13

Es war bereits später Nachmittag, als Victor, Nicci, Cara und Richard in die langen Schatten der Olivenhaine gelangten, welche die südlich der Stadt Altur’Rang gelegenen Hügel bedeckten. Richard hatte keinen Augenblick in seinem forschen Tempo nachgelassen, sodass alle von dem beschwerlichen, wenn auch vergleichsweise kurzen Fußmarsch erschöpft waren. Der eiskalte Regen hatte drückender Hitze und hoher Luftfeuchtigkeit weichen müssen und war weitergezogen, doch schweißgebadet, wie sie waren, hätte es ebenso gut noch immer regnen können.

Obwohl bis auf die Knochen müde, fühlte sich Richard besser als noch vor wenigen Tagen. Trotz der ungeheuren Anstrengung fühlte er nach und nach seine Kräfte zurückkehren. Zudem war er erleichtert, dass sie nichts gesehen hatten, was auf die Bestie hingedeutet hätte. Mehr als einmal hatte er die anderen vorausgehen lassen, während er den hinter ihnen liegenden Pfad im Auge behielt, um zu überprüfen, ob sie verfolgt wurden. Da er zu keinem Zeitpunkt auch nur das geringste Anzeichen dafür gesehen hatte, dass ihnen jemand oder etwas auf den Fersen war, konnte er allmählich ein wenig aufatmen. Außerdem mussten sie noch immer die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass Niccis Information, Jagang habe ein solches Monster geschaffen, womöglich gar nicht die Erklärung für den Tod von Victors Männern war. Selbst wenn es Jagang, wie sie behauptete, gelungen sein sollte, eine solche Bestie zu erschaffen, so erklärte dies weder den brutalen und mörderischen Überfall, noch war damit gesagt, dass ebendiese Bestie bereits begonnen hatte, Jagd auf ihn zu machen. Aber wenn nicht sie, was dann ? Er vermochte sich nicht einmal ansatzweise vorzustellen, was es gewesen sein konnte.

Lastkarren, Wagen und Menschen bewegten sich in flottem Tempo durch das dichte Gedränge in den Straßen der Innenstadt. Seit seinem letzten Aufenthalt in Altur’Rang schien der Handel noch weiter aufgeblüht zu sein. Einige Passanten erkannten Victor wieder, einige wenige sogar Nicci, die beide nach dem Ausbruch der Revolte eine wichtige Rolle in Altur’Rang gespielt hatten. Es gab auch eine ganze Reihe von Leuten, die Richard wieder erkannten, sei es, weil sie am Abend des Beginns jenes denkwürdigen Aufstandes für ihre Freiheit dabei gewesen waren oder weil sie sein Schwert wieder erkannten. Die einzigartige Waffe in ihrer polierten goldenen und silbernen Scheide war schwerlich zu übersehen, erst recht nicht in der Alten Welt, die noch immer unter der trostlosen Herrschaft der Imperialen Ordnung stand.

Die Leute lächelten ihnen im Vorübergehen zu, tippten zum Gruß an ihren Hut oder schenkten ihnen ein freundliches Nicken. Cara beäugte jedes noch so flüchtige Lächeln mit Argwohn. Richard hätte sich über das aufblühende Leben in Altur’Rang gefreut, wären seine Gedanken nicht um für ihn weitaus wichtigere Dinge gekreist, für deren Erledigung er unbedingt Pferde benötigte. Wegen der vorgerückten Stunde würde es bereits dunkel sein, ehe er hoffen konnte, sich Pferde und Vorräte beschafft zu haben und wieder reisefertig zu sein. Nur widerstrebend mochte er sich mit dem Gedanken anfreunden, die Nacht in Altur’Rang zu verbringen.

