Richard war so tief in Gedanken, dass er von dem beschwerlichen Anstieg über die Flanke der steilen Felsenklippe und aus Agaden hinaus kaum etwas mitbekam. Im goldenen Licht des Abends wurden die Schatten der Bäume auf den grünen Feldern im Tal unter ihnen immer länger, doch die stille Schönheit dieses Ortes, jetzt, da die Sonne hinter den umliegenden Bergen versank, verfehlte auf ihn ihre Wirkung. Ehe die Dunkelheit endgültig um sich griff, wollte er Tal und Sumpfgebiet weit hinter sich gelassen haben, und dieser Aufgabe, dieser Mission, immer weiter einen Fuß vor den anderen zu setzen, in Bewegung zu bleiben und voranzukommen, versuchte er sein ganzes Bestreben zu widmen.
Als sie endlich den Oberrand der Felsenklippe und das ausgedehnte Sumpfgebiet erreicht hatten, das den Zugang zu Shotas Heim sicherte, hatte sich das frühe Dämmerlicht bereits über den tiefen Einschnitt in dem hoch aufragenden Gebirge gelegt, das diesen Ort wie ein Ring umschloss. Weil die steilen Felswände das Sonnenlicht bereits früh fern hielten, war der weite Himmel noch tiefblau, doch seine Helligkeit vermochte das dichte Laubdach des Waldes nicht wirkungsvoll zu durchdringen, sodass das endlose grüne Sumpfgebiet bereits am späten Nachmittag im ständigen Dämmer der hereinbrechenden Nacht zu versinken schien. Die tiefen Schatten unterschieden sich von denen in Shotas Tal, denn hier verbargen sie durchaus handfeste, ansonsten aber eher gewöhnliche Gefahren. In den Schatten rings um Shota dagegen verbargen sich Gefahren, die nicht so leicht einzuschätzen waren, die einem aber, vermutete Richard, auf sehr viel unangenehmere Weise zu schaffen machen konnten.
Die Geräusche des feuchten Sumpfes ringsum, das Zirpen und Pfeifen, Heulen und Johlen, das Schnalzen und die fernen Schreie, all das drang kaum bis in Richards Bewusstsein vor, der tief in seiner ganz eigenen Welt versunken war, einer Welt, in der Verzweiflung und zielgerichtete Entschlossenheit in einem titanischen Wettstreit miteinander rangen.
Gewiss, Shota hatte ihm eine Menge über die Blutbestie sagen können, die Jagd auf ihn machte, andererseits hatte ihm auch Nicci schon erklärt, dass er von einer auf Jagangs Geheiß erschaffenen Bestie verfolgt wurde. Die eher dürftigen Einzelheiten, die er über diese Bestie erfahren hatte, hatten den Besuch bei Shota sicher nicht gelohnt, erst die herzlich kargen Worte, mit denen Shota ganz am Ende herausgerückt war, waren für ihn wirklich von Bedeutung. Ihretwegen hatte er die Reise an diesen Ort unternommen, ihretwegen hatte er einen Preis bezahlt, dessen Bedeutung ihm erst jetzt so richtig bewusst wurde. Immer wieder war er versucht, sich mit einem Griff zum Heft seines Schwertes zu beruhigen, doch die vertraute und treue Waffe war nicht mehr da. Sosehr er sich bemühte, nicht daran zu denken, der Gedanke ließ ihn nicht mehr los. Einerseits war er erleichtert, weil es ihm, dessen war er sich ganz sicher, gelungen war, einen entscheidenden Hinweis zu bekommen, gleichzeitig aber verspürte er das erdrückende Gefühl einer persönlichen Niederlage. Er achtete kaum darauf, wohin er lief, gerade nur so weit, dass er nicht auf eine gelbschwarz gestreifte Schlange trat, die er zusammengerollt in der Mulde einer Wurzel liegen sah, und sich die pelzigen, an den Unterseiten der Blätter haftenden Spinnen nicht geräuschlos an ihrem seidenen Faden herab- und auf ihn fallen ließen. Fauchte ihn aus einem Gestrüpp heraus etwas an, machte er einen weiten Bogen darum. Richard bahnte sich zielstrebig einen Weg durch das dichte