63

Der Raum, in dem sie sich nach der Reise befanden, war durch Schilde gesichert. Richard zog sie und Cara durch den mächtigen Schild, dann hasteten sie einen marmornen Flur entlang und durch eine mit Silber beschlagene Doppeltür, in deren Metallverkleidung die reliefartige Darstellung eines Sees eingearbeitet war. »Ich kenne diesen Ort«, meinte Cara. »Jetzt weiß ich, wo wir sind.«

»Gut. Dann übernehmt Ihr die Führung. Und bitte, beeilt Euch.«

Es gab Augenblicke, da wünschte sich Nicci fast, sie hätte sich mit Zedds, Anns und Nathans Plan, ihm die Erinnerung an diese Kahlan auszutreiben, einverstanden erklärt – wäre da nicht dieser Zwischenfall gewesen. Drüben, in Caska, hatte sie diese Hypothese an einem der Soldaten Jagangs ausprobiert und versucht, die Erinnerung des Mannes an den Kaiser mithilfe subtraktiver Magie zu löschen. Im Grunde, so schien es, eine ganz einfache Geschichte. Sie war exakt so vorgegangen, wie sie es auf Drängen der drei bei Richard hätte machen sollen. Allerdings war dabei ein Problem aufgetreten: Der Mann war ums Leben gekommen, und zwar auf höchst barbarische Weise.

Bei dem Gedanken, dass sie Richard um ein Haar dasselbe angetan hätte, dass sie sich fast hätte überreden lassen und einen kurzen Augenblick lang sogar fest entschlossen gewesen war, hatte sie auf einmal ein solches Schwäche- und Schwindelgefühl überkommen, dass sie sich neben dem toten Soldaten hatte auf die Erde setzen müssen. Cara hatte schon geglaubt, sie würde das Bewusstsein verlieren. »Hier entlang.« Cara führte sie eine Treppe hinauf, die in einen breiten, teilweise mit Glas überdachten Flur mündete. Durch das Glasdach fiel rötliches Licht herein, demnach war es entweder kurz vor Sonnenuntergang oder kurz nach Anbruch der Morgendämmerung, Nicci konnte es nicht genau erkennen. Es war überaus verwirrend, nicht zu wissen, ob es Tag oder Nacht war.

Auf den Fluren wimmelte es nur so von Menschen. Viele blieben stehen, um die drei durch den Flur hastenden Fremden anzugaffen, was auch den Wachen nicht verborgen blieb, die sogleich, die Hände an den Waffen, angelaufen kamen – bis sie Cara in ihrem roten Lederanzug bemerkten. Nicht wenige erkannten Richard wieder und ließen sich, als er vorüberrannte, gesenkten Hauptes auf ein Knie fallen, doch er drosselte nicht einmal sein Tempo, um ihren Gruß zu erwidern.

Immer höher hinauf ging es, durch eine Schwindel erregende Abfolge von Fluren und zu überquerenden Brücken und Galerien, zwischen Säulen hindurch und durch irgendwelche Gemächer. Ab und zu hasteten sie eine weitere Treppe hinauf, und manchmal führte Cara sie, zweifellos in der Absicht, den Weg abzukürzen, sogar durch Flure, die normalerweise Dienstboten vorbehalten waren.

Nicci konnte nicht umhin, die beeindruckende Pracht des Palasts zu bemerken, seine beispiellose Schönheit. Die zu Mustern angeordneten Steinfußböden waren ungewöhnlich präzise verlegt, überall gab es eindrucksvolle Statuen zu bestaunen – keine davon ganz so überragend wie jene, die Richard einst in Stein gemeißelt hatte, aber nichtsdestoweniger beeindruckend ...

»Hier entlang«, sagte Cara unvermittelt und deutete auf einen Gang, auf den sie mit hastigen Schritten zuhielt. Als sie an eine Doppeltür aus Mahagoni gelangten, deren Schlangenschnitzereien Nicci sofort mit Abscheu erfüllten, bremste Cara schlitternd ab. Ohne zu zögern, packte Richard einen der Türgriffe, einen bronzenen Schädel, und zog die Tür mit einem Ruck auf.

