10

Auf dem grasbewachsenen Hang, der zum Friedhof hinabführte, vertrieb sich eine in einer ausladenden Trauerweide verborgene Spottdrossel die Nacht damit, unablässig eine Reihe schriller Rufe zu wiederholen, die offenbar den Zweck hatten, ihr Territorium gegen Eindringlinge zu verteidigen. Gewöhnlich konnten die Rufe einer Spottdrossel, selbst wenn sie als Drohung an ihre Artgenossen gedacht waren, in Anns Ohren einen durchaus liebreizenden Klang haben, aber jetzt, in der nächtlichen Stille, gingen ihr die durchdringenden Pfeif-, Schnatter- und Kreischlaute gewaltig auf die Nerven. In der Ferne hörte sie eine weitere Spottdrossel ganz ähnliche Verwünschungen ausstoßen. Offenbar fanden nicht einmal die Vögel ihren Frieden. Jennsen, die sich einen Pfad durch die hohen wilden Gräser bahnte und dabei die Laterne in die Höhe hielt, damit Ann sehen konnte, wohin sie trat, deutete unversehens nach vorn. »Tom meinte, wir würden ihn dort unten finden.«

Vom langen Fußmarsch schweißgebadet, spähte Ann in das Dunkel. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, was der Prophet im Schilde führen mochte. All die vielen Jahre, die sie ihn nun schon kannte, hatte er noch nie etwas so Seltsames getan. Gewiss, er hatte sich schon eine Menge Verschrobenheiten geleistet, aber noch nie so etwas wie das hier. Bei einem Mann seines Alters sollte man doch annehmen, dass er seine Zeit nicht früher als unbedingt nötig auf dem Friedhof verbringen wollte.

Sie folgte Richards jüngerer Schwester die Böschung hinab und versuchte, Anschluss zu halten, ohne in Laufschritt zu verfallen. Die halbe Nacht schienen sie schon unterwegs zu sein, und sie war nun völlig außer Atem. Sie hatte von der Existenz dieses Friedhofs, der nahezu vergessen in diesem abgelegenen, unbewohnten Teil der Wildnis lag, gar nichts gewusst und wünschte, sie hätte daran gedacht, etwas von dem Essen in ihrer Kammer mitzunehmen.

»Bist du überhaupt sicher, dass Tom noch hier unten wartet?«

Jennsen schaute über ihre Schulter. »Sollte er jedenfalls. Nathan wollte, dass er Wache steht.«

»Wozu das? Um die anderen Leichenfledderer zu vertreiben?«

»Ich weiß nicht, kann sein«, antwortete Jennsen ohne eine Spur von Amüsiertheit. Ann war nicht besonders begabt darin, andere zum Lachen zu bringen. Sie war gut darin, ihre Knie zum Zittern zu bringen, ja, aber Scherze zu machen war ihr nicht gegeben. Vermutlich war ein Friedhof in einer düsteren Nacht ohnehin nicht der geeignete Ort dafür, auf jeden Fall aber war es der richtige Ort, um weiche Knie zu bekommen.

»Vielleicht hat es Nathan bloß nach Gesellschaft verlangt«, schlug Ann vor. »Ich glaube nicht, dass das der Grund war.« In dem Lattenzaun, mit dem die Ruhestätte der Toten umgeben war, entdeckte Jennsen einen eingefallenen Abschnitt und stieg darüber. »Nathan bat mich, Euch hierher zu bringen, außerdem wollte er, dass Tom dableibt und den Friedhof bewacht – ich glaube, um die Gewähr zu haben, dass sich niemand in der Nähe herumtreibt, von dem er nichts weiß.«

Nathan liebte es, andere herumzukommandieren, vermutlich konnte er als mit der Gabe gesegneter Rahl gar nicht anders. Gut möglich, dass das Ganze nichts weiter war als ein Vorwand, um Jennsen, Tom und Ann auf sein Kommando herumspringen zu lassen. Der Prophet hatte einen gewissen Hang zu Dramatik, und ein Friedhof war durchaus dazu angetan, den angemessenen Rahmen dafür zu liefern. In Wahrheit wäre Ann in diesem Augenblick froh gewesen, wenn es sich um nichts weiter als um eine schrullige Eigenart Nathans gehandelt hätte. Dummerweise beschlich sie das unbehagliche Gefühl, dass es keineswegs um etwas so Simples, um etwas so Harmloses wie ein bisschen Theatralik ging. Fast von Anbeginn an, und allen widrigen Umständen zum Trotz, war er Anns Vertrauter und Verbündeter gewesen im Kampf gegen den Hüter und dessen Versuch, in der Welt des Lebendigen Fuß zu fassen, sowie gegen das Bestreben aller boshaften Menschen, Unschuldigen nach Belieben ihren Willen aufzuzwingen. Er war es schließlich auch gewesen, der ihr als Erster, fünfhundert Jahre vor dessen voraussichtlicher Geburt, eine sich auf Richard beziehende Prophezeiung gezeigt hatte.

