15

Als er eine Bewegung in der Ferne gewahrte, wandte Richard sich herum und sah eine Gruppe von Personen auf das Denkmal zusteuern. Von seinem erhöhten Standpunkt aus konnte er ein Stück dahinter noch eine Reihe weiterer Personen erkennen, die sich ihnen angeschlossen hatten, angelockt von der Unruhe selbst, oder aber von den entschlossenen Blicken der Männer, die sich, zu einer Gruppe zusammengeschlossen, einen Weg über die weite, offene Fläche bahnten. An der Spitze der kleinen Menschentraube ging ebenjener Mann, den Richard sehen wollte. Er war noch ein gutes Stück entfernt, als er bereits den Arm hob und winkte. »Richard!«

Trotz der widrigen Umstände konnte Richard nicht anders, er musste lächeln, als er den altbekannten stämmigen Kerl mit seinem typischen, seltsamen roten Hut mit der schmalen Krempe erblickte. Als dieser gewahrte, dass Richard ihn bemerkt hatte, beschleunigte er seine Schritte und kam über den Rasen getrabt. »Richard«, rief er erneut. »Ihr seid zurück – genau wie Ihr es versprochen habt!«

Als die Menschentraube den Treppenhügel hinanschwärmte, ging Richard ihnen entgegen, um sie zu begrüßen. In diesem Moment sah Richard, dass Victor sich beharrlich einen Weg durch die immer dichter werdende Menschenmenge bahnte. Auf einem breiten marmornen Treppenabsatz stürzte Ishaq auf Richard zu und ergriff seine Hand, die er vor Freude überschäumend schüttelte.

»Richard, ich bin überglücklich, Euch wieder hier in Altur’Rang zu sehen. Ihr werdet doch wieder einen Wagen für meine Transportfirma fahren, ja? Bei mir stapeln sich schon die Bestellungen – wie schaffe ich es bloß, immer wieder in denselben Schlamassel zu geraten? Ihr müsst unbedingt wieder für mich arbeiten. Könnt Ihr gleich morgen anfangen?«

»Freut mich, dich zu sehen, Ishaq.«

Ishaq schüttelte noch immer Richards Hand. »Dann kommt Ihr also zurück? Ich mache Euch zum gleichberechtigten Kompagnon. Wir beide, Ihr und ich, machen halbe-halbe.«

»Ishaq, in Anbetracht des großen Geldbetrags, den du mir schuldest ...«

»Geld«, schnaubte Ishaq verächtlich. »Was soll dieses Gerede über Geld? Ich hab jetzt so viel Arbeit, und es wird ständig mehr, dass ich gar keine Zeit hab, mir über Geld den Kopf zu zerbrechen. Geld können wir verdienen, so viel Ihr wollt, was ich brauche, ist ein Mann mit Köpfchen. Ich mache Euch zu meinem Kompagnon. Alle fragen nach Euch. ›Wo ist bloß Richard ?‹, wollen sie alle wissen. Ich sage Euch, Richard, wenn Ihr –«

»Ich kann nicht, Ishaq. Im Augenblick versuche ich gerade, Kahlan zu finden.«

Ishaq machte ein verständnisloses Gesicht. »Kahlan?«

»Seine Ehefrau«, meinte ein finster dreinschauender Victor, der sich soeben hinter Ishaqs Rücken zwischen den Männern hindurchzwängte.

Ishaq wandte sich herum und glotzte Victor an, dann wandte er sich wieder herum zu Richard. »Ehefrau?« Er riss sich seinen roten Hut vom Kopf. »Ehefrau? Aber das ist ja großartig!« Er breitete die Arme aus. »Großartig!« Er schlang seine Arme um Richard, drückte ihn lachend an sich und wippte auf seinen Fußballen hin und her. »Ihr habt Euch eine Frau genommen! Das sind ja prächtige Neuigkeiten. Wir werden ein Festmahl veranstalten, alle miteinander ...«

»Sie ist verschollen«, fiel Richard ihm ins Wort, indem er Ishaq behutsam auf Armeslänge von sich schob. »Ich bin auf der Suche nach ihr. Im Augenblick wissen wir noch nicht, was vorgefallen ist.«