Die vier Gardisten im Innern des stillen, mit Teppichen ausgelegten Gemachs sprangen sofort auf, um sich ihm in den Weg zu stellen. Dann erblickten sie Cara, und ihr Blick wanderte unschlüssig noch einmal zurück zu Richard.

»Lord Rahl?«, fragte einer verunsichert.

»Allerdings«, fauchte Cara den Soldaten an. »Und jetzt gebt endlich den Weg frei.«

Die Soldaten traten augenblicklich zur Seite und schlugen sich die Faust vors Herz.

»Gab es in der letzten Zeit irgendwelche Vorkommnisse?«, erkundigte sich Richard, nach Atem ringend. »Vorkommnisse?«

»Ja, irgendwelche Eindringlinge? Hat jemand sich heimlich hier hereingeschlichen?«

Dem Mann entfuhr ein freudloses Lachen. »Wohl kaum, Lord Rahl. Und wenn, dann hätten wir es bemerkt und zu verhindern gewusst.«

Richard dankte ihm mit einem Nicken und lief zur Marmortreppe hinüber, wobei er Nicci fast den Arm ausrenkte. Am oberen Treppenabsatz kamen ihnen bereits Soldaten entgegengelaufen, die mit rot gefiederten Bolzen bestückten Armbrüste einsatzbereit in den Händen. Sie wussten nicht, dass sie Lord Rahl vor sich hatten, in ihren Augen unternahm soeben jemand den Versuch, in den verbotenen Bereich einzudringen. Nicci konnte nur hoffen, dass sie rechtzeitig wieder zur Besinnung kamen, ehe einer der Männer sich zu einer unbedachten Handlung hinreißen ließ. Doch dann erkannte sie an ihrer Reaktion, dass diese Männer bestens ausgebildet waren und wohl kaum dazu neigten, um sich zu schießen, ehe sie sich ihres Zieles sicher waren. Und das war auch ihr Glück, denn sie wäre schneller gewesen.

»Kommandant General Trimack?«, rief Richard, als sich ein Offizier einen Weg durch den waffenstarrenden Ring bahnte, der sich um sie gebildet hatte.

Der Mann straffte sich und schlug sich mit der Faust vors Herz. »Lord Rahl!« Dann erblickte er die Mord-Sith. »Cara?«

Cara begrüßte ihn mit einem Nicken.

Richard fasste sich mit ihm bei den Unterarmen. »General, offenbar ist hier jemand eingedrungen. Und dieser Jemand hat die Kästchen aus dem Garten des Lebens entwendet.«

Einen Moment lang war der General sprachlos. »Was? Völlig ausgeschlossen, Lord Rahl. Ihr müsst Euch irren. Niemand kommt unbemerkt an uns vorbei. Hier oben ist es schon seit einer Ewigkeit vollkommen ruhig, wir hatten gerade mal einen einzigen Besucher.«

»Einen Besucher? Wen?«

»Die Prälatin, Verna. Aber das ist schon eine ganze Weile her. Sie weilte im Palast, weil sie, wie sie sagte, irgendetwas im Zusammenhang mit Schriften über Magie nachschlagen wollte. Und da sie schon einmal im Palast war, wollte sie sich mit eigenen Augen davon überzeugen, dass die Kästchen sicher untergebracht seien.«

»Demnach habt Ihr sie also hineingelassen?«

Ein Anflug von Empörung ging über die Züge des Generals, und sein Gesicht wurde so rot, dass seine lange weiße Narbe deutlich hervortrat.

»Ich würde selbstverständlich niemals zulassen, dass sie diesen Raum betritt, Lord Rahl. Letztendlich einigten wir uns darauf, die Türen zu öffnen, sodass sie einen Blick hineinwerfen und sich überzeugen konnte, dass alles in Ordnung ist.«

»Einen Blick hineinwerfen?«

»Ganz recht. Wir umgaben sie mit einem Ring aus Wachen, die alle diese speziellen Pfeile auf sie gerichtet hatten – Pfeile, mit denen Nathan Rahl uns ausgerüstet hatte, Pfeile, die sogar die mit der Gabe Gesegneten aufzuhalten vermögen. Wir hatten sozusagen einen Ring aus Stahl um sie gelegt. Die arme Frau sah aus, als könnte sie sich jeden Moment in ein Nadelkissen verwandeln.«

