12

Ann musste schlucken. »Wie ist es möglich, Nathan, dass wir uns beide nicht an ein Buch erinnern können, das wir so sehr schätzen wie dieses? Und wie kommt es, dass die Teile, die uns beiden entfallen sind, mit den Leerstellen übereinstimmen?«

»Nun, das ist in der Tat eine sehr gute Frage.«

Plötzlich kam ihr eine Idee, und sie sog hörbar den Atem ein. »Ein Bann. Es kann nur so sein, dass diese Bücher verzaubert worden sind.«

Nathan zog eine Grimasse. »Wie bitte?«

»Es kommt häufiger vor, dass Bücher verzaubert werden, um ihren Inhalt zu schützen. Bei einem Buch der Prophezeiungen ist mir das zwar noch nicht begegnet, aber bei Lehrbüchern der Magie ist das durchaus gängige Praxis. Diese Gruft wurde zum Zweck der Tarnung angelegt. Vielleicht ist es genau das, was mit den hier aufbewahrten Informationen derzeit geschieht.«

Ein solcher Bann wurde in dem Moment aktiv, da eine andere als die korrekte, über die erforderlichen magischen Kräfte verfügende Person die Gruft öffnete; es kam sogar vor, dass solche Banne auf bestimmte Personen abgestimmt wurden. Die übliche Funktionsweise dieses Schutzes sah vor, dass alles, was ein Unbefugter in einem nicht für ihn bestimmten Buch gesehen hatte, aus seinem Gedächtnis gelöscht wurde. Sehen und Vergessen waren eins.

Nathan antwortete nicht, aber seine düstere Miene hellte sich etwas auf, als er sich ihren Einfall durch den Kopf gehen ließ. Es war seinem Gesichtsausdruck anzusehen, dass er noch immer zweifelte, ob ihre Theorie die Lösung war, aber offenbar mochte er den Punkt im Augenblick nicht weiter diskutieren – vermutlich, weil er sich wichtigeren Dingen zuzuwenden beabsichtigte.

Und tatsächlich, kurz darauf tippte er mit dem Finger auf einen kleinen, etwas abseits stehenden Bücherstapel. »Diese Bücher«, sagte er mit gewichtigem Unterton, »handeln überwiegend von Richard. Die meisten von ihnen habe ich vorher noch nie zu Gesicht bekommen. Ich finde es bedenklich, dass solche Schriften, von denen die meisten übrigens längere Passagen leerer Seiten aufweisen, an einem Ort wie diesem unzugänglich gemacht wurden.«

Dass eine so große Zahl von Büchern der Prophezeiung, insbesondere, da sie Richard betrafen, sich niemals im Palast der Propheten befunden hatte, war in der Tat überaus beunruhigend. Schließlich hatte sie fünf Jahrhunderte lang die Welt nach Abschriften sämtlicher auffindbarer Texte durchstöbert, die auch nur den geringsten Hinweis auf Richard enthielten.

Ann kratzte sich an einer Augenbraue und versuchte, sich darüber klar zu werden, was dieser Umstand bedeutete. »Hast du etwas herausfinden können?«

Nathan nahm den obersten Band zur Hand und klappte das Buch auf. »Also, zum einen bereitet mir dieses Symbol hier Kopfzerbrechen. Es handelt sich um eine äußerst seltene Form der Prophezeiung, abgegeben zu einer Zeit, als der Prophet von Offenbarungen geradezu bestürmt wurde. Für gewöhnlich werden sinnbildhafte Prophezeiungen dieser Art unter dem Einfluss besonders eindringlicher Visionen gezeichnet, wenn das Niederschreiben zu viel Zeit in Anspruch nehmen und den Fluss der durch den Sinn schießenden Eindrücke stören würde.«

Anns Kenntnisse dieser symbolischen Prophezeiungen waren eher bescheiden, gleichwohl erinnerte sie sich, einige davon in den Gewölbekellern des Palasts der Propheten gesehen zu haben. Damals hatte Nathan ihr gegenüber nie erwähnt, was es mit ihnen auf sich hatte, und außer ihm wusste es niemand – es war eines seiner kleinen, tausendjährigen Geheimnisse.

