Das ferne Geheul eines einsamen Wolfes weckte Richard aus einem todesähnlichen Schlaf. Ein verlorenes Echo hallte durch das Gebirge, ehe es unerwidert verklang. Im unwirklichen Licht der trügerischen Dämmerung lag er auf der Seite und lauschte schläfrig und abwartend auf einen Antwortruf, der jedoch blieb aus. Sosehr er sich auch bemühte, er schien die Augen nicht länger als für die Dauer eines einzigen trägen Herzschlags offen halten, geschweige denn genug Energie aufbieten zu können, um den Kopf zu heben. Schattenhafte Zweige schienen sich im trüben Dunkel hin und her zu wiegen. Merkwürdig, dass ein so alltägliches Geräusch wie das ferne Heulen eines Wolfes ihn hatte wecken können.
Er besann sich, dass Cara die dritte Wache hatte, bestimmt würde sie sie schon in Kürze wecken kommen. Unter großen Mühen nahm er seine Kräfte zusammen und wälzte sich auf die Seite. Er brauchte Kahlans Berührung, ihre Umarmung, um in ihren schützenden Armen noch einmal für ein paar köstliche Minuten in den Schlaf zu sinken, doch unter seiner tastenden Hand war nichts als eine leere Fläche nackten Erdbodens. Kahlan war nicht da.
Wo mochte sie sein? Wo konnte sie hingegangen sein? Vielleicht war sie zeitig aufgewacht und hatte das Lager verlassen, um sich mit Cara zu unterhalten.
Richard setzte sich auf. Instinktiv sah er nach seinem Schwert, um sich zu vergewissern, dass es griffbereit neben ihm lag. Das beruhigende Gefühl der polierten Scheide und des mit Draht umwickelten Heftes empfing seine Finger. Das Schwert lag neben ihm auf dem Boden.
Dann vernahm er das sanfte Rauschen eines sachten, anhaltenden Regens und erinnerte sich, dass er Regen aus irgendeinem Grund unter allen Umständen meiden musste.
Aber wenn es regnete, wieso spürte er dann nichts davon? Wieso war sein Gesicht trocken? Und der Erdboden auch?
Er richtete sich auf, rieb sich die Augen und versuchte sich zu orientieren, indem er seinen benebelten Verstand zu klären suchte und sich bemühte, seine konfusen Gedanken zu sammeln. Angestrengt spähte er in das Dunkel und erkannte, dass er sich gar nicht im Freien befand. Im trüben grauen Licht des anbrechenden Morgens, das durch das eine kleine Fenster hereinsickerte, sah er, dass er sich in einer heruntergekommenen winzigen Stube befand, in der es nach feuchtem Holz und muffigem Verfall roch. Einige nahezu vollständig heruntergebrannte Scheite glommen in der Asche einer Feuerstelle, eingelassen in eine verputzte Mauer, die sich vor ihm erhob. An der einen Seite des Kamins hing ein rußgeschwärzter Holzlöffel, an der anderen lehnte ein fast kahler Besen, doch davon abgesehen sah er keinerlei persönliche Gegenstände, die irgendwelche Rückschlüsse auf die hier lebenden Personen hätten geben können.
Bis Tagesanbruch schien es noch eine Weile hin zu sein. Das unablässige Prasseln des Regens auf das Dach verhieß einen sonnenlosen Morgen an diesem nasskalten Tag. Nicht nur, dass es durch mehrere Löcher des ausbesserungsbedürftigen Daches tropfte, auch rings um den Kamin drang der Regen herein und fügte dem schäbigen Wandbewurf weitere Stockflecken hinzu.
Beim Anblick der verputzten Wand, der Feuerstelle und des schweren Plankentisches kamen gespenstische Bruchstücke seiner Erinnerung wieder hoch.
Getrieben von dem dringenden Bedürfnis herauszufinden, wo sich Kahlan befand, rappelte sich Richard unsicher schwankend auf, eine Hand auf die noch immer schmerzende linke Brusthälfte gelegt, während er sich mit der anderen an der Tischkante festhielt.