Die umstehenden Soldaten bestätigten die Darstellung ihres Vorgesetzten mit allgemeinem Nicken. »Sie warf einen Blick in den Garten und erklärte, sie sei erleichtert, dass alles in bester Ordnung sei. Anschließend habe ich mich selbst davon überzeugt und die Kästchen auf der Steinplatte auf der anderen Seite des Raumes stehen sehen, aber ich schwöre, ich habe die Frau nie auch nur einen Schritt über die Türschwelle setzen lassen.«

Richard stieß einen tiefen Seufzer aus. »Und das war alles? Sonst hat niemand diese Türen geöffnet?«

»Nein, Lord Rahl. Außer meinen Männern war noch nicht einmal jemand hier oben – niemand. Sogar die Flure rings um den Garten des Lebens sind für die Öffentlichkeit gesperrt. Wie Ihr Euch vielleicht erinnert, habt Ihr bei Eurem letzten Besuch hier sehr nachdrücklich darauf bestanden.«

Richard, in Gedanken, nickte. Dann sah er auf. »Also gut, überzeugen wir uns selbst.«

Unter dem Geklirr ihrer Waffen und Rüstungen folgten die Soldaten den überraschenden Besuchern durch den Flur aus poliertem Granit, bis sie vor eine massive, mit Gold beschlagene Eichentür gelangten. Ohne abzuwarten, ob jemand anders dies übernahm, riss Richard einen der schweren Türflügel auf und trat in den Raum hinein. Die Gardisten blieben an der Tür zurück. Dies war offenkundig geweihter Boden, ein allein dem Herrscher des Palasts vorbehaltenes Heiligtum, in das keiner von ihnen jemals ohne ausdrückliche Aufforderung des Lord Rahl einen Fuß setzen würde. Und Richard dachte nicht daran; stattdessen stürzte er allein los.

Obwohl hundemüde, eilte Nicci ihm hinterher, als er einen zwischen mehreren Blumenbeeten hindurchführenden Pfad entlanghastete. Durch das verglaste Dach konnte sie sehen, dass der Himmel eine dunklere, violette Färbung angenommen hatte, demnach war es also Abend und nicht etwa die Morgendämmerung. Wie Richard auch schenkte Nicci den mit Schlingpflanzen überwucherten Wänden, den Bäumen sowie all den anderen Gewächsen, die ringsumher gediehen, kaum Beachtung. Gewiss, der Garten war ein Ort von verschwenderischer Pracht, dennoch war ihr Blick fest auf den steinernen Altar geheftet, den sie in der Ferne sah. Was sie nicht sah, waren die drei Kästchen, die eigentlich dort stehen sollten, stattdessen stand auf der Granitplatte jetzt ein anderer Gegenstand. Sie konnte allerdings nicht erkennen, was es war. Richard dagegen, nach dem hektischen Heben und Senken seiner Brust zu urteilen, schien sehr wohl zu wissen, was dort stand.

Sie überquerten eine kreisrunde Rasenfläche, an die sich ein Streifen nackten Erdbodens anschloss. Auf dem erdigen Streifen stockte Richard plötzlich mitten im Schritt und starrte hinunter auf den Boden. »Was ist denn, Lord Rahl?«, rief Cara.

»Das sind ihre Fußspuren«, sagte er leise. »Ich erkenne sie wieder. Sie sind nicht mittels Magie verwischt worden; sie war allein hier.« Er deutete auf den Boden. »Es sind jeweils zwei Reihen, demnach muss sie also zweimal hier gewesen sein.« Mit den Augen einer für sie unsichtbaren Spur folgend, wandte er sich herum zur Rasenfläche. »Und dort drüben, im Gras, hat sie offenbar auf den Knien gelegen.«

Er setzte sich wieder in Bewegung und legte den Rest der Strecke zu dem steinernen Altar laufend zurück. Sofort verfielen auch Nicci und Cara in Laufschritt, um mit ihm Schritt zu halten. Als sie bei der Granitplatte anlangten, erkannte schließlich auch Nicci den Gegenstand, der einsam und alleine dort stand.