Ann ertappte sich bei dem Wunsch, dass es nicht dunkel wäre und sie sich nicht auf einem Friedhof befänden. Und dass Jennsen nicht so lange Beine hätte.

Plötzlich fiel es Ann wie Schuppen von den Augen, warum Nathan Tom als Wachposten brauchte, »um die Gewähr zu haben, dass niemand sich in der Nähe herumtreibt, von dem er nichts weiß«, wie Jennsen sich ausgedrückt hatte. Die Menschen in Bandakar waren wie Jennsen völlig unbeleckt von der Gabe, ihnen fehlte selbst jener winzige Funke der Gabe des Schöpfers, den alle anderen Menschen in sich trugen – eine entscheidende Gemeinsamkeit, aufgrund derer sie alle der Wirklichkeit und dem Wesen der Magie unterworfen waren. Für diese Menschen hingegen existierte Magie ganz einfach nicht. Das Fehlen dieses angeborenen Kerns der Gabe machte die von der Gabe völlig Unbeleckten nicht nur immun gegen Magie, sondern zugleich unsichtbar für die Talente der Gabe, da sie schwerlich in Wechselbeziehung zu etwas treten konnten, das für sie nicht existierte.

Auch wenn nur ein Elternteil über das Merkmal des Von-der-Gabe-völlig-unbeleckt-Seins verfügte, wurde dies ausnahmslos an ihre Nachkommen weitervererbt. Ursprünglich waren diese Menschen in die Verbannung geschickt worden, um so die Gabe im Erbgut des Menschen zu erhalten. Es war eine grausame Lösung gewesen, gewiss, aber infolgedessen hatte die Gabe im Menschengeschlecht überlebt. Hätte man nicht zu dieser Lösung gegriffen, hätte die Magie längst aufgehört zu existieren.

Nun waren aber Prophezeiungen ebenfalls Magie und daher gleichermaßen blind gegen diese Menschen. Kein Buch der Prophezeiungen hatte je auch nur ein Wort über die von der Gabe völlig Unbeleckten zu berichten gewusst, und seit Richard dieses Volk entdeckt und seine Verbannung beendet hatte, auch nicht über die Zukunft der Menschheit oder der Magie. Was von nun an geschehen würde, war gänzlich unbekannt. Vermutlich, überlegte Ann, würde Richard dies auch gar nicht anders wollen. Er nahm die Prophezeiungen nicht eben begeistert zur Kenntnis, und obwohl sie eine Vielzahl von Äußerungen über seine Person machten, beachtete Richard sie im Großen und Ganzen nicht. Stattdessen glaubte er an den freien Willen. Die Vorstellung, dass es ihn betreffende Situationen gab, die vorherbestimmt waren, erfüllte ihn mit großer Skepsis.

Alle Dinge des Lebens, ganz besonders aber die Magie, verlangten nach Ausgewogenheit, in gewisser Hinsicht bildete Richards freier Wille also das Gegengewicht zu den Prophezeiungen. Er war der Mittelpunkt eines Strudels einander widerstrebender Kräfte. In Richards Fall versuchten die Prophezeiungen, das Unvorhersehbare vorherzusehen, und doch hatten sie gar keine andere Wahl.

Am besorgniserregendsten war, dass Richards freier Wille ihn zu einer unkalkulierbaren Größe innerhalb der Prophezeiungen machte, selbst in jenen, die seine Person zum Gegenstand hatten. Er war das Chaos inmitten geregelter Strukturen, die Unordnung innerhalb der Ordnung und so launisch wie ein Blitz. Und doch ließ er sich von Wahrheit und Vernunft statt von Launenhaftigkeit oder Zufall lenken, noch handelte er willkürlich. Es war ihr ein Rätsel, wieso er innerhalb der Prophezeiungen das Chaos repräsentieren und dabei gleichzeitig vollkommen verstandesbetont handeln konnte.