Sie beugte sich darüber und betrachtete aufmerksam die verschlungene Zeichnung, die den größten Teil einer ganzen Seite einnahm. Nicht eine einzige gerade Linie wies sie auf und bestand ausschließlich aus ineinander verschlungenen Schnörkeln und Bogen, die sich auf verwirrende Weise zu einem kreisrunden Muster verbanden, das auf seltsame Weise beinahe lebendig wirkte. Hier und da hatte sich die Feder mit großer Kraft in das Pergament gebohrt und dort, wo sich die beiden Hälften der Federspitze unter dem Druck auseinander gebogen hatten, parallele Furchen in die faserige Oberfläche geritzt. Ann hielt das Buch näher an eine Kerze und untersuchte sorgfältig eine seltsame, besonders aufgeraute Stelle, bis sie in einem uralten, eingetrockneten Tintenklecks einen hauchfeinen spitzen Metallsplitter entdeckte: Eine Hälfte der Federspitze war beim Aufsetzen auf das Pergament abgebrochen und steckte noch immer im Papier. Unmittelbar dahinter setzte der sauberere, wenngleich nicht minder kraftvolle Strich einer frischen Federspitze an. Nichts an dieser Federzeichnung erinnerte an einen erkennbaren Gegenstand – es schien sich um eine rein abstrakte Figur zu handeln –, und doch war sie aus irgendeinem Grund zutiefst verstörend, sodass sich ihr die Nackenhaare sträubten. Ihr war, als würde sich ihre Bedeutung jeden Moment offenbaren, nur um sich im letzten Moment doch wieder in einen Bereich jenseits ihres Bewusstseins. zurückzuziehen. »Was ist das?« Sie legte das Buch auf den Tisch, die Seite mit der Zeichnung aufgeschlagen. »Was bedeutet es?«

Nathan strich sich mit dem Finger über sein kräftiges Kinn. »Das lässt sich nur schwer erklären. Mir fehlen die Worte, um exakt zu beschreiben, welches Bild mir in den Sinn kommt, wenn ich sie vor mir sehe.«

»Meinst du«, fragte Ann im Tonfall übertriebener Geduld und verschränkte ihre Hände, »du könntest dir eventuell ein wenig Mühe geben und mir das Bild vor deinem inneren Auge, so gut es geht, beschreiben?«

Nathan betrachtete sie mit einem schrägen Seitenblick. »Die einzigen passenden Worte, die mir in den Sinn kommen, lauten ›die Bestie ist im Anmarsch‹.«

»Die Bestie?«

»Ja. Was dieses Bild bedeutet, weiß ich nicht, denn die Prophezeiung ist teilweise verschleiert. Das ist entweder ganz bewusst geschehen, oder aber sie soll etwas darstellen, das mir noch nie zuvor begegnet ist, vielleicht bezieht sie sich auch auf die leeren Seiten und wirkt ohne den dazugehörigen Text für mich nicht richtig lebendig.«

»Und was wird diese im Anmarsch befindliche Bestie tun?«

Nathan klappte den Buchdeckel zu, sodass sie den Titel lesen konnte: Ein Kiesel im Teich. Kalter Schweiß trat ihr auf die Stirn.

»Bei dem Symbol handelt es sich um eine anschauliche Warnung«, fügte er erklärend hinzu. Richard war in den Prophezeiungen schon mehrfach als Kiesel im Teich bezeichnet worden, weshalb der Inhalt eines solchen Buches vermutlich von unschätzbarem Wert war – wenn er denn vorhanden wäre. »Mit anderen Worten, deiner Meinung nach handelt es sich um eine an Richard gerichtete Warnung, dass irgendeine Art Bestie im Anmarsch ist?«

Nathan nickte. »Das ist in etwa alles, was ich dem entnehmen kann – das, sowie einen vagen Eindruck von der unheimlichen Aura, die dieses Wesen umgibt.«

»Diese Bestie.«

»Ja. Zugunsten eines besseren Verständnisses wäre eine Kenntnis des der Zeichnung vorausgehenden Begleittextes dringend erforderlich – dann hätte man auf das Wesen dieser Bestie schließen können, aber dieser Text fehlt ja leider – wie auch die nachfolgenden Verzweigungen. Es gibt also keine Möglichkeit, die Warnung in einen inhaltlichen oder zeitlichen Zusammenhang zu stellen. Soweit ich es beurteilen kann, könnte es sich ebenso gut um etwas handeln, dem er bereits erfolgreich die Stirn geboten hat, oder aber um eine Gefahr, der er erst im hohen Alter zum Opfer fallen könnte. Ohne wenigstens einen Teil der begleitenden Prophezeiung oder einen Zusammenhang lässt sich das einfach nicht mit Bestimmtheit sagen.«