Es war die Statue ebenjener Frau, die, in Marmor gemeißelt, auf dem Platz der Freiheit in Akur’Rang stand, das ursprüngliche Exemplar, von Richard eigenhändig angefertigt, wie er ihnen erklärt hatte, ebenjene Statuette, die nach seinen Worten Kahlan gehörte. Nicci sah sofort, dass sie über und über mit blutigen Handabdrücken bedeckt war.

Mit zitternden Fingern nahm Richard die hölzerne, geschnitzte Figur an sich, presste sie an seine Brust und musste ein Schluchzen unterdrücken. Einen Moment lang glaubte Nicci, er würde zusammenbrechen, doch das tat er nicht.

Irgendwann später dann wandte er sich mit tränenüberströmtem Gesicht zu ihnen herum und hielt den beiden die Statuette dieser stolzen Figur mit dem zurückgeworfenen Kopf und den geballten Fäusten vors Gesicht. »Dies ist die Statuette, die ich für Kahlan geschnitzt habe, die Statuette mit dem Titel Seele. Die Statuette, die sich, wie ich Euch erklärt habe, nicht in Akur’Rang befinden konnte, weil sie sie bei sich hatte. Wenn man von dieser Statuette unten in Akur’Rang, in der Alten Welt, eine Kopie aus Stein angefertigt hat, wie ist sie dann hierher gekommen?«

Nicci starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an und versuchte sich mit dem, was sie sah, anzufreunden. Der Widerspruch erschien ihr unauflösbar, unbegreiflich. Sie fühlte sich an Richards hilflose Versuche erinnert, zu begreifen, was er in der Grabstätte gesehen hatte, in der die Mutter Konfessor beerdigt lag. Jetzt wusste sie, wie ihm dabei zumute gewesen sein musste.

»Ich begreife nicht, wie sie hierher gelangt sein kann.« »Indem Kahlan sie hier zurückgelassen hat! Sie hat sie hier zurückgelassen, damit ich sie finde. Sie war es, die die Kästchen der Ordnung für die Schwestern gestohlen hat! Begreift Ihr nicht? Erkennt Ihr die Wahrheit nicht einmal, wenn Ihr mit der Nase draufgestoßen werdet?«

Unfähig, noch ein weiteres Wort zu sagen, presste er die Statuette erneut an seine Brust, als wäre sie sein wertvollster Besitz auf dieser Welt.

In diesem Augenblick, als sie ihn am ganzen Körper vor Schmerz erzittern sah, fragte sie sich, wie es wohl sein mochte, von ihm geliebt zu werden – und bei aller Verwirrtheit, trotz der Traurigkeit über das, was sie hier vor sich sah, und der Schmerzen, unter denen er so offenkundig litt, empfand sie gleichzeitig ein Gefühl der Freude, der Freude darüber, dass Richard einen Menschen hatte, der ihm so viel bedeutete, der in ihm solche Gefühle auszulösen vermochte ... selbst wenn dieser Mensch nur in seiner Fantasie existierte. Nicci war noch immer nicht überzeugt, dass sie real war.

»Versteht Ihr jetzt? Begreift Ihr beide jetzt endlich?«

Cara, die so bestürzt aussah, wie Nicci sich fühlte, schüttelte den Kopf. »Nein, Lord Rahl, ich begreife es nicht.«

Er hielt die kleine Statuette in die Höhe. »Kein Mensch erinnert sich an sie. Wahrscheinlich ist sie geradewegs an diesen Soldaten vorbeigelaufen, und sie haben sie ebenso vergessen wie Ihr, all die unzähligen Male, die Ihr Kahlan schon begegnet seid. Sie ist ganz auf sich gestellt, sie befindet sich in der Gewalt dieser vier Schwestern, die sie gezwungen haben, hierher zu kommen und die Kästchen zu beschaffen. Seht Ihr, wie blutverschmiert sie ist – mit ihrem Blut? Das sollte Euch zu denken geben. Könnt Ihr Euch überhaupt vorstellen, wie ihr zumute sein muss, ganz allein, von aller Welt vergessen? Wahrscheinlich hat sie sie in der Hoffnung hier stehen lassen, dass irgendjemand sie entdeckt und weiß, dass es sie gibt.«

