53

Mit einem Klagelaut wie von den verdammten Seelen tausender Sünder schälte sich urplötzlich ein Wirrwarr aus Winkeln, Wirbeln und dunklen Streifen aus der Dunkelheit, so als wären die dunklen Schatten zum Leben erwacht. Die Lesetische am hinteren Ende des Saales wurden rücksichtslos umgekippt, als das Knäuel aus dunklen Schatten sich mit explosionsartiger Wucht durch sie hindurchwühlte. Holzsplitter jeder Größe wirbelten durch die Luft.

Ein Tisch nach dem anderen ging zu Bruch, als die aus den Schatten geborene Bestie tobend mitten durch den Saal auf Richard zuhielt. Das Kreischen brechenden und splitternden Holzes erfüllte die staubige Luft der Bibliothek.

Sofort warfen sich Cara und Rikka vor ihren Herrn, jede mit ihrem Strafer in der Hand; Richard wusste nur zu gut, was passieren würde, falls sie mit der Bestie zusammenstießen. Die Vorstellung, Cara könnte ein weiteres Mal auf diese Weise verletzt werden, weckte seinen Zorn, und noch ehe sie sich der dunklen, sich einen Weg durch die schweren Lesetische brechenden Masse entgegenwerfen konnten, hatte er sie bereits bei ihren langen blonden Zöpfen gepackt und schleuderte sie mit einem wütenden Aufschrei wieder zurück. »Kommt ihr ja nicht in die Quere!«, brüllte er die beiden Mord-Sith an. Ann und Nathan streckten dem Wesen ihre Arme entgegen und entfesselten eine Magie, die ein Flimmern im Saal erzeugte, als betrachtete man ihn durch die Hitzewellen über einem lodernden Feuer. In dem Bemühen, den Angriff zurückzuschlagen, hatten sie die Luft verdichtet. Doch ihre gemeinschaftlichen Anstrengungen blieben ohne Wirkung auf das sich wälzende und windende Schattenknäuel, das auf seinem Weg quer durch den Lesesaal selbst massives Holz durchbrach, sodass sie gezwungen waren zurückzuweichen, um die Gefahr auf Distanz zu halten.

Richard musste den Kopf einziehen, als ein langes Brett – die Längskante eines der zertrümmerten Lesetische an ihm vorübersegelte und krachend an einem Pfeiler zerschellte. Dabei ging eine der Lampen zu Bruch, und ein Sprühregen brennenden Öls verteilte sich über die uralten Teppiche und setzte sie in Brand. Während hinter ihrem Rücken grauer Rauch emporquoll, sahen sie sich vorn der auf Richard zustürmenden Bestie gegenüber. Zedd entfesselte einen gleißenden Lichtblitz, der durch die dunkle, chaotische Masse zuckte, als wäre sie gar nicht vorhanden, nur um gegen die Bücherregale vor der fernen Stirnwand zu prallen. Bücher und brennendes Papier wurden in die Luft geschleudert, gewaltige Staub- und Rauchwolken wirbelten in die Höhe, als das Getöse der misstönenden Explosion den Raum erfüllte.

