48

Sie hatten die Koppel noch nicht ganz hinter sich gelassen, da setzte bereits der Nieselregen ein. Richard war bereits außer Sicht, und es war unmöglich, festzustellen, wie viel Vorsprung er vor ihnen hatte. Cara drängte zur Eile, doch Zedd erklärte ihr, da sie ohnehin wüssten, wohin er wolle, mache es wenig Sinn, zu riskieren, dass sich eines der müden Pferde ein Bein brach.

»Außerdem«, erklärte er ihr, »könntet Ihr ihn sowieso nicht einholen.«

»Nun ja, da könntet Ihr Recht haben«, sagte Cara und spornte ihr Pferd zu einem leichten Galopp an. »Aber ich möchte ihn auch nicht länger als unbedingt nötig allein lassen, schließlich bin ich sein Schutz.«

»Erst recht, seit er sein Schwert weggegeben hat«, murmelte Zedd angesäuert. Nachdem sie den Berghang in forschem Tempo hinter sich gelassen und die Stadt erreicht hatten, begann das Tageslicht zu schwinden, und der Nieselregen wurde stärker. Zum Glück war es noch immer so warm, dass sie in dem feuchten Wetter nicht frieren würden.

Da sie Richards vermutliches Ziel kannten, begaben sie sich auf direktem Weg zu den Parkanlagen rings um den Palast der Konfessoren. Kurz darauf fanden sie sein Pferd, angebunden an einen der Ringe, durch die die zwischen den granitenen Zierpfosten gespannten Ketten liefen. Das Fehlen jeglicher Öffnung machte den Zweck der Ketten offenkundig: Sie dienten dazu, einen privaten Bereich des Palastgeländes abzugrenzen. Nachdem sie ihre Pferde neben dem von Richard festgemacht hatten, folgten die beiden Mord-Sith Zedd, als dieser über die Kette hinwegstieg.

Dies war eindeutig kein Ort, an dem Außenstehende willkommen waren. Eine Reihe hoher Ulmen sowie eine Hecke aus immergrünen Wacholdersträuchern schirmten den abgeschieden gelegenen Hof von unbefugten Blicken ab. Durch das dichte Astwerk der eindrucksvollen Bäume konnte Nicci immer wieder Blicke auf die weißen Außenmauern des unweit emporragenden Palasts der Konfessoren erhaschen, der den bewaldeten Friedhof schützend umschloss.

Wegen seiner versteckten Lage hatte Nicci angenommen, der Friedhof sei klein, tatsächlich aber erstreckte sich die Stätte, an der die Konfessorinnen begraben lagen, über ein ziemlich weitläufiges Gelände. Die Bäume waren so platziert, dass sie die offenen Flächen unterteilten und jedem Abschnitt des Friedhofs ein Gefühl von Intimität verliehen. Die Art seiner Anlage, mit einem Pfad sowie einem kurzen, rankenüberwucherten Säulengang, der aus dem Palast kommenden Besuchern den Weg wies, ließ darauf schließen, dass er eigentlich nur durch eine elegante gläserne Doppeltür vom Palast aus betreten werden sollte. In dem gedämpften grauen Licht verströmte dieser unter dem Laubdach der Bäume gelegene Ort der Stille eine weihevolle Atmosphäre. Sie erblickten Richard am oberen Ende eines leichten Anstiegs in jenem Teil des Innenhofes, der, wäre dies ein sonniger Tag gewesen, im Schatten gelegen hätte. Er stand im Nieselregen vor einem Grabmal aus poliertem Stein und zeichnete mit den Fingern die in den Granit gemeißelten Buchstaben nach, Buchstaben, die den Namen KAHLAN bildeten. Offenbar war es ihm gelungen, irgendwo auf dem Palastgelände ein paar Schaufeln und Spitzhacken aufzutreiben, die jetzt griffbereit ganz in der Nähe lagen. Als sie das Gelände mit den Augen absuchte, entdeckte Nicci hinter den Hecken und teilweise verdeckt von einer Ecke des Palasts einige den Verwaltern der Parkanlagen vorbehaltene Lagerschuppen; daraus schloss sie, dass Richard sie wohl dort gefunden hatte.