Gewiss, für das Verständnis von Prophezeiungen war die zeitliche Einordnung unverzichtbar, aber angesichts des Grauens, das sie beim Betrachten der Zeichnung überkam, bezweifelte Ann stark, dass es sich um etwas handelte, dem Richard bereits erfolgreich die Stirn geboten hatte. »Vielleicht ist es ja als Metapher gedacht. Schließlich lässt sich Jagangs Armee durchaus als unheimliche Bestie beschreiben, die alles niedermetzelt, was sich ihr in den Weg stellt. Für freie Menschen, und besonders für Richard, gleicht die Imperiale Ordnung einer Bestie, die gekommen ist, um alles zu vernichten, was ihnen lieb und teuer ist.«

Nathan zuckte mit den Schultern. »Das könnte die Erklärung sein. Ich weiß es nur eben nicht.«

Er zögerte kurz, ehe er fortfuhr. »Es gibt noch einen weiteren beunruhigenden verdeckten Ratschlag, der sich nicht nur in diesem, sondern auch in mehreren anderen Büchern findet« – er warf ihr einen äußerst bedeutungsschwangeren Blick zu –, »Büchern, die ich nie zuvor gesehen habe.«

Auch Ann empfand die Tatsache als verstörend, dass all diese Schriften in einer derart merkwürdigen unterirdischen Friedhofsgruft verborgen lagen – aus einer Vielzahl von Gründen. Mit einer Handbewegung wies Nathan abermals auf die sich über die vier großen Tische verteilenden Bücherstapel. »Hier befinden sich zweifellos Abschriften von einer Reihe Bücher, die wir von früher her kennen – ich habe sie dir gezeigt –, aber die meisten Schriften hier sind neu für mich. Es ist noch nie da gewesen, dass eine Bibliothek in diesem Ausmaß vom Kanon der klassischen Meisterwerke abweicht. Gewiss, jede Bibliothek verfügt über einen Bestand an einzigartigen Titeln, aber an diesem Ort fühlt man sich, als hätte es einen in eine völlig andere Welt verschlagen. Fast jeder Band hier unten ist eine erstaunliche Neuentdeckung.«

Unversehens erwachte Anns Misstrauen, denn sie hatte das unheimliche Gefühl, dass Nathan zu guter Letzt im Zentrum jenes Labyrinths angekommen war, das sein Geist durchwanderte. Ein Detail, das er eben erwähnt hatte, kam aus dem Hintergrund ihrer Gedanken an die Oberfläche. »Einen Ratschlag?«, hakte sie misstrauisch nach. »Welcher Art?«

»Dem Leser, dessen Interesse nicht allgemeiner Natur ist, sondern der vielmehr Grund hat, sich umfassendere und speziellere Kenntnisse über die darin behandelten Themen zu verschaffen, wird empfohlen, die einschlägigen bei den Gebeinen aufbewahrten Bände zu konsultieren.«

Anns Stirn furchte sich noch tiefer. »Bei den Gebeinen aufbewahrte Bände?«

»Ja. Verstecke wie dieses werden darin als ›zentrale Stätten‹ bezeichnet.« Erneut beugte sich Nathan vor, nicht ganz unähnlich einem Waschweib, das jede Menge böswilligen Tratsch loswerden will. »Von diesen centralen Stätten‹ ist an einer Vielzahl von Stellen die Rede, aber bislang konnte ich nur eine einzige finden, wo einer dieser Orte namentlich genannt wird: die Katakomben unter den Gewölbekellern im Palast der Propheten.«

Ann klappte der Unterkiefer runter. »Katakomben ... das ist doch abwegig. Unter dem Palast der Propheten gab es keinen solchen Ort.«

»Nicht, soweit wir wissen«, erwiderte Nathan ernst. »Was aber nicht bedeutet, dass er nicht existiert.«

»Aber ... aber«, stammelte Ann, »das ist schlicht unmöglich. Ausgeschlossen. So etwas hätte niemals unbemerkt bleiben können. In all den Jahren, die die Schwestern dort lebten, hätten wir davon erfahren.«