Nur zu gut erinnerte Richard sich daran, wie sie, als Nicci ihn zum ersten Mal nach Altur’Rang gebracht hatte, den ganzen Tag für einen Laib Brot hatten Schlange stehen müssen und das Geschäft bereits ausverkauft war, ehe sie sich der Spitze der Warteschlange auch nur genähert hatten. Sämtliche Bäckereien unterlagen einem strikten Reglement, damit gewährleistet war, dass sich jeder Brot leisten konnte, und eine Vielzahl von Komitees, Ausschüssen und Verordnungen legte die Preise fest, ohne dabei die Kosten für Zutaten oder Arbeit zu berücksichtigen; was zählte, war allein der Preis, den die Menschen nach offizieller Auffassung aufzubringen vermochten. Damals war ihm der Brotpreis sehr gering erschienen, allerdings waren weder Brot noch irgendwelche anderen Lebensmittel jemals in ausreichenden Mengen vorhanden. Es war ihm wie eine Perversion jeglicher Logik erschienen, etwas als billig zu bezeichnen, das praktisch nirgends zu bekommen war. Eine Gesetzgebung, der zufolge alle Hungernden durchgefüttert werden mussten, hatte dazu geführt, dass der Hunger allenthalben in den Straßen und düsteren Behausungen der Stadt um sich griff. Der eigentliche Preis dieser von den Gesetzen noch geförderten Vorstellung von Uneigennützigkeit waren Hungersnöte und Tod. Wer für die abstrusen Vorstellungen der Imperialen Ordnung eintrat, musste haarsträubend blind für das unendliche Ausmaß von Elend und Tod sein, das sie verursachten.

Jetzt sah man an fast jeder Straßenecke Stände mit einem reichhaltigen Brotangebot, und der Hunger schien nicht mehr zu sein als eine schreckliche Erinnerung. Mit Staunen konnte man beobachten, dass die Freiheit allenthalben einen Überfluss an Waren und Gütern hervorgebracht hatte, und es erstaunte, so viele Menschen in Altur’Rang lächeln zu sehen. Als sie in den älteren Teil der Stadt gelangten, fiel ihm auf, dass viele der einstmals schäbigen Ziegelbauten gereinigt worden waren, sodass sie fast neu aussahen. Die Fensterläden waren in hellen Farben gestrichen, die im Dunst der spätnachmittäglichen Sonne geradezu freundlich wirkten. Eine Reihe von Gebäuden, die während des Aufstands niedergebrannt worden waren, wurde bereits wieder aufgebaut. Richard empfand es als Wunder, dass Altur’Rang nach seinem einstigen Erscheinungsbild tatsächlich so etwas wie Heiterkeit zu verströmen vermochte. Die Stadt so voller Leben zu sehen, ja, das ließ sein Herz vor Aufregung höher schlagen. Aber er wusste auch, dass es gerade das einfache, unverfälschte Glück jener Menschen war, die ihren eigenen Interessen nachgingen und ihr Leben um ihrer selbst willen lebten, welches den Hass und die Missgunst einiger weniger anziehen würde. Die Anhänger der Imperialen Ordnung hielten die Menschheit von Natur aus für böse;

Menschen ihres Schlages würden vor nichts zurückschrecken, um den gotteslästerlichen Freiheitsgedanken zu unterdrücken.

Sie waren gerade auf eine breitere Straße eingebogen, die tiefer in die Stadt hineinführte, als Victor an der Ecke zweier großer Hauptstraßen stehen blieb.

»Ich muss den Familien von Ferran und einigen anderen Männern einen Besuch abstatten. Ich glaube, wenn es Euch nichts ausmacht, Richard, würde ich gerne allein mit ihnen sprechen, jedenfalls erst einmal. Die Trauer über diesen plötzlichen Verlust und die Aufregung über so wichtigen Besuch wären eine zu verwirrende Mischung.«

Richard war es unangenehm, dass er als wichtiger Besuch betrachtet wurde, insbesondere von Menschen, die soeben einen Angehörigen verloren hatten, aber in Anbetracht der schlechten Neuigkeiten war dies kaum der rechte Zeitpunkt, diese Sichtweise zu korrigieren.

»Hab schon verstanden, Victor.«

»Ich hatte allerdings gehofft, Ihr könntet vielleicht ein paar Worte an sie richten. Es wäre ihnen bestimmt ein Trost, wenn Ihr ihnen erzählen würdet, wie tapfer ihre Männer waren. Mit einer kleinen Ansprache würdet Ihr ihren Angehörigen eine letzte Ehre erweisen.«

»Ich werde tun, was ich kann.«

»Es gibt auch noch ein paar andere, die von meiner Rückkehr unterrichtet werden müssen. Sie werden es bestimmt kaum erwarten können, Euch zu sehen.«

Mit einer Handbewegung wies Richard auf Cara und Nicci. »Erst möchte ich den beiden hier etwas zeigen« – er deutete Richtung Stadtmitte –, »und zwar dort drüben.«

»Ihr meint auf dem Platz der Freiheit?«

Richard nickte.