»Verschollen?« Ishaq warf sein dunkles Haar zurück und stülpte seinen roten Hut wieder auf. »Ich werde Euch helfen, ich werde mit Euch gehen.« Seine dunklen Augen wurden ernst. »Sagt mir einfach, was ich tun kann.«

Es war mitnichten ein leeres Angebot, das Ishaq aus reiner Höflichkeit gemacht hatte, nein, es war ihm ernst. Und es war herzerwärmend, zu sehen, dass dieser Mann alles stehen und liegen lassen würde, um zu helfen, aber nach Richards Ansicht war dies nicht der geeignete Ort oder Zeitpunkt für Erklärungen. »Ganz so einfach liegen die Dinge nicht.«

Victor beugte sich ein Stück vor und raunte: »Es gibt Schwierigkeiten, Richard.«

Ishaq warf Victor einen missbilligenden Blick zu und fuchtelte gereizt mit den Händen. »Wieso behelligst du ihn mit zusätzlichen Problemen, wenn seine Ehefrau verschwunden ist?«

»Schon gut, Ishaq. Victor ist über Kahlan bereits im Bilde.« Richards Linke ging zum Knauf seines Schwertes. »Um was für Schwierigkeiten geht es denn?«

»Soeben sind Späher zurückgekommen. Sie berichten, dass sich Truppen der Imperialen Ordnung auf dem Weg hierher befinden.«

Wieder riss sich Ishaq seinen Hut vom Kopf. »Truppen?«

»Ein weiterer Nachschubkonvoi?«, fragte Richard.

Victor verneinte mit entschiedenem Kopfschütteln. »Bei diesen Soldaten handelt es sich um kämpfende Einheiten, und sie sind auf dem Weg hierher.«

Ishaqs Augen weiteten sich. »Soldaten kommen hierher? Wann werden sie hier sein?«

Unruhiges Stimmengemurmel trug die Besorgnis erregende Nachricht bis in die letzten Reihen der Menschenmenge.

»In ein paar Tagen, wenn man ihr derzeitiges Marschtempo zugrunde legt. Wir haben also noch etwas Zeit, unsere Verteidigung zu organisieren. Aber nicht mehr viel.«

Nicci trat unmittelbar neben Richard. Mit ihrer aufrechten Körperhaltung, ihrem emporgereckten Haupt und dem durchdringenden Blick zog sie die Blicke aller auf sich, bis die Stimmen derer, die sie anstarrten, schließlich nach und nach verstummten. Selbst Menschen, die Nicci nicht kannten, neigten dazu, in ihrer Gegenwart in Schweigen zu verfallen – manche gewiss wegen ihrer überwältigenden Erscheinung, andere, weil sie nicht nur äußerlich attraktiv wirkte, sondern von ihrer Achtung gebietenden Präsenz eine gewisse Gefährlichkeit ausging, was zur Folge hatte, dass sie nicht nur ihre Stimme, sondern auch aller Mut verließ. »Und diese Späher sind sicher, dass sie hierher marschieren?«, hakte sie nach. »Könnte es nicht sein, dass sie auf ihrem Marsch nach Norden die Stadt nur streifen?«

»Sie marschieren nicht nach Norden.« Victor zog eine Braue hoch. »Sondern sie kommen von dort.« Er wies gen Norden. »Es sind schlachterprobte Kampfeinheiten. Schlimmer, irgendwo unterwegs haben sie einen dieser Priester aufgelesen.«

Der versammelten Menge stockte hörbar der Atem. Die Neuigkeit ging tuschelnd durch die Reihen, bis die ersten Anwesenden Fragen zu stellen begannen, wobei einer den anderen zu übertönen versuchte. Nicci hob eine Hand und bat um Ruhe; die minimale Geste genügte, um auf dem mit Marmorstufen bedeckten Hang, über den sich allmählich Dunkelheit senkte, wieder Ruhe einkehren zu lassen. In der angespannten Stille beugte sie sich zu dem finster dreinblickenden Schmied herab, wobei sich ihre Stirn verdüsterte wie die eines Falken, der soeben sein Abendmahl erspäht hatte.

»Sie haben einen Zauberer dabei?«, raunte sie.

