52

Richard hatte sich in der edel eingerichteten Bibliothek hinter Zedd gestellt, sodass er seinem Großvater über die knochige Schulter sehen konnte, als dieser einen voluminösen Folianten mit abgewetztem braunem Ledereinband aufschlug. Die silbernen Reflektorlampen auf allen vier Seiten der fünf mächtigen Mahagonipfeiler, die in einer mitten durch den Raum verlaufenden Reihe standen und die Vorderseite einer sich durch den gesamten Saal ziehenden Galerie stützten, tauchten den Saal in ein eher spärliches Licht. Zu beiden Seiten des parallel zur Pfeilerreihe verlaufenden Mittelgangs standen schwere, dunkle Holztische mit blank polierter Oberfläche, um die man in regelmäßigen Abständen hölzerne Stühle platziert hatte. An den beiden langen Seitenwänden standen, im rechten Winkel angeordnet, mehrere Regalreihen voller Bücher, und auch die Galerie beherbergte eng beieinander stehende Regale, die mit weiteren Folianten gefüllt waren. Ein fahlblauer, in schrägem Winkel durch das einzige Fenster ganz am Ende des Saales fallender Lichtstrahl brachte die in der abgestandenen, muffigen Luft schwebenden Staubpartikel zum Leuchten, und es herrschte eine grabesähnliche Stille, die von den frisch entzündeten Lampen um einen öligen Geruch bereichert wurde. Etwas abseits im dunkleren Bereich unterhalb des Fensters am Kopfende des Saales standen mit verschränkten Armen Cara und Rikka und unterhielten sich, die Köpfe zusammengesteckt, mit gesenkter Stimme. Nicci lehnte unmittelbar neben Zedd an der Kante des von einem leuchtenden Rechteck aus Sonnenlicht beschienenen Tisches, während Ann und Nathan, auf der gegenüberliegenden Seite, ungeduldig auf Zedds Erklärung über das Verschwinden der Prophezeiungen warteten. Von hier aus, von der kleinen Insel aus Licht betrachtet, schien der Raum in den düsteren Schatten ringsumher zu versinken.

»Meiner Meinung nach wurde dieses Buch kurz nach Beendigung des Großen Krieges zusammengestellt«, erklärte Zedd soeben, indem er auf dem aufgeschlagenen Deckblatt neben den Titel tippte:

Die Verhältnisse

zeitlicher Abfolge und Voraussagen zur Entwicklungsfähigkeit.

»Die mit der Gabe Gesegneten der damaligen Zeit hatten herausgefunden, dass, aus welchem Grund auch immer, immer weniger Zauberer geboren wurden und diejenigen, die noch geboren wurden, nicht mehr mit beiden Seiten der Gabe auf die Welt kamen, wie es bis dahin nahezu ausnahmslos der Fall gewesen war. Mehr noch, die mit der Gabe Geborenen wurden nur noch mit der additiven Seite geboren. Die subtraktive Magie war im Begriff, gänzlich zu verschwinden.«

Ann blickte ihn leicht indigniert an. »Du hast es weder mit einer Novizin noch mit einem grünen Jungzauberer zu tun, alter Mann. All das wissen wir längst; schließlich widmen wir schon unser ganzes Leben genau diesem Problem. Also komm bitte zur Sache.«

Zedd räusperte sich. »Also schön, wie ihr vielleicht alle wisst, bedeutete dies gleichzeitig, dass auch immer weniger Propheten geboren wurden.«

»Welch überaus verblüffende Erkenntnis«, höhnte Ann. »Darauf wäre ich zum Beispiel nie gekommen.«

Gereizt brachte Nathan sie zum Schweigen. »Sprich weiter, Zedd.«

Zedd schob seine Ärmel zurück, nachdem er kurz einen erbosten Blick in Richtung Ann geworfen hatte. »Da immer weniger für die Prophezeiungen zuständige Zauberer geboren wurden, würde auch die Gesamtheit der mit den Prophezeiungen verbundenen Arbeit, so ihre Erkenntnis, nicht weiter anwachsen. Um sich ein Bild davon machen zu können, welche Folgen dies haben könnte, beschlossen sie – solange sie noch dazu in der Lage waren und es noch genügend Propheten sowie andere Zauberer mit beiden Seiten der Gabe gab –, eine umfassende Bestandsaufnahme des gesamten Themas der Prophezeiungen vorzunehmen. Sie gingen das Problem mit der denkbar größten Sorgfalt an, denn sie hatten erkannt, dass sich mit ihnen der Menschheit die vielleicht allerletzte Gelegenheit bot, die Zukunft der Prophezeiungen selbst zu verstehen und künftigen Generationen einen Einblick in das Verständnis dessen zu ermöglichen, was nach wachsender Überzeugung dieser Zauberer eines Tages ernsthaft verfälscht werden oder sogar verloren gehen würde.«

Zedd schaute kurz auf, um zu sehen, ob Ann weitere geringschätzige Kommentare abzugeben beabsichtigte. Es sah nicht danach aus. Offenbar war dies etwas, das sie noch nicht gewusst hatte. »Und nun«, fuhr er fort, »wenden wir uns ihrer Arbeit zu.«

