30

Als sie den einzelnen, lange nachklingenden Ton einer Glocke hörte, stutzte Verna. »Was war denn das?«

»Die Andacht«, antwortete Berdine und blieb stehen, während der tiefe Glockenschlag in den endlosen marmornen und granitenen Fluren des Palasts des Volkes widerhallte. Was immer ursprünglich ihr Ziel gewesen sein mochte – die Menschen schwenkten allenthalben ab und bewegten sich stattdessen auf jenen breiten Korridor zu, in dem der tiefe, volltönende Glockenton erklungen war. Niemand schien es sonderlich eilig zu haben, aber alle hielten sehr zielstrebig auf den allmählich verklingenden Glockenton zu.

Verna sah Berdine fragend an. »Die was?«

»Die Andacht. Ihr werdet doch wissen, was eine Andacht ist.«

»Ihr meint die Andacht, die für Lord Rahl gehalten wird?«

Berdine nickte. »Die Glocke verkündet, dass es Zeit für die Andacht ist.« Nachdenklich wanderte ihr Blick in die Richtung des Korridors, in den die Menschen hineinströmten.

Viele in der immer rascher anwachsenden Menge waren mit in einer Vielzahl gedämpfter Farben gehaltenen Gewändern bekleidet. Verna vermutete, die mit einer silbernen oder goldenen Borte abgesetzten Gewänder waren das Erkennungszeichen irgendwelcher im Palast lebender und arbeitender Beamter, zumindest deuteten ihr ganzes Auftreten und ihre Körperhaltung darauf hin. Alle, von diesen Verwaltungsbeamten bis hin zu einfachen Boten in ihren grün abgesetzten Gewändern und ihren Ledermappen mit dem verschnörkelten, für das Haus Rahl stehenden Buchstaben »R« darauf, setzten ungezwungen ihre Unterhaltungen fort, während sie sich zu der Stelle begaben, wo die breiten Flure zusammenliefen. Andere, die in einem der vielen Ladengeschäfte arbeiteten, waren eher ihrem Beruf entsprechend gekleidet – ob sie nun mit Leder, mit Silber oder Töpferwaren arbeiteten, ob sie Schuhe flickten oder Bekleidung herstellten, ob sie die zahllosen Speisen oder Dienste feilboten oder mit den vielfältigen im Palast anfallenden Arbeiten, von der Wartung bis zur Reinhaltung, beschäftigt waren.

Ein großer Teil der Passanten trug die einfachen Kleider der Farmer, Händler und Kaufleute, von denen viele ihre Frauen und manche sogar ihre Kinder mitgebracht hatten. Wie die Menschen, die Verna auf den unteren Ebenen im Innern des riesigen Felsplateaus, auf dem sich der Palast des Volkes erhob, oder an den draußen eingerichteten Märkten gesehen hatte, schienen sie Besucher zu sein, die wegen irgendwelcher Geschäfte oder Einkäufe hergekommen waren. Andere wiederum hatten anlässlich ihres Besuches ihre besten Kleider angelegt. Von Berdine hatte sie erfahren, dass es Zimmer gab, die Gäste mieten konnten, für den Fall, dass sie länger im Palast zu bleiben beabsichtigten. Natürlich gab es auch Wohnquartiere für die zahllosen Menschen, die im Palast lebten und arbeiteten.

Die meisten mit Gewändern Bekleideten schlenderten gemächlich dahin, so als sei dies einfach Bestandteil ihres gewohnten Tagesablaufs. Wer sich fein herausgeputzt hatte, war bemüht, nicht minder gelassen zu wirken und die geschmackvolle Architektur nicht allzu offenkundig zu bestaunen, trotzdem sah Verna ihre bewundernd geweiteten Augen umherwandern. Die eher einfach gekleideten Besucher dagegen ließen es sich, während sie sich dem Strom der auf die Kreuzung zuhaltenden Passanten anschlössen, der sie zum Korridor mit der Glocke führen würde, nicht nehmen, alles ganz unverhohlen anzustarren – die hohen, aus buntscheckigem Gestein gemeißelten Statuen von Männern und Frauen in stolzer Pose, die polierten, über zwei Stockwerke reichenden und sich vor den Galerien emporschwingenden gekehlten Säulen, die grandiosen Fußböden aus schwarzem Granit und honigfarbenem Onyx.