Victor war einer der wenigen, die nicht ängstlich zurückwichen. »Angeblich handelt es sich bei dem Mann um einen Hohepriester der Glaubensgemeinschaft der Imperialen Ordnung.«

»Sämtliche Ordensbrüder in dieser Glaubensgemeinschaft sind Zauberer«, gab Ishaq zu bedenken. »Das sind keine guten Nachrichten, wirklich nicht.«

»Dem lässt sich schwerlich widersprechen«, stellte Victor nüchtern fest. »Nach den Berichten unserer Männer besteht jedenfalls kein Zweifel, dass dieser Kerl ein Zauberer ist.«

Wieder ging besorgtes Getuschel durch die Menge. Einige wetterten, diese Entwicklung habe überhaupt nichts zu besagen, sie würden ohnehin jeden Versuch der Imperialen Ordnung, Altur’Rang zurückzuerobern, zurückschlagen, andere dagegen waren beileibe nicht so sicher, wie man sich verhalten sollte. Den Blick in die Ferne gerichtet, dachte Nicci über das Gehörte nach, bis sie sich schließlich abermals an Victor wandte. »Wissen die Späher seinen Namen, oder haben sie sonst irgendwelche Informationen, die uns helfen könnten, ihn zu identifizieren?«

Victor hakte seine Daumen in den Gürtel und nickte ihr einmal knapp zu. »Der Name des Hohepriesters lautet Kronos.«

»Kronos ...«, murmelte sie nachdenklich.

»Die Späher, die die Truppen gesichtet haben, waren nicht auf den Kopf gefallen«, erklärte Victor ihr. »Niemand hatte sie gesehen, also haben sie die Soldaten umgangen und sich unter die Bevölkerung einer auf der Marschroute des Heeres liegenden Ortschaft gemischt und dort ihr Eintreffen abgewartet. Ein paar Nächte lang hatten die Soldaten unmittelbar vor der Ortschaft ihr Lager aufgeschlagen, um ihre Kräfte zu sammeln und sich mit frischen Vorräten einzudecken. Dabei müssen sie offenbar alles, was nicht niet- und nagelfest war, aus dem Ort fortgeschleppt haben. Sobald sie betrunken waren, wurden sie so gesprächig, dass meine Männer die wesentlichen Züge dessen, was sie planten, heraushören konnten, und das war mitnichten nur die Beendigung des Aufstandes in Altur’Rang. Ihr Befehl lautete, die Revolte niederzuschlagen, und zwar ohne jede Rücksichtnahme. Sie behaupteten, den Befehl zu haben, an den Leuten hier ein Exempel zu statuieren, was sie offenbar für keine sonderliche Herausforderung halten, da sie sich schon ganz offen auf das Vergnügen freuen, das sie nach ihrem Sieg erwartet.«

Es war, als hätte sich eine Decke des Schweigens über die Menge gebreitet. »Des Weiteren berichten sie, dieser Kerl, Kronos, sei ein frommer Bursche von durchschnittlicher Körpergröße und mit blauen Augen. Angeblich soll er sich den Saufgelagen der Soldaten nicht angeschlossen und den Bewohnern der Ortschaft stattdessen mehrfach weitschweifige Vorträge über die Notwendigkeit gehalten haben, dem Schöpfer auf seinem einzig wahren Weg zu folgen, indem sie ihren ganzen Besitz zum Wohle ihrer Mitmenschen, der Imperialen Ordnung und ihres geliebtes Kaisers spendeten. Wie sich jedoch herausstellte, ist er, wenn er gerade nicht predigt, ein wahrer Lüstling, den es offenbar wenig schert, mit wem er ins Bett steigt oder ob die Frau überhaupt willens ist. Als ein ziemlich aufgebrachter Mann lautstark Lärm schlug, weil seine Tochter auf Kronos’ Geheiß einfach auf der Straße aufgegriffen und verschleppt wurde, war der gute Ordensmann sogleich zur Stelle und brannte dem bedauernswerten Wicht mit einem Energieblitz die Haut vom Leib. Anschließend ließ der fromme Zauberer den Mann als Denkzettel schreiend und zuckend liegen und ging wieder nach drinnen, um sein Geschäft mit der Tochter zu Ende zu bringen. Der arme Kerl hat sich in stundenlangem Todeskampf gewunden; meine Leute berichteten, es sei das Schlimmste gewesen, was sie je gesehen haben. Seitdem hat niemand mehr so recht den Mund aufzumachen gewagt, wenn Kronos ein Auge auf eine Frau geworfen hatte.«

In der Menge wurde unruhiges Gemurmel laut. Die Geschichte hatte viele Anwesende schockiert und wütend gemacht. Die Aussicht, dass dieser Mann Befehl hatte, ein Exempel an ihnen zu statuieren, hatte nicht wenige in Angst und Schrecken versetzt.