Als sie sich ihm mit leisen Schritten näherte, ahnte sie bereits, dass er unmittelbar vor einer möglicherweise sehr riskanten Entdeckung stand ... riskant für ihn. Die Hände gefaltet, blieb sie hinter ihm stehen und wartete ab, während er Kahlans in Stein gemeißelten Namen betastete.

Schließlich sprach sie ihn an, mit gesenkter Stimme, denn an einem solchen Ort verspürte sie das Bedürfnis nach einem ehrfurchtsvollen Ton. »Ich hoffe nur, Richard, du bedenkst alles, was ich dir gesagt habe, und falls die Dinge sich nicht so entwickeln sollten, wie du es in diesem Augenblick erwartest, dann sei gewiss, dass wir dich alle nach besten Kräften unterstützen werden.«

Er kehrte dem in Stein gemeißelten Namen den Rücken zu. »Macht Euch meinetwegen bloß keine Sorgen, Nicci, unter dieser Erde hier liegt nichts. Sie ist nicht hier, wie ich Euch gleich beweisen werde, und dann werdet Ihr mir glauben müssen. Ich werde mein altes Leben zurückbekommen, und wenn es so weit ist, werdet ihr alle begreifen, dass etwas ganz und gar aus dem Lot geraten ist. Anschließend werden wir uns an die Arbeit machen und herausfinden müssen, was gespielt wird – und natürlich Kahlan wieder finden.«

Einen Moment lang hielt er ihrem Blick stand, um zu sehen, ob sie es wagen würde, ihm zu widersprechen, dann schnappte sich Richard wortlos eine Schaufel und stieß das Blatt vor dem steinernen Grabmal der verschiedenen Mutter Konfessor mit einem kräftigen Fußstoß in die leicht aufgeworfene, mit Gras bewachsene Erde. Zedd hatte zwei Laternen mitgebracht, die jetzt unweit auf einer steinernen Sitzbank standen und in der feuchten Stille ein schwaches, aber gleichmäßiges Licht verströmten. Wegen des Nieselregens hatte sich ein leichter Bodennebel gebildet, und obwohl der Himmel sich mittlerweile vollständig mit bleigrauen Wolken zugezogen hatte, meinte Nicci an dem schwindenden Licht zu erkennen, dass es kurz nach Sonnenuntergang sein musste. Da dies die dunkelste Neumondnacht war und die dichte Wolkendecke die Sterne verdeckte, stand ihnen eine tiefschwarze Nacht bevor – auch ohne Nieselregen und aufkommende Dunkelheit ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt, um Tote auszugraben.

Als Richard mit einer gewissen beherrschten, gleichwohl zielgerichteten Wut vor sich hin ackerte, griff sich Cara schließlich eine der anderen Schaufeln. »Je schneller wir es hinter uns bringen, desto besser.«