Verna wusste, dass Steinfußbodenmuster von dieser Feinheit und Präzision, abgesetzt mit solch schmalen Fugen, nur von den fähigsten Handwerksmeistern der gesamten Neuen Welt geschaffen worden sein konnten. Während ihrer kurzen Dienstzeit als Prälatin im Palast der Propheten hatte sie sich mit der Frage des Auswechselns eines Teils des wunderschön gemusterten Fußbodens befassen müssen, der irgendwann in grauer Vorzeit von jungen, noch in der Ausbildung befindlichen Zauberern beschädigt worden war. Welcher Art die Vorfälle waren, die tatsächlich zu dem Schaden geführt hatten, und wer dafür verantwortlich zu machen war, blieb für immer unter dem Mantel der Verschwiegenheit verborgen, fest stand nur, dass ein mutwilliger Magiestoß einen nicht unbeträchtlichen Teil des kunstvoll angelegten Marmorbodens in Sekundenschnelle aufgerissen hatte. Trümmerteile und lose Fliesen waren zwar längst beseitigt worden, dennoch war der Fußboden über Jahrzehnte in seinem beschädigten Zustand erhalten geblieben – wenn auch mit praktischem, allerdings wenig ansehnlichem Kalkstein ausgebessert –, während das Leben im Palast seinen Fortgang nahm. Lange Zeit war die Haltung der Palastautoritäten gegenüber diesen jungen Burschen von einer gewissen Nachsicht geprägt gewesen, die sich nicht zuletzt aus dem Bedauern darüber speiste, dass man gezwungen war, so junge Männer gegen ihren Willen festzuhalten. Der Schaden hatte Verna stets irritiert, bis Warren, einst ihre große Liebe und ein enger Freund Richards, sie gedrängt hatte, ihrer Überzeugung nachzugeben und den Fußboden ausbessern zu lassen – und daher rührten ihre Kenntnisse über diese Fußböden wie auch die Gewissheit, dass viele Handwerker zwar dreist behaupteten, Meister ihres Fachs zu sein, aber nur wenige es wirklich waren. Verna ließ ihren Blick durch den spektakulären Palast und über die kunstvollen Steinmetzarbeiten wandern, und doch vermochte all diese Schönheit sie nicht anzurühren. Seit Warrens Tod kam ihr alles reizlos, belanglos und unbedeutend vor. Seit seinem Tod erschien ihr das Leben als mühselige Schinderei. Überall im Palast patrouillierten wachsame Soldaten, wahrscheinlich ohne sich des Schwindel erregenden Ausmaßes an menschlicher Fantasie und Mühen bewusst zu sein, das in die Schaffung eines solchen Ortes, wie ihn der Palast des Volkes darstellte, eingeflossen war. Sie waren jetzt ein Teil von ihm, ein Teil, der ihn am Leben erhielt, wie tausende ganz ähnlicher Männer vor ihnen, die jahrhundertelang durch die Flure gewandelt waren und für Sicherheit gesorgt hatten.

Alsbald fiel Verna auf, dass einige Gardisten zu zweit durch die Flure schlenderten, während andere in Gruppen patrouillierten. Die muskulösen jungen Burschen trugen fesche Uniformen mit Schulter- und Brustpanzern aus gestanztem Leder und waren ohne Ausnahme mit Schwertern bewaffnet, viele überdies noch mit einer Lanze. Darüber hinaus bemerkte Verna Spezialgardisten mit schwarzen Handschuhen, über deren Schulter, an einem Riemen, eine Armbrüst hing. Die Köcher an ihren Gürteln enthielten mit roten Federn bestückte Pfeile. Sämtliche Soldaten waren ständig in Bewegung und hatten auf alles ein Auge.

