem Zeitpunkt würde allerdings keinem Dieb etwas nützen. Eine Unmenge von Informationen war nötig, um die Arbeitsweise der Magie der Ordnung zu verstehen und zu begreifen, wie das Tor selbst funktionierte, und ein Teil dieser Informationen stand in einem Buch, das außer in Richards Erinnerung nicht mehr existierte – was einer der Gründe dafür war, dass er Darken Rahl einst hatte besiegen können. Aber ein Dieb müsste nicht nur über ein umfassendes Wissen und weit reichende Kenntnisse verfügen, sondern musste unbedingt auch additive und subtraktive Magie besitzen, wenn er sich dieses Tors bedienen oder die Macht der Ordnung in Anspruch nehmen wollte.

Die eigentliche Gefahr drohte vermutlich dem, der töricht genug war, diese heimtückischen Gegenstände tatsächlich zu benutzen.

Verna entfuhr ein Seufzer der Erleichterung, als sie die drei Kästchen unberührt an exakt jener Stelle vorfand, wo Richard sie nach eigenen Angaben zurückgelassen hatte. Im Augenblick gab es vermutlich keinen sichereren Ort für die Aufbewahrung derart gefährlicher magischer Gegenstände. Vielleicht würde sie ja eines Tages einen Weg finden, das Tor zu vernichten – sofern dies überhaupt möglich war. Fürs Erste jedoch waren sie dort sicher aufgehoben.

»Vielen Dank, General Trimack. Ich nehme mit großer Erleichterung zur Kenntnis, dass alles so ist, wie es sein sollte.«

»Und so wird es auch bleiben«, erwiderte er und stemmte sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Tür, die sich geräuschlos schloss. »Außer Lord Rahl gelangt niemand hier hinein.«

»Gut.« Sie schenkte ihm ein zufriedenes Lächeln, dann ließ sie den Blick durch den prächtigen Palast schweifen, der sie umgab, über diese Illusion von Beständigkeit, Frieden und Sicherheit, die er verströmte. Wenn es doch nur so gewesen wäre. »Nun, ich fürchte, wir müssen aufbrechen, ich muss zurück zu den Streitkräften. Ich werde General Meiffert ausrichten, dass die Dinge hier im Palast in guten Händen sind. Hoffen wir, dass Lord Rahl bald zu uns stößt und wir die Imperiale Ordnung aufhalten können, ehe sie überhaupt bis hierhin vorrücken kann. In den Prophezeiungen ist ausdrücklich davon die Rede, dass wir die Imperiale Ordnung vernichtend schlagen, wenn nicht gar in die Alte Welt zurücktreiben können, vorausgesetzt, er stößt in der entscheidenden Schlacht zu uns.«

Mit einem entschlossenen Nicken verabschiedete sich der General von ihr. »Mögen die Gütigen Seelen mit Euch sein, Prälatin.«

Mit Berdine an ihrer Seite verließ sie den verbotenen Bereich und ließ den Garten des Lebens hinter sich zurück. Und als sie die Stufen hinabstiegen, war sie erleichtert, dass sie wieder auf dem Weg zurück zur Armee war, auch wenn deren Mission ihr Kopfzerbrechen bereitete. Seit ihrem Besuch im Palast, das spürte sie jetzt, hatte ihr Engagement, ihre Verbundenheit mit dem, was unter Richards Herrschaft aus dem d’Haranischen Reich geworden war, merklich zugenommen, ja, selbst ihr Interesse am Leben selbst schien neu geweckt. Aber wenn es ihnen nicht gelang, Richard zu finden und ihn zu bewegen, sich in der Schlacht, die sie beim finalen Zusammenstoß mit der Imperialen Ordnung erwartete, an die Spitze der Streitkräfte zu stellen, dann kam das Vorhaben, Jagangs Armeen aufzuhalten, einem glatten Selbstmord gleich. »Prälatin?« Berdine drückte die Tür mit der Schlangenschnitzerei ins Schloss. Verna blieb stehen und wartete, während die Mord-Sith mit der Hand den Bronzeschädel des Türgriffs tätschelte. »Was ist denn, Berdine?«

»Ich denke, ich sollte hier bleiben.«

»Hier bleiben?« Verna sah ihr in die Augen. »Aber warum denn?«

»Wenn Ann Lord Rahl findet und ihn zur Armee bringt, wird er dort auf Euch und eine Reihe anderer Mord-Sith zählen können, die ihn beschützen – er wird, wie Ihr es nennt, am Ort seiner Bestimmung angelangt sein. Nur womöglich findet sie ihn ja gar nicht.«

»Ihr wird gar nichts anderes übrig bleiben. Im Übrigen ist sich auch Richard der Bedeutung dieser Prophezeiung bewusst, er weiß, dass seine Anwesenheit bei der entscheidenden Schlacht dringend erforderlich ist. Selbst wenn es Ann nicht gelingen sollte, ihn zu finden, bin ich zuversichtlich, dass er zu uns stoßen wird.«

Berdine, die sichtlich Mühe hatte, die richtigen Worte zu finden, zuckte mit den Schultern. »Mag sein, vielleicht aber auch nicht. Ich habe lange Zeit mit ihm verbracht, Verna. Das entspricht einfach nicht seiner Denkweise. Die Prophezeiungen haben für ihn nicht den gleichen Stellenwert wie für Euch.«

Verna stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ein wahres Wort aus Eurem Mund, Berdine.«