Sie stieß ihre Schaufel in das feuchte Erdreich und half Richard beim Graben. In grimmiges Schweigen gehüllt, stand Zedd ganz in der Nähe und schaute weiterhin zu. Um das Ganze zu beschleunigen, hätte sogar Nicci mit angefasst; sie bezweifelte jedoch, dass mehr als zwei Personen genügend Platz zum Graben hatten, ohne einander ständig im Weg zu sein. Sie war fast geneigt, der Plackerei beim Öffnen des Grabes mit etwas Magie nachzuhelfen, meinte aber deutlich zu spüren, dass Zedd damit nicht einverstanden wäre. Offenbar legte er Wert darauf, dass Richard dies aus eigener Kraft tat, mit seinen Muskeln, seinem Schweiß. Es sollte sein Werk sein. Während das Tageslicht allmählich immer mehr schwand, arbeiteten sich Richard und Cara immer tiefer in das Erdreich vor; mittlerweile mussten sie zur Spitzhacke greifen, um durch das dichte Wurzelgeflecht zu dringen, das die Grabstelle in allen Richtungen durchzog. Das Vorhandensein von Wurzeln dieser Dicke war für Nicci ein sicherer Hinweis dafür, dass das Grab älter sein musste, als Richard annahm, aber falls er zu demselben Schluss gekommen war, ließ er sich das in seiner Arbeitsweise nicht anmerken. Vermutlich lag er mit seiner Einschätzung sogar richtig, dass dies kein echtes Grab war, das würde immerhin erklären, warum die Wurzeln so mächtig hatten werden können. Wenn Richard Recht hatte, hätte nur ein kleines Loch zwischen ihnen ausgehoben werden müssen, gerade groß genug, um ein rituelles Gefäß mit etwas Asche darin zu verbuddeln, doch daran mochte sie nicht einen Augenblick glauben. Schaufel für Schaufel wurde der Haufen schwarzer Erde neben dem Loch immer höher. Als die vor Regen und Schweiß triefenden Köpfe von Richard und Cara auf gleicher Höhe mit dem Boden waren, stieß Richards Schaufel plötzlich mit einem dumpfen Geräusch gegen einen festen Gegenstand. Die beiden hielten inne. Richard wirkte plötzlich wie gelähmt; seiner Geschichte zufolge dürfte sich in dem Grab überhaupt nichts befinden, außer vielleicht einem kleinen, Asche enthaltenden Behälter, obwohl nicht recht einzusehen war, warum ein solcher Behälter so tief vergraben sein sollte. »Es kann sich nur um eine Urne für die Asche handeln«, meinte er nach einer Weile mit einem Blick auf Zedd. »Das muss es sein. Du hättest die Leichenasche niemals einfach in ein Erdloch gekippt; gewiss hätte man bei dem Begräbnis irgendeine Art von Gefäß für die Asche verwendet, die alle aufgrund deines Täuschungsmanövers für Kahlans halten sollten.«

Zedd sagte nichts.

Cara beobachtete Richard einen Moment lang, dann stieß sie ihre Schaufel erneut ins Erdreich; wieder war das gleiche dumpf hallende Geräusch zu hören. Sie wischte sich mit dem Handrücken eine blonde Strähne aus dem Gesicht und sah hoch zu Nicci.

»Sieht ganz so aus, als hättet ihr etwas gefunden.« Zedds schicksalsschwere Stimme schien durch den tief hängenden Nebel zu tragen, der über dem Boden des privaten Friedhofs aufgezogen war. »Schätze, wir sollten nachsehen, was es ist.«

Einen Moment lang starrte Richard zu seinem Großvater hoch, dann machte er sich erneut ans Graben. Binnen kurzem hatten er und Cara eine glatte Oberfläche freigelegt. Es war zu dunkel, um deutlich etwas sehen zu können, trotzdem wusste Nicci sofort, was es war.

Es war die Wahrheit, im Begriff, enthüllt zu werden, es war das Ende von Richards Wahnvorstellungen. »Das begreife ich nicht«, murmelte Richard, verwirrt von der Größe des Gegenstandes, den sie im Begriff waren freizulegen.