»Ich meine mich zu erinnern, dass Richard etwas von dieser Andacht erwähnte«, sagte Verna, »aber ich dachte nicht, dass sie auch dann stattfindet, wenn sich der Lord Rahl gar nicht im Palast befindet – und erst recht nicht, seit Richard dieses Amt innehat.«

Sie hatte nicht herablassend klingen wollen, aber als die Worte heraus waren, merkte sie, dass es so geklungen haben musste. Es war nur so, das Richard ... nun ja, eben Richard war. Berdine warf ihr einen scheelen Seitenblick zu. »Er ist trotzdem der Lord Rahl, und wir fühlen uns ihm nicht weniger verbunden, nur weil er gerade nicht im Palast weilt. Die Andacht findet zu allen Zeiten im Palast statt, ob Lord Rahl sich hier aufhält oder nicht. Und ungeachtet des Eindrucks, den Ihr persönlich von ihm habt, ist er in jeder Hinsicht der Lord Rahl, den wir respektieren wie noch keinen Lord Rahl vor ihm. Das gibt der Andacht einen tieferen Sinn und macht sie wichtiger als je zuvor.«

Verna verzichtete auf eine Erwiderung und bedachte Berdine stattdessen mit einem Blick, der ihr, als Schwester des Lichts und nun sogar Prälatin, keine sonderliche Mühe abverlangte. Auch wenn sie ihre Beweggründe kannte, sie war derzeit immerhin die Prälatin der Schwestern des Lichts, deren Arbeit ganz dem Willen des Schöpfers gewidmet war. Als Schwester des Lichts, die im Palast der Propheten unter einem den Alterungsprozess verlangsamenden Bann gelebt hatte, hatte sie Herrscher kommen und gehen sehen, ohne dass sich ihre Ordensschwestern ihnen jemals gebeugt hätten.

Sie ermahnte sich, dass der Palast der Propheten nicht mehr existierte und viele ihrer Mitschwestern jetzt unter der Herrschaft der Imperialen Ordnung standen.

Berdine wies mit einer ausholenden Geste auf den Palast ringsum. »Dies alles hat erst Lord Rahl möglich gemacht, er hat uns eine Heimat gegeben. Er ist die Magie gegen die Magie, seine Herrschaft garantiert unsere Sicherheit. Wir hatten in der Vergangenheit nicht selten Herrscher, die die Andacht als eine Demonstration sklavischer Unterwürfigkeit betrachteten, dabei ist sie ihrem Ursprung nach nichts anderes als ein Ausdruck des Respekts.«

Vernas Ärger brodelte dicht unterhalb der Oberfläche, schließlich sprach Berdine nicht etwa von irgendeinem mythischen Anführer, einem weisen alten König, sondern von Richard. Sosehr sie ihn schätzte und respektierte, er war noch immer Richard, ein ehemaliger Waldführer.

Der kurze Anflug von Empörung wich augenblicklich einem Gefühl des Bedauerns über diese wenig freundlichen Gedanken. Richard setzte sich stets ein für das, was richtig war, und hatte schon mehrfach mutig für seine noblen Überzeugungen sein Leben aufs Spiel gesetzt.

Außerdem war er es, der in den Prophezeiungen genannt wurde.

Und er war der Sucher – sowie der Lord Rahl, der Bringer des Todes, der die Welt auf den Kopf gestellt hatte. Ihm hatte sie es zu verdanken, dass sie jetzt Prälatin war – auch wenn sie nicht recht wusste, ob sie das als Segen oder Fluch begreifen sollte.

Aber vor allem war Richard ihre letzte Hoffnung.

