37

Der Regen war in Schnee übergegangen, kaum dass sie den dichten Wald hinter sich gelassen hatten; sie waren, nach Überqueren der Baumgrenze, jetzt in das Gebiet des Buckelwaldes vorgedrungen. Die in dieser Höhe üblichen überaus harten Witterungsbedingungen hatten zur Folge, dass die verkümmerten, nur mit spärlichem Grün bedeckten Bäume in bizarren windschiefen Formen wuchsen. Eine Durchquerung des Buckelwaldes hatte etwas von einer Wanderung durch die versteinerten Formen verdorrter Seelen mit ihren für alle Ewigkeit in gequälter Haltung erstarrten Gliedern, so als wären sie ihren Gräbern entstiegen, nur um ihre Füße auf ewig mit dem geweihten Boden verwachsen zu finden, der verhinderte, dass sie der Welt des Irdischen jemals entkommen konnten.

Obwohl es Menschen gab, die sich schlicht weigerten, die unwirkliche Welt des Buckelwaldes ohne irgendeine Art mystischen Schutz zu betreten, verband Richard keine abergläubischen Gefühle mit diesem Ort. In seinen Augen waren diese Vorstellungen im Grunde nichts weiter als Ausflüchte – Ausflüchte von Menschen, die es vorzogen, unwissend zu bleiben. Richard durchschaute dieses vordergründige Getue und sah, was sich tatsächlich hinter diesem Aberglauben verbarg – nichts Geringeres als der Appell, den Menschen als ein Wesen zu betrachten, das unfähig ist, seine selbst gesteckten Ziele zu erreichen und sich zum Zwecke der Sicherung seines Überlebens mit der Realität seiner Umgebung zu befassen, das sich stattdessen die Vorstellung zu Eigen macht, sein ganzes Dasein beruhe nur auf den Launen ungewisser, sich dem menschlichen Erkenntnisvermögen entziehender Kräfte, die man lediglich durch einen demütigen Kniefall oder – so man gezwungen ist, einen spirituellen Ort zu betreten – durch das Mitführen eines geeigneten Talismans überreden kann, doch bitte von ihren grausamen und erbarmungslosen Anwandlungen Abstand zu nehmen. Auch wenn Richard sich im Buckelwald stets unbehaglich gefühlt hatte, so wusste er doch, was es mit diesem Ort auf sich hatte und warum er so gewachsen war, selbst wenn das dem Aufenthalt an diesem Ort nichts von seiner Unheimlichkeit nahm. Im Wesentlichen, so glaubte er, gab es zwei Möglichkeiten, mit dieser seit Urzeiten in der Natur des Menschen angelegten Regung umzugehen. Die abergläubische Lösung bestand darin, geweihte Talismane und Amulette mit sich herumzuschleppen, um die an diesen Orten vermuteten übellaunigen Dämonen und unbegreiflichen dunklen Kräfte abzuwehren – in der Hoffnung, die Mächte des Schicksals ließen sich womöglich überreden, netterweise von ihrem launischen Tun abzulassen. Trotz ihrer selbstgewiss vorgetragenen Behauptung, dass diese mysteriösen Mächte sich ihrem Wesen nach dem Erkenntnisvermögen einfacher Sterblicher entzogen, schreckten diese Menschen nicht davor zurück, voller Inbrunst, wenngleich ohne einen einzigen Beweis, daran zu glauben, dass die Macht dieser Talismane imstande sei, das ungestüme Wesen dieser bedrohlichen Kräfte milde zu stimmen, und sie beharrten darauf, man brauche dazu nichts weiter als einen festen Glauben – als wäre dieser gleichsam eine Art mystischer Putz, der die Fähigkeit besaß, all die klaffenden Risse in ihren Überzeugungen zu überdecken.