»Dann werde ich, sobald ich es einrichten kann, dort zu Euch stoßen.«

Richard folgte Victor kurz mit dem Blick, als dieser rechter Hand in einer engen, gepflasterten Gasse verschwand.

»Was wollt Ihr uns denn zeigen?«, fragte Cara.

»Etwas, das Eurem Erinnerungsvermögen hoffentlich auf die Sprünge helfen wird.«

Als sein Blick zum ersten Mal wieder auf die majestätische, aus feinstem weißem Cavatura-Marmor gearbeitete Statue fiel, die im bernsteinfarbenen Licht des späten Tages erstrahlte, hätten beinahe seine Knie nachgegeben. Jede noch so feine Rundung der Figur, jede Falte ihres fließenden Gewandes war ihm vertraut – ganz einfach deshalb, weil er damals das Original angefertigt hatte.

»Richard?« Nicci fasste ihn beim Arm. »Ist alles in Ordnung mit dir?«

Er brachte kaum mehr als ein leises Flüstern hervor, während er zu der Statue jenseits der weiten Rasenfläche hinüberstarrte. »Ja, mir geht es prächtig.«

Ursprünglich war die riesige Freifläche das Baugelände für die Errichtung des ehemaligen Palasts gewesen, der zum Herrschaftssitz der Imperialen Ordnung hatte werden sollen. Hierher hatte Nicci ihn damals verschleppt, damit er sich zur Mehrung des Ruhmes der Imperialen Ordnung abrackere – in der Hoffnung, er werde die Bedeutung der Selbstaufopferung und das korrupte Wesen der Menschheit begreifen lernen. Stattdessen war sie es gewesen, die den Wert des Lebens zu würdigen gelernt hatte.

Doch dann hatte er, noch als Niccis Gefangener, monatelang bei der Errichtung des kaiserliches Palasts mitgeholfen. Dieser Palast war jetzt verschwunden, dem Erdboden gleichgemacht, übrig geblieben war nur noch ein Halbkreis aus Säulen des einstigen Hauptportals, die jetzt rings um die stolze Statue aus weißem Marmor Wache hielten, welche jene Stelle markierte, wo im Herzen der Finsternis die Fackel der Freiheit zum ersten Mal entzündet worden war.

Die Statue war nach dem Aufstand gegen die Herrschaft der Imperialen Ordnung angefertigt und den befreiten Bewohnern Altur’Rangs und dem Gedächtnis all jener gewidmet worden, die für diese Freiheit ihr Leben gelassen hatten. Die Stelle, wo die Menschen zum ersten Mal Blut für die Erlangung ihrer Freiheit vergossen hatten, galt jetzt als geweihter Boden. Victor hatte ihr den Namen Platz der Freiheit gegeben.

Angestrahlt vom warmen Licht der tief stehenden Sonne, leuchtete die Statue wie ein Fanal. »Was seht Ihr?«, fragte Richard.

Cara hatte ebenfalls eine Hand auf seinem Arm. »Lord Rahl, es ist dieselbe Statue, die wir auch bei unserem letzten Besuch hier gesehen haben.«

Nicci pflichtete ihr nickend bei. »Exakt jene Statue, welche die Steinmetze nach dem Aufstand angefertigt haben.«

Der Anblick der Statue versetzte Richard einen schmerzhaften Stich. Ihre feinen weiblichen Rundungen, die Konturen von Körperbau und Muskulatur, all das war unter dem fließenden Gewand aus Stein deutlich zu erkennen. Die Frau aus Marmor wirkte fast lebendig.

»Und woher hatten die Steinmetze das Modell für diese Statue?«, wandte sich Richard an beide Frauen. Die beiden sahen ihn ausdruckslos an.

Nicci strich sich mit einem Finger eine Strähne aus dem Gesicht, den ihr die feuchtwarme Brise vor die Augen geweht hatte. »Was meinst du?«

»Um eine Statue wie diese zu schaffen, fertigen Meistersteinmetze normalerweise ein Modell an, das sie anschließend maßstabgetreu vergrößern. Was ist Euch über dieses Modell im Gedächtnis geblieben?«

»Ja, richtig.« Die Erinnerung hellte Caras Gesicht auf. »Es war irgendetwas, das Ihr geschnitzt hattet.«