»Nun ja, wenn er sich nicht sputet, um endlich zu uns zu stoßen, und sich in der letzten entscheidenden Schlacht an die Spitze der d’Haranischen Armee stellt, wird von uns wohl niemand mehr übrig sein, der ihm Respekt zollen könnte.«

»Wir sind der Stahl gegen den Stahl, Lord Rahl ist die Magie gegen die Magie. Wenn er sich nicht zeigt, um gemeinsam mit der Armee zu kämpfen, dann nur deswegen, weil er es als seine Pflicht ansieht, uns vor den dunklen Kräften der Magie zu beschützen«, psalmodierte Berdine. »Was für ein einfältiges Geschwätz«, murmelte Verna bei sich, während sie sich beeilte, die Mord-Sith einzuholen. »Wo wollt Ihr überhaupt hin?«, rief sie ihr hinterher. »Zur Andacht, wohin denn sonst? Jeder im Palast nimmt an der Andacht teil.«

»Berdine«, knurrte sie, als sie ihren Arm zu fassen bekam. »Dafür haben wir jetzt keine Zeit.«

»Jetzt ist Andacht. Sie ist Bestandteil unserer Bande zu Lord Rahl. Ihr tätet gut daran, hinzugehen, schon allein deswegen, damit Ihr das nicht so leicht vergesst.«

Wie angewurzelt blieb Verna mitten in dem weiten Flur stehen und sah der sich mit entschlossenen Schritten entfernenden Mord-Sith verdutzt hinterher. Die Zeit, als die Bande zu Richard unterbrochen waren, war ihr noch lebhaft in Erinnerung. Es hatte nicht einmal übermäßig lange gedauert, trotzdem hatte der Schutz, den die Bande gewährten, während seiner Abwesenheit aus der Welt des Lebens zu existieren aufgehört – und in dieser kurzen Zeitspanne, als Richard und die Bande für sie alle unerreichbar waren, hatte Jagang sich in Vernas Träume gestohlen und von ihrem Verstand Besitz ergriffen – und Warren gefangen genommen. War es schon ein unvorstellbares Grauen, zu wissen, dass der Traumwandler die Herrschaft über ihr Bewusstsein erlangt hatte, so hatte das Wissen, dass Warren ihm gleichermaßen hilflos ausgeliefert war, alles nur noch schlimmer gemacht. Jagangs ununterbrochene Anwesenheit hatte jeden Aspekt ihres Seins bestimmt, die Gedanken, die er ihnen zu denken erlaubte, ja ihr ganzes Tun. Sie waren nicht mehr Herr ihres Willens, was zählte, war einzig der Wille Jagangs. Die bloße Erinnerung an den sengenden Schmerz, der ihr – und Warren – über diese Verbindung zugefügt worden war, ließ ihr völlig unvermutet stechend die Tränen in die Augen treten. Sie wischte sie rasch fort und eilte Berdine hinterher. Es gab wichtige Dinge zu erledigen, aber der Versuch, sich ganz alleine einen Weg durch das schier endlose Innenleben des Palasts des Volkes zu bahnen, würde sie unendlich viel Zeit kosten. Sie brauchte die Mord-Sith, damit diese ihr den Weg zeigte. Hätte Verna die Kontrolle über ihre Gabe gehabt, hätte ihr das vielleicht dabei helfen können, das Gesuchte selbst zu finden, aber im Innern des Palasts war ihr Han beinahe nutzlos. Sie würde Berdine also begleiten und darauf vertrauen müssen, dass sie sich nachher, und zwar ohne allzu großen Zeitverlust, wieder ihren Angelegenheiten widmen konnte.

Der nach links abgehende Korridor führte unter einer Innenbrücke mit einer Balustrade aus grauem, weiß geädertem Marmor hindurch. Am Treffpunkt von vier Seitengängen weitete sich der Korridor zu einem nach oben offenen Platz, in dessen Mitte sich ein quadratisches Wasserbecken befand, ringsum eingefasst von einer niedrigen Sitzbank aus poliertem, gesprenkeltem grauem Granit, der das Wasser zurückhielt. Im Wasser lag, nicht ganz mittig, ein großer, mit Narben übersäter Stein, und auf dem Stein stand eine Glocke – offenbar dieselbe, die erklungen war, um die Menschen zur Andacht zu rufen. Durch das offene Dach fiel ein sanfter Regen, dessen Tröpfchen die Oberfläche des Bassins zum Tanzen brachten. Verna bemerkte, dass der Fußboden rings um das Becken zu einer Reihe von Abflüssen hin leicht geneigt war, die das Regenwasser aufnehmen sollten. Die tönernen Fliesen trugen noch dazu bei, den Eindruck eines im Freien liegenden Platzes zu unterstreichen.