Nicci dagegen schienen die Berichte über dieses Ausmaß der Brutalität nicht sonderlich zu schockieren. Nach längerem Nachdenken schüttelte sie schließlich den Kopf.

»Mir ist dieser Ordensbruder unbekannt, allerdings trifft das auf eine ganze Reihe von ihnen zu.«

Ishaqs dunkle Augen wechselten zwischen ihr und Richard hin und her. »Was werden wir jetzt tun? Truppen, und dann noch ein Zauberer, das klingt nicht gut. Aber Ihr habt doch sicher schon eine Idee, oder?«

Einige in der Menge bekundeten ihre Übereinstimmung mit Ishaqs Äußerung, indem sie Richard nach seiner Meinung fragten, doch der verstand nicht recht, was es da zu diskutieren gab. »Ihr alle habt schon erfolgreich gekämpft und dadurch eure Freiheit erlangt«, verkündete Richard. »Deshalb möchte ich vorschlagen, dass ihr den Kampf jetzt nicht aufgebt.«

Eine Reihe von Männern nickte, jeder von ihnen wusste nur zu gut, was es hieß, unter der Geißel der Imperialen Ordnung leben zu müssen. Aber sie hatten auch die Erfahrung gemacht, was es bedeutete, sein Leben in Freiheit selbst gestalten zu können. Nichtsdestoweniger schien sich klammheimlich eine gewisse Furcht über die allgemeine Stimmung in der Menge zu legen.

»Aber jetzt seid Ihr ja hier, um uns anzuführen, Lord Rahl«, rief einer der Männer. »Ich bin sicher, Ihr habt schon größeren Gefahren die Stirn bieten müssen. Mit Eurer Hilfe können wir diese Soldaten zurückschlagen.«

In der aufkommenden Dämmerung musterte Richard die ihm erwartungsvoll entgegenstarrenden Gesichter der Männer.

»Ich fürchte, ich werde nicht bleiben können. Ich habe etwas von äußerster Wichtigkeit zu erledigen und muss gleich morgen früh bei Tagesanbruch aufbrechen.«

Schockiertes Schweigen schlug ihm entgegen.

»Aber die Soldaten sind doch nur noch wenige Tage entfernt«, traute sich einer der Anwesenden schließlich zu rufen. »So lange werdet Ihr doch gewiss bleiben können, Lord Rahl.«

»Wenn ich könnte, würde ich euch hier gegen diese Soldaten zur Seite stehen, wie ich es auch früher schon getan habe, aber im Augenblick kann ich es mir nicht leisten, meine Abreise so lange hinauszuzögern. Ich werde den Kampf an anderer Stelle führen. Es ist derselbe Kampf, im Geiste werde ich also bei euch sein.«

Der Mann schien wie benommen. »Aber es sind doch nur wenige Tage ...«

»Begreifst du nicht, dass weit mehr als das auf dem Spiel steht? Wenn ich bleibe und wir die Soldaten besiegen, die auf dem Weg hierher sind, um euch alle umzubringen, werden letztendlich immer mehr von ihnen kommen. Deshalb müsst ihr imstande sein, euch aus eigener Kraft zu verteidigen. Ihr könnt nicht darauf vertrauen, dass ich auf unbestimmte Zeit hier bleibe und euch jedes Mal helfe, eure Freiheit zu verteidigen, sobald Jagang Soldaten schickt, um Altur’Rang zurückzuerobern. Die Welt ist voller Orte wie Altur’Rang, die alle vor der gleichen harten Prüfung stehen. Früher oder später werdet ihr ohnehin die Verantwortung für eure Verteidigung übernehmen müssen, warum also nicht gleich jetzt?«