Als sie ihn in dem trübe beleuchteten Raum aufstehen hörte, war Cara, die es sich auf einem unweit stehenden Stuhl bequem gemacht hatte, sofort auf den Beinen. »Lord Rahl!«
Er sah sein Schwert auf dem Tisch liegen. Dabei war er fast sicher gewesen ... »Lord Rahl, Ihr seid wach!« Trotz des düsteren Lichts konnte Richard sehen, dass Cara außer sich vor Freude war. Auch fiel ihm auf, dass sie ihr rotes Lederzeug angelegt hatte. »Ein Wolf hat geheult, dadurch bin ich wohl aufgewacht.«
Cara schüttelte den Kopf. »Ich habe glockenwach gleich hier gesessen und über Euch gewacht. Es hat kein Wolf geheult, Ihr müsst geträumt haben.« Ihr Lächeln kehrte zurück. »Ihr seht schon viel besser aus.«
Er erinnerte sich an das völlige Unvermögen zu atmen, nicht genug Luft zu kriegen. Probeweise atmete er tief ein und stellte fest, dass ihm das keinerlei Probleme bereitete. Das Gespenst der entsetzlichen Schmerzen verfolgte ihn nach wie vor, doch ihre Wirklichkeit war nahezu verblasst. »Ja, ich glaube, es geht schon wieder.«
In Schüben blitzten kurze, unzusammenhängende Erinnerungssplitter vor seinem inneren Auge auf. Er erinnerte sich, wie er allein im unheimlichen ersten Licht des Tages regungslos dagestanden hatte, als die dunkle Flut aus Soldaten der Imperialen Ordnung zwischen den Bäumen hervorbrach. Bruchstückhaft erinnerte er sich an ihre wüste Attacke, ihre erhobenen Waffen. Er erinnerte sich, wie er sich dem fließenden Tanz mit dem Tod hingegeben hatte, an den Hagel aus Pfeilen und Armbrustbolzen und dass sich zu guter Letzt noch andere Männer ins Kampfgetümmel gestürzt hatten.
Richard lupfte sein Hemd ein wenig von seinem Körper und ließ seinen Blick daran herabwandern, ohne zu begreifen, wieso der Stoff unversehrt war.
»Euer Hemd war völlig zerfetzt«, half ihm Cara, als sie seine Verwirrung sah. »Wir haben Euch gewaschen und rasiert und Euch dann ein frisches Hemd angezogen.«
Wir. Dieses eine Wort schob sich vor allen anderen in den Vordergrund seiner Gedanken. Wir. Cara und Kahlan.
Das musste Cara gemeint haben.
»Wo ist sie?«
»Wer?«
»Kahlan«, wiederholte er und entfernte sich einen Schritt von dem stützenden Tisch. »Wo ist sie?«
»Kahlan?« Caras Züge verzogen sich zu einem herausfordernden Lächeln. »Wer soll denn das sein?«
Er atmete erleichtert auf. Cara würde es nicht wagen, auf diese Weise zu sticheln, wenn Kahlan verletzt oder ihr etwas zugestoßen wäre – dessen war er sich sicher. Ein überwältigendes Gefühl der Erleichterung nahm ihm die Angst und gleichzeitig einen Teil seiner Mattigkeit. Kahlan war in Sicherheit. Auch konnte er nicht vermeiden, dass Caras verschmitzter Gesichtsausdruck ihn zusätzlich aufheiterte. Er genoss es, sie mit einem unbekümmerten Lächeln auf den Lippen zu sehen, nicht zuletzt, weil es ein so seltener Anblick war. Normalerweise galt das Lächeln einer Mord-Sith als bedrohliches Vorspiel zu etwas überaus Unangenehmem. Dasselbe galt für das Tragen ihres roten Lederanzugs. »Kahlan«, erwiderte Richard, indem er auf das Spiel einging, »Ihr wisst schon, meine Frau. Wo ist sie?«
In seltener weiblicher Amüsiertheit rümpfte Cara die Nase. Ein so auffälliges Mienenspiel war bei ihr derart ungewöhnlich, dass Richard nicht nur überrascht war, sondern sich sogar zu einem Lächeln hinreißen ließ. »Eine Frau«, wiederholte sie gedehnt und tat plötzlich geziert. »Tja, das ist ja mal was völlig Neues – Lord Rahl nimmt sich eine Ehefrau.«
Es erschien ihm manchmal selbst nach wie vor unwirklich, sich plötzlich in der Rolle des Lord Rahl, des Herrschers des d’Haranischen Reiches, wieder zu finden. Normalerweise gehörte dies nicht zu den Dingen, die sich ein im fernen Westland aufgewachsener Waldführer ausmalte, nicht einmal in seinen kühnsten Träumen. »Tja, einer von uns musste ja den Anfang machen.« Er fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht und versuchte, seinen Verstand aus den Spinnweben des Schlafes zu befreien. »Wo ist sie?«
Caras Lächeln wurde noch breiter. »Kahlan.« Sie neigte den Kopf in seine Richtung und zog eine Braue hoch. »Eure Gemahlin.«
»Ganz recht, Kahlan, meine Ehefrau«, sagte Richard betont beiläufig. Er hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass man Cara am besten nicht die Genugtuung gab, sich anmerken zu lassen, dass einem ihre Scherze auf die Nerven gingen. »Ihr werdet Euch gewiss erinnern – klug, grüne Augen, hoch gewachsen, langes Haar und natürlich die schönste Frau, die ich je gesehen habe.«
Caras Lederanzug knarzte, als sie ihren Rücken durchdrückte und die Arme vor der Brust verschränkte. »Ihr meint selbstverständlich, die schönste außer mir.« Wenn sie lächelte, bekamen ihre Augen einen strahlenden Glanz, trotzdem fiel er nicht auf den Köder herein.