Richard trat neben Nicci an den Tisch heran und blätterte die Seiten mit dem Finger um, während er Zedds Worten lauschte. Bald fiel ihm auf, dass das Buch, das sich mit den Komplexitäten nicht nur der Magie, sondern auch der Prophezeiungen befasste, in einem für ihn nahezu unverständlichen wissenschaftlichen Kauderwelsch verfasst war. Es hätte ebenso gut in einer fremden Sprache abgefasst sein können. Eine der Überraschungen war, dass das Buch eine Reihe komplizierter mathematischer Formeln enthielt, unterbrochen von grafischen Darstellungen des Mondes und der Sterne, in welchen die jeweiligen Deklinationswinkel verzeichnet waren. Er hatte noch nie ein Buch über Magie gesehen, das derartige Gleichungen, Himmelsbeobachtungen und Messungen enthielt – nicht dass er überhaupt schon viele Bücher über Magie gesehen hätte. Er erinnerte sich aber, dass auch das Buch der Gezählten Schatten, das er als Kind auswendig gelernt hatte, eine Reihe von Winkelberechnungen der Sonne und der Sterne enthalten hatte, die man kennen musste, um die Kästchen der Ordnung öffnen zu können.

Auf den Seitenrand waren weitere Formeln gekritzelt, allerdings in einer anderen Handschrift, so als wäre jemand dahergekommen und hätte die Berechnungen im Buch nachgeprüft, um sich Gewissheit zu verschaffen, oder sie anhand neuester Erkenntnisse noch einmal durchgerechnet. In einem Fall waren mehrere Zahlen einer komplizierten Tabelle durchgestrichen, wobei Pfeile von neuen, auf den Randstreifen gekritzelten Zahlen auf die durchkreuzten Werte in den Tabellen verwiesen. Ab und an bat ihn Zedd, mit dem Weiterblättern innezuhalten, damit er auf eine bestimmte Gleichung hinweisen und die in der Berechnung verwendeten Symbole erklären konnte.

Während Richard langsam Seite um Seite umblätterte, ließ Nathan sie – einem auf einen Knochen lauernden Hund ähnelnd – nicht aus seinen tiefblauen Augen, hielt dabei in aller Ruhe nach etwas Ausschau, das irgendeinen Sinn für ihn ergab, während sich Zedd in ermüdendem Tonfall endlos über vertauschte und einander überlappende Gabelungen, dreifache, mit verkuppelten Wurzeln verknüpfte, durch Präzession sowie sequenzielle, proportionale und binäre Inversionen kompromittierte Doppelzweige ausließ, hinter denen sich fehlerhafte, dank der Gleichungen offen gelegte Gabelungen verbargen, die sich nur mithilfe subtraktiver linksdrehender Operationen ausfindig machen ließen.

Nathan und Ann starrten ihn mit großen Augen an, einmal entfuhr Nathan sogar ein Seufzer. Ann wurde zunehmend blass. Selbst Nicci schien mit für sie untypischer Aufmerksamkeit zuzuhören. Richard drehte sich der Kopf von diesen völlig abstrusen Begriffen. Das Gefühl, mit unverständlichen Informationen gefüttert zu werden und ständig dagegen ankämpfen zu müssen, dass die dunklen Fluten völliger Wirrnis über seinem Kopf zusammenschlugen, war ihm zutiefst verhasst. Er kam sich dabei dumm vor, ungebildet.

In gewissen Abständen verwies Zedd auf Zahlen und Gleichungen aus dem Buch, während Nathan und Ann sich so benahmen, als wäre er im Begriff zu enthüllen, nicht nur wie, sondern auch noch exakt zu welcher Stunde die Welt zugrunde gehen würde.

Schließlich unterbrach Richard seinen Großvater mitten in einem Satz. »Könntest du dieses ganze abstruse Kauderwelsch vielleicht so zusammenfassen, dass es auch für mich verständlich wird?«

Einen Moment lang starrte er Richard offenen Mundes an, dann schob er das Buch über den Tisch zu Nathan. »Am besten, du liest selbst.«

Nathan nahm das Buch mit einer Behutsamkeit zur Hand, als könnte ihn der Hüter höchstpersönlich daraus anspringen.

Zedd wandte sich wieder an Richard und sagte: »Um es in Worten auszudrücken, die du vielleicht besser verstehst, wenn auch auf die nicht unerhebliche Gefahr übergroßer Vereinfachung hin: Stell dir die Prophezeiungen wie einen Baum mit Wurzeln und Ästen vor. Wie ein Baum, so waren auch die Prophezeiungen in ihrer Gesamtheit einem ständigen Wachstum unterworfen. Was diese Zauberer nun im Grunde behaupteten, ist, dass der Baum der Prophezeiungen sich ganz so verhielt, als besäße er so etwas wie ein Eigenleben. Wohlgemerkt, sie sagten nicht, dass er lebendig sei, lediglich, dass er in einer Reihe von Punkten das Leben nachahmte, dabei aber nicht kopierte – etwa so, wie es bestimmte Parameter gibt, anhand derer man das Alter und den Gesundheitszustand eines Baumes bestimmen und daraus Vorhersagen über seine Zukunft treffen kann. In einer früheren Zeit, als es noch eine Vielzahl von Zauberern und Propheten gab, nahm die Arbeit mit den Prophezeiungen und ihren vielen Ästen verhältnismäßig rasch zu. Aufgrund der zahlreichen Propheten und ihrer Beiträge besaß sie einen soliden, fruchtbaren Boden, in dem sie gedeihen und tiefe Wurzeln schlagen konnte. Da fortwährend immer neue Propheten frische Visionen in das kollektive Werk einbrachten, entstanden laufend neue Verzweigungen innerhalb der Prophezeiungen, und diese neuen Äste wuchsen mit der Zeit, da andere Propheten ebenfalls ihren Beitrag leisteten, zu einem dichten und kräftigen Gebilde heran. Während dieses Gebilde, also der Baum, immer weiter wuchs, untersuchten, beobachteten und legten die Propheten die Ereignisse aus, was sie in die Lage versetzte, den lebendigen Bestand zu hegen und abgestorbenes Holz zu entfernen.