Ringsumher ließen sich die Menschen auf die Knie sinken und verneigten sich bis hinunter auf den Tonfliesenboden, das Gesicht dem Bassin mit der mittlerweile verstummten Glocke darin zugewandt. Berdines düsterer Unmut verflog, als sie sah, dass Verna sie begleitete. Ein seliges Lächeln auf den Lippen, blickte sie sich um, und dann tat sie etwas sehr Merkwürdiges: Sie langte hinter sich und nahm Verna bei der Hand.

»Kommt, lasst mich Euch bis nach vorn zum Bassin führen. Es gibt Fische dort.«

Und tatsächlich, als sie sich einen Weg zwischen all den am Boden knienden Menschen hindurch bis in die vorderste Reihe, ganz in der Nähe des Bassins, gebahnt hatten, sah Verna, das wahre Schwärme orangefarbener Fische im Wasser ziellos ihre Bahnen zogen. Zwischen all den sich bis auf den Boden verneigenden Menschen ringsum war kaum genug Platz zum Stehen.

»Sind sie nicht hübsch?«, fragte Berdine, die plötzlich wieder das Gebaren eines kleinen Mädchens an den Tag legte.

Verna maß die jüngere Frau mit einem durchdringenden Blick. »Nun ja, es sind halt Fische.«

Davon scheinbar unbeeindruckt, kniete Berdine auf einem Fleckchen nieder, das frei wurde, als einige Leute für sie Platz machten. Den verstohlenen Seitenblicken entnahm Verna, dass sie alle einen gesunden Respekt, wenn nicht gar unverhohlene Angst vor der Mord-Sith hatten. Zwar schien keiner verängstigt genug, um sich zu entfernen, dennoch war nicht zu übersehen, dass sie ihren Platz nicht mit Berdine teilen mochten. Außerdem schienen alle einigermaßen besorgt über die Person, die die Mord-Sith da zur Andacht mitgebracht hatte, so als wäre diese eine reuige Sünderin und bei der religiösen Handlung könnte Blut vergossen werden. Nach einem kurzen Blick über die Schulter zu Verna beugte sich Berdine nach vorn und legte die Hände auf den Fliesenboden – der Blick war eine Ermahnung, es ihr nachzutun. Verna bemerkte, dass die Gardisten sie beobachteten. Es war verrückt, sie war die Prälatin der Schwestern des Lichts, eine Beraterin Richards und eine seiner engsten Vertrauten – aber das konnten die Gardisten ja nicht wissen. Umso klarer war sie sich darüber, dass ihre Kraft hier nahezu vollkommen erloschen war. Dies war das Stammhaus der Rahls. Der gesamte Palast war in Gestalt einer Bannform errichtet worden, deren Zweck es war, ihre Macht zu festigen und allen anderen die ihre zu verwehren. Schließlich ließ sie sich mit einem schweren Seufzer auf die Knie hinunter und beugte sich, wie alle anderen auf ihre Hände gestützt, nach vorn. Sie befanden sich ganz nah am Wasserbecken, aber da die Dachöffnung nur ungefähr die Größe des eigentlichen Bassins hatte, beschränkte sich der Regen weitgehend auf das Wasserbecken, und die wenigen verirrten Tropfen wurden von der sanften Brise davongetragen. In Anbetracht ihrer gereizten Stimmung fühlten sich die paar feinen Spritzer, die sie trafen, sogar fast erfrischend an. »Ich bin zu alt für so etwas«, beklagte sich Verna mit gedämpfter Stimme bei ihrer Andachtspartnerin. »Aber Prälatin, Ihr seid doch eine junge, gesunde Frau«, erwiderte Berdine mit mildem Tadel. Verna stieß einen Seufzer aus. Es hatte einfach keinen Sinn, dagegen zu protestieren, töricht auf dem Boden herumzuknien und ein an einen Mann gerichtetes Bittgebet zu sprechen, dem sie bereits in mehr als einer Hinsicht treu ergeben war. Es war sogar mehr als töricht, es war albern. Und überdies Zeitverschwendung. »Führe uns, Meister Rahl«, begann die Menge einmütig, wenn auch nicht ganz wie aus einem Munde, und alle beugten sich noch weiter vor, bis sie mit der Stirn den Boden berührten. »Lehre uns, Meister Rahl«, psalmodierten sie und fanden immer mehr zur Harmonie. Obwohl ihre Stirn die Fliesen berührte, gelang es Berdine, einen glühenden Blick in Vernas Richtung zu werfen. Verna verdrehte die Augen, beugte den Oberkörper vor und presste ihre Stirn auf die Fliesen. »Beschütze uns, Meister Rahl«, fiel sie schließlich murmelnd in das Bittgebet ein, das sie längst kannte und Richard bereits persönlich dargebracht hatte. »In deinem Licht werden wir gedeihen. Deine Gnade gebe uns Schutz. Deine Weisheit beschämt uns. Wir leben nur, um zu dienen. Unser Leben gehört dir.«