»Naja«, sagte sie schließlich mit einem Seufzer, »sieht ganz so aus, als hätte Lord Rahl während seines langen Schlafes jedenfalls einen interessanten Traum gehabt.«
»Ich habe lange geschlafen?«
»Zwei volle Tage, tief und fest – nachdem Nicci Euch geheilt hat.«
Richard fuhr sich mit den Fingern durch sein schmutziges, verfilztes Haar. »Zwei Tage ...«, murmelte er, während er sich mit seiner bruchstückhaften Erinnerung abzufinden versuchte. Caras Spielchen gingen ihm allmählich auf die Nerven. »Also, wo ist sie?«
»Eure Gemahlin?«
»Ja, meine Gemahlin.« Die Hände in die Hüften gestemmt, beugte er sich zu seiner Leibwächterin vor. »Ihr wisst schon, die Mutter Konfessor.«
»Mutter Konfessor. Ich muss schon sagen, Lord Rahl, nicht einmal im Traum macht Ihr halbe Sachen. Sie ist klug, wunderschön und obendrein die Mutter Konfessor.« Cara beugte sich zu ihm, einen spöttischen Ausdruck im Gesicht. »Und bestimmt ist sie außerdem noch ganz vernarrt in Euch?«
»Cara...«
»Oh nein, Augenblick.« Abwehrend hob sie eine Hand und wurde unvermittelt ernst. »Nicci bat mich, sie im Falle Eures Aufwachens sofort zu benachrichtigen. Sie hat darauf bestanden und gesagt, sobald Ihr aufwacht, muss sie sofort nach Euch sehen.« Cara begab sich zur einzigen geschlossenen Tür an der hinteren Wand der Stube. »Sie schläft zwar erst seit zwei Stunden, trotzdem will sie bestimmt sofort wissen, dass Ihr aufgewacht seid.«
Sie war nicht länger als einen kurzen Moment im Hinterzimmer verschwunden, da kam Nicci bereits aus dem Dunkel gestürzt und hielt kurz inne, um sich am Türrahmen festzuhalten. »Richard!«
Noch ehe er überhaupt ein Wort hervorbringen konnte, eilte Nicci, die Augen vor Erleichterung, ihn lebend zu sehen, weit aufgerissen, zu ihm hin und fasste ihn bei den Schultern, so als sei er eine in die Welt der Lebenden zurückgekehrte Gütige Seele, die nur durch ihr entschlossenes Zupacken im Diesseits gehalten werden könne. »Ich habe mir solche Sorgen gemacht. Wie fühlst du dich?«
Er fühlte sich so erschöpft, wie sie aussah; sie hatte sich ihr blondes Haar nicht ausgebürstet, außerdem schien sie in ihrem schwarzen Kleid geschlafen zu haben. Aber trotz alledem hatte ihr unordentliches Äußeres lediglich zur Folge, dass ihre außergewöhnliche Schönheit nur umso deutlicher hervorstach. »Na ja, im Großen und Ganzen ganz gut, wenn man davon absieht, dass ich mich erschöpft und noch etwas benommen fühle, und das, obwohl ich nach Caras Worten ziemliche lange geschlafen habe.«
Mit zarter Hand winkte Nicci ab. »Das war zu erwarten. Ein wenig Ruhe, dann wirst du schon bald wieder bei Kräften sein. Du hast eine Menge Blut verloren. Es wird eine Weile dauern, bis sich dein Körper davon wieder erholt hat.«
»Nicci, ich muss ...«
»Still.« Sie legte ihm eine Hand auf den Rücken und die andere mit der Handfläche auf die Brust. Obschon sie etwa gleichaltrig mit ihm zu sein schien oder bestenfalls ein oder zwei Jahre älter, hatte sie lange Zeit als Schwester des Lichts im Palast der Propheten gelebt, dessen Bewohner einem langsameren Alterungsprozess unterworfen waren. Anfangs hatten ihn ihr gewandtes Auftreten, der durchdringende, abschätzende Blick ihrer blauen Augen und ihr unverwechselbares verhaltenes Lächeln – das stets von einem tiefen, wissenden Blick in seine Augen begleitet wurde – verwirrt und später sogar beunruhigt, mittlerweile jedoch war ihm dies alles nur zu vertraut.