»Legt die Oberseite vollends frei«, kommandierte Zedd mit kaum verhohlenem Verdruss. Sofort gingen die beiden daran, das feuchte Erdreich rasch und doch behutsam von dem Gegenstand zu entfernen, der sich alsbald nur zu deutlich als Sarg entpuppte. Als sie ihn vollständig freigelegt hatten, befahl Zedd ihnen, aus dem Loch herauszusteigen, das sie gegraben hatten. Der alte Zauberer hielt seine Hände über das offene Grab und drehte die Handflächen nach oben. Unter den Blicken der anderen begann sich der schwere Sarg zu heben. Erde fiel bröckelnd von ihm ab, als der längliche Kasten aus dem schwarzen Nichts emporzusteigen begann. Zedd trat von dem klaffenden Loch im geweihten Boden zurück und setzte den Sarg mithilfe seiner Gabe behutsam neben dem geöffneten Grab ins Gras. Seine Außenseite war mit kunstvollen Schnitzereien sich öffnender, versilberter Farnwedel verziert, es war eine Arbeit von ehrfurchtsvoller, trauriger Schönheit. Die Vorstellung, was er enthalten mochte, ließ Richards Blick starr werden.

»Öffne ihn«, befahl Zedd.

Unschlüssig sah Richard einen Augenblick lang zu ihm hoch.

»Öffne ihn«, wiederholte Zedd.

Schließlich ließ sich Richard neben dem mit Silber beschlagenen Sarg auf die Knie hinunter und stemmte mit der Schaufelspitze vorsichtig den Deckel auf. Cara ging die beiden Laternen holen, von denen sie eine Zedd reichte, während sie die andere über Richards Schulter hielt, damit er etwas erkennen konnte. Als der Deckel sich endlich löste, hob Richard die schwere Abdeckung gerade weit genug an, um den oberen Teil ein Stück zur Seite schieben zu können.

Der Schein von Caras Laterne fiel auf einen verwesten, mittlerweile fast vollständig skelettierten Körper. Dank der handwerklichen Sorgfalt bei der Fertigung des Sarges war der Leichnam auf seiner langen Reise zum endgültigen Zerfall bislang weitgehend trocken geblieben. Von dem langen Aufenthalt unter der Erde und dem unaufhaltsamen Verfallsprozess waren die Knochen fleckig, ein Schopf langen Haars, größtenteils noch immer mit dem Schädel verbunden, fiel über die Schultern. Gewebe war nur noch wenig übrig, das meiste davon war Bindegewebe, vor allem dort, wo es die Knochen der Finger zusammenhielt, die selbst so lange nach dem Dahinscheiden noch einen längst zerfallenen Blumenstrauß umklammerten. Der Leichnam der Mutter Konfessor war in ein feines, schlichtes weißes Seidenkleid gehüllt, das am Halsausschnitt, durch den man jetzt die blanken Rippen sah, rechteckig ausgeschnitten war. Das Blumenbukett in ihren Händen war mit einem perlenbesetzten Spitzentuch umhüllt, an dem ein breites, goldenes Band befestigt war. Auf diesem Band war in mit silbernem Faden gestickten Buchstaben zu lesen:

»Unserer geliebten Mutter Konfessor, Kahlan Amnell. Sie wird stets in unseren Herzen wohnen.«

Damit konnte kaum noch Zweifel am wahren Schicksal der Mutter Konfessor bestehen, ebenso daran, dass das, was nach Richards unerschütterlicher Überzeugung seine Erinnerung war, von der Wirklichkeit widerlegt und mithin nichts weiter war als eine süße, jetzt zu Staub zerfallende Selbsttäuschung. Richard, kaum fähig zu atmen, konnte nichts weiter tun, als auf die menschlichen Überreste in dem offenen Sarg zu starren, auf das weiße Kleid und das goldene Band um die schwarzen Reste dessen, was einst ein wunderschöner Blumenstrauß gewesen war.

Nicci war hundeelend zumute.

»Bist du jetzt zufrieden?«, fragte Zedd im wohl bedachten Tonfall nur mühsam unterdrückten Zorns. »Ich begreife das nicht«, sagte Richard mit kaum hörbarer Stimme, unfähig, die Augen von dem schaurigen Anblick zu lösen.