Doch dann begann die Geburtenrate der Propheten rapide zu sinken, und es gab Jahr für Jahr immer weniger von ihnen, die sich diesen Aufgaben widmen konnten – weshalb das Wachstum des Baumes der Prophezeiungen sich zu verlangsamen begann.

Um es in einfachen, auch dir verständlichen Worten auszudrücken: Der Baum der Prophezeiungen hatte eine Art Reifestadium erlangt. Gleich einer steinalten Königseiche im Wald standen diesem ausladenden Baum der Prophezeiungen, das wussten diese Zauberer, noch lange Lebensjahre als ausgereiftes Wesen bevor, gleichwohl waren sie sich bewusst, was die Zukunft dereinst bereithalten würde.

Wie alles andere, so konnten auch die Prophezeiungen nicht ewig währen. Zeit verging; bestimmte, in den Prophezeiungen vorhergesagte Dinge ereigneten sich, waren plötzlich überholt und hatten ihren Sinn verloren. Mit dem Verstreichen der Zeit würden auf diese Weise schließlich alle in dem Werk abgehandelten Vorhersagen überflüssig werden. Anders ausgedrückt: Ohne neue Prophezeiungen würden sämtliche existierenden Prophezeiungen, ganz gleich, ob sie sich als wahre oder falsche Zweige entpuppten, letztendlich ihre Chance im Fluss der Zeit erhalten; und damit wäre ihre Zeit abgelaufen – sie wären verbraucht. Die Kommission, die sich mit diesem Problem befasste, gelangte daher zu der Erkenntnis, dass der Baum der Prophezeiungen ohne jenes Wachstum und Leben, das ihm durch die Propheten sowie den unablässigen Strom der Prophezeiungen zuteil wurde, von dem sich die zahllosen Verzweigungen nährten, irgendwann absterben müsse. Ihre Aufgabe – und der Zweck dieses Buches mit dem Titel Die Verhältnisse zeitlicher Abfolge und Aussagen zur Entwicklungsfähigkeit-bestand in dem Versuch, vorherzusagen, wie und wann es dazu kommen würde.

Die besten Köpfe auf dem Gebiet der Prophezeiungen nahmen sich des Problems an und machten sich ein Bild vom Gesundheitszustand des Baumes der Prophezeiungen. Anhand bekannter Formeln und Vorhersagen, die nicht nur auf beobachtete Muster im Rückgang des Wachstums, sondern auch auf dem Schwinden jener Propheten beruhten, die es aufrechterhielten, legten sie fest, wann dieser spezielle Baum des Wissens unter dem abgestorbenen Holz falscher und abgelaufener Prophezeiungen erdrückt würde, wenn nämlich die entsprechenden Gabelungen erreicht wären und sich die Zeit entlang der noch entwicklungsfähigen Zweige weiterentwickelte. Als es so weit war – als der Baum der Prophezeiungen unter der Last des Alters und des abgestorbenen Holzes, das nicht länger von den Propheten ausgelesen werden konnte, allmählich inaktiv wurde –, sagten sie voraus, dass er für eine bestimmte Art Krankheit oder Verfall anfällig würde, ganz ähnlich einem alten Baum im Wald, der mit der Zeit für Krankheiten anfällig wird. Sie kamen zu dem Schluss, dass diese Minderung seiner Entwicklungsfähigkeit die Prophezeiungen mit der Zeit für eine immer weiter anwachsende Zahl von Problemen anfällig machen würde. Die Schwäche, die ihn ihren Überlegungen zufolge höchstwahrscheinlich zuerst befallen würde, würde sich in Gestalt einer, wie sie es beschrieben, Art Wurm äußern, der, so glaubten sie, zunächst die lebenden Teile des Baumes der Prophezeiungen selbst – also die Zweige, die zum Zeitpunkt dieses wurmartigen Befalls gegenwärtig sind befallen und schließlich vernichten würde. Und daher gaben sie ihm auch diesen Namen – Prophezeiungswurm.«

In der fast mit Händen greifbaren Stille bekam die Luft etwas Drückendes. Unschlüssig zuckte Richard mit den Achseln. »Und welches Mittel gibt es nun dagegen?«

Zedd betrachtete ihn, als hätte er sich soeben erkundigt, wie man ein Unwetter bekämpft. »Mittel? Richard, die Experten, die dieses Buch verfassten, sagten voraus, dass es im Grunde überhaupt kein Mittel dagegen gibt. Sie gelangten schließlich zu der Überzeugung, dass der Baum der Prophezeiungen ohne die von immer neuen Propheten zugeführte Lebenskraft mit der Zeit verfaulen und absterben würde. Die Prophezeiungen, so ihre Erklärung, würden erst dann wieder gesund und kräftig, wenn die Welt wieder neue Propheten hervorbrächte – mit anderen Worten, wenn ein neuer prophetischer Same ausgesät würde und aufginge. Alte Bäume sterben nun einmal ab und machen Platz für neue Sprösslinge. Diese gelehrten Zauberer fanden heraus, dass die Prophezeiungen, wie wir sie kennen, gleichermaßen dem Schicksal von Alterung, Krankheit und letztendlichem Absterben unterliegen.«

Richard hatte sich schon mit jeder Menge von durch Prophezeiungen hervorgerufenen Problemen herumschlagen müssen, trotzdem hatten die düsteren Mienen rings um den Tisch etwas Ansteckendes. Fast war es, als wäre soeben ein Heiler aus einem Hinterzimmer getreten, um zu verkünden, ein altersschwacher Angehöriger liege im Sterben.