»So ist es«, sagte er, an Cara gewandt. »Ihr und ich, wir haben das Holz für die kleine Statue gemeinsam ausgesucht. Ihr selbst habt schließlich den Walnussbaum entdeckt, dessen Holz ich verwendete. Er stand an einem Hang oberhalb eines breiten Tals und war von einer windschiefen Föhre umgerissen worden. Ihr wart dabei, als ich das Holz aus dem umgestürzten, verwitterten Walnussbaum schnitt, und Ihr habt neben mir gesessen, als ich die kleine Statue schnitzte. Wir saßen zusammen am Ufer des Baches und haben uns die Stunden mit Plaudereien vertrieben, während ich daran arbeitete.«

»Ja, ich erinnere mich, dass Ihr etwas geschnitzt habt, während wir draußen in der freien Natur saßen.« Der Anflug eines Lächelns huschte über Caras Gesicht. »Und weiter?«

»Wir befanden uns in der Nähe der Hütte, die ich in den Bergen gebaut hatte. Warum waren wir dort?«

Cara sah zu ihm auf. Die Frage hatte sie verwirrt, so als wäre die Antwort darauf zu offenkundig, um den Aufwand einer erneuten Wiederholung zu rechtfertigen. »Nachdem die Bevölkerung Anderiths darüber abgestimmt hatte, sich auf die Seite der Imperialen Ordnung statt auf Eure und die D’Haras zu schlagen, hattet Ihr den Versuch aufgegeben, die Menschen für den Kampf gegen die Imperiale Ordnung zu mobilisieren – der Wunsch nach Freiheit, so Eure Worte, lasse sich nicht erzwingen; die Menschen müssten sich schon aus freien Stücken dafür entscheiden, ehe Ihr sie anführen könntet.«

Einer Frau diese Dinge, die sie eigentlich ebenso gut wissen müsste wie er, zu erklären und dabei ruhig zu bleiben, fiel Richard nicht leicht, andererseits war ihm klar, ihrem Gedächtnis kaum mit Vorwürfen auf die Sprünge helfen zu können – zumal er sicher war, dass Nicci und Cara, was immer hier gespielt wurde, ihn nicht absichtlich täuschen wollten.

»Das hat eine gewisse Rolle gespielt«, sagte er. »Aber es gab noch einen sehr viel wichtigeren Grund, warum wir uns dort oben in dem weglosen Gebirge befanden.«

»Einen wichtigeren Grund?«

»Kahlan war um ein Haar zu Tode geprügelt worden. Ich brachte sie dorthin, damit sie in Sicherheit wäre, bis sie wieder zu Kräften käme. Ihr und ich, wir haben uns monatelang um sie gekümmert und versucht, sie wieder gesund zu pflegen. Ihr Zustand jedoch wollte sich einfach nicht bessern, und sie fiel in eine tiefe Depression. Sie verlor den Glauben daran, sich jemals wieder zu erholen, jemals wieder gesund zu werden.«

Er brachte es nicht über sich zu erwähnen, dass Kahlan sich teils auch deswegen fast aufgegeben hätte, weil sie durch die gar so rücksichtslose Behandlung dieser Schläger ihr Kind verloren hatte. »Und deshalb habt Ihr diese Statue von ihr geschnitzt?«

»Nicht ganz.«

Er starrte zu der stolzen Figur aus weißem Stein hinüber, die sich vor dem tiefblauen Himmel erhob. Ursprünglich hatte die kleine Statuette, die er geschnitzt hatte, Kahlan gar nicht ähnlich sehen sollen. Mit dieser Figur, ihrem wallenden Gewand, das Gesicht im Wind, den Kopf in den Nacken geworfen, die Brust vorgereckt, die Hände an den Seiten zu Fäusten geballt, den Rücken kraftvoll durchgedrückt, so als müsste sie einer unsichtbaren Macht trotzen, die sie zu unterwerfen suchte, hatte Richard nicht etwa Kahlans äußere Erscheinung wiedergeben, sondern vielmehr einen Eindruck von ihrem innersten Wesen vermitteln wollen. Es war keine Statue von Kahlan, sondern von ihrer Lebensenergie, ihrer Seele; die prächtige Statue vor ihnen stellte ihr Stein gewordenes Innenleben dar.