Ein schauriges Jammern und Wehklagen, dem Geheul der Verdammten hinter einer offenen, in die Tiefen der Unterwelt führenden Tür ganz ähnlich, schlug ihnen entgegen, während die Bestie immer weiter voranstürmte und dabei die Mahagonipfeiler zertrümmerte. Lampen wurden zur Seite geschleudert und flogen durch die Luft; ihre silbernen Reflektoren erfüllten den Lesesaal mit zuckendem Licht, dessen Schatten von der sich immer mehr verdichtenden und dunkler werdenden Bestie augenblicklich aufgesogen wurden. Die magischen Kräfte, die Ann und Nathan in der Eile aufboten, waren für Richard unsichtbar, doch was immer sie sein mochten, sie gingen glatt durch die Bestie hindurch, als bestünde diese aus nichts anderem als dem, wonach es den Anschein hatte: ein Gewirr chaotisch ineinander verwobener Schatten. Und doch vermochte dieses Knäuel aus Düsternis massive Holztische und –pfeiler zu durchbrechen und sie auf seinem Weg quer durch den Lesesaal in Trümmer zu schlagen. Verdrehte Balken dröhnten, Bretter kreischten unter ihrer Last, als der nächste Stützpfeiler brach. Die Vorderkante der Galerie gab nach und senkte sich um mehrere Fuß, ehe sie in schiefem Winkel hängen blieb. Ein weiterer Pfeiler zerbrach splitternd, als er von der vorwärts stürmenden düsteren Bedrohung über seine Belastbarkeit hinaus zur Seite gedrückt wurde. Abermals senkte sich die Kante der Galerie um mehrere Fuß, Bücherregale gerieten auf dem sich neigenden Untergrund ins Wanken, bis sie schließlich kippten und sich eine wahre Lawine von Büchern in den großen Saal ergoss. Inmitten all der Verwirrung, Zerstörung und des Lärms, und während er sich, die Bestie stets im Blick, durch den Lesesaal zurückzuziehen und sich zu überlegen versuchte, was er ihr entgegensetzen könnte, spürte Richard plötzlich, wie jemand sein Hemd an der Schulter fasste. Überraschend kraftvoll stieß Nicci ihn durch die offene Tür. Sofort ergriff Tom, der draußen auf dem Flur Wache gestanden hatte, Richards anderen Arm und half, ihn aus der Bibliothek zu zerren. Hinter ihm folgten Cara und Rikka und deckten seinen Rückzug. Unterdessen wütete die Bestie im Saal ungehindert weiter und zertrümmerte auf ihrem Weg zur Tür und zu Richard alles, was ihr in die Quere kam.

Ann, Nathan und Zedd riefen Kräfte auf den Plan, die für Richard unsichtbar waren, die er jedoch am Summen in der Luft und an den sich ringförmig ausbreitenden Wellen spürte – was in seiner Magengrube eine seltsame Übelkeit erzeugte. Er spürte die Druckwellen in der Luft, hervorgerufen durch das Heraufbeschwören und Schleudern magischer Kräfte.

Doch nichts davon erzielte Wirkung. Ebenso gut hätten sie gegen Schatten ankämpfen können. Nicci wandte sich von der Tür wieder herum zum Lesesaal und reckte dem auf sie zufliegenden Schattenknäuel die Faust entgegen. Die unvermittelte Explosion, hervorgerufen durch die Entfesselung ihres Energieblitzes, dessen horrende Sprengkraft gleichzeitig von gleißender Helligkeit und eisiger Schwärze begleitet wurde, ließ alle zusammenzucken und den Kopf einziehen. Die Entladung entfesselter Energie erschütterte die gesamte Burg, versetzte den Fußboden in Schwingungen und ließ aus jedem Winkel und jeder Ritze Staub aufsteigen. Der ineinander verdrehte Strang aus Zerstörung durchschoss die Bestie und zerstob; ein Funkenregen rieselte herab. Niccis ohrenbetäubende Energieentlandung fraß sich durch die steinernen Mauern wie brennendes Pech durch Papier. Plötzlich drangen durch die schartigen, in das massive Gestein gebrochenen Ritzen Streifen bläulichstaubigen Sonnenlichts in den Saal. Der Kontrast zwischen dem grellen Tageslicht und dem ansonsten dunklen Saal erschwerte es zusätzlich, das düstere Gebilde aus Dämmerlicht und Schatten auf seinem Weg durch das Chaos der Zerstörung zu erkennen.

Dann hielt sich alles die Hände auf die Ohren. Das entsetzliche Wehklagen wie von unzähligen verlorenen Seelen steigerte sich zu einem beängstigenden Höhepunkt, so als wäre die von Nicci entfesselte magische Energie bis in die Tiefen der Unterwelt vorgedrungen, um die Bestie dort, in ihrem dunklen Heiligtum, zu versengen.

Auch wenn sie offenbar kaum dazu beigetragen hatte, das Schattenwesen aufzuhalten, sie schien zumindest seine Aufmerksamkeit erregt zu haben. Nichts anderes hatte dies bislang vermocht. Nicci eilte durch die Tür nach draußen und stieß Richard vor sich her, um ihn zu bewegen, den Korridor zu durchqueren. Er mochte Zedd nur ungern mit einer solchen Gefahr allein lassen, aber da die Bestie es auf ihn und nicht auf seinen Großvater abgesehen hatte, wäre es für Zedd gewiss sicherer, wenn er die Flucht ergriff auch wenn er sich selbst dadurch wohl würde in Sicherheit bringen können. »Stell dich der Bestie bloß nicht in den Weg«, rief er Tom zu. »Sie würde dich in Stücke reißen. Und das Gleiche gilt für Euch«, sagte er zu Cara und Rikka, die ihn durch den Flur scheuchten. »Schon verstanden, Lord Rahl«, antwortete Cara.

