58

Angefangen hatte alles an jenem Morgen, wenige Augenblicke, bevor er, Richard, von dem Armbrustbolzen getroffen worden war, daher hatte er beschlossen, sich ganz auf diesen einen Vorfall zu konzentrieren und noch einmal ganz von vorne anzufangen. Zunächst hatte er die Ungeheuerlichkeit des Problems aus seinen Gedanken verbannt, um sich ganz auf die Lösung konzentrieren zu können. Haare raufen, der Versuch, andere von Kahlans Existenz zu überzeugen, oder die selbstquälerische Vorstellung, sie könnte sich in irgendjemandes Gewalt befinden, all das hatte ihn der Frage, wer dieser Jemand denn nun sein könnte, keinen Schritt näher gebracht. Das alles hatte bisher zu nichts geführt, und daran würde sich auch nichts ändern. Sogar die beiden Bücher, die er in dem kleinen Lesesaal entdeckt hatte, Gegendrauss und Theorie der Ordnung, hatte er erst einmal beiseite gelegt. Das erste war auf Hoch-D’Haran verfasst, und da er sich schon recht lange nicht mehr mit dieser alten Sprache befasst hatte, war ihm klar, dass er es sich nicht erlauben konnte, Zeit darauf zu verwenden. Eine kurze Überprüfung hatte ergeben, dass das Büchlein durchaus bemerkenswerte Informationen enthalten konnte, auf den ersten Blick aber hatte er nichts Wesentliches entdeckt. Zudem war er etwas aus der Übung, was Übersetzungen aus dem Hoch-D’Haran anbelangte. Ehe er die Zeit fände, sich damit zu befassen, mussten erst andere Dinge geklärt werden.

Das zweite Buch war schwierig zu lesen, insbesondere wenn man mit den Gedanken woanders war, dennoch hatte er den Anfang weit genug studiert, um zu erkennen, dass das Buch tatsächlich von den Kästchen der Ordnung handelte. Er konnte sich nicht erinnern, außer dem Buch der Gezählten Schatten, das er als Kind auswendig gelernt hatte, jemals ein Buch gesehen zu haben, das sich mit diesem Thema befasste. Das allein, von der ungeheuren Gefährlichkeit der Kästchen selbst ganz zu schweigen, verriet ihm, dass das Buch von unschätzbarem Wert sein musste. Aber die Kästchen waren im Moment nicht sein Problem, das Problem war Kahlan, also hatte er auch dieses Buch beiseite gelegt. Jede Beschäftigung mit diesen Schriften, ehe er ein wirkliches Verständnis der Geschehnisse gewonnen hätte, wäre nur weitere Zeitverschwendung. Er musste das Problem mit den Mitteln der Logik angehen, nicht mit vom Zufall bestimmten, ungestümen Versuchen, eine Antwort mehr oder weniger aus dem Nichts hervorzuzaubern. Was immer der Grund für Kahlans Verschwinden sein mochte, alles hatte an besagtem Morgen unmittelbar vor dem Kampf angefangen, in dessen Verlauf er von diesem vermaledeiten Bolzen getroffen worden war. Als er am Abend vor dem Kampf in sein Bettzeug geschlüpft war, war Kahlan noch bei ihm gewesen, dessen war er sich absolut sicher. Er erinnerte sich, sie in den Armen gehalten zu haben, er erinnerte sich an ihren Kuss, an ihr Lächeln in der Dunkelheit. All das war keine Einbildung.

Und dann endlich besann er sich auf die tatsächlich vorhandenen Beweise: die Frage ihrer Spuren. Auch wenn er anderen das lebenslängliche Studium nicht begreiflich machen konnte, das nötig war, um die Bedeutung dessen zu verstehen, was er beim Anblick von Spuren sah, so wusste er doch sicher, was diese Beweise auf dem Boden des Waldes ihm enthüllt hatten. Spuren hatten eine ganz eigene Sprache, eine Sprache, die andere vielleicht nicht verstanden, aber er verstand sie. Kahlans Spuren waren, und zwar ganz ohne Frage, mit Magie verwischt worden, und zurückgeblieben waren ein Waldboden von übertrieben künstlicher Unberührtheit sowie, noch wichtiger, ebenjener von ihm entdeckte Stein, der durch einen Fußstoß aus seiner ursprünglichen Lage gebracht worden war. Dieser Stein war für ihn der Beweis, dass er Recht hatte, der ihm sagte, dass er sich nicht irgendetwas einbildete.

