Als sie den Raben krächzen hörte, drehte Julian sich um und blickte in den Himmel. Die ausgebreiteten Schwingen des prachtvollen Vogels schwankten leicht, als er sich von den unsichtbaren Luftströmungen des vollkommen blauen Himmels tragen ließ. Unter ihren Blicken stieß er ein erneutes Krächzen aus, ein raues, heiseres Geräusch, das in der tiefen Stille der Schluchten widerhallte und bis über die ausgedörrte, leicht hügelige, in der nachmittäglichen Sonne sengende Landschaft trug. Julian schnappte sich die kleine tote Echse, die neben ihr auf der bröckelnden Mauer lag, und hastete die staubige Gasse hinauf. Hoch oben zog der Rabe majestätisch seine Kreise und schaute zu, wie sie die Steigung hinaufrannte. Sie ahnte, dass er sie wahrscheinlich schon vor einer Ewigkeit erspäht hatte, lange bevor sie überhaupt wusste, dass er da war.
Die kleine Echse beim Schwanz haltend, stieg Julian auf die Fußballen, reckte ihren Arm, so weit es irgend ging, in den Himmel und wedelte verlockend mit ihrer Opfergabe. Dann musste sie lachen, denn sie sah, wie der tintenschwarze Vogel, als er die geringelte Echse in ihren Fingern erspähte, mitten in der Luft kurz ins Wanken zu geraten schien. Augenblicklich ließ sich der Vogel über die Seite in einen steilen Sturzflug kippen, um bei seinem lotrechten Sturz in die Tiefe, die Flügel halb angezogen, immer mehr Fahrt aufnehmen zu können. Ein Hüpfer, dann saß Julian auf der verfallenen Steinmauer neben einigen herausgebrochenen Pflastersteinen, die einst Teil einer Straße gewesen waren. Im Laufe von Äonen war die Straße unter Schichten von Erde und Staub weitgehend verschüttet worden, Schichten, herangetragen von Wind und Regen, auf denen nun wilde Gräser und dürre Bäume wucherten. Ihr Großvater hatte ihr erzählt, all dies sei einst Teil eines ganz besonderen Ortes gewesen und sehr alt.
So alt, dass Julian Mühe hatte, es sich vorzustellen. Als sie ihren Großvater in jüngeren Jahren gefragt hatte, ob dieser Ort älter sei als er, hatte er nur gelacht und erwidert, er wolle ja gerne zugeben, dass er alt sei, aber so alt nun auch wieder nicht, außerdem sei der Erdboden gar nicht imstande, die Errungenschaften der Menschen in der Spanne eines einzigen Menschenlebens so schnell unter sich zu begraben. Ein so langwieriger Vorgang, hatte er hinzugefügt, erfordere nicht nur sehr viel Zeit, sondern auch ein beträchtliches Maß an Vernachlässigung. Zeit war inzwischen reichlich vergangen, und da von der Bevölkerung kaum noch jemand übrig war, hatte die Vernachlässigung immer weiter um sich greifen können.
Er hatte ihr erzählt, dass diese menschenleere alte Stadt einst von ihren Vorfahren bewohnt gewesen war. Julian liebte seine Geschichten über dieses rätselhafte Volk, das einst an diesem Ort gelebt und diese unglaubliche Stadt oben auf der Landzunge jenseits der steinernen Säulen errichtet hatte. Ihr Großvater war ein Geschichtenerzähler; und weil sie stets ganz versessen darauf war, seinen Erzählungen der alten Geschichten zu lauschen, hatte er ihr versprochen – unter der Voraussetzung, dass sie bereit war, sich die nötige Mühe zu geben –, sie zu jener Erzählerin zu machen, die eines Tages seinen Platz einnehmen würde. So begeistert sie war, zur Erzählerin ausgebildet zu werden und all die Dinge zu beherrschen, die es dafür zu lernen galt, jemand zu werden, der wegen seines Wissens über die alten Zeiten und ihr Erbe in hohem Ansehen stand die sich zwangsläufig daraus ergebende Folgerung, dass ihr Aufstieg innerhalb ihres Volkes gleichzeitig das Ableben ihres Großvaters bedeutete, behagte ihr gar nicht.