»Und wie können wir sie töten?«, erkundigte sich Tom, während sie seitwärts den Flur entlanghasteten, ein wachsames Auge stets auf die Bibliothek gerichtet.

»Gar nicht«, gab Nicci zurück. »Sie ist bereits tot.«

»Na großartig«, murmelte er und drehte sich herum, um Nicci und die beiden Mord-Sith in ihrem Bemühen zu unterstützen, Richard in Bewegung zu halten. Der fand eigentlich nicht, dass es einer handgreiflichen Aufforderung bedurfte – die Klagelaute der Toten genügten völlig, um ihm Beine zu machen. Aus der Tür drangen zuckende Lichtblitze und wütendes Gekreisch, während die im Lesesaal Zurückgebliebenen sich noch immer nach Kräften bemühten, dieses Etwas, das nichts anderem so sehr ähnelte wie lebendigen Schatten, zu vernichten oder doch zumindest im Zaum zu halten. Pure Zeitverschwendung, wusste Richard; diese Bestie bestand zum Teil aus subtraktiver Magie, und dagegen besaßen sie kein Mittel, wie ihnen die Bestie bereits sattsam bewiesen hatte. Aber wahrscheinlich bemühten sie sich, sie abzulenken, um Richard Zeit zur Flucht zu geben. Bislang hatte sie sich als nicht eben anfällig für derartige Taktiken erwiesen – aber davon hatte ja auch Shota bereits gesprochen.

An einer Kreuzung bog Richard in den getäfelten Flur zur Rechten ab, die anderen folgten ihm. In gewissen Abständen passierten sie offene, mit Sesseln, Sofas und dunklen Lampen ausstaffierte Bereiche, Orte, die einst offenbar zu galanten Gesprächen und Gesellschaften eingeladen hatten. Kaum waren sie erneut abgeschwenkt und in einen breiteren Flur mit dunkelbraunen Stuckwänden und vergoldetem Eichenparkett eingebogen, explodierte vor ihnen eine Wand, und eine Wolke aus Staub und Trümmerteilen wälzte sich auf sie zu. Als sich der Schattenwirrwarr aus der weißen Staubwolke schälte, blieb Richard auf dem polierten Parkett schlitternd stehen und machte kehrt. Da ihn die anderen vor sich hergetrieben hatten, bildete er nun die Nachhut, nach dem notgedrungenen Richtungswechsel, während die Bestie rasch näher kam.

Unterwegs schien das düstere Knäuel aufs Geratewohl weitere Schatten – kleine Schlagschatten, große dunkle Flächen, tiefschwarze Winkel und dämmrige Dunstschleier- in sich aufgesogen und zusammengeballt zu haben, etwa so, wie man Papierschnitzel zu einer Kugel formt. Die sich immer wieder umgruppierenden Schattenformationen erzeugten einen Strudel aus schwarzen, unablässig umeinander und durcheinander wirbelnden Formen, deren Anblick sofort Schwindelgefühle erzeugte, selbst wenn man sich, wie Richard, nur ab und zu im Laufen nach ihnen umdrehte.

Und doch war das Gebilde so frei von aller Stofflichkeit, dass er, wenn er einen Blick über seine Schulter warf, das Licht der Fenster ganz am anderen Ende des Flures durch das Wesen hindurchschimmern sah. Nichtsdestoweniger schwoll die Bestie auf ihrer wilden Jagd um die Ecke bisweilen an und streifte die Wände, und dann schlitzte sie Wandvertäfelungen, Stuck und Mauerwerk so mühelos auf wie ein Bulle, der durch ein Dornengestrüpp bricht.