Jetzt galt es herauszufinden, was Kahlan zugestoßen war – mit anderen Worten, wie sich ihre Entführung abgespielt hatte. Wer auch immer es getan hatte, besaß Magie, so viel meinte er sicher zu wissen. Das ergab sich schon aus der Art, wie die Spuren verwischt worden waren. Damit war der Kreis der möglichen Verdächtigen eingegrenzt: Es musste jemand sein, der magische Kräfte besaß und von Jagang geschickt worden war.

Richard erinnerte sich, wie er an besagtem Morgen aus tiefstem Schlaf gerissen worden war und auf der Seite gelegen hatte, unfähig, die Augen länger als für einen kurzen Moment offen zu halten, außerstande, den Kopf zu heben. Was mochte der Grund dafür gewesen sein? Gewiss nicht, dass er noch im Halbschlaf und deshalb benommen war, dafür war das Gefühl viel zu übermächtig gewesen. Es war durchaus eine Art Schläfrigkeit gewesen, nur halt wesentlich stärker.

Der Teil seiner Erinnerung jedoch, der ihn quälend, frustrierend nah an den Rand des Begreifens herangeführt hatte, bestand aus verschwommenen Eindrücken in der nahezu undurchdringlichen Dunkelheit kurz vor Einbruch der Dämmerung, als er dagelegen und versucht hatte, endgültig wach zu werden. Und auf diesen Teil der Erinnerung richtete er jetzt sein ganzes Augenmerk, sein Denken, seine Konzentration. Noch einmal rief er sich die schattenhaften Äste ins Gedächtnis, die sich zu bewegen schienen, als würden sie vom Wind hin und her bewegt.

Nur war an diesem Morgen gar kein Wind gegangen, in diesem Punkt waren sich alle einig. Er erinnerte sich selbst noch gut, wie totenstill die Luft gewesen war. Und doch hatten sich die dunklen Schatten der Äste bewegt. Da schien ein Widerspruch vorzuliegen.

Aber wie Zedd anhand des neunten Gesetzes der Magie hervorgehoben hatte, waren Widersprüche nicht möglich. Die Realität ist, was sie ist – stünde etwas mit sich selbst im Widerspruch, wäre es nicht mehr, was es ist. Das war ein grundlegendes Gesetz allen Seins. In der Realität waren Widersprüche nicht möglich. Die großen Äste der Bäume konnten nicht aus eigener Kraft in Schwingungen geraten sein, und es war ja kein Wind gegangen, der sie hätte bewegen können.

Mit anderen Worten: Er war das Problem von der völlig falschen Seite angegangen. Statt sich von diesen im Wind schwankenden Ästen verblüffen zu lassen, obwohl gar kein Wind gegangen war, hätte er die simple Tatsache berücksichtigen müssen, dass so etwas nicht möglich war. Also hatte sie möglicherweise jemand in Bewegung versetzt.

Richard hielt in seinem Auf-und-ab-Gehen inne und blieb stehen. Vielleicht waren es aber auch gar nicht die Äste der Bäume gewesen, die sich bewegt hatten. Er hatte eine schattenhafte Bewegung wahrgenommen und angenommen, es handele sich um Äste; aber vielleicht war es ja etwas ganz anderes gewesen.

Diese eine einfache Erkenntnis ließ ihm plötzlich ein Licht aufgehen! Er stand da wie erstarrt, die Augen aufgerissen, unfähig, sich von der Stelle zu rühren, als die Abfolge der Geschehnisse und die bruchstückhaften Erinnerungsfetzen jenes Morgens sich in seinem Verstand plötzlich zu einem Bild fügten, zu dem Gerüst des Verständnisses dessen, was an jenem Morgen geschehen war. Jemand hatte Kahlan entführt, vermutlich unter Verwendung irgendeiner Art Bann, wie man auch ihn in seinem Dämmerschlaf gehalten hatte, anschließend ihre Sachen zusammengesucht und das Lager aufgeräumt, um alle Spuren ihrer Anwesenheit zu verwischen. Das war die Bewegung gewesen, an die er sich erinnerte. Es waren also keinesfalls irgendwelche im Wind hin und her schwingenden Äste gewesen, sondern Personen. Mit der Gabe gesegnete Personen.