Nathan zuckte mit den Schultern. »Während all dieser Zeit wusste auch niemand etwas von diesem Ort hier unter den Gebeinen.«

»Aber hier wohnte auch niemand unmittelbar darüber.«

»Und wenn die Existenz der Katakomben unter dem Palast nicht allgemein bekannt war? Schließlich wissen wir nur sehr wenig über die Zauberer aus jener Zeit – und nicht eben viel über die Personen, die maßgeblich an der Errichtung des Palasts der Propheten beteiligt waren. Es könnte doch sein, dass sie ihre Gründe hatten, einen solchen Ort geheim zu halten – genau wie diesen Ort.«

Nathan hob eine Augenbraue. »Angenommen, der Zweck des Palasts – die Ausbildung junger Zauberer – war Teil eines ausgeklügelten Ablenkungsmanövers, um die Existenz der verborgenen Lagerstätten geheim zu halten?«

Ann spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. »Willst du damit etwa andeuten, unsere Mission sei sinnlos gewesen? Wie kannst du es wagen, auch nur anzudeuten, wir hätten unser ganzes Leben nichts anderem als einer Illusion gewidmet und das Leben der mit der Gabe Gesegneten wäre verschont worden, wenn wir ...«

»Ich deute nichts dergleichen an. Ich behaupte ja gar nicht, dass die Schwestern hinters Licht geführt worden seien oder das Leben der mit der Gabe gesegneten Knaben durch ihr Tun nicht verschont worden wäre. Ich sage lediglich, diese Bücher lassen den Schluss zu, dass möglicherweise mehr dahintersteckte. Angenommen, es ging nicht nur darum, einen Ort zu haben, an dem die Schwestern ihrer nützlichen Berufung nachgehen konnten, sondern man verfolgte mit diesem Ort noch einen höheren Zweck? Denk doch nur an den Friedhof über uns: Obwohl er seinen Zweck erfüllt, stellt er gleichzeitig eine praktische Tarnung dar, hinter der sich dieses Lager verbergen lässt. Vielleicht wurden diese Katakomben ganz bewusst vor mehr als tausend Jahren in der Absicht verschlossen, sie zu verstecken? Wenn dem so ist, entsprach es der ursprünglichen Absicht, dass wir niemals von ihrer Existenz erfahren haben. Wenn es ein geheimes Lager war, dürfte es wohl kaum Aufzeichnungen darüber gegeben haben. Nach den in diesen Schriften gefundenen Hinweisen spricht einiges dafür, dass es zu einer bestimmten Zeit Bücher gab, die man für so verstörend erachtete und die, in einigen Fällen, derart gefährliche Banne enthielten, dass man entschied, sie müssten als Vorsichtsmaßnahme an einigen wenigen centralen Stätten‹ unter Verschluss gehalten werden, um zu verhindern, dass sie in Umlauf gerieten und, wie bei den meisten Prophezeiungen gebräuchliche Praxis, kopiert wurden. Gibt es eine bessere Methode, den Zugang zu ihnen zu beschränken? In diesen Hinweisen ist von ›bei den Gebeinen eingelagerten Büchern‹ die Rede, ich vermute daher, dass es sich bei diesen anderen centralen Stätten‹ womöglich um ganz ähnliche Katakomben handelt, wie zum Beispiel jene, die sich angeblich unter dem Palast der Propheten befanden.«

Langsam schüttelte Ann den Kopf und versuchte, dies alles aufzunehmen, versuchte, sich vorzustellen, ob auch nur die vage Möglichkeit bestand, dass es stimmen könnte. Ihr Blick fiel abermals auf den Tisch mit den Stapeln von Büchern, die größtenteils von Richard handelten und die sie noch nie zuvor gesehen hatten. Ann machte eine Handbewegung. »Und diese hier?«

»Ich wünsche mir fast, ich hätte nie gelesen, was du dort siehst.«

Ann krallte ihre Hand in seinen Ärmel. »Warum das? Was hast du dort gelesen?«

Er schien sich wieder zu fangen, machte eine wegwerfende Handbewegung und wechselte nach einem kurzen Lächeln das Thema.