Ann war sehr besorgt um Richard, denn diese gegensätzlichen Aspekte der mit der Gabe Gesegneten bildeten bisweilen den Auftakt zu wahnhaftem Verhalten. Das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnten, war ein Anführer, der unter Wahnvorstellungen litt.

Doch all diese Überlegungen waren eher akademischer Natur. Die eigentliche Schwierigkeit bestand darin, einen Weg zu finden, der garantierte, dass er sich die ihm in den Prophezeiungen vorherbestimmten Ziele zu Eigen machte und seine Bestimmung erfüllte, solange noch Zeit war. Gelang ihnen dies nicht oder scheiterte er, dann war alles verloren.

Vernas Nachricht hatte sich wie ein todbringender Schatten über Anns innerste Gedanken gelegt. Plötzlich tauchte Tom aus dem Dunkel auf. Er hatte ihr Licht gesehen und kam ihnen im hohen Gras entgegen. »Da seid Ihr ja«, begrüßte er Ann. »Nathan wird sich freuen, dass Ihr endlich hier seid. Kommt mit, ich zeige Euch den Weg.«

Nach dem flüchtigen Blick zu urteilen, den sie im trüben Licht der Laterne erhaschen konnte, schien sein Gesicht besorgt.

Der kräftige D’Haraner führte sie tiefer in das Friedhofsgelände, wo an bestimmten Stellen Reihen leicht erhöhter und mit Steinen eingefasster Gräber zu erkennen waren. Offenbar waren sie jüngeren Datums, denn ansonsten konnte Ann nur hohes Gras erkennen, das die Grabsteine sowie die Gräber, die sie markierten, mit der Zeit überwuchert hatte. An einer Stelle waren einige kleine Grabsteine aus Granit zu erkennen, die so verwittert waren, dass es sich nur um außerordentlich alte Gräber handeln konnte. Einige Grabstellen waren mit schlichten Holzkreuzen markiert, in die man Namen geritzt hatte. Die meisten dieser Gedenkzeichen waren längst zu Staub zerfallen, wodurch weite Teile des Friedhofs eher an ein grasbewachsenes Feld erinnerten.

»Weißt du, was das für fette Käfer sind, die unablässig diesen Lärm veranstalten?«, wandte sich Jennsen an Tom.

»Ich bin nicht sicher«, antwortete der. »Ich habe sie noch nie zu Gesicht bekommen. Aber sie scheinen plötzlich überall zu sein.«

Ann lächelte bei sich. »Es sind Zikaden.«

Jennsen warf ihr einen fragenden Blick zu.

»Zikaden. Du wirst sie bestimmt nicht kennen. Bei ihrer letzten Häutung dürftest du noch ein ganz kleines Mädchen gewesen sein und viel zu jung, um dich zu erinnern. Der Lebenszyklus dieser rotäugigen Zikaden beträgt siebzehn Jahre.«

»Siebzehn Jahre!«, rief Jennsen erstaunt. »Soll das heißen, sie kommen nur alle siebzehn Jahre zum Vorschein?«

»So ist es. Sobald sich die Weibchen mit diesen lärmenden Burschen gepaart haben, legen sie ihre Eier in den Ästen ab. Beim Schlüpfen lassen sich die Nymphen dann aus den Bäumen fallen und graben sich ein, um erst siebzehn Jahre später wieder zum Vorschein zu kommen und ihr kurzes Erwachsenendasein zu fristen.«

Erstaunt murmelten Jennsen und Tom etwas, dann setzten sie ihren Weg über das Friedhofsgelände fort. In dem Lichtschein, der aus Jennsens Laterne drang, vermochte Ann außer den Schatten der sich gelegentlich in der schwülwarmen Brise wiegenden Bäume kaum etwas zu erkennen. Während die drei lautlos über den Friedhof hasteten, hielt das unablässige Gezirpe der Zikaden in der Dunkelheit ringsumher unvermindert an. Ann versuchte mithilfe ihres Han in Erfahrung zu bringen, ob sonst noch jemand in der Nähe war, doch außer Tom sowie einer weiteren Person irgendwo etwas weiter vorn, zweifellos Nathan, vermochte sie niemanden zu entdecken. Da Jennsen zu den völlig von der Gabe Unbeleckten gehörte, war sie für Anns Han nicht zu erfühlen.