Richard sah einen roten Lichtschein aufleuchten. Als er darauf den Kopf hob, betrat Nicci soeben den kleinen Raum.

»Ich muss dich dringend sprechen, Richard.«

Er starrte sie an. »Verstehe. Übrigens, ich weiß jetzt, was die vierköpfige Viper zu bedeuten hat.«

Nicci wandte den Blick ab, so als ertrage sie es nicht, ihm in die Augen zu sehen. Sofort war ihm klar, dass sie glaubte, er wolle seine Wahnvorstellung bloß um eine weitere Ebene bereichern. »Hör zu, Richard, es ist wichtig.«

Er sah sie an, und eine Falte bildete sich auf seiner Stirn. »Habt Ihr etwa geweint?«

Ihre Augen waren rot und aufgequollen, dabei gehörte Nicci durchaus nicht zu der Sorte Frau, die zu Tränen neigte. Gewiss, er hatte sie schon weinen sehen, aber wenn, dann nur aus sehr gutem Grund. »Schon gut«, erwiderte sie. »Du musst mir jetzt zuhören.«

»Und ich sage Euch, Nicci, ich habe herausgefunden ...«

»Hör mir zu!« Sie hatte die Fäuste geballt und sah aus, als könnte sie jeden Moment erneut in Tränen ausbrechen. Ihm wurde klar, dass er sie noch nie auch nur annähernd so aufgewühlt gesehen hatte. Eigentlich wollte er nicht noch mehr Zeit verschwenden, doch dann entschied er, dass es die Dinge womöglich beschleunigen könnte, wenn er sie sagen ließ, was sie zu sagen hatte. »Also gut, ich höre.«

Nicci trat ganz nah zu ihm hin, fasste ihn bei den Schultern und blickte ihm mit ernster Miene in die Augen. Auf ihrer Stirn hatten sich tiefe Falten gebildet.

»Du musst von hier fort, Richard.«

»Was?«

»Ich habe Cara schon beauftragt, deine Sachen zusammenzusuchen, sie wird sie dir jeden Moment bringen. Sie behauptet, den Weg hierher zu kennen, jedenfalls bis hinunter in den Turm, ohne irgendwelche Schilde passieren zu müssen.«

»Ich weiß, ich selbst habe ihn ihr vor einiger Zeit gezeigt.« Richards Gefühl innerer Unruhe wuchs. »Was ist eigentlich los? Wird die Burg etwa angegriffen? Ist Zedd wohlauf?«

Es war beinahe eine mitleidige Geste, als Nicci ihm die Hand an die Wange legte. »Richard, die anderen sind fest entschlossen, dich von deinen Wahnvorstellungen zu heilen.«

»Kahlan ist keine Wahnvorstellung. Eben gerade habe ich herausgefunden, was in Wahrheit vorgefallen ist.«

Sie schien überhaupt keine Notiz davon zu nehmen, was er sagte, vielleicht ignorierte sie seine Bemerkung aber auch, weil sie sie für nichts anderes als einen weiteren aus einer langen Reihe von Versuchen hielt, das Unmögliche zu beweisen. Nur war er diesmal gar nicht daran interessiert, ihr etwas zu beweisen. »So hör doch, Richard, du musst von hier verschwinden. Sie wollen, dass ich deine Erinnerung an Kahlan mithilfe subtraktiver Magie aus deinem Gedächtnis lösche.«

Richard blinzelte verblüfft. »Ihr wollt sagen, Ann und Nathan wollen das. Zedd würde so etwas niemals tun.«

»Doch, auch Zedd. Sie haben ihn davon überzeugt, dass du krank bist und die einzige Möglichkeit, dich zu heilen, darin besteht, jenen Teil deiner Gedanken zu entfernen, der für deine falschen Erinnerungen verantwortlich ist. Sie haben ihm eingeredet, die Zeit werde allmählich knapp, und dies sei die einzige Möglichkeit, dich zu retten. Es bricht Zedd fast das Herz, dich in diesem Zustand zu sehen, deshalb hat er die seiner Meinung nach vielleicht einzige Chance, dich wieder gesund zu machen, sofort beim Schopf ergriffen.«