Er fühlte Niccis Kraft zwischen ihren Händen mit einem Kribbeln tief in seine Brust eindringen und zuckte zusammen. Es war ein verwirrender Vorgang, der bei ihm sofort Herzflimmern auslöste. Eine leichte Woge von Übelkeit überkam ihn.
»Es hält«, murmelte Nicci bei sich. Dann hob sie den Blick und sah ihm in die Augen. »Die Blutgefäße sind intakt und ihr Zustand stabil.« Der überraschte Ausdruck in ihren Augen verriet, wie ungewiss sie sich des Erfolgs gewesen sein musste. Schließlich kehrte ihr ermutigendes Lächeln zurück, teilweise zumindest. »Du brauchst nach wie vor viel Ruhe, aber ansonsten machst du erstaunliche Fortschritte, Richard, ich muss schon sagen.«
Er nickte, erleichtert zu hören, dass er gesund war, auch wenn sie ein wenig überrascht darüber klang. Aber das war nicht seine einzige Sorge, die dringend danach verlangte, gestillt zu werden. »Nicci, wo ist Kahlan? Cara hat heute Morgen wieder mal eine ihrer Launen und weigert sich, es mir zu sagen.«
Nicci schien verwirrt. »Wer?«
Richard fasste ihr Handgelenk und löste ihre Hand von seiner Brust. »Was ist passiert? Ist sie verletzt? Wo ist sie?«
Cara neigte den Kopf und erklärte Nicci: »Lord Rahl hat im Schlaf davon geträumt, er hätte eine Gemahlin.«
Nicci wandte sich zu ihr herum, die Stirn erstaunt gerunzelt. »Eine Gemahlin!«
»Erinnert Ihr Euch an den Namen, den er im Delirium gerufen hat?« Cara setzte ein verschwörerisches Lächeln auf. »Das war die, die er in seinem Traum geheiratet hat. Sie ist natürlich wunderschön und klug.«
»Wunderschön.« Nicci sah sie verständnislos an. »Und klug.«
Viel sagend zog Cara eine Braue hoch. »Außerdem ist sie die Mutter Konfessor.«
Nicci machte ein ungläubiges Gesicht. »Die Mutter Konfessor.«
»Das reicht.« Richard ging dazwischen und ließ Niccis Handgelenk los. »Ich meine es ernst. Also, wo ist sie?«
»Richard«, begann Nicci vorsichtig, »du warst ziemlich schwer verwundet. Eine Zeit lang dachte ich, du würdest nicht mehr ...« Sie strich sich eine verirrte Haarsträhne hinters Ohr und begann noch einmal von vorn. »Schau, wer so schwer verletzt ist wie du, dem kann der Verstand bisweilen einen Streich spielen. Das ist ganz natürlich. Ich habe das auch früher schon beobachtet. Du bekamst keine Luft, nachdem du von dem Pfeil getroffen worden warst. Dieser Luftmangel bewirkt, ganz ähnlich dem Ertrinken ...«
»Was ist eigentlich los mit Euch beiden? Was wird hier gespielt?« Ihm war unbegreiflich, wieso sie ihn hinzuhalten versuchten. Sein rasender Puls schien außer Kontrolle zu geraten. »Ist sie verletzt? So redet endlich!«
»Richard«, begann Nicci erneut, diesmal in gedämpftem Tonfall, der offenkundig darauf abzielte, ihn zu besänftigen, »dieser Armbrustbolzen hätte glatt um ein Haar dein Herz durchbohrt. In dem Fall hätte ich nicht das Geringste für dich tun können. Tote vermag ich nicht wieder zum Leben zu erwecken. Der Bolzen hat zwar dein Herz verfehlt, trotzdem hat er ernsthaften Schaden angerichtet. Eine so schwere Verwundung, wie du sie erlitten hast, überlebt man normalerweise nicht. Mit den üblichen Methoden hätte ich dich unmöglich heilen können, ganz einfach deswegen, weil dies niemand könnte. Außerdem war einfach keine Zeit, auch nur den Versuch zu unternehmen, den Bolzen auf andere Art zu entfernen. Du hattest innere Blutungen. Ich musste ...«