»Ach nein? Ich denke, es ist ziemlich offensichtlich«, gab Zedd zurück. »Aber ich weiß, dass sie hier nicht begraben liegt. Ich habe dafür einfach keine Erklärung. Ich kann den Widerspruch zu dem, was ich sicher weiß, nicht begreifen.«

Zedd faltete die Hände. »Weil es keinen Widerspruch gibt, den man begreifen müsste. Widersprüche gibt es nicht.«

»Ja, und doch weiß ich ...«

»Das neunte Gesetz der Magie: Es kann in der Wirklichkeit keinen Widerspruch geben, weder in Teilbereichen noch im Ganzen. An einen Widerspruch glauben bedeutet den Verzicht auf den Glauben an die Existenz der realen Welt, die einen umgibt, und an das Wesen der in ihr enthaltenen Dinge zugunsten eines beliebigen, die eigene Fantasie erregenden Affekts – zugunsten der Vorstellung, dass etwas wirklich ist, nur weil man es wünscht. Die Dinge sind, was sie sind, sie sind sie selbst. Widersprüche kann es nicht geben.«

»Aber Zedd, ich muss doch glauben ...«

»Ah, du glaubst. Mit anderen Worten, die Realität dieses Sarges und des vor langer Zeit beerdigten Leichnams der Mutter Konfessor hat dir etwas vor Augen geführt, das du nicht erwartet hast und das du nicht zu akzeptieren bereit bist, weshalb du dich in den undurchsichtigen Nebel des Glaubens flüchten möchtest. Ist es das, was du mir sagen wolltest?«

»Na ja, in diesem Fall...«

»Glaube ist ein Mittel der Selbsttäuschung, ein Taschenspielertrick, vollführt mit Worten und Gefühlen, die sich auf jede nur erdenkliche irrationale Vorstellung gründen. Einfacher ausgedrückt, er versucht, einer Lüge Leben einzuhauchen, indem er die Wirklichkeit mit der Schönheit des Wunschdenkens zu überstrahlen sucht. Glaube ist die Zuflucht der Narren, Unwissenden und ihren Selbsttäuschungen Erlegenen, nicht der denkenden, vernunftbegabten Menschen. In der Wirklichkeit kann es keine Widersprüche geben, denn um an sie zu glauben, müsste man sein wertvollstes Gut aufgeben, die Vernunft. Der Preis dieses Handels ist das eigene Leben, es ist ein Tausch, bei dem der eigene Einsatz in jedem Fall verloren geht.«

Richard fuhr sich mit den Fingern durch die nassen Haare. »Aber irgendetwas stimmt hier nicht, Zedd. Ich weiß nicht, was, aber ich bin absolut sicher, dass es sich so verhält. Du musst mir helfen.«

»Das habe ich soeben getan. Ich habe dir Gelegenheit gegeben, uns den von dir selbst angeführten Beweis zu zeigen. Er liegt dort, in diesem Sarg. Zugegeben, es ist nicht das von dir erhoffte erfreuliche Ergebnis, andererseits kann man sich seiner faktischen Gegebenheit unmöglich entziehen. Dies ist, was du gesucht hast, dies ist Kahlan Amnell, die Mutter Konfessor, genau, wie es die Inschrift auf ihrem Grabstein besagt.«

Eine Augenbraue hochgezogen, neigte er sich ein wenig zu seinem Enkelsohn hin. »Es sei denn, du kannst beweisen, dass hier eine Art Betrug vorliegt, dass jemand diesen Sarg aus einem bestimmten Grund hier vergraben hat, als Teil eines ausgeklügelten Schwindels, dessen einziges Ziel es ist, den Anschein zu erwecken, du habest dich getäuscht und alle anderen hätten Recht. Aber wenn du mich fragst, wäre das ein ziemlich fadenscheiniges Argument. Ich fürchte, die eindeutigen Beweise, hier vor unseren Augen, sprechen eine klare Sprache: Dies ist die Wirklichkeit – der Beweis, den du gesucht hast –, und es liegt nicht der geringste Widerspruch vor.«