Lokey ließ sich neben ihr nieder, faltete seine schwarz glänzenden Flügel zusammen und riss sie damit aus ihren Gedanken über gewichtige Themen, alte Völker und die von ihnen erbauten Städte, über Kriege und Heldentaten. Neugierig kam der Rabe näher.
Julian legte die erst kurz zuvor verendete Echse neben sich, fasste sie an der Schwanzspitze und wedelte sie lockend hin und her.
Lokey neigte den Kopf zur Seite, doch statt die Opfergabe anzunehmen, blinzelte er nur mit seinen schwarzen Augen. Schließlich kam er, den rechten Fuß voran, in seinem vorsichtigen Seitwärtsgang näher, den er stets dann an den Tag legte, wenn er sich einem Stück Aas näherte. Aber statt unter heftigem Flügelschlagen ein paar Mal aus bewährter Vorsicht wieder zurückzuhüpfen, wie er es immer tat, wenn er etwas fand, das sich hoffentlich als Mahlzeit entpuppen würde, ihm womöglich aber auch gefährlich werden konnte, kam er sofort beherzt auf sie zu und schnappte mit seinem massigen Schnabel nach ihrem Wildlederärmel. »He, was soll das, Lokey?«
Beharrlich ließ Lokey nicht von seinem Zerren ab. Normalerweise zupfte der neugierige Vogel am Perlenbesatz ihres Ärmels oder an den angesetzten Lederfransen, jetzt dagegen zupfte er am Ärmel selbst. »Was ist?«, fragte sie. »Was willst du?«
Er ließ von ihrem Ärmel ab, neigte den Kopf zur Seite und musterte sie aus einem glänzenden Auge. Raben waren intelligente Tiere, auch wenn sie nie ganz sicher war, wie weit ihre Intelligenz reichte. Bisweilen kam ihr der Gedanke, dass Lokey intelligenter war als so mancher ihr bekannte Mensch. Angriffslustig stellten sich seine Federn an Hals und Ohren auf, und plötzlich stieß er ein durchdringendes Krächzen aus, das sehr nach wütender Enttäuschung klang – Enttäuschung darüber, dass er des Sprechens nicht mächtig war und ihr somit auch nichts mitteilen konnte.
Kraaah. Wieder plusterte er sein Gefieder auf und krächzte. Kraaah. Julian strich ihm erst über den Kopf, dann über seinen Rücken, indem sie ihn sanft und doch fest unter seinem aufgestellten Gefieder kraulte – was er nur zu gerne mit sich geschehen ließ –, ehe sie sein aufgeplustertes Gefieder wieder glatt strich. Statt des zufriedenen Schnalzens und trägen Blinzeins, mit denen er diese Liebkosung normalerweise quittierte, entfernte er sich mit einem Hüpfer aus ihrer Reichweite und stieß drei durchdringende Krächzlaute aus, die ihr schmerzhaft in den Ohren klangen. Sie hielt sich die Hände auf die Ohren. »Was ist heute bloß in dich gefahren?«
Flügelschlagend hüpfte Lokey auf und ab, krächzte erneut, bis er schließlich unter lautem Krähen mit den Flügeln wedelnd quer über die alte Pflasterstraße rannte, ehe er, drüben angekommen, sich flatternd kurz in die Luft erhob und wieder landete, nur um gleich darauf erneut abzuheben. Kraaah.
Jillian stand auf. »Möchtest du, dass ich mit dir komme?«
Er stieß ein lautes Krächzen aus, so als wollte er bestätigen, dass sie endlich richtig geraten hatte. Jillian musste lachen. Sie war sich sicher, dass der verrückte Vogel jedes ihrer Worte verstand und manchmal sogar ihre Gedanken lesen konnte. Deshalb liebte sie es, ihn um sich zu haben. Manchmal, wenn sie mit ihm sprach, blieb er nicht weit entfernt ganz ruhig stehen und hörte zu.