Sie geriet ins Stocken und starrte in seine Augen. Richard beugte sich ein wenig zu ihr vor. »Ihr musstet was?«
Verlegen zuckte sie mit einer Schulter. »Ich war gezwungen, subtraktive Magie anzuwenden.«
Nicci war eine mächtige Hexenmeisterin aus eigenem Recht, aber was sie noch unendlich viel außergewöhnlicher machte, war, dass sie darüber hinaus die Kräfte der Unterwelt beherrschte. Früher war sie diesen Kräften verpflichtet und unter dem Namen Herrin des Todes bekannt gewesen, daher zählte das Heilen nicht unbedingt zu ihrem Spezialgebiet. Bei Richard schrillten alle Warnsignale. »Wozu?«
»Um den Pfeil aus deinem Körper zu entfernen.«
»Ihr habt den Pfeil mit subtraktiver Magie eliminiert?«
»Es war weder Zeit, noch gab es eine andere Möglichkeit.« Sie fasste ihn wieder bei den Schultern, wenn auch diesmal eher voller Mitgefühl. »Wenn ich nicht gehandelt hätte, wärst du wenige Augenblicke später gestorben. Ich hatte keine andere Wahl.«
Richard blickte in Caras grimmiges Gesicht, dann sah er wieder zu Nicci. »Nun, ich schätze, das war nur vernünftig.«
Zumindest klang es so; ob es sich tatsächlich so verhielt, vermochte er nicht zu entscheiden. Richard war in den endlosen Wäldern Westlands aufgewachsen, daher waren seine Kenntnisse in Magie nicht übermäßig ausgeprägt.
»Zusammen mit einer gewissen Menge deines Blutes«, setzte Nicci kleinlaut hinzu. Das gefiel ihm ganz und gar nicht. »Was?«
»Du hattest innere Blutungen in deiner Brust, ein Lungenflügel hatte bereits versagt. Ich konnte sehen, dass dein Herz aus seiner Position gedrückt wurde, sodass die Hauptarterien Gefahr liefen, unter der Belastung zu zerreißen. Um dich zu heilen, musste ich das Blut entfernen, damit dein Herz und deine Lungen wieder richtig arbeiten konnten. Sie hätten jeden Moment versagen können. Du hattest einen Schock erlitten und lagst im Delirium. Du warst dem Tod nahe.«
Tränen traten in Niccis blaue Augen. »Ich hatte solche Angst, Richard. Außer mir war niemand da, der dir hätte helfen können, und ich hatte solche Angst zu versagen. Selbst nachdem ich alles in meiner Macht Stehende getan hatte, um dir zu helfen, war ich noch immer unsicher, ob du jemals wieder aufwachen würdest.«
Ihrem Gesichtsausdruck konnte er entnehmen, welchen Tribut die Angst gefordert hatte, ja, er spürte sie sogar in ihren zitternden Fingern auf seinen Armen – ein Zeichen dafür, welch weiten Weg sie zurückgelegt hatte, nachdem sie den Glauben an die Sache der Schwestern der Finsternis und der Imperialen Ordnung aufgegeben hatte.
Caras gequälter Gesichtsausdruck bestätigte ihm das wahre Ausmaß der Verzweiflung, die in der Situation geherrscht hatte. Während seines langen Schlafes hatte offenbar keine der beiden mehr als das eine oder andere kurze Nickerchen machen können. Das Wachen an seinem Krankenbett musste eine schlimme Erfahrung gewesen sein.
Noch immer trommelte der Regen ohne Unterlass auf das Dach, aber davon abgesehen war es in der nasskalten Hülle der Hütte totenstill. Hier, in dieser aufgegebenen Kate, schien die Vergänglichkeit des Lebens nur umso auffälliger. Das verlassene Gemäuer ließ Richard frösteln.