Er hielt sie erst Cara, dann Nicci vors Gesicht. »Seht sie Euch doch an! Sie ist voller Blut! Auf dem Altar ist Blut, ebenso auf der Erde. Dort drüben sind ihre Fußspuren. Was glaubt Ihr wohl, wie die Kästchen verschwunden sind und dies hierher gekommen ist? Sie muss hier gewesen sein.«

In dem Innengarten war es totenstill. Nicci war so perplex, dass sie nicht mehr wusste, was sie noch glauben sollte. Natürlich war ihr klar, was sie vor sich sah, und doch schien es völlig unmöglich. »Glaubt Ihr mir jetzt?«, wandte er sich an die beiden.

Cara schluckte. »Ich will ja gerne glauben, was Ihr da sagt, Lord Rahl, aber ich erinnere mich trotzdem nicht an sie.«

Als sein raubtierhafter Blick zu Nicci hinüberglitt, musste auch sie unter der durchdringenden Kraft dieses Blickes schlucken.

»Ich weiß nicht, was hier gespielt wird, Richard. Was du da sagst, ist sicher ein aussagekräftiger Beweis, aber wie Cara bereits sagte, kann auch ich mich einfach nicht an sie erinnern. Tut mir Leid, aber ich kann dich nicht anlügen und dir etwas erzählen, das du hören willst, nur damit du zufrieden bist. Das ist die Wahrheit, ich weiß noch immer nicht, wovon du eigentlich sprichst.«

»Das weiß ich doch«, erwiderte er und wurde plötzlich ruhig, ja geradezu entgegenkommend. »Genau das versuche ich Euch doch zu erklären. Irgendetwas Fürchterliches ist im Schwange. Kein Mensch erinnert sich an sie. Was immer die Ursache dafür sein mag, es muss sich unzweifelhaft um einen mächtigen und überaus gefährlichen Zauber handeln, wie er nur von den mächtigsten Personen erzeugt werden kann, die über beide Seiten der Gabe verfügen. Eine Magie, die so gefährlich ist, dass sie in einem in einer von Schilden gesicherten Katakombe vergrabenen Buch verborgen war, von Zauberern in der Hoffnung dort versteckt, dass kein Mensch es jemals findet.«

»Feuerkette«, hauchte Nicci tonlos. »Aber nach dem kurzen Ausschnitt, den ich gesehen habe, schien der Text die Macht zu besitzen, die gesamte Welt des Lebens zu vernichten.«

»Was kümmert das die Schwestern?«, fragte Richard verbittert. »Sie haben die Kästchen der Ordnung ins Spiel gebracht und sind offenbar fest entschlossen, dem Hüter des Totenreichs zuliebe allem Leben ein Ende zu bereiten. Gerade Ihr solltet das eigentlich besser verstehen als jeder andere.«

Nicci fasste sich mit der Hand an die Stirn. »Bei den Gütigen Seelen, ich glaube fast, du könntest Recht haben.«

Ihre Fingerspitzen waren taub geworden, und die Angst durchfuhr sie mit einem mächtigen Kribbeln. »Nach den wenigen Zeilen, die ich in diesem Buch gelesen habe, scheint diese Feuerkette mehr oder weniger dem zu entsprechen, was ich auf Geheiß von Zedd, Ann und Nathan bei dir versuchen sollte – nämlich, dich unter Zuhilfenahme von subtraktiver Magie dazu zu bringen, dass du diese Kahlan vergisst. Wenn es stimmt, was du sagst, dann könnten die Schwestern genau das getan haben – sie haben dafür gesorgt, dass sie aus der Erinnerung aller gelöscht wurde.«

Nicci schaute hoch in seine grauen Augen, Augen, in denen sie sich hätte verlieren können. Sie spürte, wie ihr Tränen der Angst über die Wangen liefen.