Gestrüpp, bog Ranken und Zweige zur Seite und stieg behutsam über Wurzelknoten hinweg, die sich, wenn man sich ihnen näherte, bisweilen schlangenähnlich ringelten. Gleich bei seinem ersten Besuch hatte Samuel ihm demonstriert, wie sich diese Wurzeln einem um die Knöchel schlängeln konnten, wenn man ihnen zu nahe kam. Der Versuch, den Begriff »Feuerkette« zu entschlüsseln und herauszufinden, was sich dahinter verbarg, nahm ihn so sehr in Anspruch, dass er um ein Haar in eine schwarze, im trüben Licht kaum zu erkennende Wasserfläche hineingetreten wäre; Cara konnte ihn gerade noch rechtzeitig mit der Hand am Arm zurückreißen. Nachdem er sich kurz umgesehen hatte, entdeckte er den Baumstamm, auf dem sie sie zuvor überquert hatten, und nahm stattdessen diese Route. Er zermarterte sich das Hirn bei dem Versuch herauszufinden, ob er den Begriff Feuerkette irgendwann schon einmal gehört hatte, aber mittlerweile schwand seine Hoffnung ebenso rasch dahin wie das nur noch spärlich vorhandene Tageslicht. Immerhin schien der Begriff merkwürdig genug, dass er sich mit einiger Sicherheit daran erinnert hätte, wenn er ihm schon einmal begegnet wäre. Er wünschte, Shota hätte wenigstens seine Herkunft oder Bedeutung gewusst; aber er glaubte ihr, wenn sie sagte, ihr flögen diese Dinge ohne jede Erklärung oder Einsicht einfach zu.
Allerdings fürchtete er, nur zu genau zu wissen, was Shota mit der Bemerkung »Was du suchst, ist lange begraben« gemeint hatte. Die Warnung verursachte ihm ein schmerzhaftes Stechen in der Brust, denn er fürchtete, es könnte bedeuten, dass Kahlan längst tot und begraben war. Keinesfalls durfte er zulassen, dass er ihren Tod bereits als Tatsache ansah, und er versuchte stattdessen, sich ihre wunderschönen grünen Augen, ihr unverwechselbares Lächeln und ihr ganz besonderes Wesen als etwas sehr Reales und Lebendiges vorzustellen.
Aber Shotas Worte holten ihn immer wieder ein. Wenn er Kahlan wieder finden wollte, musste er unbedingt herausfinden, welche Bedeutung sich dahinter verbarg.
Ihre letzte Bemerkung, er solle sich »vor der vierköpfigen Viper in Acht nehmen«, war ihm zunächst vollkommen sinnlos erschienen, aber je länger er darüber nachdachte, desto klarer wurde das Gefühl, dass er sie eigentlich verstehen sollte – so als müsste sich ihm der dahinter verborgene Sinn erschließen, müsste er auf die Bedeutung kommen können, wenn er nur gewissenhaft genug darüber nachdachte. Der eigentliche Sinn schien jedenfalls offenkundig: Besagte vierköpfige Viper – was immer sich dahinter verbarg – war irgendwie für Kahlans Verschwinden verantwortlich.
Zu guter Letzt fragte er sich, ob sich sein Verdacht womöglich nur auf den ominösen Wortlaut gründete; schließlich wollte er sich nicht dazu verleiten lassen, aufgrund einer unmotivierten Eingebung in die falsche Richtung zu denken. Das kostete nur wertvolle Zeit, und davon, befürchtete er, hatte er ohnehin schon zu viel vergeudet.
»Wohin gehen wir überhaupt?« Caras Frage riss ihn aus seinen verschlungenen Gedanken. Ihm wurde bewusst, dass es das Erste war, was sie seit ihrem Aufbruch bei Shota gesagt hatte. »Die Pferde holen.«
»Ihr wollt versuchen, den Pass noch heute Nacht zu überqueren?«
Er nickte. »Ja, wenn möglich. Sobald das Unwetter weitergezogen ist, müsste der Mond genügend Licht spenden.«
Der verhärtete Zug um Caras Kinnpartie war ein deutliches Zeichen für das Unbehagen, das die Vorstellung bei ihr auslöste, einen solchen Marsch bei Nacht zu absolvieren, doch statt sich zu beklagen, fragte sie nach etwas anderem.