»Sie ist vielmehr eine Darstellung von Kahlans Mut, ihrer Festigkeit, ihrer Tapferkeit und Entschlossenheit. Deswegen gab ich der Statue den Namen Seele. Als sie sie sah, wusste sie sofort, was sie vor sich hatte. Sie weckte in ihr das dringende Bedürfnis, wieder gesund zu werden, wieder stark und unabhängig zu sein. In diesem Moment begann ihre Genesung.«

Die beiden Frauen wirkten mehr als unentschieden, unterließen es aber, seine Geschichte in Zweifel zu ziehen. »Die Sache ist die«, fuhr Richard fort, während er sich anschickte, den breiten Grasstreifen zu überqueren, »würdet Ihr die Männer, die diese Statue angefertigt haben, fragen, wo sich die kleine Statuette befindet, ebenjene Statue, die ich geschnitzt habe und die ihnen als Modell diente, um die andere hier maßstabgetreu zu vergrößern, würden sie weder imstande sein, sie zu finden, noch Euch zu erklären, was aus ihr geworden ist.«

Nicci musste sich beeilen, um mit ihm Schritt zu halten. »Und wo befindet sie sich nun?«

»Die kleine Statuette, die ich ihr in jenem Sommer in den Bergen aus Walnussholz geschnitzt habe, bedeutete Kahlan sehr viel. Sie wollte sie unbedingt zurückhaben, sobald die Arbeiter mit ihr fertig wären. Kahlan hat sie.«

Nicci stieß einen Seufzer aus und richtete ihren Blick wieder dorthin, wo sie ihre Füße hinsetzte. »Natürlich, was auch sonst.«

Die Stirn gerunzelt, sah er hinüber zu der Hexenmeisterin. »Und was soll das nun wieder heißen?«

»Wenn jemand unter einer Bewusstseinstrübung leidet, Richard, ist sein Verstand bestrebt, sich Dinge einzubilden, um die Lücken zu füllen und das zerstörte Gefüge seines Bewusstseins wiederherzustellen. Auf diese Weise versucht er, seiner Verwirrung einen Sinn zu geben.«

»Und wo befindet sich dann die Statuette?«, fragte er die beiden Frauen. Cara zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht, ich erinnere mich nicht, was mit ihr geschehen ist. Stattdessen gibt es jetzt die große Statue aus Marmor. Das scheint mir jetzt die zu sein, die wichtig ist.«

»Ich kann es dir auch nicht sagen, Richard«, antwortete Nicci, als er in ihre Richtung blickte. »Wenn die Steinmetze sich gründlich umsehen, gelingt es ihnen vielleicht, sie doch noch zu finden.«

Es war, als hätte sie den Sinn seiner Geschichte gar nicht begriffen, als glaubten sie alle beide, er sei lediglich daran interessiert, seine Schnitzerei wieder zu finden.

»Nein, es wird ihnen keineswegs gelingen, sie wieder zu finden. Darum geht es ja gerade, das versuche ich Euch doch begreiflich zu machen. Sie befindet sich in Kahlans Besitz. Ich weiß noch, wie sie sich gefreut hat an dem Tag, als sie sie zurückbekam. Begreift Ihr nicht? Niemand wird sie wieder finden oder sich entsinnen können, was mit ihr passiert ist. Seht Ihr nicht, dass hier einige Dinge nicht zusammenpassen, dass etwas sehr Merkwürdiges geschieht?«

Sie blieben am Fuß der breiten, weitläufigen Treppe stehen.

Richard sagte: »Das ist die Wahrheit.«

»Die Wahrheit? Wohl kaum.« Mit einer Handbewegung deutete Nicci hinauf zu der vor dem Halbkreis aus Säulen stehenden Statue. »Nachdem die Arbeiten an dieser Statue endlich abgeschlossen waren und das Modell nicht mehr gebraucht wurde, ist es vermutlich verloren gegangen oder vernichtet worden. Wie Cara schon sagte, stattdessen haben wir jetzt diese Statue hier aus Stein.«

»Aber begreift Ihr denn nicht die Bedeutung dieser kleinen Statuette, begreift Ihr nicht, was ich Euch zu erklären versuche? Ich weiß, was aus ihr geworden ist, aber niemand sonst. Ich versuche, etwas zu beweisen – Euch etwas zu erklären, nämlich, dass ich mir Kahlan nicht zusammenfantasiere, dass gewisse Dinge einfach nicht stimmen und dass Ihr mir unbedingt glauben müsst.«

Nicci hakte einen Daumen unter den Riemen ihres Bündels, um die Schmerzen ein wenig zu lindern, die ihr sein Gewicht verursachte.