Richard hatte nicht die leiseste Vorstellung, wie er sich einer Zusammenballung zusammengeknüllter Schatten erwehren sollte, die mühelos durch massives Mauerwerk zu brechen vermochte. Mittlerweile hatten sich zwei Zauberer und zwei Hexenmeisterinnen daran versucht, Jagangs durch Zauberei geschaffene Bestie aufzuhalten, doch das Ergebnis war praktisch gleich null. Dabei war Nicci weit mehr als nur eine Hexenmeisterin; sie war in der schwarzen Kunst unterwiesen worden, subtraktive Magie gegen unheilvolle Treueschwüre einzutauschen, Schwüre, an die Richard nicht einmal zu denken wagte. Doch selbst das hatte die Bestie nicht aufzuhalten vermocht, auch wenn sie darauf zu reagieren schien. Nicci blieb stehen und wandte sich zu dem dämmrigen Schattenbündel herum, das hinter ihnen durch die eichengetäfelten Flure taumelte. Sie sah aus, als hätte sie die Absicht, Gegenwehr zu leisten. Kaum hatte er sie eingeholt, rammte Richard ihr, ohne abzubremsen, die Schulter in den Leib, holte sie, ihr die Luft aus den Lungen pressend, von den Füßen und warf sie im Laufen wie einen Sack Getreide über seine Schulter. Plötzlich erhellte ein gleißend heller Lichtblitz den gesamten Flur. Nicci war rasch wieder zu Atem gekommen und warf selbst noch als hilfloses Bündel auf Richards Schulter mit magischen Kräften um sich. Der Fußboden bebte, sodass Richard im Laufen fast das Gleichgewicht verloren hätte. Eine tiefe Schwärze, nicht unähnlich einem Blitz, holte sie ein und schoss sekundenschnell an ihnen vorbei, als Nicci dem Wesen hinter ihnen entsetzliche Kräfte entgegenschleuderte. Das gespenstische Wehklagen, das darauf folgte, war ein sicheres Zeichen, dass Niccis Bemühungen nicht ganz wirkungslos geblieben waren. Mit beiden Händen packte sie sein Hemd und wand sich. »Lass mich runter, Richard! Ich kann alleine laufen! Ich behindere dich nur, außerdem droht die Bestie uns einzuholen! Mach schon!«

Sofort drehte er sie in seinem rechten Arm herum, damit sie in die richtige Richtung lief, und legte ihr beim Absetzen einen stützenden Arm um ihre Hüfte, bis er sicher war, dass sie ihr Gleichgewicht gefunden hatte und mit den anderen Schritt halten konnte.

Ziellos hastete die kleine Gruppe durch die Flure, schwenkte aufs Geratewohl mal nach rechts, dann wieder nach links ab, passierte Kreuzungen und bog an anderen ab. Noch immer war das polternde Getöse der Bestie hinter ihnen deutlich zu hören. Manchmal folgte sie ihnen durch die Korridore und Flure, um gleich darauf, wenn sie um eine Ecke bogen, mitten durch die Wand abzukürzen. Mauerwerk, Mörtel oder Holz, dem Wesen schien es einerlei, es durchbrach alles mit der gleichen Mühelosigkeit. Als von den Schwestern der Finsternis erschaffenes und mit der Unterwelt in Verbindung stehendes Wesen schien es über schier unbegrenzte Möglichkeiten zu verfügen.

Im Laufen rief er den beiden Mord-Sith und Tom zu: »Ihr drei lauft geradeaus! Seht zu, dass die Bestie euch verfolgt!«

Ein kurzer Blick nach hinten bestätigte, dass sie verstanden hatten. »Die Bestie wird ihnen nicht folgen«, rief Nicci mit gesenkter Stimme, wobei sie sich, so gut dies in vollem Lauf möglich war, zu ihm herüberbeugte.

»Ich weiß – ich habe eine Idee. Bleibt dicht bei mir – ich werde die Treppe da vorn hinunterlaufen.«

Die drei vorne Laufenden hatten den Treppenschacht kaum passiert, da packte Richard den schwarzen Steinknauf auf dem granitenen Endpfosten und schwang sich herum nach rechts. Nicci tat es ihm nach, und schon flogen sie in vollem Lauf die Stufen hinab. Die Bestie versuchte abzukürzen, rannte den Pfosten um, sodass Granitsplitter von den Wänden prallten und der Knauf den Flur entlanghüpfte. Cara, Rikka und Tom, bereits ein gutes Stück jenseits der Treppe, blieben rutschend auf dem polierten Marmorboden stehen. Jetzt saßen sie oberhalb der Bestie in der Falle. Kurz entschlossen folgten sie ihr die Stufen hinab. 5/8