Ein weiteres Mal intonierte die versammelte Menge gemeinsam die Andacht. »Führe uns, Meister Rahl. Lehre uns, Meister Rahl. Beschütze uns, Meister Rahl. In deinem Licht werden wir gedeihen. Deine Gnade gewährt uns Schutz. Deine Weisheit beschämt uns. Wir leben nur, um zu dienen. Unser Leben gehört dir.«

Schließlich neigte sie sich vorsichtig hinüber zu Berdine und fragte: »Wie oft müssen wir die Andacht eigentlich noch sprechen?«

Berdine, jetzt ganz Mord-Sith, warf ihr einen unbeugsamen Blick zu, sagte aber nichts. Das war auch nicht nötig, Verna kannte diesen Blick, sie hatte sich seiner selbst schon unzählige Male bedient, wenn sie mit gerümpfter Nase auf Novizinnen herabgeblickt hatte, die sich danebenbenommen hatten, oder auf junge, noch in der Ausbildung befindliche Zauberer, die ihrem Eigensinn frönten. Sie richtete ihre Augen wieder auf die Fliesen vor ihrem Gesicht, stimmte mit leiser Stimme zusammen mit den übrigen Anwesenden den Sprechgesang an und fühlte sich auf einmal wieder sehr wie eine Novizin.

»Führe uns, Meister Rahl. Lehre uns, Meister Rahl. Beschütze uns, Meister Rahl. In deinem Licht werden wir gedeihen. Deine Gnade gewährt uns Schutz. Deine Weisheit beschämt uns. Wir leben nur, um zu dienen. Unser Leben gehört dir.«

Das Gemurmel der mit den vereinten Stimmen all der anderen auf dem Platz versammelten Menschen im Sprechgesang vorgetragenen Andacht hallte durch die tunnelartigen Flure. Nach dem Blick, den Berdine ihr zugeworfen hatte, hielt sie es – vorläufig zumindest – für das Klügste, ihre Einwände für sich zu behalten und die Andacht gemeinsam mit allen anderen anzustimmen.

Leise sprach sie die Worte vor sich hin, ließ sie in ihre Gedanken einfließen und dachte darüber nach, wie viele Male sie sich für sie persönlich bereits als wahr erwiesen hatten. Sie war immer im Glauben gewesen, es sei die wichtigste Mission der Schwestern, mit der Gabe gesegneten jungen Burschen einen Ring um den Hals zu legen und sie im Gebrauch ihrer Gabe zu unterweisen, doch Richard hatte sie gescholten für diesen gedankenlosen Glauben. Mit ihm war alles anders geworden, er hatte sie dazu gebracht, alles noch einmal zu überdenken. Verna bezweifelte, ob sie sich jemals mit Warren zusammengerauft hätte und aus ihrer gegenseitigen Zuneigung echte Liebe hätte erwachsen können, wenn Richard nicht gewesen wäre. Damit hatte ihr Richard das größte Geschenk gemacht, das ihr je im Leben zuteil geworden war.