»Das Besorgniserregendste an den Leerstellen in den Büchern ist meiner Ansicht nach, dass sich eine Art roter Faden durch sie hindurchzieht. Obwohl es sich nicht bei allen fehlenden Textstellen um Prophezeiungen über Richard handelte, habe ich herausgefunden, dass sie eins gemeinsam haben.«

»Und das wäre?«

Nathan hob einen Finger, um seiner Argumentation größeren Nachdruck zu verleihen. »Alle fehlenden Textpassagen entstammen Prophezeiungen, welche die Zeit nach Richards Geburt betreffen. Die Abschriften jener Prophezeiungen hingegen, die sich auf einen Zeitpunkt vor oder um Richards Geburt beziehen, weisen keine einzige Leerstelle auf.«

Bedächtig verschränkte Ann die Hände und dachte über diese Merkwürdigkeit nach – und wie sie sich vielleicht klären ließe.

»Nun«, sagte sie schließlich. »Es gibt eine Möglichkeit, das zu überprüfen. Ich könnte Verna bitten, einen Boten zur Burg der Zauberer in Aydindril zu schicken. Zurzeit hält sich Zedd dort auf, um sie zu sichern und zu verhindern, dass sie Jagang in die Hände fällt. Über den Boten könnten wir Zedd bitten, bestimmte Stellen in seinen Abschriften jener Bücher zu überprüfen, die wir auch hier haben, und auf diese Weise feststellen, ob in ihnen die gleichen Textpassagen fehlen.«

»Ausgezeichnete Idee«, sagte Nathan.

»Angesichts der Größe der Bibliotheken in der Burg dürfte er eine ganze Reihe jener Klassiker über Prophezeiungen besitzen, die wir kennen und die uns hier vorliegen.«

Nathans Miene hellte sich auf. »Noch besser wäre es, wenn wir Verna bitten könnten, jemanden zum Palast des Volkes in D’Hara zu schicken. Bei meinem Aufenthalt dort habe ich viel Zeit in den Palastbibliotheken verbracht und entsinne mich deutlich, Abschriften von einer ganzen Reihe dieser Bücher gesehen zu haben. Wenn wir sie von jemandem überprüfen lassen könnten, würde uns das sagen, ob die Bücher hier verzaubert worden sind, wie du behauptest, und ob es sich um ein auf diese Ausgaben beschränktes oder womöglich weiter verbreitetes Phänomen handelt. Ja, wir müssen Verna augenblicklich bitten, jemanden zum Palast des Volkes zu schicken.«

»Nun, das sollte nicht weiter schwierig sein. Verna ist soeben im Begriff, nach Süden aufzubrechen. Ihre Marschroute wird sie zweifellos in die Nähe des Palasts des Volkes führen.«

Missbilligend blickte Nathan zu ihr herab. »Sie ist auf dem Weg in den Süden? Warum das?«

Anns Stimmung trübte sich. »Etwas früher heute Abend habe ich eine Nachricht von ihr erhalten – unmittelbar bevor ich hierher kam.«

»Und was wusste deine junge Prälatin zu berichten? Was will sie im Süden?«

Resigniert stieß Ann einen tiefen Seufzer aus. »Ich fürchte, es sind nicht die besten Neuigkeiten. Sie schreibt, Jagang habe seine Armee aufgeteilt. Einen Teil seiner gewaltigen Streitmacht will er um das Gebirge herumführen, um von Süden her in D’Hara einzufallen. Verna wird sich mit einem großen Kontingent der d’Haranischen Streitkräfte in Marsch setzen, um sich der Armee der Imperialen Ordnung in den Weg zu stellen und sie letztendlich aufzuhalten.«

Aus Nathans Gesicht wich das Blut.

»Was hast du da gerade gesagt?«, hauchte er tonlos.

Seine entsetzte Miene verwirrte Ann. »Du meinst, dass Jagang seine Armee aufgeteilt hat?«

Sie hätte es nicht für möglich gehalten, aber das Gesicht des Propheten wurde noch aschfahler. »Mögen die Gütigen Seelen uns beistehen«, entfuhr es ihm leise. »Dafür ist es noch zu früh, wir sind noch nicht bereit.«

Ann spürte ein kribbelndes Gefühl der Angst, das bei ihren Zehen seinen Anfang nahm und langsam ihre Beine heraufkroch. »Nathan, wovon redest du?«

Er fuhr herum und überflog wie von Sinnen die Rücken der sich auf den Tischen stapelnden Folianten. In der Mitte eines Stapels entdeckte er schließlich den gesuchten Band und zog ihn mit einem Ruck heraus, ohne darauf zu achten, dass der Rest des Stapels in sich zusammenstürzte. Leise vor sich hin murmelnd blätterte er hektisch suchend in dem Buch.