»Warum sollte ich mir eine solche Geschichte einfach ausdenken?«

»Richard.« Nicci umfasste sachte seinen Arm. »Bitte, lass uns aufhören damit.«

»Ich habe Euch eine Frage gestellt. Welchen denkbaren Grund könnte ich haben, eine solche Geschichte zu erfinden?«

Nicci warf einen verstohlenen Seitenblick auf Cara, ehe sie schließlich nachgab. »Wenn du die Wahrheit wissen willst, Richard, du hast dich teils deswegen an diese Statue hier erinnert, weil sie nur kurze Zeit nach dem Aufstand angefertigt wurde und dir noch frisch in Erinnerung war und weil du sie, als du nach deiner Verwundung auf der Schwelle des Todes standest, in deinen Traum eingewoben hast. Du hast all diese Dinge miteinander verwoben und dazu benutzt, einen sinnvollen Zusammenhang herzustellen, etwas, woran du dich klammern konntest. Dein Verstand bedient sich dieser Statue, weil sie deine Träume mit Dingen aus der Realität verknüpft und dir auf diese Weise hilft, den Traum wirklicher erscheinen zu lassen.«

»Was?« Richard war verdutzt. »Warum sollte ich ...«

»Weil«, fiel sie ihm energisch ins Wort, »sie dir erlaubt, mit dem Finger auf einen konkreten Gegenstand in der Wirklichkeit zu zeigen und zu sagen: ›Das ist sie.‹«

Richard blinzelte fassungslos, unfähig, ein Wort hervorzubringen. Nicci wandte den Blick ab. Aus ihrer Stimme war alle Erregung gewichen, und sie flüsterte beinahe. »Verzeih mir, Richard.«

Er löste seinen wütenden Blick von ihr. Wie konnte er ihr etwas verzeihen, von dem sie aufrichtig überzeugt war? Wie konnte er sich selbst verzeihen, dass er es nicht geschafft hatte, sie zu überzeugen? Aus Angst, seine Stimme gleich wieder auf die Probe zu stellen, stieg er bedächtig die breiten Stufen hinauf. Unfähig, ihr noch sonst jemandem, der ihn für verrückt hielt, in die Augen zu sehen, war er sich der Anstrengung, die Stufen der kleinen Anhöhe hinaufzusteigen, kaum bewusst. Als er oben angekommen war und die weite Marmorplattform überquerte, hörte er Nicci und Cara hinter ihm die Stufen hinaufhasten. In diesem Moment bemerkte er zum allerersten Mal, dass das ehemalige Palastgelände mit ziemlich großen Besucherscharen bevölkert war. Von der höher gelegenen Plattform aus konnte er den Fluss sehen, der die Stadt teilte. Schwärme von Vögeln zogen über den turbulenten Fluten ihre Kreise. Jenseits der himmelwärts ragenden Säulen im Rücken der Statue flimmerten die grünen Hügel und Wälder in der Hitze. Vor ihm, im goldenen Licht der Abendsonne, erhob sich prachtvoll die stolze Statue mit dem Titel »Seele«.

Er musste sich mit einer Hand auf dem kühlen, glatten Stein abstützen, die quälenden Gefühle, die ihn diesem Moment bestürmten, waren kaum mehr zu ertragen.

Als Cara nahte, hob er den Blick und sah in ihre blauen Augen. »Glaubt Ihr das etwa auch? Dass Kahlans Verwundung und die Tatsache, dass wir beide sie versorgt haben, einfach nur ein Hirngespinst von mir sind? Fällt Euch denn gar nichts ein, wenn Ihr diese Statue seht? Hilft sie Euch nicht bei der Erinnerung?«

Cara sah zu der stummen Statue hoch. »Wo Ihr schon davon anfangt, Lord Rahl, ich erinnere mich, wie ich den Baum gefunden habe. Ich weiß noch, wie Ihr mich angelächelt habt, als ich ihn Euch zeigte, und wie zufrieden Ihr mit mir wart. Außerdem erinnere ich mich an einige Geschichten, die Ihr beim Schnitzen erzählt habt, und dass Ihr Euch meine Geschichten angehört habt. Aber in jenem Sommer habt Ihr viel geschnitzt.«

»In dem Sommer, bevor Nicci kam, um mich abzuholen«, fügte er hinzu. »Ja.«

»Aber wenn das alles nur ein Traum ist und Kahlan gar nicht existiert, wie konnte Nicci mich dann gefangen nehmen und verschleppen, obwohl Ihr da wart, um mich zu beschützen?«

Cara zögerte, verblüfft über den schneidenden Ton der Frage. »Sie hat Magie benutzt.«