»Und damit wart Ihr einverstanden?«

Empört verpasste sie ihm einen Klaps gegen die Schulter. »Hast du den Verstand verloren? Glaubst du wirklich, ich würde dir das antun? Selbst wenn ich der Meinung wäre, sie hätten Recht, glaubst du allen Ernstes, ich würde jemals in Erwägung ziehen, einen Teil dessen zu entfernen, was dich ausmacht – nach allem, was du mir über das Leben beigebracht hast, nachdem du mich wieder dazu gebracht hast, das Leben mit offenen Armen anzunehmen? Glaubst du wirklich, ich würde dir das antun, Richard?«

»Nein, natürlich glaube ich das nicht. Aber warum sollte Zedd so etwas tun? Er liebt mich.«

»Sicher. Aber gleichzeitig hat er fürchterliche Angst um dich, Richard, Angst, diese Wahnvorstellung, diese Hexerei oder was immer die Krankheit verursacht haben mag, die dich zwar am Leben, aber nicht mehr du selbst sein lässt und die im Begriff ist, dich in einen Fremden zu verwandeln, den sie nicht kennen, könnte vollends von dir Besitz ergreifen.

Zedd spürt, es könnte die einzige Chance sein, dich wieder gesund zu machen, dich wieder zu Richard, dem wahren Richard, zu machen. Ich glaube, im Grunde will es keiner von ihnen wirklich – weder Ann noch Nathan oder Zedd – andererseits ist Ann der festen Überzeugung, dass du der Einzige bist, der unsere Sache retten kann. Sie glaubt fest daran, dass dies in den Prophezeiungen als unsere einzige Chance offenbart wurde, weshalb sie alles daransetzt, dich wieder gesund zu machen, damit wir nicht alle verloren sind. Erst wollte Zedd nicht recht, aber dann haben sie ihm eine Nachricht in dem Reisebuch gezeigt und ihn schließlich überredet.«

»Was für eine Nachricht?«

»Verna, die derzeit bei den d’Haranischen Truppen weilt, hat uns davon unterrichtet, dass sich unter unseren Soldaten allmählich eine gewisse Mutlosigkeit breit macht, weil du noch nicht zu ihnen gestoßen bist. Sie fürchtet, wenn du nicht bei ihnen bist, um ihre Führung zu übernehmen, könnten sie beschließen, alles hinzuwerfen. Deshalb fragt sie in einer verzweifelten Anfrage nach, ob Ann dich inzwischen gefunden hat. Offenbar will sie in Erfahrung bringen, ob damit zu rechnen ist, dass du in der bevorstehenden Schlacht gegen die Imperiale Ordnung zu deinen Leuten stoßen wirst.«

Richard war wie vom Donner gerührt. »Ich habe ja durchaus Verständnis dafür, dass die drei besorgt sind, aber Euch zu bitten, mithilfe subtraktiver Magie ...«

»Ich weiß. Meiner Meinung nach ist es ein eher aus Verzweiflung denn aus klarer Überlegung geborener Entschluss. Viel schlimmer aber ist, ich fürchte, wenn sie dahinter kommen, dass ich gar nicht die Absicht habe, ihrer Bitte zu entsprechen, werden sie daraus schließen, dass sie sich diese Gelegenheit keinesfalls entgehen lassen dürfen, sodass ihre einzige Alternative sein wird, sich irgendwie ihrer Gabe zu bedienen, um dich mit ihren Mitteln zu heilen. Und die Folgen eines solch unbesonnenen Herumdokterns am Bewusstsein eines Menschen wären, vorsichtig ausgedrückt, unvorhersehbar. Ihre Verzweiflung rührt daher, dass sie befürchten, uns könnte die Zeit davonlaufen, ehe Jagang unsere Chance endgültig zunichte macht. Ihrer Meinung nach ist dies die einzige Lösung, mit Vernunft ist ihnen nicht mehr beizukommen. Du musst fort von hier, Richard. Ich habe ihrem Plan nur zugestimmt, um dich vorher noch warnen und dir Zeit zur Flucht geben zu können. Wenn du ihnen entwischen willst, musst du dich augenblicklich auf den Weg machen.«

Schon bei dem bloßen Gedanken, was sie mit ihm vorhatten, drehte sich Richard der Kopf. »Das ist mit einer gewissen Schwierigkeit verbunden, ich weiß nämlich nicht, wie ich meine Spuren ohne Magie verwischen soll, so wie Zedd dies kann. Wenn sie tatsächlich so wild entschlossen sind, wie Ihr behauptet, werden sie mich mit Sicherheit verfolgen. Und wenn sie das tun und mich dabei überraschend überwältigen, wie soll ich mich dann verhalten? Mich etwa gegen sie wehren?«