Richard, der an den freien Willen glaubte, hatte sich stattdessen für die zweite Möglichkeit entschieden, dieser Ängste Herr zu werden, und die besagte, man solle mit offenen Augen durchs Leben gehen und bereit sein, die Verantwortung für sein Überleben und Leben selbst in die Hand zu nehmen. Dieser Glaubenszwist zwischen den grausamen Mächten des Schicksals und der Freiheit des menschlichen Willens deckte sich im Kern mit seinem maßgeblichen Einwand gegen die Prophezeiungen, er war der Grund, weshalb er sie für gewöhnlich nicht beachtete. Die Entscheidung für die Schicksalsgläubigkeit war ein Bekenntnis zum freien Willen bei gleichzeitigem Verzicht auf jede Eigenverantwortlichkeit.

Als sie jetzt den Buckelwald durchquerten, hielt Richard wachsam Ausschau, konnte aber weder irgendwelche sagenhaften Bestien noch rachsüchtige Geister entdecken. Das Einzige, was durch diesen Wald zog, war der vom Wind verwehte Schnee.

Nachdem sie lange Zeit in halsbrecherischem Tempo bei drückender sommerlicher Hitze und Feuchtigkeit marschiert waren, mussten sie nun feststellen, dass die Begegnung mit der bitteren Kälte hoch droben im Gebirge den anstrengenden Aufstieg nur umso beschwerlicher machte, vor allem, da der scheußliche Regen sie bis auf die Knochen durchnässt hatte. Trotz ihrer durch die große Höhe bedingten Erschöpfung mussten sie ihr forsches Tempo unbedingt beibehalten, um warm zu bleiben, da sie sonst leicht ein Opfer der Kälte hätten werden können. Richard wusste nur zu gut, dass die verlockenden Einflüsterungen der Kälte einen dazu verleiten konnten, Halt zu machen und sich für eine Rast niederzulegen, denn sie verführten einen, sich dem Schlaf und damit dem Tod hinzugeben, der hinter seinem verführerischen Gewand bereits lauerte. Aber tot war tot, das hatte Zedd ihm einst klar gemacht, ganz gleich, ob man an der Kälte zugrunde ging oder an einem Pfeil. Vor allem aber waren sowohl er selbst als auch Cara bestrebt, jene Falle weit hinter sich zu lassen, die ihm in der Nähe ihres Lagerplatzes um ein Haar zum Verhängnis geworden wäre. Die Brandwunden von der kurzen Begegnung mit der scheinbar tödlichen Falle hatten mittlerweile Blasen gezogen, und noch immer überlief ihn ein kalter Schauder bei der Vorstellung, was hätte passieren können. Gleichzeitig erfüllte ihn die Vorstellung mit einigem Unbehagen, Shota in ihrem Versteck in Agaden aufzusuchen, hatte sie bei seinem letzten Besuch doch gedroht, ihn zu töten, sollte er sich jemals wieder blicken lassen. Richard zweifelte nicht an ihrer Drohung, auch nicht an ihrer Fähigkeit, sie wahr zu machen. Trotzdem war er nach wie vor überzeugt, dass er bei Shota die besten Chancen hatte, jene Hilfe zu bekommen, die er dringend brauchte, wenn er Kahlan wieder finden wollte.

Als er den Blick hob und sich das Schneetreiben für einen kurzen Moment lichtete, konnte er die weißen Gipfel erkennen. Ein Stück weiter vorn, jenseits des offenen, zerklüfteten Geländes an dem steilen Hang, würde sich der über den Pass führende Pfad am unteren Rand des ganzjährigen Gletschermantels des Berges entlang ziehen. Die Wolken, schwer beladen mit Feuchtigkeit, klebten an dem himmelwärts strebenden grauen Fels. Wegen der dicht über dem Boden vorüberziehenden Nebelschwaden war die Sicht vielerorts stark eingeschränkt, an anderen Stellen sogar fast null. Doch das war eher angenehm, denn an den stellenweise jähen Abhängen den wenig benutzten und oft trügerischen Pfad entlang taten sich immer wieder erschreckende Ausblicke in die Tiefe auf. Als der Wind auffrischte und eisige Böen ihnen Schleier nassen Schnees ins Gesicht wehten, raffte Richard seinen Umhang gegen diese überfallartigen Attacken enger. Der Schutz der Bäume lag lange hinter ihnen, jetzt quälten sie sich über loses Geröll und mussten sich nicht nur gegen den steilen Anstieg stemmen, sondern auch noch gegen den Wind. Eine Schulter hochgezogen, versuchte sich Richard gegen das eisig-feuchte Brennen auf seinem Gesicht zu schützen. Der vom Wind herangewehte Schnee hatte eine Seite seines Umhangs bereits mit einer brüchigen Eiskruste überzogen.