»Magie. Aber Mord-Sith sind das Gegenmittel gegen Magie, oder ist Euch das etwa entfallen? Deswegen, und nur deswegen, gibt es sie überhaupt – um den Lord Rahl vor denen zu schützen, die über magische Kräfte verfügen und die ihm Böses wollen – so wie Nicci, als sie an besagtem Tag erschien. Ihr wart doch dabei, wieso habt Ihr sie nicht daran gehindert?«

In Caras blaue Augen schlich sich wachsendes Entsetzen. »Weil ich Euch im Stich gelassen habe. Ich hätte sie daran hindern sollen, aber ich habe versagt. Kein Tag vergeht, an dem ich mir nicht wünsche, Ihr würdet mich dafür bestrafen, dass ich bei der Aufgabe, Euch zu beschützen, versagt habe.« Ihr tiefrotes Gesicht stand in starkem Kontrast zu ihren blonden Haaren, als das unerwartete Geständnis aus ihr hervorsprudelte. »Mein Versagen ist schuld daran, dass Ihr von Nicci gefangen genommen und für nahezu ein Jahr verschleppt wurdet. Hätte ich Eurem Vater eine solche Enttäuschung bereitet, hätte er mich hingerichtet – aber nicht, bevor er mich um meinen Tod hätte betteln lassen, bis ich heiser wäre –, und zwar zu Recht. Ich habe keine geringere Strafe verdient, denn ich habe Euch im Stich gelassen.«

Schockiert starrte Richard sie an. »Aber Cara ... es war nicht Eure Schuld. Genau darauf zielte meine Frage doch ab. Ihr solltet Euch nur daran erinnern, dass Ihr Nicci gar nicht hättet daran hindern können.«

Sie ballte ihre Hände zu Fäusten. »Aber ich habe es nicht getan, obwohl es meine Pflicht gewesen wäre. Ich habe Euch im Stich gelassen.«

»Das ist nicht wahr, Cara. Nicci hatte Kahlan mit einem Bann verzaubert. Hätte einer von uns irgendetwas unternommen, um sie aufzuhalten, hätte sie Kahlan umgebracht.«

»Was!«, warf Nicci ein. »Wovon in aller Welt redest du da?«

»Ihr hattet Kahlan mithilfe eines Banns gefangen genommen. Dieser Bann verband Euch mit Kahlan und wurde unmittelbar über Euren Willen gesteuert. Wäre ich nicht mit Euch gegangen, hättet Ihr Kahlan jederzeit mit einem bloßen Gedanken töten können. Deswegen waren Cara und mir die Hände gebunden.«

Empört stemmte Nicci ihre Hände in die Hüften. »Und was für ein Bann, bitte schön, wäre deiner Meinung nach fähig, so etwas zu bewirken?«

»Ein Mutterschaftsbann.«

Nicci maß ihn mit leerem Blick. »Ein was?«

»Ein Mutterschaftsbann. Er schuf eine Verbindung zwischen Euch beiden, die bewirkte, dass alles, was Euch zustößt, ebenso ihr zustoßen würde. Hätten Cara oder ich Euch verletzt oder gar getötet, hätte Kahlan dasselbe Schicksal erlitten. Wir waren absolut machtlos. Ich musste tun, was immer Ihr wolltet, ich musste Euch begleiten, sonst wäre Kahlan gestorben, denn über die Verbindung dieses Banns hättet Ihr ihr jederzeit das Leben nehmen können. Stattdessen musste ich auch noch dafür sorgen, dass Euch nichts zustößt, da Kahlan sonst dasselbe Schicksal widerfahren wäre.«

Nicci schüttelte erst ungläubig den Kopf, dann wandte sie sich ohne ein Wort des Kommentars ab und starrte hinüber zu den Hügeln jenseits der Statue.