Richard starrte auf den vor ihm liegenden, vor langer Zeit verstorbenen Körper. »Irgendetwas stimmt hier nicht. Das kann einfach nicht sein, ausgeschlossen.«

Zedds Kiefermuskeln spannten sich. »Richard, ich habe mich nachsichtig gezeigt und dir in dieser schaurigen Geschichte Entgegenkommen bewiesen, obwohl ich es von Rechts wegen hätte bleiben lassen sollen, aber jetzt verrate mir endlich, warum du das Schwert nicht bei dir hast. Wo ist das Schwert der Wahrheit?«

Leise prasselte der Regen auf das Blätterdach, derweil sein Großvater auf eine Antwort wartete. »Ich habe es Shota im Tausch für gewisse Informationen überlassen, die ich dringend brauchte.«

Zedds Augen weiteten sich. »Du hast was getan?«

»Ich müsste es tun«, murmelte Richard, ohne seinen Großvater anzusehen. »Du musstest es tun? Du musstest?«

»Ja«, antwortete Richard kleinlaut.

»Und im Tausch gegen welche Information, wenn ich fragen darf?«

Richard stützte seine Ellbogen auf die Sargkante und vergrub sein Gesicht in den Händen. »Im Tausch gegen etwas, das mir helfen könnte, herauszufinden, was hier tatsächlich geschieht. Ich brauche unbedingt Antworten, ich muss wissen, wie ich Kahlan wieder finden kann.«

Wütend stieß Zedd einen Finger in Richtung des Sarges. »Dort liegt Kahlan Amnell! Exakt an der Stelle, die die Inschrift auf ihrem Grabstein immer schon angegeben hat. Und welche so ungeheuer wertvolle Information hat dir Shota gegeben, nachdem sie dir das Schwert abgeluchst hatte?«

Richard unternahm nicht einmal den Versuch, den Eindruck zu entkräften, er sei um das Schwert betrogen worden.

»Feuerkette. Das war der Begriff, den sie mir nannte, allerdings wusste sie nicht, was er bedeutet. Sie erklärte mir nur, ich müsse die Stätte der Gebeine im Herzen der Leere finden.«

»Das Herz der Leere«, wiederholte Zedd spöttisch, ehe er in den tiefschwarzen Himmel hinaufblickte und einmal tief durchatmete. »Ich nehme an, Shota konnte dir nicht sagen, was sich hinter diesem Herz der Leere verbirgt?«

Ohne aufzusehen, schüttelte Richard den Kopf. »Dann sagte sie noch, ich solle mich vor der vierköpfigen Viper hüten.«

Zedd stieß abermals verärgert den Atem aus. »Was du nicht sagst. Ich wette, auch in diesem Fall habt ihr beide keinen blassen Schimmer, was es bedeutet.«

Wieder schüttelte Richard den Kopf, ohne zu seinem Großvater aufzusehen. »War es das? Ist das der großartige Schatz wertvoller Informationen, die man dir im Tausch gegen das Schwert der Wahrheit überlassen hat?«

Richard zögerte. »Da war noch etwas.« Er sprach so leise, dass man ihn im sanften Wispern des Regens kaum verstehen konnte. »Shota sagte noch, was ich suche ... sei schon lange begraben.«

Zedds schwelender Zorn drohte zu explodieren. Er stieß seinen Finger vor und wies auf das Grab. »Was du suchst, liegt dort: Kahlan Amnell, die Mutter Konfessor und vor langer Zeit begraben.«

5*4

Richard ließ den Kopf hängen und schwieg.