Verzweifelt hob sie ihre Arme. »Das kann ich dir nicht sagen, Richard, ich weiß nur, wie absolut entschlossen sie sind. Was immer du vorbringst, es wird sie nicht davon abbringen, denn sie denken, dass es dir in deinem Zustand gar nicht möglich ist, vernünftig zu handeln, weshalb sie glauben, die Dinge zu deinem Besten selbst in die Hand nehmen zu müssen. Mag sein, dass sie aus Liebe zu dir so handeln, trotzdem ist es falsch. Bei den Gütigen Seelen, Richard, ich glaube ja auch, dass du an irgendeiner Störung leidest, aber ich konnte doch nicht einfach zulassen, dass sie so etwas tun.«

Er drückte ihr die Schulter zum Zeichen seiner Dankbarkeit, dann wandte er sich ab, um das alles erst einmal gedanklich zu ordnen. Für ihn war es nahezu unvorstellbar, dass Zedd einem solchen Vorhaben zustimmte, es sah ihm einfach überhaupt nicht ähnlich.

Sah ihm nicht ähnlich.

Natürlich. Ebenso wenig sah es Ann ähnlich, mit dieser Hartnäckigkeit darauf zu beharren, er müsse notfalls gezwungen werden, an seiner in den Prophezeiungen vorgegebenen Rolle bis zum Ende festzuhalten. Seit Kahlans Verschwinden hatten sich alle verändert! Selbst Zedd, und das nicht unbedingt auf eine Weise, die in irgendeiner Hinsicht hilfreich war. Selbst Cara hatte sich verändert. Sie war zwar noch immer genauso beschützend, aber jetzt auf eine eher ... weibliche Art. Und auch Nicci hatte sich verändert, wenngleich er das Ergebnis in ihrem Fall als eher positiv empfand – jedenfalls von seinem Standpunkt aus betrachtet. Sie hatte alles vergessen, was irgendwie mit Kahlan zu tun hatte, und dies hatte dazu geführt, dass sie ihn, ihren eigenen Ansichten und Interessen zum Trotz, noch mehr in Schutz nahm als zuvor und ihre Bereitschaft, sich für ihn einzusetzen, noch gewachsen war. Ihre Verehrung für ihn hatte enorm zugenommen und mit ihr die Entschlossenheit, ihn gegen jede Gefahr abzuschirmen.

Zedds Veränderung dagegen bot Anlass zu größter Sorge, und auch Anns tyrannischer Zug hatte sich verstärkt, sodass sie eine deutlich gesteigerte Bereitschaft an den Tag legte, sich unmittelbar in Richards Entscheidungen einzumischen und ihm ihre Ansichten aufzunötigen, wie er sich ihrer Meinung nach zu verhalten habe ... Er wandte sich wieder herum zu Nicci.

»Das hätte kaum zu einem unpassenderen Zeitpunkt passieren können. Ich bin gerade dahinter gekommen: Bei der Viper mit den vier Köpfen kann es sich nur um die Schwestern der Finsternis handeln.«

»Die Schwestern, die Jagang gefangen hält?«

»Nein – meine ehemaligen Ausbilderinnen, die Schwestern Tovi, Cecilia, Arminia sowie ihre Anführerin, Schwester Ulicia. Schwester Ulicia war es auch, die damals alle meine Ausbilderinnen ernannt hat, Euch eingeschlossen.«

»Richard, das ist doch einfach verrückt. Ich weiß gar nicht...«

»Nein, das ist es keineswegs. An besagtem Morgen, als sich nicht das geringste Lüftchen regte, meinte ich, die Äste sich bewegen zu sehen, tatsächlich jedoch waren es gar nicht die Äste, sondern eben jene Schwestern, die bei nahezu völliger Dunkelheit durch das Lager schlichen.«

»Aber Jagang hat alle Schwestern der Finsternis in seiner Gewalt.«

»Nein, eben nicht.«

»Er ist ein Traumwandler, Richard. Die Schwestern des Lichts, die frei sind, stehen aufgrund der Bande zu dir nicht unter seinem Einfluss, aber diese Schwestern hat er gefangen genommen – ich war schließlich selbst dabei, als es Jagang gelang, uns in seine Gewalt zu bringen. Es sind Schwestern der Finsternis, und ohne die Bande sind sie dem Traumwandler hilflos ausgeliefert. In meinem Fall waren es meine ... Gefühle für dich, die mich mit dir verbanden und die es mir ermöglichten, mich seinem Einfluss zu entziehen. Aber genau das ist ihnen nicht möglich, sie sind dir nicht treu ergeben und könnten es auch gar nicht sein.«