Ihr Großvater hatte sie gewarnt, den Raben nicht bei sich im Zimmer schlafen zu lassen, da er sonst ihre Träume erfahren würde. Da sie meist angenehme Träume hatte, hatte sie gar nichts dagegen, wenn Lokey über sie im Bilde war. Vermutlich kannte ihr kleiner Freund sie ohnehin längst, was auch der Grund dafür sein mochte, dass sie oftmals aufwachte und ihn zufrieden schlummernd auf dem nahen Fensterbrett sitzen sah. Sie war aber stets sehr darauf bedacht, ihm keine Albträume zu schicken. »Hast du vielleicht eine leckere tote Antilope gefunden? Oder ein Kaninchen? Hast du vielleicht deswegen keinen Hunger?« Sie drohte ihm mit dem Finger und setzte tadelnd hinzu: »Oder hast du etwa das Versteck eines anderen Raben geplündert?«
Sie hatte sich schon oft über die Gefräßigkeit Lokeys lustig gemacht, der immerzu hungrig zu sein schien. Er war immer bereit, das Essen mit ihr zu teilen, wenn sie ihn ließ, und wenn nicht, nahm er sich einfach, wonach es ihn gelüstete. Doch selbst wenn er zu satt war, um die Echse zu verschlingen, war sie überrascht, dass er sie nicht fortschleppte und für später in sein Versteck brachte, wie Raben es mit allem taten, was sie nicht auf der Stelle hinunterschlingen konnten – und das war nicht eben wenig. Ihr war unbegreiflich, wieso der Vogel kein Fett ansetzte.
Jillian erhob sich und klopfte sich dort, wo sie darauf gesessen hatte, den Staub vom Kleid und von ihren knotigen Knien. Lokey war bereits in der Luft und zog, sie zur Eile drängend, krächzend seine Kreise. »Schon gut, ist ja schon gut«, klagte sie und breitete die Arme aus, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, während sie mit hastigen Schritten über die mächtige Mauer entlang einer mit Trümmern übersäten Einfriedung balancierte.
Auf der Kuppe des kleinen Hügels blieb sie stehen, eine Hand auf der um ihre Hüfte geschlungenen Stoffschärpe, die andere schützend über ihren Augen, spähte in den strahlenden Himmel und beobachtete ihren Freund, der mit den Flügeln schwankend und immer wieder kurz abtauchend um ihre Aufmerksamkeit warb. Lokey war ein schamloser Angeber: Wenn er keine gewagten Flugmanöver vollführen konnte, um seine Artgenossen zu beeindrucken, dann vollführte er sie gern auch für sie. »Ich weiß schon«, rief sie in den Himmel, »du bist ein kluger Vogel, Lokey«
Lokey krächzte einmal, machte dann ein paar rasche Flügelschläge. Die Hand zum Schutz gegen die Sonne über den Augen, folgte Jillian ihm mit dem Blick, als er in südlicher Richtung über die sich schier endlos vor ihr erstreckende Weite davonflog. Da und dort, näher am Fuß der Landzunge und der sich dahinter auftürmenden Berge, durchschnitten Streifen grünen Sommergrases die karge Landschaft, während zu beiden Seiten dunstige violette Ausläufer des fernen Gebirges, jeder einen Hauch zarter und heller als sein Vorgänger, sich bis weit in die menschenleere Ebene erstreckten, die sich schier endlos nach Süden zu ziehen schien. Natürlich wusste sie, dass dem nicht so war. Ihr Großvater hatte erzählt, dass sich südlich von hier eine gewaltige Barriere befand, und dahinter ein seit Ewigkeiten verbotenes Land mit Namen die Alte Welt. In weiter Ferne, unten in der Ebene, wo vereinzelte Flecken raren Grüns bis an das Vorgebirge heranreichten, konnte sie die Stelle ausmachen, wo ihr Volk den Sommer über lebte. Hölzerne Zäune füllten die Lücken in den uralten, eingefallenen Mauern, zwischen denen sie ihre Ziegen, Schweine und Hühner hielten. Weiter draußen, auf der Sommerweide, grasten ein paar vereinzelte Rinder, dort gab es auch Wasser sowie ein paar Bäume, deren Laub im gleißenden Licht der Sonne schimmerte. Neben den einfachen Ziegelbauten, die unzählige Jahrhunderte den rauen Winterwinden und der sengenden Sommersonne getrotzt hatten, erstreckten sich einige Gärten.