»Und dafür hast du das Schwert der Wahrheit hergegeben? Eine Waffe von unschätzbarem Wert! Eine Waffe, die nicht nur die Bösen zu Fall zu bringen vermag, sondern auch die Guten, eine Waffe, die dir von Zauberern aus grauer Vorzeit vererbt wurde und die nur einigen wenigen Auserwählten anvertraut werden darf. Eine Waffe, die ich dir anvertraut habe – und du überlässt sie einfach einer Hexe. Hast du überhaupt eine Vorstellung, was ich durchmachen musste, um das Schwert wiederzubeschaffen, nachdem sie es das letzte Mal in ihre Gewalt gebracht hatte?«

Richard schüttelte den Kopf, den Blick starr auf den Boden neben dem Sarg gerichtet, und schien sich nicht zu trauen, etwas zu sagen.

Nicci wusste, er hatte eine Reihe von Dingen zu seiner Verteidigung vorzubringen, Dinge, die mit den hinter seinen Handlungen und Überzeugungen stehenden Überlegungen zu tun hatten, doch er erwähnte nicht eines davon, nicht einmal, als er die Gelegenheit dazu geboten bekam. Stattdessen kniete er schweigend und mit hängendem Kopf neben dem offenen Sarg, in dem das Ende seiner Träume lag, und ließ die Beschimpfungen seines Großvaters über sich ergehen.

»Ich habe dir etwas sehr Wertvolles anvertraut, weil ich dachte, ein so gefährlicher Gegenstand wäre bei dir in guten Händen. Aber du hast mich im Stich gelassen, Richard, mich und alle anderen, um stattdessen einem Hirngespinst nachzujagen. Nun, jetzt liegt es vor uns, in Form von ein paar lange beerdigten Knochen. Ich kann nur hoffen, dass du dies für ein faires Geschäft hältst, denn für mich gilt das ganz sicher nicht.«

Nicht weit entfernt stand Cara, in der Hand die Laterne, die Haare vom trägen, aber steten Regen an den Kopf geklebt. Sie sah aus, als wollte sie Richard in Schutz nehmen, wusste aber nicht, wie sie es anstellen sollte. Desgleichen Nicci, die ebenfalls Angst hatte, den Mund aufzumachen. Offenbar ahnte sie, dass sie damit alles nur noch schlimmer machen würde. Nur das leise Wispern des Regens auf den Blättern füllte die ansonsten vollkommen stille, nebelverhangene Nacht.

Schließlich sagte Richard mit stockender Stimme: »Tut mir Leid, Zedd.«

»Das wird es kaum aus ihren raffgierigen Fingern befreien, und es wird auch nicht all die Menschen retten, die Samuel mit diesem Schwert bedrohen wird. Ich liebe dich wie einen Sohn und werde es immer tun, trotzdem war ich noch nie so enttäuscht von dir. Ich hatte dich niemals für fähig gehalten, so etwas Unüberlegtes und Leichtsinniges zu tun.«

Richard, nicht gewillt, sein Tun zu rechtfertigen, nickte nur. Nicci brach es fast das Herz.

»Ich werde es dir überlassen, die Mutter Konfessor wieder in ihr Grab zu betten, unterdessen werde ich mir einen Weg zu überlegen versuchen, wie wir dieser Hexe das Schwert wieder abnehmen können, die erheblich klüger war als mein Enkelsohn. Du solltest dir klar machen, dass du für die Folgen womöglich zur Rechenschaft gezogen wirst.«

Richard nickte.

»Gut. Freut mich, dass du zumindest das begriffen hast.« Einen Blick in den Augen, so Furcht erregend wie der eines jeden Rahl, wandte er sich herum zu Cara und Nicci. »Ich möchte, dass Ihr beide mich zur Burg zurück begleitet. Dort will ich dann alles über diese Geschichte mit dieser Bestie erfahren, jedes einzelne Wort.«

»Aber ich muss hier bleiben und auf Lord Rahl aufpassen«, wandte Cara ein. »Nein«, beschied er sie knapp. »Ihr werdet mit mir kommen und mir in allen Einzelheiten erklären, was bei der Hexe vorgefallen ist. Ich will Wort für Wort erfahren, was sie dazu zu sagen hatte.«