Das Geheul des durch den Gebirgspass pfeifenden Windes machte jede Unterhaltung selbst im günstigsten Fall schwierig, zumal die Höhe und die Anstrengung beiden den Atem raubte und sie in einen Zustand versetzt hatte, der an eine entspannte Unterhaltung nicht einmal denken ließ. Es war schon anstrengend genug, die nötige Atemluft zu bekommen, und Caras Gesichtsausdruck verriet ihm, dass ihr von der Höhe genauso elend war wie ihm.

Er war ohnehin nicht in gesprächiger Stimmung. Tagelang hatte er mit Cara gesprochen, ohne auch nur einen Schritt weiterzukommen. Cara wiederum schien von seinen Fragen genauso zermürbt wie er von ihren Antworten. Sie hielt seine Fragen für absurd, er fand, ihre Antworten waren es. Anfangs hatte er die inneren Widersprüche und Lücken in Caras Erinnerungsvermögen nur als ernüchternd und verwirrend empfunden, mit der Zeit jedoch hatten sie begonnen, ihn in den Wahnsinn zu treiben. Mehrfach schon hatte er sich eine bissige Erwiderung verkneifen und sich ermahnen müssen, dass sie sich nicht aus Böswilligkeit so verhielt. Hätte Cara ihm ehrlich sagen können, was er hören wollte, hätte sie es gewiss getan – zumal ihm eine Lüge Kahlan nicht wiederbringen würde. Was er brauchte, war die Wahrheit, aus diesem Grund war er schließlich unterwegs zu Shota.

Gezielt war er eine lange Liste mit Situationen durchgegangen, die Cara mit ihm und Kahlan gemeinsam erlebt hatte, doch oft deckte sich Caras Erinnerung an bestimmte Ereignisse, die für sie eigentlich von einiger Bedeutung hätten sein müssen, nicht mit den tatsächlichen Geschehnissen. In einer Reihe von Fällen, wie zum Beispiel seinem Besuch im Tempel der Winde, konnte sich Cara nicht an bestimmte Schlüsselsituationen erinnern, an denen Kahlan beteiligt gewesen war, in anderen Fällen wich ihre Erinnerung stark vom tatsächlichen Verlauf der Ereignisse ab.

Zumindest von dem tatsächlichen Verlauf, wie er ihn in Erinnerung hatte. Immer wieder entstanden deprimierende Situationen, wenn ihn die selbstquälerische Angst zu überwältigen drohte, das Problem liege womöglich bei ihm. Cara fand, dass er es war, der sich an Dinge erinnerte, die niemals stattgefunden hatten. Auch wenn sie bemüht war, ihre Überzeugungen nicht allzu offen zu vertreten – je mehr Einwände er vorbrachte, desto überzeugter wurde sie, dass seine Wahnvorstellungen von dieser Fantasiefrau überall wie Unkraut nach einem Regenguss aus dem Boden seiner Erinnerung sprossen.

Praktisch jede Situation, an der Kahlan beteiligt gewesen war, hatte Cara entweder völlig anders in Erinnerung oder gar nicht. Und für jede dieser Situationen hatte sie eine Antwort parat, bisweilen, um sie mit einer alternativen Version aus der Welt zu schaffen, oder aber, wenn das nicht möglich war, um so zu tun, als erinnere sie sich nicht, wovon er überhaupt redete. Zu guter Letzt kam er zu dem Schluss, dass es einen konkreten, vernünftigen Grund geben müsse, möglicherweise eine Art Bann oder Ähnliches, der diese Veränderung der Erinnerung bewirkte die ja nicht nur sie, sondern auch alle anderen betraf.