»Ihr habt mir das Leben gerettet, Nicci. Ich erinnere mich, dass ich Angst hatte zu sterben; aber Ihr habt mir das Leben gerettet.« Sacht berührte er ihre Wange mit den Fingerspitzen. »Danke. Ich wünschte, es gäbe eine passendere Art, Euch das zu vermitteln, eine bessere Art, Euch zu sagen, wie sehr ich zu schätzen weiß, was Ihr getan habt, aber leider fällt mir keine ein.«
Ihr verhaltenes Lächeln und das schlichte Nicken verrieten ihm, dass sie den Ernst seiner Worte verstanden hatte. Plötzlich kam ihm ein anderer Gedanke. »Oder wolltet Ihr etwa andeuten, die Anwendung von subtraktiver Magie hätte irgendein ... Problem verursacht?«
»Nein, nein, Richard.« Sie drückte seine Arme, wie um seine Ängste zu beschwichtigen. »Nein, ich glaube nicht, dass dadurch ein Schaden verursacht wurde.«
»Was soll das heißen, Ihr glaubt es nicht?«
Nach kurzem Zögern erklärte sie es ihm. »Ich hatte dergleichen noch nie zuvor getan, ja, ich hatte nicht einmal gehört, dass jemand es versucht hätte. Bei den Gütigen Seelen, ich wusste nicht mal, dass es überhaupt möglich ist. Wie du dir sicher vorstellen kannst, birgt die Anwendung subtraktiver Magie in diesem Zusammenhang gewisse Gefahren, um es vorsichtig auszudrücken. Alles Lebendige, das mit ihr in Kontakt gerät, würde ebenfalls ausgelöscht werden. Deswegen musste ich den Kern des Pfeilschafts benutzen, um in deinen Körper vorzudringen. Ich war mit größtmöglicher Behutsamkeit darauf bedacht, ausschließlich den Pfeil... sowie das ausgetretene Blut zu eliminieren.«
Richard fragte sich, was wohl aus den Dingen wurde, wenn sie mit subtraktiver Magie in Berührung kamen – was mit seinem Blut passiert war –, doch schon jetzt schwindelte ihm der Kopf von der Geschichte, außerdem wollte er vor allem eins: dass sie endlich zum springenden Punkt käme. »Aber zusätzlich zu alldem«, fuhr Nicci fort, »zusätzlich zu dem schweren Blutverlust, der Verletzung, der fürchterlichen Situation, nicht genug Luft zu bekommen, dem Stress, dem du ausgesetzt warst, während ich die gewöhnliche additive Magie zu deiner Heilung benutzte – ganz zu schweigen von dem Element des Unbekannten, das die Anwendung subtraktiver Magie mit sich bringt – hast du eine Erfahrung durchgemacht, deren Ausgang bestenfalls unvorhersehbar genannt werden kann. Eine so schwere Krise kann unerwartete Folgen haben.«
»Unerwartete Folgen?«
»Nun, es lässt sich nicht so leicht erklären. Mir blieb keine andere Wahl, ich musste zu extremen Mitteln greifen. Nach meinem Empfinden warst du längst jenseits der Grenzen jeglicher Einflussnahme. Du musst versuchen zu begreifen, dass du dort eine Zeit lang nicht du selbst warst.«
Cara hakte einen Daumen hinter ihren roten Ledergürtel. »Nicci hat Recht, Lord Rahl. Ihr war nicht Euer gewohntes Selbst. Ihr habt Euch mit Händen und Füßen gegen uns zur Wehr gesetzt. Ich musste Euch gewaltsam runterdrücken, damit sie Euch helfen konnte. Ich habe Männer bewacht, die an der Schwelle des Todes standen; es geschehen seltsame Dinge mit ihnen, sobald sie sich an diesem Ort befinden. Glaubt mir, in jener allerersten Nacht wart Ihr sehr lange dort.«
Richard verstand nur zu gut, was sie meinte, wenn sie sagte, sie hätte über Männer gewacht, die an der Schwelle des Todes standen. Das Foltern war einst der Lebenszweck der Mord-Sith gewesen zumindest, bis er all diese Dinge geändert hatte. Er trug noch immer den Strafer Dennas bei sich, jener Mord-Sith, die in dieser Eigenschaft einst über ihn gewacht hatte. Sie hatte ihm ihren Strafer als aufrichtige Geste ihrer Dankbarkeit vermacht, weil er sie von dem Wahnsinn dieser grauenhaften Pflicht befreit hatte – obwohl sie wusste, dass der Preis dieser Freiheit ein Stoß seines Schwertes durch ihr Herz sein würde. Nicci breitete die Hände aus, so als wollte sie ihn beschwören, sich mehr Mühe zu geben, zu begreifen. »Erst warst du bewusstlos, anschließend hast du eine ziemlich lange Zeit geschlafen. Ich musste dich wieder beleben, um dich dazu zu bringen, wenigstens einen Schluck Wasser zu trinken und etwas Brühe zu dir zu nehmen, gleichzeitig war es dringend erforderlich, dass du im Tiefschlaf bliebst, damit du wieder zu Kräften kommen konntest. Ich musste einen Bann benutzen, um dich in diesem Zustand zu halten. Du hattest viel Blut verloren; hätte ich dir zu früh erlaubt, wieder aufzuwachen, hätte dies deine noch schwachen Kräfte überfordert, und du hättest uns ... entgleiten können.«