»Oh doch, das können sie durchaus. Sie haben mir den Treueschwur der Bande geschworen.«

»Was! Das ist völlig ausgeschlossen.«

Richard schüttelte den Kopf. »An dem Tag, als es passierte, wart Ihr doch gar nicht bei ihnen. Jagangs Truppen waren im Begriff, den Palast der Propheten einzunehmen. Schwester Ulicia und meine ehemaligen Ausbilderinnen – mit Ausnahme von Euch, da ihr Euch abgesetzt hattet, sowie Liliana, die nicht mehr lebt wussten, wo Kahlan gefangen gehalten wurde. Sie wollten sich aus Jagangs Herrschaft befreien und unterbreiteten mir ein Angebot: Kahlans Aufenthaltsort im Tausch gegen die Möglichkeit, mir die Treue zu schwören, um sich dadurch aus der Gewalt des Traumwandlers zu befreien.«

Nicci musste so viele Einwände unterdrücken, dass sie kurz vor einem Schlaganfall stand. Die Idee erschien ihr so abwegig, dass sie offenbar nicht einmal wusste, wo sie beginnen sollte. Also atmete sie einmal tief durch, um die Kontrolle über ihre sich überschlagenden Vorbehalte zu gewinnen. »Richard, du musst einfach aufhören, ständig solche blühenden Fantasien zum Besten zu geben, die nicht einmal zu deiner eigenen Geschichte passen. Diese Viper, wie du herausgefunden zu haben glaubst, müsste in Wahrheit nämlich fünf Köpfe besitzen. Du hast Merissa vergessen.«

»Keineswegs, nur lebt sie nicht mehr. Sie war hinter mir her und hat versucht, mich umzubringen. Ja, sie sprach immer davon, sie wolle in meinem Blut baden.«

Nachdenklich ließ Nicci eine Strähne ihres Haars zwischen Daumen und Zeigefinger hindurchgleiten. »Na ja, zugegeben, ich selbst habe sie diesen Schwur oft äußern hören.«

»Und sie hat auch versucht, ihn in die Tat umzusetzen. Sie war Kahlan und mir durch die Sliph gefolgt. Am Ziel angekommen, nahm ich das Schwert der Wahrheit, das sich mit dem Leben in der Sliph nicht verträgt, wieder an mich, und durchbohrte sie damit, ehe sie hinausklettern konnte. Sie starb noch in der Sliph. Von den Schwestern der Finsternis, die mir damals die Treue geschworen haben, leben nur noch vier – und diese Schwestern sind besagte vierköpfige Viper. Sie sind es, die an jenem Morgen gekommen sind, um Kahlan zu entführen. Sie haben mich mithilfe ihrer Magie mit einem Bann belegt, damit ich nicht ohne weiteres aufwachte wobei der Bann, den sie benutzten, irgendetwas Einfaches gewesen sein muss, etwas, das meine Schläfrigkeit verstärkte etwa, damit ich nicht merkte, dass ich unter dem Einfluss magischer Kräfte stand. Und der Ruf des einsamen Wolfes kam auch nicht von einem Wolf, sondern war ein Signal der bereits im Anmarsch befindlichen Truppen. Ich habe ihn wegen des Banns nicht als das erkannt, was er war der Bann hatte mich so schlaftrunken gemacht, dass ich nicht klar denken konnte, trotzdem war mir sofort klar, dass irgendetwas daran seltsam war. Anschließend haben die Schwestern ihre Spuren mithilfe von Magie verwischt. Sie waren es, die Kahlan entführt haben.«

Nicci raufte sich mit beiden Händen ihr volles Haar. »Aber es sind Schwestern der Finsternis, sie können nicht gleichzeitig dir und dem Hüter über die Bande verbunden sein. Schon der Gedanke ist vollkommen verrückt!«