Er dachte an all die mit der Gabe gesegneten, hingebungsvoll ihrer Berufung nachgehenden Propheten, die ihr Leben lang gearbeitet hatten, um ihren Beitrag zu diesem gewaltigen Werk zu leisten, das nun vor sich hin welkte und abstarb. Dann musste er an die Statue denken, die er unter größten Mühen erschaffen hatte, und wie er sich gefühlt hatte, nachdem sie zerstört worden war.

Vielleicht, überlegte er, war es auch der Gedanke an den Tod, in welcher Gestalt auch immer, der ihn so betrübte, weil er ihn an seine eigene – und Kahlans – Vergänglichkeit erinnerte. Und dann kam ihm der Gedanke, dass dies vielleicht das Beste war, was überhaupt passieren konnte. Denn wenn die Menschen nicht länger in dem Glauben gefangen waren, ihr Los sei vom Schicksal vorherbestimmt, würden sie vielleicht zu der Erkenntnis gelangen, dass sie selbst denken und für sich selbst entscheiden mussten, was in ihrem besten Interesse lag. Wenn die Menschen endlich begriffen, was tatsächlich auf dem Spiel stand, würden sie schließlich vielleicht sogar den Wert selbst getroffener Entscheidungen erkennen, statt gedankenlos der Dinge zu harren, die da kamen.

»Nach Anns und meinen Erkenntnissen«, sprach Nathan in die stille, abgestandene Luft der Bibliothek hinein, »handelt es sich bei dem Zweig der Prophezeiungen, der im Verschwinden begriffen ist, um exakt jenen, der sich auf die Zeit ungefähr seit Richards Geburt bezieht. Was natürlich insofern am ehesten nachvollziehbar ist, als sich das aktive, lebendige Gewebe der Prophezeiungen von den derzeit lebenden Seelen ernährt, an denen sich auch dieser Prophezeiungswurm gütlich tun dürfte. Wie ich jedoch in Erfahrung bringen konnte, ist das alles nicht einfach verschwunden – jedenfalls noch nicht.«

Zedd nickte. »Es stirbt ab, aber von der Wurzel an aufwärts, weshalb gewisse Teile immer noch lebendig sind. Ich habe Einschlüsse gefunden, die noch lebendig und bei bester Gesundheit sind.«

»So ist es – insbesondere jene Partien, die von der Gegenwart bis in die unmittelbare Zukunft reichen. Es scheint so zu sein, wie du es angedeutet hast, die Geißel hat den Kern dieser vor zwei, drei Dekaden begonnenen Zweige befallen, sich aber bislang noch nicht weit bis in die zukünftigen Ereignisse vorgearbeitet. Was bedeutet, dass Teile dieses prophetischen Zweiges – jenes Zweiges, der dich betrifft – noch lebendig sind«, fuhr der Prophet fort, wobei er sich, auf seine Hände gestützt, zu Richard hinüberbeugte, »aber sobald sie absterben, werden wir auch diese Prophezeiungen verlieren – zusammen mit der Erinnerung an ihre ungeheure Bedeutung.«

Richard sah von Nathans grimmiger Miene zu Anns nicht minder ernstem Gesicht und wusste, dass sie endlich beim Kern ihres Anliegens angekommen waren.

»Aus diesem Grund haben wir uns auf die Suche nach dir begeben, Richard Rahl«, nahm Ann den Faden im Tonfall gesetzten Ernstes auf, »ehe es zu spät ist. Wir sind hier wegen einer Prophezeiung, die derzeit noch lebendig ist und die uns vor der größten Krise seit dem Großen Krieg warnte.«

Richard, ohnehin nicht gerade begeistert, dass ihm die Prophezeiungen schon wieder Schwierigkeiten zu bereiten schienen, runzelte die Stirn. »Und die wäre?«

Nathan zog aus einer seiner Taschen ein kleines Buch, schlug es auf und fixierte, es mit beiden Händen haltend, Richard mit festem Blick, um sich zu vergewissern, dass dieser sich wenigstens bemühte, aufmerksam zuzuhören.

Als er sich endlich der Aufmerksamkeit aller gewiss sein konnte, fing er an zu lesen. »›Im Jahr der Zikaden, wenn der Vorkämpfer für Selbstaufopferung und Leid unter dem Banner der Menschheit und des Lichts‹« – hier blickte er kurz unter seinen buschigen Augenbrauen hervor – »damit dürfte wohl Kaiser Jagang gemeint sein endlich seinen Schwärm teilt, soll dies als Zeichen dafür dienen, dass die Prophezeiung zum Leben erweckt worden ist und uns die letzte und entscheidende Schlacht bevorsteht. Seid gewarnt, denn alle wahren Gabelungen und ihre Ableitungen sind in dieser seherischen Wurzel miteinander verknüpft. Ein einziger Hauptstrang nur zweigt von dieser Verknüpfung der allerersten Ursprünge ab. Wenn der fuer grissa ost drauka in dieser letzten Schlacht nicht die Führung übernimmt, dann wird die Welt, bereits jetzt am Abgrund ewiger Finsternis, unter ebendiesen fürchterlichen Schatten fallen.’«

»Bei den Gütigen Seelen«, entfuhr es Zedd kaum hörbar.