Das jenseitige Geheul der Bestie unmittelbar im Nacken, sprangen Richard und Nicci die Treppe vier Stufen auf einmal nehmend hinunter; mittlerweile war diese so nah, dass sie fast ihre Nackenhaare zu streifen schien. Am Fuß der Treppe bog Richard nach rechts ab und folgte einem mit Stein ausgekleideten Gang. Die Bestie verfehlte ihn und stieß krachend gegen eine Wand aus poliertem dunkelbraunem Marmor. Die Steinplatte zerbarst mit einem lauten Knall, aber davon ließ sich die Bestie nicht beirren. Richard flog die Stufen der ersten Treppe hinab, auf die er stieß, dann rannte er die zweite und dritte Treppenflucht hinunter bis zum Ende. Der breite Flur, der sich in gerader Linie an das Treppenhaus anschloss, war in gleichmäßigen Abständen mit Teppichen ausgelegt, was es zusätzlich erschwerte, den Halt zu wahren. Unterhalb der glatt verputzten Fläche wiesen die Wände eine mit einem Rundstab abgesetzte Holzvertäfelung auf. Die in regelmäßigen Abständen entlang dem Durchgang jeweils mittig über den Teppichen angebrachten Halterungen enthielten offenbar aus Glas bestehende Kugeln, die nacheinander aufleuchteten, sobald sich Richard ihnen näherte. Nicci neben sich, rannte er, so schnell er konnte, den vorwärts taumelnden Schatten stets dicht auf den Fersen. An einer eisernen Wendeltreppe sprang Richard seitwärts auf das Geländer und rutschte in halsbrecherischem Tempo hinab in die Dunkelheit; einen Arm um seinen Nacken gelegt, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, tat Nicci es ihm nach. Indem sie so gemeinsam in die Tiefe schössen, gelang es ihnen, einen wertvollen Vorsprung vor ihrem Verfolger zu gewinnen.

Am Ende des Geländers landeten sie auf einem kalten Fliesenboden, überschlugen sich und rutschten über die glatten grünen Fliesen, bis sie schließlich, alle viere von sich gestreckt, liegen blieben. Richard rappelte sich auf und nahm eine der leuchtenden Kugeln aus ihrer Halterung.

»Kommt schon, beeilt Euch«, rief er, kaum dass Nicci seinem Beispiel gefolgt war. Gemeinsam hasteten sie durch eine schier endlose Abfolge von Gemächern und Fluren, bemüht, einen so unberechenbaren Kurs wie möglich einzuschlagen, um ihren Verfolger abzuschütteln. Hin zu und wieder gelang es ihnen sogar, ein paar Schritte gutzumachen, doch dann holte das Wesen, vor allem in den Fluren, wieder auf.

Immer wieder stießen sie auf mit Schilden gesicherte Räume, die Richard bewusst mied, um zu verhindern, dass Cara, Rikka und Tom in die Nähe der sie verfolgenden Bestie gerieten. Er wollte schließlich nicht, dass sie dasselbe Schicksal ereilte wie Victors Märner.

Sie durchquerten einen Raum, der, wie sich herausstellte, offenbar als Lager für Baumaterialien diente, denn zu beiden Seiten lagen; Stapeln aufgeschichtete Säcke und Steine. Richard erkannte das Material von seiner Zeit in Altur’Rang wieder, als er beim Bau des Palasts von Kaiser Jagang als Zwangsarbeiter hatte schuften müssen. Am fernen Ende verließen sie den Lagerraum wieder und gelangten in einen langen Flur mit Schieferboden. Die glatten, aus Steinquadern gemauerten Seitenwände erhoben sich ohne Unterbrechung bis zu einer in luftiger Höhe angebrachten Decke, die sich mindestens einhundertfünfzig Fuß über ihnen befinden musste, wodurch ein schmaler senkrechter Spalt im Innern der Burg entstand. Richard fühlte sich wie eine Ameise hier unten, auf dem Grund dieses bis in Schwindel erregende Höhen reichenden Durchgangs. Kurz entschlossen rannte er – Nicci hinter ihm – rechter Hand in den gewaltigen Spalt hinein; das dröhnende Trappeln ihrer Stiefel hüllte alles in ein hallendes Echo. Kurz darauf musste er Nicci zuliebe das Tempo ein wenig drosseln; beide waren mit ihren Kraftreserven am Ende, das Wehklagen der tausend toten Seelen dagegen taumelte scheinbar unermüdlich weiter.