»Das dachte ich ursprünglich auch, bis Schwester Ulicia mich darauf brachte, dass ich es nur aus meinem Blickwinkel betrachtete. Sie wollte mir die Treue schwören, und im Gegenzug sollte ich Gelegenheit erhalten, sie nach Kahlans Aufenthaltsort zu fragen. Aus Respekt zu ihrem Treueschwur verpflichteten sie sich, die Frage wahrheitsgemäß zu beantworten; anschließend wollten sie gleich aufbrechen. Sollte ich mich nach mehr als diesem einen Punkt erkundigen, würde das als Bruch unserer Übereinkunft angesehen, und wir wären alle wieder da, wo wir angefangen hatten – sie wären weiterhin Untertanen Jagangs, und Kahlan eine Gefangene. Schwester Ulicia erklärte mir, sie würden unmittelbar im Anschluss an den Treueschwur und meine eine Frage aufbrechen. Sie bekamen ihren Treueschwur, und ich bekam Kahlan. «

»Aber es sind Schwestern der Finsternis!«

»Schwester Ulicia erklärte, wenn sie mich danach nicht bewusst zu töten versuchten, würden sie das eindeutig als zu meinen Gunsten sprechend betrachten. Damit stand dies in ihren Augen in Einklang mit den Bedingungen der Bande, denn natürlich war es mein Wunsch, nicht getötet zu werden. Folglich würden die Bande zu mir nicht verletzt.«

Eine Hand auf der Hüfte, wandte Nicci sich ab. »Auf verschrobene Weise ergibt das tatsächlich einen Sinn. Schwester Ulicia ist mehr als verschlagen; das entspricht genau ihrer Art zu denken.«

Sie wandte sich wieder herum. »Was rede ich da? Jetzt fängst du schon an, mich in deine Wahnvorstellungen hineinzuziehen. Hör auf damit, Richard. Sieh doch, du musst von hier verschwinden, und zwar sofort. Komm jetzt. Cara muss mit deinen Sachen jeden Augenblick hier sein.«

Natürlich wusste er, dass Nicci Recht hatte. Er konnte Kahlan unmöglich finden, wenn er sich ständig darum sorgen musste, wie er sich drei Menschen vom Leib halten konnte, welche die Gabe besaßen, sich ihrer bestens zu bedienen wussten und deren Ziel es war, sein ganzes Denken umzukrempeln. Sie würden ihm kaum Gelegenheit lassen, irgendwelche Erklärungen abzugeben, zumal er es mit Erklärungen schon oft genug versucht hatte – genützt hatte es nichts.

Höchstwahrscheinlich würden die drei ganz einfach tun, was sie glaubten, tun zu müssen – ohne jede Vorwarnung.

Daher war die Vorstellung auch gar nicht so abwegig, dass Zedd jetzt bereit war, seine Erinnerung an Kahlan mithilfe von Magie auszulöschen – eine Erinnerung, die Zedd für eine Krankheit hielt, die nicht nur ihm, Richard, schadete, sondern auch ihrer Sache – und damit Millionen Menschenleben in Gefahr brachte. »Ich denke, Ihr habt Recht«, räumte Richard schließlich entmutigt ein. »Sie werden mich aufzuhalten versuchen.« Er nahm die beiden schmalen Bücher auf, die auf dem Tisch lagen, und stopfte sie in eine seiner Taschen. »Ich denke, wir sollten zusehen, dass wir von hier verschwinden, ehe sie Gelegenheit dazu erhalten.«

»Wir? Du willst, dass ich dich begleite?«

Richard hielt inne und zuckte unsicher mit den Achseln. »Nicci, Ihr und Cara seid die beiden einzigen Freunde, die mir im Augenblick noch geblieben sind. Ihr wart zur Stelle, um mir zu helfen, als ich am dringendsten Hilfe brauchte. Ich kann es mir nicht erlauben, geschätzte Freunde zurückzulassen, wo ich doch gerade erst dahinter komme, was tatsächlich gespielt wird. Wenn es so weit ist, könnte es sein, dass ich auf Eure Hilfe angewiesen bin, und wenn nicht, wüsste ich Euch wegen Eures guten Rats und der Unterstützung, die Ihr mir gebt, gern in meiner Nähe. Das heißt, natürlich nur, wenn Ihr bereit seid mitzukommen. Ich würde Euch niemals zwingen, aber ich sähe es eben gern.«

Nicci lächelte ihr seltenes, ganz eigenes Lächeln, jenes Lächeln, in dem sich zeigte, welch edelmütige Frau sie in Wahrheit war, jenes Lächeln, das er zum ersten Mal bei ihr bemerkt hatte, als sie das Leben lieben lernte.

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