»Dies ist das Zuhause von Lord Rahl, auch wenn er hier, außer als Gefangener, nie wirklich gelebt hat. Trotzdem ist er hierher zurückgekommen, um sich um uns, sein Volk und seine Freunde, zu kümmern. Ich war lange mit ihm zusammen, ich weiß, wie sehr wir ihm am Herzen liegen, und ich weiß auch, dass er sich darüber klar ist, wie sehr wir ihm alle zugetan sind. Vielleicht verspürt er ja das Bedürfnis, nach Hause zurückzukehren. Und wenn dem so ist, dann, finde ich, sollte ich für ihn da sein. Er ist bei den Büchern und den Übersetzungen auf meine Hilfe angewiesen – glaube ich zumindest. Jedenfalls hat er mir immer das Gefühl gegeben, ich sei für ihn wichtig. Ich weiß nicht, ich denke einfach, ich sollte hier im Palast bleiben, für den Fall, dass er hierher zurückkehrt. Zumal er in diesem Fall darüber unterrichtet werden muss, dass Ihr verzweifelt nach ihm sucht und dass die entscheidende Schlacht unmittelbar bevorsteht.«

»Sagen Euch die Bande nicht, wo er sich befindet?«

Berdine wies nach Westen. »Er ist irgendwo in dieser Richtung, allerdings sehr weit weg.«

»Die gleichen Worte hat auch General Trimack benutzt, was nur bedeuten kann, dass Richard sich wieder irgendwo in der Neuen Welt befindet.« Verna sah einen Grund, mal wieder zu lächeln. »Endlich! Es tut gut, das zu wissen.«

»Je näher ihm die mit der Bande sind, desto tatkräftiger werden sie Euch bei der Suche nach ihm unterstützen können.«

Verna dachte einen Moment über ihren Vorschlag nach. »Ich werde Eure Gesellschaft vermissen, Berdine, aber ich denke, Ihr müsst tun, was Ihr für richtig haltet. Außerdem muss ich zugeben, was Ihr da sagt, klingt nicht ganz abwegig. Wenn wir ihn gleichzeitig an mehreren Orten suchen, erhöht das unsere Chancen, ihn rechtzeitig zu finden.«

»Ich halte es wirklich für richtig, hier zu bleiben. Außerdem möchte ich mir ein paar der alten Texte vornehmen und versuchen, einige Äußerungen Kolos abzugleichen. Es gibt da ein paar Dinge, die mich verwirren. Wenn ich das klären kann, könnte ich Lord Rahl vielleicht sogar helfen, die entscheidende Schlacht zu gewinnen.«

Verna nickte, ein betrübtes Lächeln auf den Lippen. »Bringt Ihr mich noch hinaus?«

»Selbstverständlich.«

Das Geräusch von Schritten ließ die beiden herumfahren. Es war eine weitere Mord-Sith, in ihrem roten Lederanzug. Sie war blond und ein Stück größer als Berdine. Ihre stechenden blauen Augen maßen Verna mit jener Art wohl abgewogener Berechnung, aus der ein unerschütterliches, furchtloses Selbstvertrauen sprach. »Nyda!«, begrüßte Berdine sie.

Diese blieb stehen, einen Mundwinkel zu einem angedeuteten Lächeln verzogen, und legte Berdine eine Hand auf die Schulter, eine Geste, die nach Vernas bisheriger Erfahrung den Gipfel ausgelassener Freude unter den Mord-Sith darstellte, außer vielleicht bei Berdine.

Nyda blickte auf Berdine herab, als wollte sie sie mit ihren Augen verschlingen. »Es ist schon eine Weile her, Schwester Berdine. Ohne dich war es einsam in D’Hara. Willkommen daheim.«

»Es tut gut, wieder daheim zu sein und dem Gesicht zu sehen.«

Als Nydas Blick zu Verna schwenkte, schien Berdine sich auf ihr Benehmen zu besinnen. »Schwester Nyda, dies ist Verna, die Prälatin der Schwestern des Lichts. Sie ist eine gute Freundin und Beraterin des Lord Rahl.«

»Er ist auf dem Weg hierher?«

»Leider nein«, antwortete Berdine.

»Seid Ihr zwei tatsächlich Schwestern?«, fragte Verna.

»Nein.« Mit einer Handbewegung wies Berdine den Gedanken entschieden von sich. »Es ist eher so wie bei Euch, wenn Ihr die anderen Frauen Eures Ordens als ›Schwester‹ bezeichnet. Nyda ist eine alte Freundin.«

Nyda blickte sich um. »Wo ist Raina?«

Die unerwartete Begegnung mit dem Namen ließ Berdine auf der Stelle erblassen. »Raina lebt nicht mehr.«

Nyda zeigte keinerlei Regung. »Das wusste ich nicht, Berdine. Ist sie einen angemessenen Tod gestorben, mit ihrem Strafer in der Hand?«

Berdine schluckte, den Blick starr zu Boden gerichtet. »Sie ist an der Pest gestorben, bis zum letzten Atemzug hat sie dagegen angekämpft ... doch am Ende hat sie sie übermannt. Sie starb in Lord Rahls Armen.«

Verna meinte, eine leichte Zunahme der Tränenflüssigkeit in Nydas blauen Augen erkennen zu können, als diese ihre Mord-Sith-Schwester betrachtete. »Das tut mir sehr Leid, Berdine.«

Berdine sah auf. »Lord Rahl hat bei ihrem Tod geweint.«

Dem stummen, gleichwohl erstaunten Ausdruck in Nydas Gesicht konnte Verna entnehmen, dass es als völlig unerhört galt, wenn Lord Rahl dem Tod einer Mord-Sith anders als mit Gleichgültigkeit begegnete. Nach dem Ausdruck ungläubigen Staunens, der über ihr Gesicht ging, war eine solche Ehrerbietung für eine der ihren die denkbar höchste Auszeichnung.

»Mir sind diese Geschichten über Lord Rahl schon zu Ohren gekommen. Dann sind sie also tatsächlich wahr?«

Ein strahlendes Lächeln ging über Berdines Gesicht. »Und ob.«

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