Richard konnte nicht einmal das Ende des hohen Durchgangs erkennen, der sich irgendwo in der Ferne verlor und dies war nur einer von zahlreichen solcher Korridore, was ihm ein deutliches Gefühl von der enormen Größe der Burg gab.

Als er an eine von links kommende Einmündung gelangte, bog Richard ab und rannte ein kurzes Stück hinein, bis sie auf eine eiserne Treppe stießen. Um Luft zu holen, blickte er sich kurz um und sah das Schattenknäuel um die Ecke biegen. Er stieß Nicci vor sich her, und schon hasteten sie zusammen die Stufen hinab. Unten angekommen, fanden sie sich in einem kleinen quadratischen Raum wieder, der wenig mehr war als eine Kreuzung mehrerer gemauerter, in drei Richtungen davon abgehender Gänge. Mit der Kugel leuchtete er hinein und warf einen kurzen Blick in jeden der drei Gänge. In zweien war nichts zu erkennen, im dritten jedoch, dem rechten, meinte er einen schwachen Lichtschimmer zu sehen. Schon bei seinen früheren Besuchen in den unteren Gefilden der Burg der Zauberer war er auf merkwürdige Orte gestoßen, und genau so einen Ort brauchte er jetzt. Die beiden hasteten in den Gang hinein. Wie vermutet, war er nicht sehr lang, gerade lange genug, um sie unter dem gewaltigen Spalt hindurch – und ein kleines Stück weiterzuführen, bis er in eine Art Eingangsbereich mündete, dessen Wände mit kleinen, penibel zu kunstvollen Mustern arrangierten Glassplittern bedeckt waren. Das Licht der beiden Glaskugeln brach sich funkelnd in den winzigen Scherben, sodass der Raum von unzähligen bunten, funkelnden und glitzernden Spiegelungen erfüllt war. Es gab nur eine einzige weitere Öffnung – drüben, an der gegenüberliegenden Wand.

Abrupt blieb Richard stehen. In diesem von einem seltsamen Glitzern erfüllten Raum überlief ihn eine Gänsehaut, etwa so, als streifte ihn ein Spinnennetz. Nicci wandte den Kopf ab und fuhr sich durchs Gesicht, als wollte sie etwas fortwischen. Diese Empfindung, wusste er, war Teil einer umfassenderen Warnung, diesen Ort zu meiden.

Die Öffnung drüben auf der anderen Seite war zu beiden Seiten von niedrigen, aus poliertem, mit Goldpartikeln durchsetztem Gestein bestehenden Pfeilern flankiert, die ein Gesims stützten. Der Gang jenseits dieser Pfeiler war nicht viel höher als Richard, schien mehr oder weniger quadratisch zu sein und aus simplen Steinquadern zu bestehen, die sich in der Ferne verloren. Für einen so schlichten Gang, hier unten im Innersten der Burg, erschien ihm das Portal recht kunstvoll und beeindruckend.

Richard konnte nur hoffen, dass er mit seiner Vermutung richtig lag. Als sie den Vorraum durchquerten und sich der Türöffnung näherten, begann der Bereich unmittelbar vor den Pfeilern, schwach rötlich zu schimmern, und plötzlich war die Luft von einem Besorgnis erregenden Summen erfüllt.