»Und was geschieht, wenn wir die Pferde geholt haben?«
»Dann versuchen wir Antworten auf das zu finden, was ich bislang herausgefunden habe.«
Zwischen den knorrigen Bäumen ringsum, den hängenden Ranken und über den Flächen stehenden Wassers war ganz allmählich Nebel aufgezogen, so als wollte er sich vorsichtig heranschleichen, um ihre Unterhaltung zu belauschen. Da kein Wind ging, der die herabhängenden Ranken der Moose hätte in Bewegung versetzen können, hingen sie schlaff von den knorrigen Ästen herab. Schatten bewegten sich in den dunklen Stellen unter den Schlingpflanzen und Sträuchern, und irgendwo in der Ferne plätscherte unsichtbares Getier in den schwarzen Flächen stehenden Wassers.
Richard, dem wirklich nicht danach zumute war, sich über den langen und schweren Ritt auszulassen, der vor ihnen lag, kam ihr mit einer Frage zuvor: »Seid Ihr schon einmal irgendwo auf den Begriff Feuerkette gestoßen?«
Cara stieß einen Seufzer aus. »Nein.«
»Irgendeine Vermutung, was er bedeuten könnte?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Und was ist mit dieser Knochenstätte im Herzen der Leere? Sagt Euch das vielleicht etwas?«
Cara zögerte einen Moment mit der Antwort. »Ich glaube, dieses ›Herz der Leere‹ kommt mir vage bekannt vor. Mir ist, als könnte ich es womöglich schon einmal gehört haben.«
Er fand, das klang nicht gerade ermutigend.
So ging es dahin. An der Stelle, wo sich der dichte Baumbestand zur dunklen Masse des sich vor ihnen erhebenden Gebirges öffnete, blieb Cara stehen.
»Gut möglich, dass Nicci uns bald einholen wird, sie weiß eine Menge über Magie und alles Mögliche. Vielleicht weiß sie ja, was Feuerkette oder eines der anderen Rätsel bedeutet. Nicci wäre bestimmt überglücklich, wenn sie Euch irgendwie helfen könnte.«
Er hakte einen Daumen hinter seinen Gürtel. »Wollt Ihr mir jetzt endlich verraten, was Ihr mit Nicci ausgeheckt habt?«
Es erschien ihm ziemlich offenkundig, trotzdem wollte er aus ihrem Munde hören, wie weit das Ganze ging. Abwartend beobachtete er ihre Augen.
»Nicci hat nichts damit zu tun, es war allein meine Idee.«
»Was genau war Eure Idee?«
Cara wich seinem direkten Blick aus und starrte stattdessen hinauf zum Pass. Der Himmel war weitgehend wolkenlos, und die ersten Sterne begannen sich zu zeigen. Getrieben von einem lautlosen Wind, eilten hoch droben einige Wolkenfetzen dahin. Es würde nicht mehr lange dauern, bis der Mond aufging. »Als Ihr mich geheilt habt, konnte ich ein wenig von jener schrecklichen Einsamkeit spüren, die Euch quält. Ich dachte, vielleicht habt Ihr Euch diese Frau, diese Kahlan, nur ausgedacht, um diese Leere auszufüllen. Ich möchte nicht, dass Ihr unter dieser entsetzlichen Angst leidet, die ich in Euch gespürt habe. Ein Mensch, der gar nicht existiert, kann diese Leere unmöglich füllen.«
Als sie nicht weitersprach, tat er es.
»Und deswegen wollt Ihr, dass Nicci diese Leere füllt?«
Ihr Blick kehrte zu seinen Augen zurück, und ein Ausdruck der Verzweiflung ging über ihre Züge. »Lord Rahl, ich will Euch doch nur helfen. Ich glaube, Ihr braucht einen Menschen, der mit Euch zusammen ist... der Euer Leben teilt, genau wie Shota jemanden wollte, nämlich Euch. Aber Shota ist nicht die Richtige für Euch. Ich glaube nur, dass Nicci Euch gut tun würde, das ist alles.«
»Ihr dachtet also, Ihr könntet, stellvertretend für mich, mein Herz an jemanden verschenken?«
»Na ja ... so, wie Ihr es sagt, klingt es natürlich verkehrt.«
»Es ist verkehrt.«
»Nein, ist es nicht«, beharrte sie, die Hände zu Fäusten geballt. »Ihr braucht jemanden. Ich weiß, wie verloren Ihr Euch derzeit fühlt, und ich denke, es wird immer schlimmer. Bei den Gütigen Seelen, Ihr habt gerade Euer Schwert hergegeben.