Und dann, als sie erneut den Blick hob, um nach Lokey Ausschau zu halten, sah Julian über dem Horizont im Westen eine kaum wahrnehmbare Staubwolke aufsteigen. Sie war so weit entfernt, dass sie winzig schien. Die Staubfahne vor dem tiefblauen Himmel schien dort, wo sie den Horizont berührte, vollkommen still in der Luft zu stehen, doch sie wusste, dass dies nur eine durch die Entfernung hervorgerufene Täuschung war. Selbst aus dieser Entfernung war deutlich zu erkennen, dass sie sich über einen breiten Streifen erstreckte. Auch wenn sie nicht sehen konnte, was diese Staubfahne hervorrief, eines war ihr sofort klar: Einen solchen Anblick hatte sie noch nie zuvor gesehen.
Ihr erster Gedanke war, es müsse sich um eine Windhose oder einen Staubsturm handeln, doch bei genauerem Hinsehen wurde ihr klar, dass sie für eine Windhose viel zu ausgedehnt war und ein Staubsturm nicht so weit in den Himmel steigen würde. Und selbst wenn er bis in den Himmel reichte, so war ein Staubsturm an seinem unteren Ende von etwas begrenzt, das einer gewaltigen, wogenden braunen Wolke glich, die sich dort, wo der böige Wind den Staub aufwirbelte, über den Boden wälzte.
Dies hier war etwas völlig anderes, dies war Staub, der von etwas aufgewirbelt wurde, das näher kam – von Menschen auf Pferden, die in ihre Richtung ritten.
Fremde.
Fremde in einer Zahl, die ihr Vorstellungsvermögen sprengte. Es mussten so ungeheuer viele sein, dass sie sich sofort an ein Ereignis aus den Geschichten ihres Großvaters erinnerte. Julians Knie fingen an zu zittern. Ein Angstgefühl kroch in ihr hoch und setzte sich in ihrer Kehle fest, dort, wo die Schreie geboren wurden.
Das mussten sie sein, die Fremden, von deren Kommen ihr Großvater immerzu gesprochen hatte. Jetzt kamen sie tatsächlich.
Es geschah niemals, dass die Menschen ihrem Großvater misstrauten – jedenfalls nicht offen –, obschon sie auch nicht glaubte, dass die Begebenheiten aus seinen Erzählungen sie übermäßig besorgt stimmten, schließlich erfreuten sie sich eines friedlichen, niemals von fremden Besuchern ihrer Heimat gestörten Daseins.
Sie selbst dagegen hatte ihrem Großvater stets geglaubt, daher hatte sie immer gewusst, dass die Fremden eines Tages kommen würden, doch wie die anderen auch hatte sie angenommen, dieses Ereignis würde irgendwann in ferner Zukunft stattfinden, wenn sie alt wäre vielleicht, oder mit ein wenig Glück erst in einer künftigen Generation.
Nur in ihren eher seltenen Albträumen kamen die Fremden nicht erst in ferner Zukunft, sondern schon in der Gegenwart.
Jetzt, da sie die Staubwolken aufsteigen sah, war ihr jenseits allen Zweifels klar, dass sie es waren und dass sie kamen – jetzt, in diesem Moment.
Sie hatte zeit ihres Lebens noch keinen Fremden zu Gesicht bekommen, niemand außer Julians Volk durchstreifte jemals die unwirtlichen Landstriche dieser schier endlosen und abweisenden Gegend, die unter dem Namen Herz der Leere bekannt war.
Vor Angst zitternd starrte sie auf die Staubfahne am Horizont. Bald schon würde sie eine große Zahl Fremder sehen – die Fremden aus den alten Geschichten.
Aber es war noch zu früh, sie hatte doch noch gar kein Leben gehabt, hatte noch keine Gelegenheit gehabt, zu leben und Kinder zu gebären. Tränen traten ihr in die Augen, sodass plötzlich alles verschwamm. Sie warf einen Blick über die Schulter hinauf zu den Ruinen. War es das, dem sich die Menschen aus den Erzählungen ihres Großvaters gegenübergesehen hatten?
Die Tränen begannen ihr über die staubigen Wangen zu rollen. In diesem Moment wurde ihr klar, ohne auch nur den leisesten Hauch eines Zweifels klar, dass ihr Leben im Begriff war, sich zu verändern, und dass ihre Träume von nun an nicht mehr glücklich sein würden.