Ihm dämmerte, dass sein Bemühen, ihre – oder sonst jemandes –Erinnerung wieder zu beleben, ihn in Wahrheit gefährlich in seinen Bemühungen behinderte, Kahlan wieder zu finden. Mit einem Blick über die Schulter vergewisserte er sich, dass Cara ihm an dem steilen Berghang dicht auf den Fersen blieb. In dem schroffen Gebirge, das die Weite Agaden wie ein Ring umschloss, musste man nicht erst bis in große Höhen klettern, um eine Klippe zu finden, von der man in die Tiefe stürzen konnte. Angesichts des losen Gerölls unter der Schicht frisch gefallenen Schnees wäre es ein Leichtes, den Halt zu verlieren und Hals über Kopf den Hang hinabzustürzen.

Außerdem wollte er nicht Gefahr laufen, bei diesen schlechten Sichtverhältnissen den Blickkontakt zu Cara zu verlieren. Wenn sie getrennt wurden, würde ein Hilferuf bei diesem heulenden Wind kaum zu hören sein, und der treibende, verwehende Schnee hätte ihre Spuren innerhalb weniger Augenblicke verwischt. Als er Cara eine Armeslänge hinter sich gehen sah, stemmte er sich entschlossen in den Wind und stapfte weiter. Dann ging er in Gedanken alles noch einmal durch und kam zu einem überraschenden Schluss. Seine beharrlichen Versuche, sich ein bestimmtes Ereignis ins Gedächtnis zu rufen, an das sich Cara oder ein anderer seiner engsten Vertrauten eigentlich erinnern müsste, ließen ihn geradewegs in die Falle tappen, dass er all sein Denken und Handeln dem Problem widmete anstatt seiner Lösung. Und das, obwohl ihn Zedd schon seit frühester Jugend ermahnt hatte, stets das Ziel – die Lösung – im Auge zu behalten, und eben nicht das Problem! Augenblicklich schwor er sich, sein Augenmerk ausschließlich auf das Problem zu richten und fortan sämtliche durch Kahlans Verschwinden hervorgerufene Ablenkungen außer Acht zu lassen. Cara, Nicci und Victor, sie alle hatten irgendwelche Antworten parat, um die inneren Widersprüche aus der Welt zu schaffen, aber keiner erinnerte sich an die Dinge, die, dessen war er absolut sicher, geschehen waren. Indem er immer wieder umständlich darauf zu sprechen kam, was er mit Kahlan geschaffen hatte, und mit den anderen wieder und wieder durchging, weshalb sie diese so bedeutsamen Ereignisse unmöglich vergessen haben konnten, ließ er lediglich zu, dass ihm die Lösung immer mehr entglitt und mit ihr Kahlans Leben!

Sein und Kahlans Leben waren auf vielfältige Weise unentwirrbar miteinander verwoben, und in gewisser Hinsicht kannte er sie – als Konfessorin – schon seit frühester Jugend, lange bevor er ihr an jenem Tag in den Wäldern Kernlands persönlich begegnete. George Cypher, der Mann, der ihn großgezogen und den Richard damals für seinen Vater gehalten hatte, erzählte ihm damals, er habe ein geheimes Buch aus großer Gefahr gerettet, indem er es nach Westland geschafft habe. Dieses Buch, so die Erklärung seines Vaters, stelle, solange es existiere, eine große Gefahr für jeden dar, trotzdem bringe er es nicht über sich, das darin enthaltene Wissen zu vernichten. Die einzige Möglichkeit zu verhindern, dass das Buch in falsche Hände falle, und gleichzeitig das Wissen zu erhalten, bestehe darin, das Buch auswendig zu lernen und es anschließend zu verbrennen. Eine gewaltige Aufgabe, für die er Richard auserkoren hatte.