Sterben, das war es, was sie meinte; er hätte sterben können. Richard holte tief Luft. Er hatte ja keine Ahnung gehabt, was während der letzten drei Tage alles passiert war. Im Grunde erinnerte er sich nur an den Kampf und anschließend an das Erwachen – nachdem er das Heulen des Wolfes gehört hatte. Er versuchte, ihr zu zeigen, dass er ruhig und verständnisvoll sein konnte, obwohl ihm weder nach dem einen noch dem anderen zumute war. »Nicci, was hat das alles mit Kahlan zu tun?«
Ihre Züge erstarrten zu einer beklemmenden Mischung aus Mitgefühl und Besorgnis. »Richard, diese Frau, Kahlan, ist nichts weiter als ein Produkt deiner Fantasie aus jener Zeit, bevor ich dich heilen konnte, als du dich in diesem verwirrten Zustand aus Schock und Delirium befandest.«
»Ich habe mir das nicht eingebildet, Nicci!«
»Du standest auf der Schwelle des Todes«, erwiderte sie und befahl ihm mit erhobener Hand, zu schweigen und ihr zuzuhören. »Dein Verstand war auf der Suche nach einem Menschen, der dir helfen konnte – jemand wie diese Kahlan. Bitte glaube mir, wenn ich sage, das ist ganz verständlich. Jetzt aber bist du wach und musst der Wahrheit ins Gesicht sehen.«
Es verschlug ihm glatt die Sprache. Er wandte sich herum zu Cara und flehte sie an – wenn schon nicht, ihm zu Hilfe, dann wenigstens wieder zur Besinnung zu kommen. »Wie könnt Ihr so etwas auch nur denken? Wie könnt Ihr einen solchen Unfug glauben?«
»Hattet Ihr nie einen Traum, in dem Euch eine grauenhafte Angst überkam, und dann war Eure längst verstorbene Mutter zur Stelle und hat Euch geholfen?« Caras starre blauen Augen schienen irgendwo anders hin gerichtet. »Erinnert Ihr Euch nicht, nach solchen Träumen aufzuwachen und absolut sicher zu sein, dass sie wirklich gewesen waren, dass Eure Mutter wieder lebte, wirklich wieder lebte, und Euch helfen würde? Oder erinnert Ihr Euch nicht, wie sehr Ihr Euch an dieses Gefühl klammern wolltet? Wisst Ihr etwa nicht mehr, wie sehr Ihr Euch gewünscht habt, es wäre Wirklichkeit?«
Sachte berührte Nicci die Stelle, wo der Pfeil gesteckt hatte – und wo sein Fleisch nun wieder verheilt war. »Nachdem ich dich wieder so weit geheilt hatte, dass du den Tiefpunkt der Krise überstanden hattest, fielst du in einen langen, von Träumen heimgesuchten Schlaf- und aus diesem Traum hast du diese verzweifelten Selbsttäuschungen mitgenommen.«
»Nicci hat Recht, Lord Rahl.« Richard konnte sich nicht erinnern, Cara jemals so todernst gesehen zu haben. »Ihr habt das alles nur geträumt – so wie Ihr auch geträumt habt, Ihr hättet einen Wolf heulen hören. Es klingt, als wäre dieser Traum von der Frau, die Ihr geheiratet habt, ein angenehmer Traum gewesen, aber das ist alles, was es ist: ein Traum.«
Richard drehte sich der Kopf. Die Vorstellung, Kahlan sei nichts weiter als ein Traum, ein während seines Deliriums entstandenes Trugbild seiner Fantasie, war zutiefst beängstigend, und diese Angst überkam ihn auf einmal mit ungehinderter Macht. Wenn es stimmte, was die beiden sagten, dann wollte er nicht wach sein, dann wünschte er sich, Nicci hätte ihn niemals geheilt. In einer Welt, in der Kahlan nicht wirklich existierte, mochte er nicht leben.
Zu benommen, um sich dieser unbestimmten Angst zu erwehren, tastete er in einem Meer aus dunklem Chaos nach einem festem Halt. Seine schwere Verletzung und die Tatsache, dass er sich nur schemenhaft daran erinnerte, hatten ihn so sehr verwirrt, dass seine Gewissheit dessen, was er als wahr empfand, in sich zusammenzufallen begann.
Schließlich fing er sich wieder. Er war klug genug, seiner Angst zu misstrauen und ihr nicht noch zusätzlich Nahrung zu geben. Ihm war zwar unbegreiflich, weshalb sie sich auf eine so monströse Idee versteiften, aber eins wusste er sicher: Kahlan war kein Traum.