»Hier ist es«, sagte er und legte seinen Finger auf die Seite. »Ich bin hier unten auf jede Menge von Prophezeiungen gestoßen, in Büchern, die ich zuvor noch nie gesehen habe. Leider sind die Prophezeiungen rund um die Entscheidungsschlacht für mich hinter einem Schleier verborgen – mit anderen Worten, ich kann sie nicht als Visionen erkennen –, aber der Text selbst ist beängstigend genug. Dies hier fasst sie ebenso unmissverständlich zusammen wie alle anderen.«

Dicht über den Text gebeugt, las er ihr Folgendes im Schein der Kerze aus dem Buch vor. »Im Jahr der Zikaden, wenn der Vorkämpfer für Selbstaufopferung und Leid unter dem Banner der Menschheit und des Lichts endlich seinen Schwärm teilt, soll dies als Zeichen dafür dienen, dass die Prophezeiung zum Leben erweckt wurde und uns die letzte und entscheidende Schlacht bevorsteht. Seid gewarnt, denn alle wahren Abzweigungen und ihre Ableitungen sind in dieser seherischen Wurzel miteinander verknüpft. Ein einziger Hauptstrang nur zweigt von dieser Verknüpfung der allerersten Ursprünge ab. Wenn der fuer grissa ost drauka in dieser letzten Schlacht nicht die Führung übernimmt, wird die Welt, bereits jetzt am Abgrund ewiger Finsternis, unter ebendiesen schrecklichen Schatten fallen.«

Fuer grissa ost drauka war einer der prophetischen Namen Richards, der einer bekannten, in der alten Sprache des Hoch-D’Haran verfassten Prophezeiung entstammte. Übersetzt bedeutete er: Der Bringer des Todes. Ihn in dieser Prophezeiung mit diesem Namen zu bezeichnen war eine gängige Methode, die beiden Prophezeiungen zu einer gekoppelten Verzweigung zu verbinden.

»Sollten die Zikaden tatsächlich dieses Jahr hervorkommen, wäre das der Beweis, dass die Prophezeiung nicht nur authentisch, sondern aktiv ist.«

Ann drohten die Knie nachzugeben. »Mit dem heutigen Tag haben die Zikaden aus der Erde zu schlüpfen begonnen.«

Nathan starrte auf sie hernieder wie der Schöpfer höchstselbst am Tag des Jüngsten Gerichts. »Damit steht die zeitliche Abfolge fest. Die Prophezeiungen haben sich zu einem Bild gefügt, die Ereignisse sind markiert. Unser Ende ist nah.«

»Gütiger Schöpfer, steh uns bei«, sagte Ann leise.

Nathan steckte das Buch in seine Tasche. »Wir müssen zu Richard.«

Sie nickte bestätigend. »Ja, du hast Recht. Wir haben keine Zeit zu verlieren.«

Nathan sah sich um. »Diese Bücher hier können wir auf keinen Fall alle mitnehmen, und um sie zu lesen, fehlt uns die Zeit. Wir müssen dieses Versteck wieder versiegeln wie zuvor und augenblicklich aufbrechen.«

Noch ehe Ann zustimmend nicken konnte, hatte Nathan bereits mit einer ausholenden Armbewegung alle Kerzen gelöscht, nur die Laterne auf der Ecke des einen Tisches brannte noch. Im Vorübergehen nahm er sie mit seiner großen Hand an sich und sagte: »Komm.«

Ann machte ein paar vorsichtige Schritte, um zu ihm aufzuschließen und im winzigen Lichtkegel der Laterne zu bleiben, jetzt, da der Raum in plötzliche Dunkelheit getaucht war. »Bist du sicher, dass wir keines dieser Bücher mitnehmen sollten?«