Hastig kletterte Julian vom höchsten Punkt des Trümmerhaufens herunter, auf dem sie gestanden hatte, und rannte, vorbei an der Mauer und den verfallenen leeren Rechtecken der einstigen Häuser, den Gruben, über denen sich einst Gebäude erhoben hatten, den Hang hinunter. Als sie durch die Ruinen der Gemäuer rannte, die einst den Vorposten einer alten Stadt gebildet hatten, wirbelten ihre dahinfliegenden Füße selbst eine Staubwolke auf. Sie rannte durch Straßen, die längst nicht mehr durch buntes Treiben führten, an denen schon lange keine intakten Gebäude mehr standen.
Oft hatte sie sich vorzustellen versucht, wie es wohl gewesen sein mochte, als diese Häuser noch bewohnt waren, als die Straßen noch von Menschen bevölkert waren, in den Häusern Mahlzeiten zubereitet wurden, draußen vor den Ziegelbauten Wäsche hing und auf den Plätzen Waren feilgeboten wurden. All das war lange vorbei. Die einstigen Bewohner waren seit langem tot, die ganze Stadt ausgestorben – mit Ausnahme der wenigen aus Julians Volk, die sich bisweilen in den abgelegensten der alten Gemäuer einquartierten. Als sie sich den alten Gebäuden des Vorpostens näherte, die sie bewohnten, wenn sie den Sommer in diesem Gebiet verbrachten, sah Jillian Menschen, einander Kommandos zubrüllend, hektisch durcheinander laufen, sah sie ihre Sachen zusammensuchen und die Tiere zusammentreiben. Offenbar waren sie im Begriff weiterzuziehen, vielleicht zu ihrem Schlupfwinkel in den Bergen oder hinaus in das Ödland. Sie hatte ihr Volk dies nur wenige Male tun sehen, doch stets hatte sich die Gefahr als Irrtum entpuppt. Sie wusste, diesmal war sie Wirklichkeit.
Was sie nicht mit Sicherheit wusste, war, ob ihnen genug Zeit bliebe, vor den näher kommenden Fremden wegzulaufen und sich zu verstecken. Sicher, ihr Volk war widerstandsfähig und gut zu Fuß, die Menschen waren es gewöhnt, durch das verlassene Land zu ziehen. Ihr Großvater sagte immer, niemand sei für das Überleben in dieser Einsamkeit so gut gerüstet wie ihr Volk. Es kannte die Gebirgspässe und Wasserstellen ebenso wie die verborgenen Passagen durch scheinbar unpassierbare Canons. Es konnte sich in dem unwirtlichen Land in kürzester Zeit unsichtbar machen und dort überleben.
Zumindest traf dies auf die meisten zu, einige wenige, wie ihr Großvater, waren nicht mehr gut zu Fuß. Angesichts der neu aufkeimenden Sorge beschleunigten ihre Füße noch und flogen mit gleichmäßigem Tappen über den staubigen Boden. Im Näher kommen sah sie die Männer ihre Reiseausrüstungen auf den Maultieren festzurren, während die Frauen damit beschäftigt waren, Kochutensilien zusammenzusuchen, Wasserbehälter aufzufüllen sowie Kleidungsstücke und Zelte aus ihren Sommerbehausungen und Vorratsräumen ins Freie zu tragen. All dies machte auf Jillian den Eindruck, als wären sie schon seit einer Weile über die anrückenden Fremden unterrichtet, denn die Vorbereitungen für den Aufbruch befanden sich im Allgemeinen schon in weit fortgeschrittenem Stadium.
»Ma!«, rief Jillian, als sie ihre Mutter beim Festzurren ihres Kessels auf einem bereits mit ihrem gesamten Hab und Gut bepackten Maultier erblickte. »Ma!«
Ihre Mutter zeigte ihr kurz ein Lächeln und streckte ihr beschützend einen Arm entgegen. Obwohl sie eigentlich schon zu alt für diese Dinge war, schmiegte sich Jillian unter den Arm wie ein junges Küken, das sich unter den Fittichen der Mutterhenne verkroch.