Also führte ihn sein Vater an einen geheimen Ort tief in den Wäldern, wo er Richard tagein, tagaus, Woche für Woche dabei beobachtete, wie dieser das Buch unzählige Male las, um es sich in mühevoller Kleinarbeit einzuprägen. Sein Vater selbst warf nie auch nur einen Blick hinein, diese Verantwortung oblag Richard allein. Nach einer langen Phase des Lesens und Einprägens ging Richard schließlich dazu über, den auswendig gelernten Text niederzuschreiben und mit dem Buch zu vergleichen. Anfangs machte er noch viele Fehler, aber trotz seiner jungen Jahre und obwohl er das Gelesene längst nicht ganz verstand, vermochte er die ungeheuere Bedeutung dieses Werkes zu begreifen: dass es von überaus komplizierten Vorgängen handelte, bei denen es stets um eines ging, nämlich Magie. Echte Magie.

Nach einer Weile konnte er das Buch schließlich einhundertmal von der ersten bis zur letzten Seite ohne einen einzigen Fehler niederschreiben, bis er sich endlich sicher fühlte, nie wieder auch nur ein Wort des Inhalts zu vergessen, denn nicht nur durch den Text selbst, sondern auch anhand seines eigentümlichen Satzbaus war ihm klar geworden, dass jede noch so geringfügige Auslassung verheerende Folgen für das darin enthaltene Wissen haben konnte.

Schließlich, nachdem er seinem Vater versichert hatte, dass er sich das gesamte Werk lückenlos eingeprägt hatte, legten sie das Buch in ein Versteck zwischen den Felsen, wo sie es drei Jahre lang nicht anrührten. Nach Verstreichen dieser Zeit kehrten sie eines Herbsttages zurück – Richard war mittlerweile fast siebzehn – und holten das uralte Buch aus seinem Versteck.

Richard und sein Vater richteten ein Feuer an, auf das sie mehr als genug Holz schichteten, bis die enorme Hitze sie schließlich zurücktrieb. Dann überreichte sein Vater ihm das Buch und trug ihm auf, es den Flammen zu übergeben, sofern er sich seiner Sache sicher sei. Richard, das Buch der Gezählten Schatten im Arm, strich mit den Fingern über den dicken Ledereinband. Hier, in seinen Armen, hielt er nicht nur die Hoffnung seines Vaters, sondern die Hoffnung der gesamten Menschheit. Im Bewusstsein dieser ungeheuren Verantwortung warf er das Buch schließlich ins Feuer – und in diesem Moment endete unwiderruflich seine Kindheit. Als das Buch endlich brannte und dabei nicht nur Hitze, sondern auch Kälte verströmte und farbige Lichtstrahlen sowie allerlei gespenstische Gebilde freisetzte, wurde Richard augenblicklich klar, dass er zum ersten Mal Zeuge eines eindeutigen Beweises für die Existenz von Magie wurde – nicht bloß irgendeines Taschenspielertricks oder einer mystizistischen Demonstration, sondern echter, wahrer Magie, Magie, die wie alles Übrige auch nach den ihr eigenen Gesetzen funktionierte. Und einige dieser Gesetze waren in dem Buch beschrieben, das er auswendig gelernt hatte.

In gewisser Weise war er an jenem Tag im Wald, als er, noch als kleiner Junge, den Einband des Buches zum allerersten Mal aufgeschlagen hatte, Kahlan zum ersten Mal begegnet. Das Buch der Gezählten Schatten begann mit den Worten: Die Überprüfung der Richtigkeit der Worte des Buches der Gezählten Schatten, so sie von einem anderen gesprochen werden als jenem, der über die Kästchen gebietet, kann nur durch den Einsatz eines Konfessors gewährleistet werden...

Kahlan war die letzte noch lebende Konfessorin.

Am Tag ihrer ersten Begegnung war Richard auf der Suche nach Hinweisen auf den Mörder seines Vaters gewesen. Kurz zuvor hatte Darken Rahl die Kästchen der Ordnung ins Spiel gebracht, doch um sie zu öffnen, benötigte er die im Buch der Gezählten Schatten enthaltenen Informationen. Was er nicht wusste – jetzt, da diese Informationen nur in Richards Gedächtnis existierten –, war, dass er für die Überprüfung ihrer Richtigkeit einen Konfessor respektive eine Konfessorin benötigte – Kahlan.