»Ihr wollt uns also im Augenblick unserer größten Not im Stich lassen?«, rief ein anderer. »Ihr habt euch das Recht erkämpft, hier und jetzt in Freiheit zu leben«, erwiderte Richard, »nun müsst ihr das Feuer und die Leidenschaft aufbieten, für ein dauerhaftes Leben in Freiheit eigenständig zu kämpfen. Die Freiheit zu bewahren ist schwierig, denn sie ist ein leicht vergängliches Gut. Sie wieder zu verlieren, bedarf es nichts weiter als mutwilliger Gleichgültigkeit.«

Mit erhobenem Arm deutete Richard hinter sich auf die Statue, die sich stolz im Nachglanz der untergehenden Sonne erhob. »Dieser Wille nach Freiheit, der Wille, das Leben zu schätzen, ist es, der den Geist jener Statue ausmacht, die wir alle so bewundern.«

»Aber Lord Rahl«, beschwerte sich jemand. »Mit dieser Aufgabe sind wir überfordert. Wir sind einfache Leute, keine Krieger. Vielleicht wäre es etwas anderes, wenn Ihr uns anführen würdet.«

Richard legte eine Hand aufs Herz. »Damals, als mir klar wurde, dass ich mich den Herausforderungen gewachsen zeigen musste, mit denen ich konfrontiert war, war ich ein einfacher Waldführer. Auch ich habe damals gezögert, mich dem scheinbar unbezwingbaren Bösen zu stellen, das sich bedrohlich vor mir auftürmte. Doch eine kluge Frau – jene Frau, nach deren Vorbild diese Statue geschaffen wurde – brachte mich zu der Erkenntnis, dass ich es tun musste. Ich bin weder besser noch stärker als ihr, ich bin ganz einfach ein Mann, der die Notwendigkeit des kompromisslosen Widerstands gegen die Tyrannei erkannt hat. Ich habe diesen Kampf aufgenommen, weil ich nicht länger in Angst leben, sondern mein Leben selbst in die Hand nehmen wollte. Tagein, tagaus sterben und kämpfen oben im Norden Menschen, einfache Menschen wie ihr. Keiner von ihnen hat den Kampf gesucht, aber sie können nicht anders, denn wenn sie es nicht tun, wäre das ihr sicherer Untergang. Das Schicksal, das heute sie erleiden, wird morgen schon das eure sein. Wenn sie weiterhin auf sich gestellt sind, werden sie alle Hoffnungen auf einen Sieg aufgeben müssen, so wie auch ihr, wenn eure Zeit gekommen ist. Als Teil der freien Welt müsst ihr ihnen beim Angriff gegen jene zur Seite stehen, die die ganze Welt mit dem Schatten eines finsteren Zeitalters überziehen.«

Ein Mann in einer der ersten Reihen ergriff das Wort. »Aber sagt Ihr nicht dasselbe wie die Imperiale Ordnung, dass wir uns für das übergeordnete Wohl der Menschen opfern sollen?«

Schon der Gedanke ließ Richard schmunzeln. »Wer anderen die Vorstellung eines übergeordneten Wohls aufnötigen will, dem ist dieses Wohl zutiefst verhasst. Nein, was mich mein Schwert gegen die Imperiale Ordnung erheben lässt, ist aufgeklärtes Eigeninteresse. Ausschließlich aus diesem Eigeninteresse und dem Interesse an euren Angehörigen, denke ich, solltet ihr kämpfen – oder wie immer ihr unser gemeinsames Ziel am wirkungsvollsten zu unterstützen meint. Ich will euch keineswegs drängen, für irgendein höheres Gut der Menschheit zu kämpfen, vielmehr versuche ich euch die Augen zu öffnen, dass ihr für euer eigenes Leben kämpft. Begeht niemals den Fehler zu glauben, diese Form des Eigeninteresses sei verkehrt. Eigeninteresse bedeutet Überleben, es ist der Stoff, aus dem das Leben ist. Und nun möchte ich euch, in eurem begründeten Eigeninteresse, vorschlagen, dass ihr die Imperiale Ordnung niedermacht, denn nur dann könnt ihr echte Freiheit erlangen. Die Augen der Alten Welt blicken auf euch!«

Die dunkle Menschenmenge erstreckte sich im schwindenden Licht, so weit Richards Augen reichten. Zu seiner Erleichterung sah er eine ganze Reihe von Köpfen nicken.