»Fuer grissa ost drauka ist eine der Kardinalverbindungen zu einer Prophezeiung, auf die sich eine Hauptgabelung gründet. Durch Verknüpfung mit dieser Prophezeiung entsteht eine verkoppelte Gabelung.«

Nathan zog eine Augenbraue hoch. »Genau.«

Richard hatte Zedds Bemerkung nicht ganz verstanden, der ungefähre Sinn jedoch war ihm keineswegs entgangen. Auch brauchte ihm niemand zu erklären, wer besagter fuer grissa ost drauka, der Bringer des Todes, war.

»Jagang hat seine Streitkräfte geteilt«, erklärte Ann mit ruhigem Nachdruck, während sie Richard mit festem Blick fixierte. »In der Hoffnung, den Kampf endgültig zu beenden, hat er seine Armee bis in die Nähe Aydindrils geführt, aber die d’Haranischen Truppen und die Einwohner der Stadt haben den Winter genutzt: Sie sind über die Pässe nach D’Hara geflohen und haben sich so aus Jagangs Umklammerung befreit.«

»Ich weiß«, sagte Richard. »Die Flucht über die winterlichen Pässe geschah auf Anordnung Kahlans. Sie selbst hat mir davon berichtet.«

Cara sah überrascht auf, offenbar wollte sie seiner Darstellung widersprechen, doch dann beschloss sie, nach einem Seitenblick auf J Nicci, davon Abstand zu nehmen ... zumindest fürs Erste. »Jedenfalls hat sich Jagang«, fuhr Ann, hörbar verärgert über die Unterbrechung, fort, »außerstande, seine gewaltige zahlenmäßige Übermacht wirkungsvoll einzusetzen, um bei diesen stark gesicherten, sehr engen Pässen durchzubrechen, endlich dazu durchgerungen, seine Truppen aufzuteilen. Er ließ eine Armee zur Beobachtung der Pässe zurück, führte den Hauptteil seiner Truppen nach Süden und marschierte den weiten Weg zurück durch die Midlands, um die Barriere des Gebirges zu umgehen und anschließend Richtung D’Hara abzuschwenken.

Unsere eigenen Truppen marschieren derzeit quer durch D’Hara nach Süden, um sich ihnen entgegenzuwerfen. Deshalb konnten wir von Verna eine Nachricht über den Zustand der Bücher der Prophezeiung im Palast des Volkes in D’Hara empfangen. Sie war noch vor unserer Armee nach Süden geritten, um sie mit eigenen Augen zu inspizieren.«

»Dies ist das Jahr, in dem die Zikaden wiederkehren«, stellte Nicci spürbar beunruhigt fest. »Ich habe sie mit eigenen Augen gesehen.«

»Stimmt«, bekräftigte Nathan, immer noch auf beide Hände gestützt, und beugte sich über den Tisch. »Und das bedeutet, dass die zeitliche Zuordnung jetzt feststeht. Die Prophezeiungen haben sich zu einem Gesamtbild geordnet und sind an ihren Platz gefallen. Die Ereignisse sind eindeutig markiert.« Er blickte den übrigen Anwesenden im Raum nacheinander in die Augen. »Wir stehen vor dem Ende.«

Zedd stieß einen leisen Pfiff aus.

»Aber was noch wichtiger ist«, setzte Ann in strengem Ton hinzu, »es bedeutet, es ist höchste Zeit, dass Lord Rahl zu den d’Haranischen Truppen stößt und in der entscheidenden Schlacht deren Führung übernimmt. Im Falle deiner Abwesenheit dort ist die Prophezeiung übrigens eindeutig, Richard: Alles wird verloren sein. Wir sind gekommen, um dich zu deinen Truppen zu eskortieren und auf diese Weise zu gewährleisten, dass du es auch tatsächlich schaffst. Unter keinen Umständen dürfen wir einen weiteren Aufschub riskieren; wir müssen augenblicklich aufbrechen.«

Zum ersten Mal seit Beginn ihres Gesprächs über die Prophezeiungen hatte Richard das Gefühl, weiche Knie zu bekommen.

»Aber das kann ich nicht«, sagte er. »Ich muss Kahlan finden.« In seinen Ohren klang es wie eine in den Wind gesprochene Bitte.

Ann holte tief Luft, als müsste sie sich gewaltig zusammenreißen, um die entsprechende Geduld aufzubringen oder die richtigen Worte zu finden.

»Du musst was?« Ihre Missbilligung sprudelte an die Oberfläche wie der Abschaum in einem großen Kessel. In diesem Moment war sie wieder ganz die Prälatin, eine kleine, gedrungene Frau, die es irgendwie schaffte, alle anderen scheinbar zu überragen.

»Ich muss Kahlan finden«, wiederholte Richard.

»Ich weiß wirklich nicht, wovon du redest. Für diesen Unfug haben wir einfach keine Zeit.« Mit einem einzigen Schlag hatte Ann all seine Wünsche, seine Interessen und Bedürfnisse, ganz zu schweigen von dem, was er für seine berechtigten und vernünftigen Gründe hielt, als unbedeutend abgetan. »Wir sind hier, um dafür zu sorgen, dass du dich unverzüglich zur d’Haranischen Armee begibst. Du wirst dort von allen erwartet; diese Menschen sind auf dich angewiesen. Der Augenblick ist gekommen, da du unsere Streitkräfte in der letzten Schlacht anführen musst, die uns jeden Augenblick bevorstehen kann.«

»Ich kann nicht«, verkündete Richard mit ruhiger, aber fester Stimme. »Aber die Prophezeiungen verlangen es!«, schrie Ann.