»Führe uns, Meister Rahl. Lehre uns, Meister Rahl. Beschütze uns, Meister Rahl. In deinem Licht werden wir gedeihen. Deine Gnade gewährt uns Schutz. Deine Weisheit beschämt uns. Wir leben nur, um zu dienen. Unser Leben gehört dir.«

Das leise Murmeln der vereinten Stimmen der Versammelten fand seinen Rhythmus und verschmolz zu einem ehrfürchtigen Sprechgesang, der immer mehr anschwoll, bis er den riesigen Korridor vollends ausfüllte. Selbst hier, mitten in der versammelten Menge so vieler Menschen, fühlte Verna sich unendlich allein. Ihre Sehnsucht nach Warren war so übermächtig, dass sie fast körperlich spürbar wurde. Sie hatte eine Mauer um ihre Gefühle errichtet, hatte sich und ihre Umgebung vor diesen Gedanken abzuschotten versucht, in der Hoffnung, die Schmerzen, die stets dicht unter der Oberfläche zu lauern schienen, blieben ihr erspart. Nun wurde sie unvermittelt vom blanken Elend ihrer Sehnsucht nach Warren überwältigt, nach ihrer Liebe zu ihm. Er war das Beste, was ihr in ihrem ganzen Leben widerfahren war – und nun war er von ihr gegangen. Tränen hoffnungslosen Kummers schössen ihr in die Augen.

Abermals sprach Verna die Worte der Andacht gemeinsam mit den anderen und ließ wieder und wieder, aber ohne jede Hast, ihre Gefühle in sie einfließen, bis der gemurmelte Sprechgesang ihre Gedanken füllte. »Führe uns, Meister Rahl. Lehre uns, Meister Rahl. Beschütze uns, Meister Rahl. In deinem Licht werden wir gedeihen. Deine Gnade gewährt uns Schutz. Deine Weisheit beschämt uns. Wir leben nur, um zu dienen. Unser Leben gehört dir.«

Als sie erneut die Andacht sprach, musste sie ihre Tränen unterdrücken. Sie wäre niemals auch nur auf den Gedanken gekommen, darüber nachzudenken, ob jemand sie beobachtete.

Es war alles so sinnlos gewesen. Ein junger Kerl, der über keine für irgendjemanden nützlichen Talente verfügte, sich nicht um irgendwelche Werte scherte, für niemanden von Nutzen war, nicht einmal für sich selbst, hatte Warren ermordet – aus keinem anderen Grund als dem, seine Ergebenheit gegenüber den Zielen der Imperialen Ordnung unter Beweis zu stellen, die im Wesentlichen darin bestanden, dass Menschen wie Warren kein Recht auf ein selbstbestimmtes Leben besaßen und sich stattdessen für Typen vom Schlage seines Mörders aufzuopfern hatten.

Richard kämpfte dafür, diesem Wahnsinn ein Ende zu machen mit allen ihm zu Verfügung stehenden Mitteln bekämpfte er Menschen, die die Welt mit derart sinnloser Brutalität überzogen. Verna überließ sich dem Rhythmus des Sprechgesangs und ließ sich ganz von ihm durchdringen. Richard stand für alles, wofür sie ihr Leben lang gekämpft hatte – für Beständigkeit, Bedeutung, Sinn. Ein Bittgebet an einen solchen Mann war nicht nur keine Blasphemie, sondern erschien ihr zutiefst richtig. Aufgrund seiner Persönlichkeit und all dessen, wofür er stand, galt diese Andacht in mancher Hinsicht eigentlich eher dem Leben selbst als irgendeinem jenseitigen Ziel.

Der leise Sprechgesang wurde zu etwas, zu dem sie Zuflucht nehmen konnte, das sie mit tiefer innerer Ruhe erfüllte.