»Wie könnt Ihr nach allem, was Ihr beide zusammen mit Kahlan durchgemacht habt, nur behaupten, sie sei nichts weiter als ein Traum?«
»Ganz recht, wie könnten wir«, stellte Nicci die Gegenfrage, »wenn es stimmte, was du sagst?«
»Lord Rahl, wir wären niemals so grausam, Euch in einer so wichtigen Angelegenheit täuschen zu wollen.«
Fassungslos schaute Richard sie an. War es möglich? »Ich erinnere mich nie an meine Träume.« Er musterte die beiden abwechselnd. »Schon seit frühester Jugend nicht mehr. Ich erinnere mich nicht, was ich während meiner Verwundung geträumt habe, noch während ich geschlafen habe. An nichts. Träume sind bedeutungslos, nicht aber Kahlan. Tut mir das nicht an – bitte. Es hilft mir nicht weiter, sondern macht alles nur noch schlimmer. Bitte, wenn Kahlan etwas zugestoßen sein sollte, muss ich es wissen.«
Nicci neigte vorsichtig den Kopf, so als wollte sie ihn um Vergebung anflehen. »Sie existiert nur in deinen Gedanken, Richard. Ich weiß, solche Dinge können sehr real erscheinen, aber so ist es nicht. Du hast sie dir zusammengeträumt, als du verwundet warst ... das ist alles.«
»Ich habe Kahlan nicht geträumt.« Wieder wandte er sich mit seiner flehentlichen Bitte an die Mord-Sith. »Cara, Ihr seid jetzt seit über zwei Jahren bei uns. Ihr habt mit uns und für uns gekämpft. Damals, als Nicci noch eine Schwester der Finsternis war und sie mich hierher, in die Alte Welt, verschleppt hatte, seid Ihr für mich eingesprungen und habt Kahlan beschützt. Und umgekehrt sie Euch. Ihr habt Dinge mit uns geteilt und erduldet, die sich die meisten Menschen nicht einmal vorstellen können. Wir wurden Freunde.«
Er deutete auf ihren Straf er, jene an einer dünnen Goldkette an ihrem rechten Handgelenk baumelnde Waffe, die nichts weiter als ein kurzer, dünner Lederstab zu sein schien. »Ihr habt Kahlan sogar zu einer Schwester des Strafers ernannt.«
Cara stand steif und stumm da. Dass sie Kahlan den Titel einer Schwester des Strafers verliehen hatte, war die informelle, aber tief empfundene Anerkennung einer einstigen Todfeindin für eine Frau, die sie zu guter Letzt respektieren und der sie trauen gelernt hatte, erinnerte sich Richard. »Anfangs seid Ihr vielleicht nicht mehr als eine Beschützerin des Lord Rahl gewesen, mittlerweile aber seid Ihr für mich und Kahlan sehr viel mehr. Ihr seid so etwas wie unsere Familie.«
Cara wäre bereit gewesen, ohne Zögern ihr Leben herzugeben, um Richard zu beschützen. Wenn es darum ging, ihn zu verteidigen, war sie nicht nur grausam, sondern frei von jeglicher Angst. Das Einzige, was sie fürchtete, war, ihn zu enttäuschen – und diese Angst stand ihr jetzt überdeutlich ins Gesicht geschrieben. »Danke, Lord Rahl«, sagte sie schließlich mit demutsvoller Stimme, »dass Ihr mich in Euren wundervollen Traum mit einbezogen habt.«
Eine Gänsehaut überlief Richard, als ihn plötzlich eine Woge kalter Angst überkam. Fassungslos presste er eine Hand gegen die Stirn und schob sein Haar zurück. Die beiden Frauen hatten sich mitnichten irgendeine Geschichte ausgedacht, weil sie Angst hatten, ihn mit einer schlechten Nachricht zu konfrontieren. Sie sprachen die Wahrheit.
Jedenfalls die Wahrheit, so wie sie sich in ihren Augen darstellte; die Wahrheit, die sich irgendwie zu einem Albtraum verkehrt hatte.
Nichts von alledem vermochte er in seinem Verstand zu etwas Sinnvollem zu formen, nichts davon ergab einen Sinn. Nach allem, was sie mit Kahlan geteilt, was sie mit ihr zusammen durchgemacht hatten, der Zeit, die sie zusammen verbracht hatten, war ihm vollkommen unbegreiflich, wie diese beiden Frauen ihm so etwas erzählen konnten.
Und doch taten sie es!