Ihr braucht jemanden, das weiß ich genau. Irgendwie wirkt Ihr, als fehlte Euch etwas. All die vielen Jahre, die ich Euch nun schon kenne, habt Ihr noch nie so auf mich gewirkt. Zeit meines Lebens habe ich mir den Lord Rahl nie mit nur einer Frau oder gar als verheirateten Mann vorgestellt, aber in Euerm Fall glaube ich, dass Ihr einfach jemanden braucht, der Euch seelenverwandt ist.
Und Nicci passt besser zu Euch als jede andere. Sie ist klug – so klug, dass Ihr beide Euch richtig unterhalten könnt, über Magie und solche Dinge. Ich hab gesehen, wie Ihr Euch beide unterhalten habt, wie ihr zusammen gelacht habt. Ihr scheint einfach zusammenzugehören. Ihr seid beide gescheit und mit der Gabe gesegnet. Außerdem ist sie wunderschön. Ich finde, Ihr solltet eine schöne Frau haben, und das ist Nicci.«
»Und welche Rolle hat Nicci bei Eurer kleinen Intrige gespielt?«
»Nicci hat die gleichen Einwände vorgebracht wie Ihr – was in gewisser Weise nur beweist, dass ich mit meiner Einschätzung richtig liege, Ihr beide passt gut zusammen.«
»Ihr hat also auch nicht gefallen, dass ihr Leben verplant wird?«
Cara zuckte mit einer Schulter. »Nein, das wollte ich damit nicht sagen. Sie hatte Euch gegenüber dieselben Vorbehalte – als sie sich dagegen aussprach, geschah dies ganz in Eurem Interesse, nicht in ihrem. Sie hatte einzig Euer Wohl im Sinn. Sie schien genau zu wissen, dass Ihr von einer solchen Idee nicht eben begeistert sein würdet.«
»Na ja, in einem Punkt habt Ihr jedenfalls Recht, sie ist eine wirklich kluge Frau.«
»Ich wollte sie nur dazu bringen, einmal darüber nachzudenken, ich hab ihr schließlich nicht gesagt, sie soll sich Euch an den Hals werfen. Ich dachte, vielleicht könntet Ihr beide Euch ja ergänzen und die Leere ausfüllen, die Ihr beide empfindet, ich dachte, wenn ich sie ermutige, es sich ernsthaft zu überlegen, könnte die Geschichte ihren natürlichen Verlauf nehmen, das ist alles.«
Richard hätte sie würgen können, trotzdem versuchte er, ruhig zu klingen, nicht zuletzt, weil Caras Vorgehensweise zwar verkehrt, aber auf rührende Weise menschlich war und von einer Anteilnahme zeugte, dass er sie gleichzeitig am liebsten umarmt hätte. Wer hätte je gedacht, dass eine Mord-Sith jemals zu so etwas wie Liebe und Freundschaft fähig wäre? Nun, er selbst vermutlich, aber trotzdem ... »Cara, Ihr versucht dasselbe zu tun, was auch Shota wollte – mir die Entscheidung abnehmen, was ich fühlen und wie ich mein Leben gestalten sollte.«
»Nein, das ist nicht dasselbe.«
Richards Miene verdüsterte sich. »Und wieso nicht?«
Cara presste die Lippen aufeinander. Er wartete. Schließlich antwortete sie mit kaum hörbarer Stimme. »Weil sie Euch nicht wirklich liebt. Ich schon. Aber natürlich nicht so«, beeilte sie sich hinzuzufügen. Er war weder in der Stimmung, ihr zu widersprechen, noch sie anzuschreien. Er wusste, dass Cara nur aus edelsten, wenn auch falsch verstandenen Motiven gehandelt hatte. Vor allem aber konnte er kaum glauben, was er sie soeben laut und deutlich hatte eingestehen hören. Ohne all den anderen Schlamassel wäre er überglücklich gewesen.
»Cara, ich bin schon verheiratet, und zwar mit der Frau, die ich liebe.«
Traurig schüttelte sie den Kopf. »Es tut mir Leid, Lord Rahl, aber diese Kahlan existiert einfach nicht.«
»Wenn sie nicht existiert, wieso konnte Shota mir dann Hinweise geben, die mir helfen werden, die Wahrheit herauszufinden?«
Wieder wandte Cara den Blick ab. »Weil die Wahrheit ist, dass Kahlan nicht existiert. Was sie Euch gesagt hat, wird Euch nur helfen, diese traurige Wahrheit zu entdecken. Habt Ihr je darüber nachgedacht?«
»Nur in meinen schlimmsten Albträumen«, sagte er und marschierte los Richtung Pass.