»Ich habe es ausprobiert, Richard.« »Was sagt Ihr da?«

»Ich habe ausprobiert, was ich mit dir machen sollte – bei einem von Jagangs Leuten, unten in Caska. Ich habe versucht, ihn zu zwingen, Jagang zu vergessen. Das Ganze endete tödlich. Angenommen, genau das ist es, was diese Feuerkette bei allen Menschen bewirkt?« Richard stieß einen ärgerlichen Seufzer aus. »Kommt mit.« Mit entschlossenen Schritten verließ er den Garten und ging hinüber zu dem General und seinen Gardisten, die draußen auf dem Flur aus poliertem Granit in einer dichten Traube um den Eingang des Gartens des Lebens warteten.

»Lord Rahl«, empfing ihn der General, »ich sehe die Kästchen nicht mehr.«

»Richtig. Sie wurden gestohlen.«

Den Soldaten ringsum klappte vor verblüfftem Staunen der Unterkiefer herunter. General Trimacks Augen weiteten sich. »Gestohlen ... aber wer könnte das getan haben? Und wie?«

Richard fuchtelte ihm mit der kleine Statuette vor dem Gesicht herum. »Meine Gemahlin.«

General Trimack sah aus, als wüsste er nicht, ob er einen Wutanfall bekommen oder sich auf der Stelle selbst entleiben sollte. Stattdessen rieb er sich immer wieder mit der Hand über den Mund, während er sich das Gehörte durch den Kopf gehen ließ, offenbar in dem Versuch, es mit seinen anderen Informationen zu einem Bild zu fügen. Schließlich sah er hoch zu Richard, im Blick grimmige Entschlossenheit. »Ich erhalte ständig irgendwelche Berichte, Lord Rahl. Und ich bestehe darauf, sie alle vorgelegt zu bekommen – man kann nie wissen, welches winzige Detail sich später vielleicht noch als sehr hilfreich erweisen kann. Auch General Meiffert schickt mir Berichte, und da er sich derzeit ganz in der Nähe befindet, erreichen sie mich innerhalb weniger Stunden. Die Truppen werden binnen kurzem nach Süden abmarschieren, wodurch sich dieser Vorgang wieder etwas verzögern wird, aber im Augenblick erhalte ich sie frisch.«

»Ich höre.«

»Nun ja, ich weiß nicht, ob es von Bedeutung ist, aber in dem letzten Bericht, der gerade erst heute früh eingegangen ist, hieß es, man sei zufällig auf eine Frau gestoßen, eine alte Frau, die von einem Schwert verwundet wurde. Dem Bericht nach ist ihr Zustand überaus Besorgnis erregend. Ich weiß nicht, warum er mir über so eine Bagatelle einen Bericht schickt, andererseits ist General Meiffert ein ziemlich kluger Bursche, daher muss ich wohl annehmen, dass an dieser Geschichte etwas verdammt merkwürdig sein muss, wenn er mich davon unterrichtet.«

»Wie weit ist es bis zu ihm?«, fragte Richard. »Bis zu den Truppen, meine ich. Wie weit ist es bis dorthin?«

Der General zuckte mit den Achseln. »Zu Pferd? Bei halbwegs forschem Tempo nicht mehr als ein, zwei Stunden.«

»Dann besorgt mir ein paar Pferde. Jetzt gleich.«

Der General salutierte mit einem Faustschlag vor sein Herz und winkte gleichzeitig ein paar seiner Männer zu sich. »Ihr werdet vorlaufen und ein paar Pferde für Lord Rahl bereitstellen.« Er sah zu Richard, dann zu Cara und Nicci. »Drei an der Zahl?«

»Ja, drei«, bestätigte Richard.

»Sowie eine Eskorte, zusammengestellt aus der Ersten Rotte. Sie soll ihm den Weg zeigen und als Begleitschutz dienen.«

Die beiden Soldaten nickten und hasteten in vollem Lauf zur Treppe. »Mir fehlen die Worte, Lord Rahl. Ich werde selbstverständlich meinen Rücktritt...«

»Redet keinen Unsinn. Es gibt nichts, womit Ihr das hättet verhindern können, es war ein durch Magie bewirktes Täuschungsmanöver. Die Schuld liegt bei mir, weil ich es zugelassen habe. Ich bin der Lord Rahl, ich sollte die Magie gegen die Magie sein.«

Nicci konnte nur einen Gedanken denken: dass er es nach besten Kräften zu sein versucht hatte, aber niemand ihm hatte glauben wollen.