Wie Richard war auch Jennsen einst von Darken Rahl gezeugt worden. Ihre völlige Unbeflecktheit von der Gabe war ein ebenso überraschender wie unbeabsichtigter Nebeneffekt der Magie eben jener Bande, die jeder mit der Gabe gesegnete Lord Rahl besaß. In früheren Zeiten, als dieses Wesensmerkmal sich zu verbreiten begann, hatte man die von der Gabe völlig Unbeleckten vertrieben und sie in ein vergessenes Land namens Bandakar verbannt. Anschließend hatte man alle nicht mit der Gabe gesegneten Nachkommen des jeweiligen Lord Rahl einfach umgebracht.

Obwohl Ann sich nun schon seit einiger Zeit unter diesen Menschen bewegte, hatte sie sich noch immer nicht daran gewöhnt, wie verwirrend dies mitunter sein konnte. Selbst wenn einer von ihnen unmittelbar vor ihr stand, war er für ihr Talent nicht zu erkennen. Es war eine unheimliche Art von Blindheit und der Verlust eines Sinnes, den sie immer als selbstverständlich betrachtet hatte.

Musste schon Jennsen große Schritte machen, um mit Tom Schritt zu halten, so musste Ann regelrecht in Trab verfallen, wenn sie nicht den Anschluss an die beiden verlieren wollte. Plötzlich – sie umgingen gerade eine kleine Erhebung – türmte sich vor ihnen ein steinernes Grabmal auf. Das Licht der Laterne beschien eine Seite eines rechteckigen Sockels, der ein wenig höher als Ann, aber nicht so groß wie Jennsen war. Der grobe Stein war stark verwittert und wies eine in den Stein gemeißelte Leiste auf, welche die quadratischen Vertiefungen an den Seiten einfasste. Wenn der Stein jemals poliert gewesen war, so war davon jetzt nichts mehr zu erkennen. Im Darüber gleiten enthüllte das Licht der Laterne Schichten einer schmutzigen, durch das hohe Alter bedingten Verfärbung sowie den fleckigen Bewuchs einer senffarbenen Flechte. Auf dem eindrucksvollen Sockel stand eine aus Stein gemeißelte Urne, über deren Rand steinerne Trauben quollen, Nathans Lieblingsfrüchte. Als Tom sie zur Vorderseite des steinernen Grabmals führte, stellte Ann zu ihrer Überraschung fest, dass der rechteckige Steinsockel offenbar aus seiner ursprünglichen Lage gerückt worden war.

Drüben, auf der ihnen abgewandten Seite, drang ein schwacher Lichtschein darunter hervor. Dem Anschein nach war das gesamte Grabmal um seine Achse zur Seite gedreht worden, sodass darunter steinerne Stufen sichtbar wurden, die unter die Erde und zu dem matten Lichtschein hinabführten. Tom warf den beiden einen viel sagenden Blick zu. »Er ist dort unten.«

Leicht vorgebeugt spähte Jennsen in die steil abfallende Höhle hinab. »Dort unten soll Nathan sein, diese Stufen hinunter?«

»Ich fürchte ja«, bestätigte ihr Tom.

»Was ist das für ein Ort?«, erkundigte sich Ann.

Verlegen zuckte Tom mit den Schultern. »Ich fürchte, ich habe keine Ahnung. Bis eben, als Nathan mir zeigte, wo ich ihn finden könne, wusste ich nicht einmal etwas von seiner Existenz. Er trug mir auf, Euch nach Eurem Eintreffen sofort hinunterzuschicken, auf diesen Punkt hat er großen Wert gelegt. Er bat mich, Wache zu stehen und jeden Fremden vom Friedhof fern zu halten. Ich glaube allerdings kaum, dass sich hier noch jemand blicken lässt, und schon gar nicht nachts. Die Leute aus Bandakar gehören nicht eben zu dem Menschenschlag, der das Abenteuer sucht.«

»Im Gegensatz zu Nathan«, murmelte Ann. Sie gab Tom einen Klaps auf seinen muskulösen Arm. »Ich danke dir, mein Junge. Am besten tust du, was Nathan dir aufgetragen hat, und stehst Wache. Ich werde derweil dort hinunterklettern und in Erfahrung bringen, worum es überhaupt geht.«

»Wir steigen zusammen hinunter«, entschied Jennsen.

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