Cara schien hin- und hergerissen. »Zedd, ich kann unmöglich ...«

»Geht mit ihm, Cara«, befahl Richard ihr in ruhigem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Tut, was er sagt. Bitte.«

Nicci spürte, wie hilflos es Richard machte, sein Tun in Gegenwart seines Großvaters zu rechtfertigen, ganz gleich, wie sicher er gewesen sein mochte, das einzig Richtige zu tun. Sie verstand, weil sie sich in Gegenwart ihrer Mutter stets genauso hilflos gefühlt hatte, wenn diese ihr, wie so oft, vorwarf, etwas falsch gemacht zu haben.

In Wirklichkeit war es für Richard noch viel schwerer als damals für sie, denn er liebte und respektierte seinen Großvater. Trotz seiner zahlreichen Erfolge, trotz seiner Kraft, seines Wissens, seiner Talente und Überlegenheit war es eine unbestreitbare Tatsache, dass er seinen Großvater enttäuscht hatte, was umso schmerzlicher war, als er ihm in liebevollem Respekt zugetan war. »Geht schon«, sagte sie zu Cara und legte ihr behutsam eine Hand ins Kreuz. »Tut erst einmal, was er sagt. Ich denke, Richard wird es gut tun, eine Weile allein zu sein, um nachzudenken und wieder zur Besinnung zu kommen.«

Cara, deren Blick zwischen Nicci und Richard hin – und herwanderte, sah aus, als glaubte sie, er sei in Niccis Händen womöglich besser aufgehoben, und nickte zustimmend.

»Ihr auch«, sagte Zedd an Nicci gewandt. »Ich muss bis ins Detail wissen, welche Rolle Ihr in dieser Geschichte spielt, damit ich mir überlegen kann, wie sich all die Probleme lösen lassen, die nicht nur hierdurch, sondern auch durch das, was Jagang getan hat, entstanden sind.«

»Also gut«, sagte Nicci. »Geht Ihr die Pferde holen, ich werde hier auf Euch warten.«

Er warf kurz einen letzten Blick auf den noch immer neben dem Sarg knienden Richard, dann erklärte er sich mit einem Nicken zu Nicci einverstanden.

Kaum war er mit Cara durch die Wacholderhecke und im Nebel verschwunden, hockte sich Nicci neben Richard nieder und legte ihm eine Hand zwischen seine eingefallenen Schultern. »Alles wird wieder gut werden, Richard.«

»Ich frage mich, ob überhaupt jemals wieder etwas gut werden wird.«

»Im Augenblick mag es dir nicht so scheinen, aber es wird. Zedd wird seine momentane Verärgerung überwinden und letztendlich begreifen, dass du dir größte Mühe gegeben hast, verantwortungsbewusst zu handeln. Ich weiß, dass er dich liebt, er hat sicherlich nicht gewollt, dass seine Worte dich so tief verletzen.«

Richard kniete im Morast neben dem Sarg, in dem der Leichnam der lange toten Kahlan Amnell lag, der Frau, die zu lieben er sich eingebildet hatte, und nickte, ohne aufzusehen. »Nicci«, fragte er schließlich so leise, dass er im Geräusch des sanften Regens kaum zu hören war, »würdet Ihr etwas für mich tun?«

»Was immer du willst, Richard.«

5V

»Seid ein allerletztes Mal... die Herrin des Todes – mir zuliebe.« Sie strich ihm über den Rücken, dann erhob sie sich, während sich die Tränen auf ihrem Gesicht mit dem Regenwasser vermischten. Es kostete sie eine ungeheure Willensanstrengung, trotz des Schluchzens, das mit aller Macht ihrer Kehle entweichen wollte, mit fester Stimme zu sprechen.

»Ich kann nicht, Richard. Nicht, seit du mich gelehrt hast, das Leben mit offenen Armen anzunehmen.«

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