Verna spürte einen warmen Sonnenstrahl auf sich fallen, als die Wolkendecke aufriss, und auf einmal war sie in ein sanftes, güldenes Licht getaucht, das sie mit einer Wärme umfing, die sie bis auf den Grund ihrer Seele zu durchdringen schien.

Warren hätte gewiss gewollt, dass sie die kostbaren Schönheiten des Lebens mit offenen Armen willkommen hieß, solange sie die Möglichkeit dazu besaß. Hier, unter der liebenvollen Berührung des strahlenden Lichts, fand sie zum ersten Mal seit langer Zeit wieder ihren Frieden. »Führe uns, Meister Rahl. Lehre uns, Meister Rahl. Beschütze uns, Meister Rahl. In deinem Licht werden wir gedeihen. Deine Gnade gewährt uns Schutz. Deine Weisheit beschämt uns. Wir leben nur, um zu dienen. Unser Leben gehört dir.«

Wie sie in den wärmenden Sonnenstrahlen auf den Knien lag, erfüllte der sanfte Fluss der Worte der Andacht sie mit einer tiefen Ruhe, mit einem Gefühl friedlicher, nie gekannter Zugehörigkeit. Leise sprach sie die Worte vor sich hin und ließ sie ihr den Schmerz Stück für Stück nehmen. In diesem Moment, als sie hier auf den Knien lag, die Stirn auf den Fliesen, und ihr ganzes Herz und ihre Seele in die Worte legte, fühlte sie sich plötzlich frei von allen Sorgen. Eine einfache Lebensfreude überkam sie, und die Ehrfurcht, die sie davor empfand. Während sie gemeinsam mit allen anderen den Sprechgesang anstimmte, genoss sie den zarten Schein des Sonnenlichts, das sie so wärmend und beschützend, so liebenvoll umfing.

Es war fast wie in Warrens liebenden Armen.

Wie sie so ohne Unterbrechung, außer um Luft zu holen, gemeinsam mit den andern ein ums andere Mal vor sich hin psalmodierte, verstrich wie von selbst, unbemerkt und bedeutungslos, im Innern jenes Pols der Ruhe, die sie verspürte, die Zeit.

Dann erklang zweimal die Glocke, eine leise, sanfte, Mut zusprechende Bestätigung, dass die Andacht zwar beendet sei, sie aber stets begleiten werde.

Verna sah auf, als sie eine Hand auf ihrer Schulter spürte. Es war Berdine, die ihr von oben herab zulächelte. Verna blickte um sich und sah, dass die meisten Leute längst gegangen waren, nur sie lag noch vornübergebeugt auf Händen und Knien am Boden vor dem Wasserbecken. Berdine kniete neben ihr. »Alles in Ordnung, Verna?«

Immer noch auf den Knien, richtete sie sich auf. »Ja, sicher ... es ist nur ... es war ein so angenehmes Gefühl, in der Sonne.«

Einen Moment lang zog Berdine die Stirn kraus. Sie blickte zu den Regentropfen hinüber, die auf der Wasseroberfläche des Bassins tanzten.

»Verna, es hat die ganze Zeit geregnet.«

Verna erhob sich und sah sich um. »Aber ... ich habe es doch ganz deutlich gespürt. Ich habe doch das Leuchten des Sonnenstrahls rings um mich her gesehen.«

Endlich schien Berdine zu begreifen und legte ihr eine tröstliche Hand auf die Schulter. »Verstehe.«

»Wirklich?«

Berdine nickte, ein mitfühlendes Lächeln auf den Lippen. »In gewisser Weise bietet einem der Besuch der Andacht die Chance, über sein Leben nachzudenken, und das wiederum hat in vieler Hinsicht etwas Tröstliches. Vielleicht war ja jemand da, der Euch liebt und der Euch trösten wollte.«

Verwundert starrte Verna in das milde lächelnde Gesicht der Mord-Sith. »Habt Ihr das jemals erlebt?«

Berdine schluckte, ehe sie verschämt nickte. Ihre von Tränen überfließenden Augen waren Antwort genug.

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