Ohne sich auch nur eine kurze Verschnaufpause zu gönnen, eilten Richard, Cara und Nicci in Begleitung eines Trupps der Palastwache durch die prachtvollen, großzügigen Flure von Richards angestammtem Heim. Menschen sprangen hektisch zur Seite, sobald die Keilformation der Gardisten in den Fluren nahte. Unmittelbar dahinter folgte Cara, die noch vor Richard ging, während Nicci den Platz an seiner Seite eingenommen hatte. In einem der schmaleren Flure mit deutlich weniger Passanten drosselte Richard das Tempo, bis er schließlich ganz stehen blieb. Die Gardisten machten in ausreichend großem Abstand Halt, um jederzeit zur Stelle zu sein, ihm gleichzeitig aber eine gewisse Ungestörtheit zu lassen. Während alles wartete, warf er einen Blick in einen Seitenkorridor, was Cara veranlasste, ein verlegenes Gesicht zu ziehen. »Die Quartiere der Mord-Sith«, beantwortete sie die unausgesprochene Frage in Niccis Augen. »Ein Stück diesen Flur entlang befand sich Dennas Zimmer.« Richard wies in die entgegengesetzte Richtung. »Und Eures war dort hinunter, Cara.«

Cara kniff die Augen zusammen. »Woher wisst Ihr das?«

Einen Moment lang sah er ihr mit unentzifferbarer Miene in die Augen. »Ich erinnere mich, Cara, weil ich schon einmal dort gewesen bin.«

Cara wurde so tiefrot wie ihr Lederanzug. »Ihr erinnert Euch?« Richard nickte. »Dann wisst Ihr es also?«, sagte sie leise, während sich ein Anflug von Panik in ihre Augen schlich. »Aber Cara«, antwortete er milde, »natürlich weiß ich es.«

Tränen traten ihr in die Augen. »Aber woher?«

Er deutete auf ihr rechtes Handgelenk. »Es hat geschmerzt, als ich Euren Strafer berührte. Aber ein Strafer schmerzt nur dann, wenn derjenige, der ihn berührt, damit ausgebildet werden soll oder aber wenn die Mord-Sith dies wünscht.«

Sie schloss die Augen. »Lord Rahl... es tut mir so Leid.«

»Das ist lange her. Damals wart Ihr noch ein anderer Mensch, und ich war ein Feind des damaligen Lord Rahl. Die Zeiten ändern sich, Cara.«

»Seid Ihr sicher, dass ich mich genug verändert habe?«

»Damals haben andere Euch zu dem gemacht, was Ihr wart. Was danach aus Euch wurde, habt Ihr Euch selbst zu verdanken.« Ein Lächeln ging über seine Lippen. »Wisst Ihr noch, wie ich Euch geheilt habe, nachdem die Bestie Euch verletzt hatte?«

»Wie könnte ich das je vergessen?«

»Dann wisst Ihr ja, wie mir jetzt zumute ist.«

Das rief ein Lächeln auf ihre Lippen.

Richard furchte nachdenklich die Stirn. »Berühren ...« Eine plötzliche Erkenntnis ließ seine Augen aufleuchten. »Das Schwert.«

»Was?«, fragte Nicci.

»Das Schwert der Wahrheit. Ich glaube, an jenem Morgen haben die Schwestern, während ich schlief, einen Zauber bewirkt, der mich in eine Art Tiefschlaf versetzte, damit sie, wie schon gesagt, Kahlan ungestört entführen konnten. Allerdings lag meine Hand auf meinem Schwert, ich hatte Kontakt zum Schwert der Wahrheit, als sie sie entführten und dafür sorgten, dass sie aus der Erinnerung aller gelöscht wurde. Mit anderen Worten, das Schwert hat mich vor dieser Magie beschützt, weswegen ich mich auch an sie erinnere. Demnach muss das Schwert der Wahrheit ein Gegenmittel gegen ihren Zauber sein.«

Richard setzte sich wieder in Bewegung. »Kommt endlich, wir müssen hinaus zum Feldlager und in Erfahrung bringen, wer diese verwundete Frau ist.«

Nun endgültig verwirrt, schloss Nicci sich ihm an.

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