In diesem Moment wurde Richard klar, dass Ann sich verändert hatte. In Kleinigkeiten hatte sich jeder seit Kahlans Verschwinden verändert, aber bei Ann war die Veränderung augenfälliger. Beim letzten Mal, als sie mit genau demselben Ansinnen gekommen war und verlangt hatte, Richard solle sie begleiten, um die Führerschaft im Krieg zu übernehmen, hatte Kahlan Anns Reisebuch in die Flammen geworfen und der ehemaligen Prälatin erklärt, dass die treibende Kraft hinter den Ereignissen nicht die Prophezeiungen seien, sondern vielmehr Ann in ihrem Bestreben, die Menschen zu zwingen, sich an die Prophezeiungen zu halten, damit diese sich bewahrheiteten und sie als deren Vollstreckerin auftreten könne. Kahlan hatte ihr daraufhin nachgewiesen, dass sie, wenn sie sich in ihrer Rolle als Prälatin zur Handlangerin der Prophezeiungen machte, möglicherweise diejenige gewesen sein könnte, welche die Welt an den Rand einer völligen Katastrophe geführt hatte. Kahlans Ausführungen hatten sie schließlich veranlasst, in sich zu gehen, bis sie schließlich wieder zur Vernunft kam und mehr Verständnis dafür aufbrachte, warum Richard derjenige war, der entscheiden musste, was richtig war und was nicht.

Nachdem die Erinnerung an Kahlan nicht mehr existierte, war auch alles andere ausgelöscht, was je mit Kahlan zu tun gehabt hatte. Wie alle anderen auch war Ann in jene Gemütsverfassung zurückgefallen, die sie vor Kahlans Wirken gezeigt hatte. Manchmal tat es Richard in der Seele weh, wenn er sich in Erinnerung zu rufen versuchte, was Kahlan mit jedem Einzelnen von ihnen angestellt hatte –und an das sich jetzt niemand mehr erinnerte –, um es wenigstens im Umgang mit ihnen berücksichtigen zu können. Shota zum Beispiel hatte wegen ihrer erloschenen Erinnerung an Kahlan nicht mehr gewusst, dass sie versprochen hatte, ihn umzubringen, sollte er jemals wieder nach Agaden zurückkehren. Bei ihr war diese Methode hilfreich gewesen; bei anderen, wie Ann, zeichnete sich mehr und mehr ab, dass es die Dinge eher komplizierter machte. »Kahlan hat Euer Reisebuch ins Feuer geworfen«, erinnerte er sie. »Sie war Eure ständigen Versuche, mein Leben zu kontrollieren, ebenso leid wie ich.«

Ann runzelte die Stirn. »Ich selbst habe es versehentlich ins Feuer fallen lassen.«

Richard seufzte. »Verstehe.« Er mochte ihr nicht widersprechen, wusste er doch, dass es nichts nützen würde. Niemand in diesem Raum glaubte ihm. Cara würde alles tun, was er von ihr verlangte, aber selbst sie glaubte ihm nicht. Auch Nicci glaubte ihm nicht, trotzdem hatte sie ihn ermuntert, das zu tun, was er glaubte, tun zu müssen. Sie war es auch, die ihn seit Kahlans Verschwinden am meisten von allen unterstützt hatte. »Richard.« Nathan bemühte sich, einen milderen, wohlwollenderen Ton anzuschlagen. »Hier geht es nicht um eine simple Kleinigkeit. Du bist für die Prophezeiungen geboren; die Welt seht am Rande eines dunklen Zeitalters, und du hältst den Schlüssel in Händen, mit dem man ein Abgleiten in diese lange, schreckliche Nacht verhindern kann. Du bist es, der nach Aussage der Prophezeiungen unsere Sache retten kann – jene Sache, an die du selbst glaubst. Du musst deine Pflicht tun und darfst uns jetzt nicht im Stich lassen.«

Richard war es müde; er war es herzlich leid, immer nur von den Ereignissen getrieben zu werden. Er wusste einfach nicht mehr weiter. Wieso verstand er nicht, was geschah, warum hatte er stets das Gefühl, einen Schritt hinter dem Rest der Welt herzuhinken – und zwei Schritte hinter dem, was Kahlan zugestoßen war? Es machte ihn wütend, dass jeder ihm sagte, was er zu tun hatte, ohne auch nur das geringste Interesse dafür aufzubringen, was für ihn selbst maßgeblich von Bedeutung war. Nicht einmal über sein eigenes Los wollten sie ihn selbst bestimmen lassen, weil sie dachten, die Prophezeiungen hätten es längst an seiner statt entschieden. Aber dem war nicht so.

Er musste unbedingt herausfinden, was Kahlan tatsächlich zugestoßen war, er musste Kahlan finden. Punktum. Er hatte es satt, seine Zeit mit Dingen zu verschwenden, die er nach Ansicht der Prophezeiungen – und einer ganzen Reihe von Leuten – tun sollte. Wer ihn nicht unterstützte, hielt ihn in Wahrheit von etwas ab, das zumindest für ihn von lebenswichtiger Bedeutung war.

»Es ist keineswegs meine Pflicht, den Erwartungen aller zu entsprechen«, sagte er an Ann gewandt, während er das kleine Buch zur Hand nahm, das Nathan mitgebracht hatte.

Überrascht starrten ihn Ann und Nathan an.