Nicci, der plötzlich das Haar vom Kopf abstand, so als würde sie jeden Augenblick von einem Blitz getroffen, fasste seinen Arm und zog ihn zurück. »Es ist ein Schild.«

»Ich weiß.« Er benutzte ihren Griff um seinen Arm, um sie hinter sich herzuziehen. »Das kannst du nicht machen, Richard. Dies ist kein gewöhnlicher Schild – er besteht nicht nur aus additiver Magie, sondern er ist mit subtraktiver Magie durchwirkt. Solche Schilde sind tödlich, und ganz besonders dieser.«

»Ich weiß. Es ist nicht das erste Mal, dass ich Orte wie diesen passiere.«

Er hoffte, dass der Schild tatsächlich exakt denen glich, die er schon einmal überwunden hatte. Genau auf diese Art von Schild war er angewiesen, jene Art, mit denen die verbotensten Bereiche gesichert waren. Falls es sich dagegen um einen minderen Schild handelte oder einen, der womöglich stärker war und noch größeren Einschränkungen unterlag als die ihm bereits bekannten, würden sie in Teufels Küche geraten. Der einzige Ausweg aus dem Raum, in dem sie sich befanden, führte entweder wieder zurück durch den Gang, durch den die Bestie sie verfolgte, oder geradeaus durch den Schild. »Gehen wir, beeilt Euch.«

Niccis Brust hob und senkte sich schwer, als sie mit sichtlicher Mühe nach Atem rang. »Wir können nicht dort hindurch, Richard. Dieser Schild wird uns glatt das Fleisch von den Knochen reißen.«

»Und ich sage Euch, es wäre nicht das erste Mal, dass ich es tue. Ihr beherrscht subtraktive Magie, also könnt Ihr es ebenfalls.« Er begann, Richtung Tür zu laufen. »Im Übrigen sind wir so gut wie tot, wenn wir es nicht tun. Es ist unsere einzige Chance.«

Mit einem Murren, zum Zeichen, dass sie sich geschlagen gab, folgte sie ihm durch die unzähligen glitzernden Reflexionen des Glasmosaiks, das die Wände des Vorraums bedeckte. »Ich hoffe nur, du irrst dich nicht.«

Er ergriff ihre Hand und hielt sie fest, für den Fall, dass man mit der subtraktiven Seite der Magie geboren sein musste, denn Nicci besaß sie nicht von Geburt an, sondern hatte sich ihren Gebrauch selbst beigebracht. Seine Kenntnisse über Magie waren eher beschränkt, aber soweit er wusste, war es etwas völlig anderes, ob man mit ihr geboren war oder sich einfach nur ihrer zu bedienen wusste. Doch da er bereits anderen nicht mit der Gabe Geborenen beim Passieren der Schilde geholfen hatte, würden ihre Fähigkeiten im Verein mit seinem festen Griff vermutlich reichen, sie hindurchzubringen –vorausgesetzt natürlich, er schaffte es selbst. Die Luft rings um sie her verwandelte sich in einen dunkelroten Nebel, als er, ohne innezuhalten, geradewegs durch die Tür stürzte und Nicci dabei mitriss.

Der unvermittelte Druck, der wie eine Lawine über sie hereinbrach, schien sie beinahe zu erdrücken. Nicci entfuhr ein Keuchen.

Richard musste sich mit aller Kraft gegen den Druck stemmen, um überhaupt voranzukommen. Der rasiermesserfeine Rand der von den polierten Steinpfeilern gesäumten Fläche streifte seine Haut mit sengender Hitze. Diese war so immens, dass er einen Moment lang glaubte, einen gewaltigen, verhängnisvollen Fehler gemacht zu haben.

Doch kaum zuckte er unter dem unerwarteten Brennen zusammen, da trug ihn sein Schwung bereits durch die Tür, und kurz darauf stellte er zu seiner milden Überraschung fest, dass er nicht nur am Leben, wohlauf und absolut unversehrt war, sondern der dahinter liegende Gang mitnichten das war, was er von der anderen Seite aus zu sein schien. Noch beim ersten Blick durch die Öffnung hatte es so ausgesehen, als bestünde der Gang aus primitiven Steinquadern, jetzt aber, nachdem sie die steinernen Pfeiler hinter sich gelassen hatten, war das Gestein poliert und schien eine silbrig schimmernde, sich leicht kräuselnde Oberfläche zu besitzen, die ihm fast eine gewisse Räumlichkeit verlieh.

Ein Blick über die Schulter ergab, dass das Schattenknäuel gleichfalls auf das Eingangsportal zuraste. Niccis Hand noch immer fest im Griff, zog er sich mit ihr tiefer in den schillernden Durchgang zurück. Er war zu erschöpft, um weiterzurennen.

»An dieser Stelle entscheidet sich, ob wir überleben oder sterben«, stieß er, mit letzter Kraft nach Atem ringend, hervor.

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