Der Prophet hastete bereits den engen Treppenschacht hinauf, der sowohl ihn als auch den Lichtkegel der Laterne verschluckte. »Wir können es uns nicht leisten, uns damit zu belasten. Und davon abgesehen: Welches sollten wir mitnehmen?« Er blieb einen Moment stehen und warf einen Blick über die Schulter. Im grellen Licht der Laterne schien sein Gesicht nur aus scharfen Kanten und Linien zu bestehen. »Wir wissen, was die Prophezeiung verheißt, und zum ersten Mal kennen wir jetzt auch die zeitliche Abfolge. Wir müssen zu Richard, er muss bei der Schlacht unbedingt zugegen sein, wenn die Armeen aufeinander prallen, sonst ist alles verloren.«

»Richtig, und außerdem werden wir dafür sorgen müssen, dass er zugegen ist, damit sich der Wortlaut der Prophezeiung erfüllt.«

»Dann sind wir uns also einig«, sagte er, wandte sich um und eilte weiter die Stufen hinauf. Der tunnelartige Treppenschacht war so eng und niedrig, dass er Mühe hatte, sich nach oben zu kämpfen. Oben angekommen, traten sie unter dem schrillen, sirrenden Gesang der Zikaden unvermittelt hinaus in die Nacht. Nathan rief nach Tom und Jennsen. Während sie auf Antwort warteten, wiegten sich die Bäume sachte in der schwülwarmen Brise. In Wahrheit war es nur ein kurzer Augenblick, aber ihnen kam es vor wie eine Ewigkeit, bis die beiden, Tom und Jennsen, sich im Laufschritt aus dem Dunkel schälten. »Was ist denn?«, fragte Jennsen, völlig außer Atem.

Neben ihr zeichnete sich der dunkle Schatten Toms ab. »Gibt es Schwierigkeiten ?«

»Ernsthafte Schwierigkeiten«, bestätigte Nathan.

Ann fand, dass er diesbezüglich ruhig ein wenig zurückhaltender hätte sein können, aber in Anbetracht des Ernstes der Lage war Zurückhaltung vermutlich zwecklos. Er zog das Buch aus der Tasche, das er aus der Bibliothek mitgenommen hatte, und schlug es auf einer leeren Seite auf, wo Teile der Prophezeiung fehlten. »Sag mir, was hier steht«, forderte er Jennsen auf und hielt ihr das Buch unter die Nase. Sie musterte ihn verwirrt.’»Was dort steht? Aber Nathan, die Seite ist vollkommen leer.«

Er brummte unzufrieden. »Damit steht fest, dass auf irgendeine Weise subtraktive Magie daran beteiligt war. Subtraktive Magie ist die Magie der Unterwelt, die Macht des Todes, weshalb sie Jennsen ebenso berührt wie uns.«

Nathan wandte sich wieder zu ihr herum. »Wir sind auf einige Prophezeiungen gestoßen, die Richard betreffen, und müssen ihn unbedingt finden, da sonst Jagang die alles entscheidende Schlacht gewinnen wird.«

Jennsen ließ ein erschrockenes Keuchen hören, Tom stieß einen leisen Pfiff aus. »Kennt ihr seinen derzeitigen Aufenthaltsort?«, fragte Nathan. Ohne Zögern drehte sich Tom ein wenig zur Seite und zeigte mit gestrecktem Arm hinaus in die Nacht, denn seine Bande sagten ihm, was den anderen ihre Gabe nicht vermitteln konnte. »Er ist irgendwo in dieser Richtung, nicht sehr weit entfernt, aber auch nicht gerade in der Nähe.«

Ann spähte in das Dunkel. »Wir müssen unsere Sachen zusammensuchen und gleich beim ersten Tageslicht aufbrechen.«

»Er bewegt sich«, wandte Tom ein. »Ich glaube nicht, dass Ihr ihn, wenn Ihr dort ankommt, noch an derselben Stelle antreffen werdet.«

Nathan stieß einen leisen Fluch aus. »Und es ist unmöglich zu sagen, in welche Richtung sich der Junge bewegt.«

»Ich würde vermuten, er befindet sich auf dem Weg zurück nach Altur’Rang«, sagte Ann. »Mag sein, aber was ist, wenn er dort nicht bleibt?« Er legte Tom eine Hand auf die Schulter. »Du wirst uns begleiten müssen. Du bist einer der verdeckten Beschützer Lord Rahls, und die Angelegenheit ist äußerst wichtig.«

Ann sah, dass Tom das Messer in seinem Gürtel mit fester Hand umklammerte, dessen silbernes Heft mit dem kunstvoll gestalteten Buchstaben »R« verziert war, der für das Haus Rahl stand. Es war eine seltene Waffe, wie sie nur von wenigen Personen getragen wurde, Personen, die im Verborgenen dafür arbeiteten, das Leben des Lord Rahl zu beschützen.