Plötzlich spürte er Niccis beruhigende Hand auf seinem Rücken. Auch wenn sie nicht von seiner Erinnerung an Kahlan überzeugt war, so hatte sie ihm immerhin zu der Einsicht verholfen, dass er seinen Prinzipien treu bleiben musste. Sie würde niemals zulassen, dass er wegen einer Nachlässigkeit scheiterte. Und sie war ihm eine geschätzte Freundin gewesen, als er am meisten eine gebraucht hatte. Der einzige andere ihm bekannte Mensch, der ihm auf diese Weise zur Seite stehen würde, der es wagen würde, ihm so die Stirn zu bieten, war Kahlan.

Er ließ all die leeren Seiten des Buches, das Nathan mitgebracht hatte, am Daumen vorüberschnellen, voller Neugier, ob dort vielleicht noch mehr stand, etwas, aus dem sich vielleicht ein etwas anderes Bild ergab, oder ob sie ihm einfach erzählten, was er ihrer Meinung nach glauben sollte. Zudem hätte er gern noch etwas irgendetwas – gefunden, das ihm begreifen half, was eigentlich vor sich ging. Denn irgendetwas ging vor sich, so viel war eindeutig klar. Zedds Erklärung über den Prophezeiungswurm schien unanfechtbar, und doch ließ ihm irgendetwas daran keine Ruhe, denn sie erklärte das Fehlen der Texte in den Büchern der Prophezeiungen auf eine Weise, die in erster Linie dem Wunschdenken dieser Leute entgegenkam. Es war ein wenig zu passend, und schlimmer noch, es hatte zu viel von etwas Zufälligem – und Zufälle weckten stets seinen Argwohn.

Und auch Niccis Einwand war nicht von der Hand zu weisen. Es schien in der Tat ein wenig zu passend, dass der beim Palast der Konfessoren beerdigte Leichnam ein Bändchen mit einer Stickerei von Kahlans Namen trug ... etwa um alle Zweifel auszuräumen, falls jemand die Leiche exhumierte? Nach einer Unmenge leerer Seiten stieß Richard endlich auf den Text. Er lautete genau so, wie Nathan ihn vorgelesen hatte.

Im Jahr der Zikaden, wenn der Vorkämpfer für Selbstaufopferung und Leid unter dem Banner der Menschheit wie des Lichts endlich seinen Schwärm teilt, soll dies als Zeichen dafür dienen, dass die Prophezeiungen zum Lehen erweckt worden sind und uns die letzte und entscheidende Schlacht bevorsteht. Seid gewarnt, denn alle echten Gabelungen und ihre Ableitungen sind in dieser seherischen Wurzel miteinander verknüpft. Nur ein einziger wahrer Hauptstrang zweigt von dieser Verknüpfung des allerersten Ursprungs ab. Wenn der fuer grissa ost drauka in dieser letzten Schlacht nicht die Führung übernimmt, wird die Welt, bereits jetzt am Rande eines finsteren Abgrunds, unter diesen schrecklichen Schatten fallen.

Mehrere Stellen innerhalb dieser Textpassage stellten Richard vor ein Rätsel. Zum einen war da der Hinweis auf die Zikaden, die ihm ein wenig niedrig stehend erschienen, um einer Erwähnung in den Prophezeiungen überhaupt würdig zu sein – hier jedoch erhielten sie eine zentrale Funktion in der angeblich bedeutendsten Prophezeiung der letzten dreitausend Jahre. Eine gewisse Berechtigung ergab sich vermutlich daraus, dass sie bei der genauen Bestimmung des Zeitpunkts halfen. Nach Aussage der anderen war es nie Ziel der Prophezeiungen, Zeitpunkte eindeutig festzulegen, was diesen Punkt zu einer der größten Probleme im Umgang mit Prophezeiungen machte.

Auch störte ihn, dass diese Prophezeiung, die in vielen Punkten so sehr von jener abwich, die er im Palast der Propheten gelesen hatte, ihn ebenfalls mit dem hoch-d’Haranischen Begriff fuer grissa ost drauka bezeichnete.

Vermutlich sollte ein solcher Querverweis, Zedd hatte es angedeutet, ihre Wichtigkeit betonen. Allerdings war die Verbindung zu der Prophezeiung mit dem Hinweis auf den fuer grissa ost drauka, die Richard im Palast der Propheten gesehen hatte, eindeutig mit noch etwas ganz anderem verknüpft: den Kästchen der Ordnung.

In jener alten Prophezeiung, die Richard als Bringer des Todes bezeichnete, bedeutete das Wort Tod, je nachdem, wie es verwendet wurde, drei sehr unterschiedliche Dinge: einmal den Bringer der Unterwelt, der Welt der Toten; dann den Bringer der Seelen, der Seelen der Toten, und schließlich den Bringer des Todes, also den, der tötet. Jede dieser Bedeutungen unterschied sich von den anderen, gleichwohl waren alle drei gemeint. Die zweite Bedeutung bezog sich auf seine ganz persönliche Handhabung des Schwertes der Wahrheit, die dritte meinte einfach nur, dass er gezwungen war, Menschen zu töten. Die erste hingegen war ein eindeutiger Verweis auf die Kästchen der Ordnung.

Im Zusammenhang mit der vorliegenden Prophezeiung war die dritte Möglichkeit vermutlich die nahe liegende: Er musste die Führung der Armee übernehmen und den Feind töten, demnach war es nur folgerichtig, ihn als fuer grissa ost drauka zu bezeichnen. Und doch erschien ihm wiederum alles etwas zu passend.