»Hol deine Sachen, Jillian.« Ihre Mutter machte eine scheuchende Handbewegung. »Beeil dich.«
Jillian war klug genug, in einem Augenblick wie diesem keine Fragen zu stellen. Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und lief zu dem kleinen uralten rechteckigen Haus hinüber, das ihnen, wenn sie den Sommer in der Ebene nahe der Landzunge verbrachten, als Zuhause diente. Mitunter mussten die Männer die Dächer erneuern, wenn ein schweres Unwetter sie heruntergerissen hatte, aber davon abgesehen stimmten die Überreste der stabilen, gedrungenen Gebäude mit ebenjenen von ihren Vorvätern errichteten Gebäuden überein, welche die Stadt Caska einst oben auf der Landzunge erbaut und bevölkert hatten. Ihr Großvater, ausgezehrt und blass, wie sie sich eher ein Gespenst vorstellte, wartete in den Schatten unmittelbar vor der Tür. Er hatte es nicht eilig. Sofort füllte ein Gefühl des Entsetzens ihre Brust, als ihr klar wurde, dass er sie nicht würde begleiten können. Er war alt und gebrechlich und, wie einige der anderen Alten auch, nicht mehr schnell genug, um mit den Übrigen im Falle einer Flucht Schritt halten zu können. Am Ausdruck seiner Augen sah sie, dass er nicht die Absicht hatte, es zu versuchen. Sie ließ sich in die zärtlichen Arme ihres Großvaters sinken und brach, noch während er sie zu trösten versuchte, in Tränen aus.
»Ruhig, ganz ruhig, Kleines«, sagte er und strich ihr mit der Hand über das kurz geschorene Haar. »Dafür ist jetzt keine Zeit.«
Er fasste sie bei den Armen und schob sie sanft von sich, während sie sich größte Mühe gab, ihr Schluchzen zu unterdrücken. Natürlich wusste sie, dass sie alt genug war und nicht mehr so herumheulen sollte, aber sie war einfach machtlos dagegen. Er ließ sich in die Hocke herunter, und sein ledriges Gesicht zog Falten, als er ihr lächelnd eine Träne aus dem Gesicht wischte. Julian wischte auch den Rest ihrer Tränen fort, sie versuchte, tapfer zu sein und sich ihrem Alter entsprechend zu benehmen. »Großvater, Lokey hat mir die Fremden gezeigt, die zu uns kommen.«
Er nickte. »Ich weiß, ich selbst habe ihn geschickt.«
»Oh«, war alles, was ihr dazu einfiel. Ihre Welt geriet aus den Fugen, das Denken bereitete ihr Mühe, aber irgendwo, in einem entlegenen Winkel ihres Verstandes, dämmerte ihr, dass er dergleichen noch nie getan hatte. Sie hatte nicht einmal gewusst, dass er überhaupt dazu fähig war, aber wie sie ihren Großvater kannte, konnte es sie nicht wirklich überraschen.
»Hör zu, Julian. Diese Männer, die auf dem Weg hierher sind, sind jene Männer, von deren Kommen ich dir immer erzählt habe. Wer kann, wird für eine Weile fortgehen und sich verstecken.«
»Wie lange?«
»So lange wie nötig. Diese Männer, die zu uns geritten kommen, sind nur eine kleine Vorhut jener gewaltigen Horden, die nach ihnen kommen werden.«
Ihre Augen weiteten sich. »Soll das heißen, es gibt noch mehr von diesen Leuten? Aber es sind doch schon so viele. Sie wirbeln mehr Staub auf, als ich je zuvor gesehen habe. Kann es wirklich noch mehr Fremde geben als diese Männer?«
Sein Lächeln war ebenso kurz wie bitter. »Ich vermute, sie stellen nur den Erkundungstrupp dar – die erste Vorhut aus Kundschaftern eines gewaltigen nachfolgenden Heeres. Sie kennen dieses weite, unbewohnte Land nicht, ich vermute, dass sie auf der Suche nach Strecken sind, auf denen es sich durchqueren lässt, und herausfinden wollen, ob sie irgendwo auf Widerstand stoßen. Ich fürchte, den Legenden zufolge wird die Zahl der Männer, für die sie dieses Land erkunden, sogar mein Vorstellungsvermögen übertreffen. Meiner Meinung nach werden die unfassbaren Horden dieser anderen Männer noch eine Weile auf sich warten lassen, aber schon diese Vorhut wird aus gefährlichen, skrupellosen Kriegern bestehen. Wer von unserem Volk dazu imstande ist, muss fliehen und sich vorübergehend verstecken. Du, Julian, wirst nicht mit ihnen gehen können.«