In gewisser Hinsicht waren Richard und Kahlan von dem Augenblick an, da er den Einband zum ersten Mal aufgeschlagen hatte und auf das seltsame Wort »Konfessor« gestoßen war, über dieses Buch und die mit ihm verknüpften Ereignisse bereits schicksalhaft miteinander verbunden, weshalb es ihm bei seiner Begegnung mit Kahlan an jenem Tag im Wald so vorgekommen war, als hätte er sie schon immer gekannt – was in gewisser Weise ja auch stimmte. Von frühester Jugend an hatte sie in gewisser Weise eine Rolle gespielt in seinem Leben, hatte sie sein Denken geprägt.

Bis sich schließlich, an jenem schicksalhaften Tag der ersten Begegnung mit Kahlan auf dem Pfad in den Wäldern Kernlands, der Kreis seines Lebens mit einem Mal schloss – auch wenn er da noch gar nicht wusste, dass sie die letzte noch lebende Konfessorin war. Sein Entschluss, ihr zu helfen, gefasst an ebendiesem Tag, war seine freie Willensentscheidung, getroffen, ehe die Prophezeiungen überhaupt ihren Einfluss geltend machen konnten.

Kahlan war so sehr ein Teil von ihm, ein Teil dessen, was ihm die Welt, ja das Leben, bedeutete, dass ein Weiterleben ohne sie einfach nicht vorstellbar war. Er musste sie finden – um jeden Preis. Der Zeitpunkt war gekommen, das Problem hinter sich zu lassen und sich auf die Suche nach der Lösung zu begeben. Eine eisige Bö zwang ihn, die Augen halb zusammenzukneifen, und riss ihn aus seinen Erinnerungen. »Dort vorne«, sagte er und zeigte auf etwas.

Cara blieb hinter ihm stehen und spähte über seine Schulter in das Schneegestöber, bis auch sie schließlich den schmalen Trampelpfad am äußersten Rand der Bergflanke erkennen konnte. Als er sich kurz umsah, nickte sie zum Zeichen, dass sie den Pfad gesehen hatte, der sich am unteren Rand der Schneekappe entlangwand. Mittlerweile hatte der vom Wind aufgewirbelte Schnee die ersten Verwehungen gebildet, die den Pfad unter sich zu begraben drohten, daher hatte Richard es eilig, ihn hinter sich zu lassen und wieder auf tiefer gelegenes Gelände zu gelangen. Doch während sie weitergingen, verschlechterten sich die Bedingungen zusehends, bis der Pfad schließlich nur noch an den Umrissen der Landschaft zu erkennen war. Über dem von links aufsteigenden Hang wies die Schneeschicht eine leichte Wölbung auf, die über dem Pfad abflachte und sogar in eine leichte Mulde überging, ehe sich auf der rechten Seite, wo der ganzjährige Schnee weiter anstieg, eine leichte Erhebung anschloss.

Während sie durch den knöcheltiefen Schnee stapften, warf Richard einen Blick über seine Schulter. »Wir haben jetzt den höchsten Punkt erreicht, bald geht es wieder abwärts, und dann wird es auch wieder wärmer.«

»Mit anderen Worten, wir werden wieder dem Regen ausgesetzt sein, ehe wir auch nur eine Chance hatten, auf tieferes Gelände zu gelangen und uns ein wenig aufzuwärmen«, brummte sie missmutig. »Das war es doch wohl, was Ihr mir sagen wolltet.«

Richard hatte zwar Verständnis für ihren Unmut, aber da er ihr keine Aussicht auf baldige Besserung versprechen konnte, antwortete er nur: »Schon möglich.«

Unvermittelt schälte sich ein kleines dunkles Etwas aus den Schneeschleiern und bewegte sich rasch auf sie zu. Er hatte es gerade erst erblickt und noch keine Gelegenheit gehabt zu reagieren, da warf es sich bereits gegen ihn und brachte ihn zu Fall.

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