All diese passenden Erklärungen und Zufälle waren dazu angetan, Richards Misstrauen zu wecken. Und da auch Kahlans Verschwinden dabei eine Rolle spielte, spürte er, dass hinter all diesen Dingen noch weit mehr stecken musste.

Er blätterte zu der Seite vor der Textpassage zurück, und schließlich, zur Kontrolle, auch noch zu der Seite davor. Beide waren leer.

»Ich habe ein Problem hiermit«, sagte er und sah auf, um in die ihn aufmerksam beobachtenden Augen zu blicken.

»Und das wäre?« Ann, die Arme verschränkt, bediente sich desselben Tonfalls, den sie auch benutzt hätte, wenn sie einen unerfahrenen, nicht ausgebildeten und unwissenden Novizen vor sich gehabt hätte, der eben erst in den Palast der Propheten gebracht worden war, um im Gebrauch seiner Gabe unterwiesen zu werden. »Nun ja, es steht weder davor noch dahinter etwas«, gab er zurück. »Die Seiten sind sämtlich unbeschrieben.«

Nathan vergrub sein Gesicht in den Händen, Ann dagegen warf die Arme in einer Geste verständnisloser Empörung in die Luft. »Natürlich nicht! Der Text ist verschwunden, wie eine ganze Reihe anderer Passagen auch. Genau darüber sprachen wir doch gerade. Deswegen ist es ja so wichtig!«

»Aber ohne Kenntnis des Kontexts könnt Ihr doch überhaupt nicht entscheiden, ob diese Passage wirklich wichtig ist, oder? Um eine Information verstehen zu können, muss man doch den Zusammenhang kennen.«

Trotz des aufgeregten Gebarens von Ann und Nathan schmunzelte Zedd bei sich. Da hatte sich jemand soeben an eine vor langer Zeit erteilte Lektion erinnert.

Nathan sah auf. »Was hat das mit dieser Prophezeiung zu tun?«

»Nun, soweit wir wissen, könnte unmittelbar davor ein den Inhalt relativierender Text gestanden haben, oder gleich dahinter eine Passage, die ihn in der Folge als unbedeutend einstuft. Aber woher sollen wir das wissen, wenn der betreffende Text fehlt? Diese Prophezeiung könnte durch was auch immer aufgehoben worden sein.«

Zedd schmunzelte. »Der Junge hat in diesem Punkt nicht ganz Unrecht.«

»Er ist kein Junge«, knurrte Ann. »Er ist ein Mann, und er ist der Lord Rahl, das Oberhaupt des d’Haranischen Reiches, dessen Truppen er selbst zusammengezogen hat, um gegen die Imperiale Ordnung zu kämpfen, und es wird Zeit, dass er endlich die Führung dieser Truppen übernimmt. Schließlich hängt unser aller Leben davon ab.«

Richard ließ die Seiten rückwärts am Daumen vorbeilaufen und entdeckte plötzlich ein Stück Text, das er beim ersten Mal offenbar übersehen hatte. Er blätterte zu der Stelle zurück und rief: »Hier ist noch etwas, das nicht verschwunden ist.«

»Was?«, fragte Nathan ungläubig und drehte sich herum, um einen Blick darauf zu werfen. »Die Stelle war zuvor leer, dessen bin ich mir sicher.«

»Genau hier.« Richard tippte mit dem Finger auf die Worte. »Hier steht: ›Hier kommen wir.‹ Was könnte damit gemeint sein? Und wieso sind die Worte nicht verschwunden?«

»›Hier kommen wir‹?« Nathan verzog verwirrt das Gesicht. »Das habe ich noch nie zuvor gesehen.«

Richard blätterte einige Seiten weiter zurück. »Seht doch, hier steht es gleich noch einmal. Derselbe Wortlaut. ›Hier kommen wir.‹«

»Einmal hätte ich es vielleicht übersehen können«, meinte Nathan, »aber ein zweites Mal, nein, völlig ausgeschlossen. Du musst dich irren.«

»Aber nicht doch. Schau her.« Richard drehte das Buch herum, um es dem Propheten zu zeigen, und ging es Seite für Seite bis zum Anfang durch, bis er auf etwas Geschriebenes stieß. »Hier taucht es schon wieder auf. Eine ganze Seite mit demselben, sich stets wiederholenden Text.« Nathans Unterkiefer klaffte in sprachloser Verwunderung. Nicci riskierte einen Blick über Richards Schulter, und auch Zedd kam um den Tisch herum und stellte sich neben ihn, um die Schrift in dem Buch in Augenschein zu nehmen. Selbst die beiden Mord-Sith kamen herbei, um einen Blick darauf zu werfen.

Richard blätterte eine Seite weiter zu einer Stelle, die eben noch leer gewesen war. Und tatsächlich, derselbe Text wiederholte sich wieder und wieder, über die gesamte Seite. Hier kommen wir.

»Ich habe dir beim Zurückblättern zugesehen.« Niccis seidenweiche Stimme enthielt einen unüberhörbar beunruhigten Unterton. »Ich weiß genau, dass diese Seite einen Moment zuvor noch unbeschrieben war.«

Eine Gänsehaut kroch Richards Arme hoch, die Härchen in seinem Nacken stellten sich auf. Er hob den Blick und sah etwas Dunkles sich aus den tiefen Schatten unterhalb des durch das hohe Fenster an der Stirnseite des Saales fallenden Lichtbalkens schälen.

Zu spät erinnerte er sich an die Warnung Shotas, nicht in den Prophezeiungen zu lesen, da ihn die Bestie in diesem Fall aufzuspüren vermochte.

Er griff nach seinem Schwert.

Aber es war nicht da.

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