Victor ließ seinen Blick über die Männer hinwegschweifen, ehe er sich wieder zu Richard herumwandte. »Ich denke, wir sind uns einig, Lord Rahl. Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um diese Geschichte zu Ende zu bringen.«

Unter dem Jubel der Menge fassten sich Richard und Victor bei den Armen. Zu guter Letzt, während unter den Männern überall auf dem Platz der Freiheit bereits Diskussionen darüber entbrannten, wie der Herausforderung am besten zu begegnen sei, wandte Richard sich ab und nahm Nicci beiseite. Cara blieb ihm dicht auf den Fersen.

»Ich weiß sehr zu schätzen, was du gerade getan hast, Richard, trotzdem, diese Leute brauchen dich, wenn sie ...«

Er fiel ihr ins Wort. »Nicci, ich muss gleich morgen früh aufbrechen, und Cara wird mich begleiten. Ich werde mich hüten, Euch vorzuschreiben, was Ihr tun sollt, aber ich hielte es für eine gute Idee, wenn Ihr Euch dazu durchringen könntet, hier zu bleiben und diesen Leuten beizustehen. Die Herausforderung durch die Soldaten allein ist an sich schon groß genug, aber darüber hinaus werden sie es ja noch mit einem Zauberer zu tun bekommen. Ihr wisst sehr viel besser als ich, wie man eine solche Gefahr abwendet, folglich könntet Ihr diesen Leuten eine außerordentliche Hilfe sein.«

Sie sah ihm lange in die Augen, ehe sie kurz zu der unweit hinter ihm und ein paar Stufen tiefer stehenden Menschenmenge hinunterblickte.

»Ich muss dich begleiten, unbedingt«, erklärte sie bestimmt, auch wenn es in seinen Ohren nach wie vor wie eine Bitte klang.

»Wie ich schon sagte, es ist Euer Leben, und ich werde Euch nicht vorschreiben, was Ihr zu tun habt, aber ebenso wenig möchte ich, dass Ihr mir Vorschriften zu machen versucht.«

»Du solltest hier bleiben und diesen Leuten helfen«, wiederholte sie noch einmal, dann senkte sie den Blick. »Aber es ist dein Leben, und ich schätze, du musst wohl tun, was du für das Beste hältst schließlich bist du der Sucher.« Ihr Blick schweifte wieder hinüber zu den Männern, die sich um Victor zu scharen begannen und Pläne schmiedeten. »Mag sein, dass diese Leute vorerst noch keine Einwände gegen deine Worte vorbringen, aber irgendwann werden sie ins Nachdenken kommen, und dann, nach dem Zusammenstoß mit den Soldaten, nach einer entsetzlichen und blutigen Schlacht, kann es sehr gut sein, dass sie beschließen, nicht mehr weitermachen zu wollen.«

»Ich hatte ein bisschen darauf gehofft, Ihr könntet, wenn Ihr hier bleibt und ihnen helft, den Zauberer und die Truppen zu besiegen, meinen Worten zusätzliches Gewicht verleihen und ihnen klar machen, was sie zu tun haben.«

Nicci stieß einen gereizten Seufzer aus. »Also schön, dann werde ich eben tun, was du sagst, und ihnen helfen, die Gefahr abzuwenden, die ihnen in wenigen Tagen droht. Aber sobald das erledigt ist, die Truppen besiegt sind und ihr Zauberer ausgeschaltet ist, würdest du mir erlauben, mich dir anzuschließen?«

»Ja, das sagte ich doch schon.« Richard wandte sich herum. »Ishaq?«

Er eilte herbei. »Ja?«

»Ich benötige sechs Pferde.«

»Sechs? Ihr wollt also noch jemanden mitnehmen?«

»Nein, Cara und ich reiten allein. Aber wir werden unterwegs frische Tiere brauchen, um die Pferde wechseln und sie auf dem langen Ritt bei Kräften halten zu können. Außerdem müssen es schnelle Reitpferde sein, nicht die Zugtiere von deinen Wagen. Und dazu Zaumzeug«, setzte er hinzu. »Schnelle Pferde ...« Ishaq nahm seinen Hut ab und kratzte sich mit derselben Hand am Kopf. Schließlich sah er auf. »Bis wann?«