»Selbstverständlich«, erwiderte Tom.

»Ich werde auch mitkommen«, beeilte sich Jennsen hinzuzufügen. »Ich muss nur eben noch ...«

Nathans entschiedenes »Nein« ließ sie verstummen. »Wir brauchen dich hier.«

»Warum denn das?«

»Weil«, Ann bemühte sich um einen etwas einfühlsameren Ton als Nathan, »du Richards Kontakt zu den Menschen hier bist. Sie brauchen dringend Hilfe, um die große weite Welt, die sich eben erst für sie aufgetan hat zu verstehen. Sie sind immer noch anfällig für die Verheißungen der Imperialen Ordnung und könnten sich leicht gegen uns aufwiegeln lassen. Sie haben sich doch eben erst dafür entschieden, für unsere Sache zu kämpfen und sich dem d’Haranischen Reich anzuschließen. Fürs Erste braucht Richard dich hier, und Toms Platz ist hier bei uns, damit er seine Pflicht gegenüber Richard erfüllen kann.«

Panik in den Augen, richtete sie ihren Blick auf Tom. »Aber ich ...«

»Jennsen.« Nathan legte ihr seinen Arm um die Schultern. »Sieh her.« Er deutete den Treppenschacht hinab. »Du weißt, was sich dort unten befindet. Falls uns etwas zustößt, könnte es sein, dass auch Richard davon erfahren muss. Du musst hier bleiben, um diesen Ort in seinem Namen zu bewachen. Das ist wichtig – ebenso wichtig wie der Umstand, dass Tom uns begleitet. Uns geht es bestimmt nicht darum, dir Gefahren zu ersparen, denn in Wahrheit könnte dies noch gefährlicher sein, als sich uns anzuschließen.«

Jennsens Blick wanderte von Nathans Augen zu Anns, bis sie sich widerstrebend den Ernst der Lage eingestehen musste. »Wenn Ihr wirklich der Meinung seid, dass Richard mich hier braucht, dann muss ich eben bleiben.«

Ann berührte das Kinn der jungen Frau sachte mit den Fingerspitzen. »Ich danke dir, mein Kind, dass du einsiehst, wie wichtig dies ist.«

»Wir müssen das Versteck wieder genau so verschließen, wie ich es vorgefunden habe«, erklärte Nathan und fuchtelte nachdrücklich mit den Armen. »Ich werde euch jetzt den Mechanismus zeigen, und wie man ihn bedient. Anschließend müssen wir in den Ort zurück und unsere Sachen zusammensuchen. Bis zum Sonnenaufgang werden wir uns höchstens ein paar Stunden aufs Ohr legen können, aber das lässt sich halt nicht ändern.«

»Es ist ein weiter Fußmarsch hinaus aus Bandakar«, sagte Tom. »Wenn wir Lord Rahl einholen wollen, werden wir uns, sobald wir den Gebirgspass überwunden haben, ein paar Pferde besorgen müssen.«

»Dann ist es also entschieden«, verkündete der Prophet. »Lasst uns das Grab wieder verschließen, und dann brechen wir sofort auf.«

Ann runzelte die Stirn. »Nathan, dieses geheime Bücherversteck hat jahrtausendelang unter diesem Grabstein verborgen gelegen, und all diese Zeit ist niemand dahinter gekommen, dass es sich dort befindet. Wie hast du es nur geschafft, es zu entdecken?«

Nathan hob eine Braue. »Um ehrlich zu sein, ich fand es gar nicht so schwierig.«

Er umging das riesige steinerne Grabmal bis zur Vorderseite und wartete, bis Ann zu ihm aufschloss. Als sie unmittelbar neben ihm stand, hielt er die Laterne in die Höhe. Dort standen nur zwei Worte, gemeißelt in die Oberfläche des uralten Grabsteins: NATHAN RAHL.

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