»Es war nicht Eure Schuld, Cara.« Er bog ihr Kinn nach oben, um sie zu zwingen, ihn trotz ihrer tränenfeuchten Augen anzusehen. »Keiner von uns beiden hätte irgendetwas tun können. Ihr habt mich nicht im Stich gelassen.«

»Meint Ihr nicht, dass ich Euch nur zu gerne glauben würde? Meint Ihr nicht, ich würde Euch glauben, wenn es tatsächlich so gewesen wäre?«

»Wenn Ihr Euch nicht erinnert, dass das, was ich Euch sage, tatsächlich so passiert ist«, stellte Richard die Gegenfrage, »wie hätte Nicci mich dann Eurer Meinung nach entführen können?«

»Mit Magie.«

»Ja, doch welche Art von Magie?«

»Das weiß ich nicht – ich bin schließlich keine Expertin in Fragen der Magie. Ich weiß nur, dass sie Magie benutzt hat, das ist alles.«

Er drehte sich herum und fragte Nicci: »Was war das für eine Magie? Wie habt Ihr mich gefangen genommen? Welchen Bann habt Ihr benutzt, und warum haben weder ich noch Cara Euch daran gehindert?«

»Richard, das ist jetzt ... wie lange her ... anderthalb Jahre? Wie soll ich mich da noch genau erinnern, welchen Bann ich benutzt habe, um dich gefangen zu nehmen? Übermäßig schwierig war es jedenfalls nicht, schließlich bist du weder in der Lage, deine Gabe zu beherrschen, noch dich gegen jemanden zur Wehr zu setzen, der darin über eine gewisse Erfahrung verfügt. Ich hätte dich mit einem magischen Knoten fesseln und dich auf den Rücken eines Pferdes binden können, ohne auch nur in Schweiß zu geraten.«

»Und warum hat Cara Euch nicht daran zu hindern versucht?«

»Weil ich dich«, erwiderte Nicci und gestikulierte verärgert, denn sie war gezwungen, sich die unerquicklichen Einzelheiten ins Gedächtnis zu rufen, »mithilfe meiner Talente handlungsunfähig gemacht hatte und sie genau wusste, dass ich dich, falls sie etwas unternähme, vorher töten würde – ganz einfach.«

»Das stimmt«, bestätigte Cara. »Nicci hatte Euch verzaubert, genau, wie sie sagt. Mir waren die Hände gebunden, weil sie Euch bedrohte. Hätte sie ihre Kraft gegen mich gerichtet, hätte ich ihre Gabe gegen sie wenden können, aber da sie sie gegen Euch gerichtet hatte, waren mir die Hände gebunden.«

Mit einem Finger wischte Richard sich den Schweiß von der Stirn. »Ihr seid darin ausgebildet, mit bloßen Händen zu töten. Wieso habt Ihr sie nicht wenigstens einfach mit einem Stein auf den Kopf geschlagen?«

»Weil du, wenn sie auch nur den Anschein erweckt hätte, irgendwas versuchen zu wollen, dadurch verletzt oder womöglich gar getötet worden wärst«, beantwortete Nicci seine Frage an Caras Stelle. »Aber anschließend hätte sich Cara Eurer bemächtigt«, erinnerte Richard die Hexenmeisterin. »Ich war damals willens und bereit, mein Leben zu opfern – es war mir einfach egal, wie du sehr wohl weißt.«

Richard wusste tatsächlich, dass sie im Großen und Ganzen die Wahrheit sprach. Nicci hatte dem Leben an sich damals keinen großen Wert beigemessen, nicht einmal ihrem eigenen – was sie zu einer überaus gefährlichen Frau machte.

»Mein Fehler war, dass ich Nicci nicht angegriffen habe, ehe sie sich Euch nähern konnte«, sagte Cara. »Hätte ich sie dazu bewegen können, mit ihrer Magie auf mich loszugehen, hätte ich sie überwältigen können – wie es die Pflicht einer Mord-Sith gewesen wäre. Aber stattdessen habe ich Euch im Stich gelassen.«

»Nein, das hättet Ihr nicht gekonnt«, wandte Nicci ein, »denn ich hatte Euch überrascht. Ihr habt nicht versagt, Cara. Manchmal hat man einfach keine Chance, und es gibt keine Lösung. Für Euch beide war dies so eine Situation. Ich hatte alle Fäden in der Hand.«

Es war aussichtslos. Kaum hatte er sie endlich in die Enge getrieben, schienen sie ihm mühelos wieder zu entwischen.

Richard stützte sich mit einer Hand an der Statue ab, während ihm die Gedanken durch den Kopf wirbelten und er zu ergründen versuchte, wie es dazu kommen konnte – woran es lag, dass sie alles vergessen hatten. Vielleicht, überlegte er, ließe sich das Problem ja lösen, wenn er wenigstens seine Ursache kannte. Und dann schoss ihm plötzlich ein Gedanke durch den Kopf, etwas über die Geschichte, die er ihnen ein paar Nächte zuvor in ihrem Unterschlupf erzählt hatte.

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