»Ich muss aufbrechen, sobald es hell genug ist.«

Ishaq musterte ihn mit argwöhnischem Blick. »Ich nehme an, damit soll ich einen Teil meiner Schulden bei Euch begleichen?«

»Ich wollte dir nur die Gewissensbisse nehmen und dir eine Gelegenheit geben, endlich mit dem Zurückzahlen anzufangen.«

Ishaq konnte einen kurzen Lacher nicht unterdrücken. »Na schön, Ihr sollt kriegen, was Ihr braucht; außerdem werde ich dafür sorgen, dass Ihr auch Vorräte bekommt.«

Richard legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Vielen Dank, mein Freund, ich weiß das zu schätzen. Ich hoffe, eines Tages zurückkehren und ein oder zwei Fuhren für dich machen zu können, einfach um der alten Zeiten willen.«

Als er das hörte, hellte sich Ishaqs Miene merklich auf. »Nach unserer endgültigen Befreiung?«

Richard nickte. »Nach eurer endgültigen Befreiung.« Er blickte hinauf zu den Sternen, die sich nach und nach am Himmel zu zeigen begannen. »Kennst du hier in der Nähe ein Gasthaus, wo wir etwas zu essen und für heute Nacht ein Bett bekommen können?«

Ishaq wies mit einer Handbewegung über die weitläufige Fläche des ehemaligen Palastgeländes zu dem Hügel, wo früher die heruntergekommenen Werkstätten gestanden hatten. »Seit Eurem letzten Besuch sind bei uns ein paar Wirtshäuser entstanden. Es kommen immer mehr Leute, die den Platz der Freiheit besichtigen wollen, und die müssen schließlich irgendwo übernachten. Ich hab dort oben eine Unterkunft gebaut, wo ich Zimmer vermiete. Sie gehören zu den besten, die man hier kriegen kann.« Er hob warnend einen Finger. »Ich habe einen Ruf zu verteidigen, nämlich dass ich in allem das Beste anbiete, ob es nun Wagen zum Transport von Gütern sind oder Zimmer für erschöpfte Reisende.«

»Ich habe das Gefühl, dass deine Schulden bei mir rasch dahinschmelzen werden.«

Grinsend zuckte Ishaq mit den Achseln. »Mittlerweile kommen ziemlich viele Leute her, um sich diese bemerkenswerte Statue anzusehen. Es ist gar nicht so einfach, ein Zimmer zu bekommen, deshalb sind sie nicht ganz billig.«

»Ich hatte nichts anderes erwartet.«

»Aber sie sind ordentlich«, beharrte Ishaq. »Und der Preis ist angemessen. Außerdem habe ich gleich nebenan einen Stall, sodass ich Euch die Tiere bringen kann, sobald ich sie ausgesucht habe. Ich werde mich sogleich an die Arbeit machen.«

»In Ordnung.« Richard nahm sein Bündel auf und schwang es über eine Schulter. »Wenigstens ist es nicht weit, auch wenn es teuer ist.«

In einer Geste überschwänglicher Begeisterung breitete Ishaq die Arme aus. »Allein die Aussicht bei Sonnenaufgang ist jeden Heller wert.« Dann ging ein Grinsen über sein Gesicht. »Aber für Euch, Richard, Herrin Cara und Herrin Nicci, ist natürlich alles umsonst.«

»Nein, kommt nicht infrage.« Richard hob die Hand, um jeden Widerspruch im Keim zu ersticken. »Es ist nur billig, dass du Gelegenheit bekommst, mit deiner Investition Einnahmen zu erzielen. Zieh den Betrag von deinen Schulden bei mir ab. Ich bin sicher, mit den Zinsen dürfte sich mittlerweile eine hübsche Summe angesammelt haben.«

»Zinsen?«

»Natürlich«, sagte Richard, bereits unterwegs zu den fernen Gebäuden. »Du hast über mein Geld frei verfügen können, daher ist es nur gerecht, dass ich dafür entsprechend vergütet werde. Niedrig sind die Zinsen nicht gerade, aber durchaus angemessen.«

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