Ihre Kinnlade fiel herab. »Was ... ?«
»Hör mir zu. Die Zeiten, von denen ich dir stets berichtet habe, stehen jetzt unmittelbar bevor.«
»Aber Ma und Pa werden bestimmt nicht erlauben ...«
»Doch, das werden sie, wenn ich ihnen erkläre, dass sie es müssen, so wie auch unser Volk gewisse Dinge tun muss«, fiel er ihr mit strenger Stimme ins Wort. »Hier geht es um gewichtigere Dinge, Dinge, in die unser Volk noch nie hineingezogen worden ist – jedenfalls nicht, seit unsere Vorfahren die Stadt besiedelt haben. Jetzt gehen diese Dinge auch uns an.«
Julian nickte ernst. »Ja, Großvater.« Sie war vor Entsetzen wie gelähmt, und doch fühlte sie gleichzeitig ihr Pflichtgefühl gegenüber dem Ansinnen ihres Großvaters erwachen. Wenn er entschlossen war, sie mit diesen Dingen zu betrauen, dann durfte sie ihn nicht im Stich lassen. »Was soll ich denn tun?«
»Du wirst die Priesterin der Gebeine sein, die Überbringerin der Träume.«
Wieder klappte ihre Kinnlade herunter. »Ich?«
»Ja, du.«
»Aber ich bin noch zu jung; ich bin in diesen Dingen nicht einmal unterwiesen worden.«
»Dafür ist keine Zeit mehr, Kleines.« Beschwörend neigte er sich zu ihr. »Du bist die Einzige, die dafür infrage kommt, Julian. Ich habe dir bereits einen Großteil der Legenden beigebracht. Vielleicht magst du denken, dass du nicht vorbereitet oder noch nicht alt genug bist, und obwohl das alles ein Körnchen Wahrheit enthält, weißt du längst mehr, als dir bewusst ist. Außerdem kommt niemand sonst infrage. Diese Aufgabe obliegt dir allein.«
Julian starrte ihn fassungslos aus aufgerissenen Augen an. Sie fühlte sich völlig unzulänglich, gleichzeitig spürte sie einen Anflug von Erregung und noch verhaltener Anerkennung. Ihr Volk zählte auf sie, und was noch wichtiger war, auch ihr Großvater verließ sich auf sie und schien zudem überzeugt, dass sie es schaffen konnte. »Ja, Großvater.«
»Ich werde dich darauf vorbereiten, unter den Toten zu wandeln, anschließend musst du dich bei ihnen verstecken und abwarten.«
Wieder schien die Angst sie zu packen. Sie war noch nie allein bei den Toten zurückgeblieben. Julian schluckte. »Bist du sicher, dass ich für eine solche Aufgabe bereit bin, Großvater, ganz allein unter den Toten? Um auf einen der ihren zu warten?«
Das durch die Tür hereinfallende Licht verlieh seinem Gesicht einen Hauch von Bedrohlichkeit. »Ich habe dich nach besten Kräften vorbereitet. Gewiss, ich hatte gehofft, es bliebe noch etwas Zeit, um dir manches noch beizubringen, aber wenigstens konnte ich dir ein bisschen von dem beibringen, was du wissen musst.«
Draußen, im hellen Sonnenlicht, hasteten die Menschen umher und gingen ihren Vorbereitungen nach – stets sorgsam darauf bedacht, nur ja keinen Blick in die Schatten zu werfen, auf Großvater, jetzt, nachdem er sie von den Übrigen abgesondert hatte, um ihr zu erklären, was sie erwartete. »Ich will dir die Wahrheit sagen«, fuhr er fort, »auch mich trifft dies unvorbereitet. Tausende von Jahren wurden in unserem Volk die Legenden an die nächste Generation weitergegeben, doch nie war die Rede davon, wann es so weit sein würde. Selbst ich habe nie recht glauben wollen, dass es noch zu meinen Lebzeiten geschehen könnte. Ich weiß noch genau, wie mein Großvater mir von den Dingen erzählte, die ich dir jetzt anvertraut habe. Damals habe ich nicht so recht daran geglaubt, es könnte jemals so weit kommen, außer vielleicht in einer fernen Zukunft, die auf mein Leben keinerlei Einfluss mehr hat. Aber jetzt ist diese Zeit gekommen, und wir müssen alles in unseren Kräften Stehende tun, um uns unserer Vorfahren würdig zu erweisen. Wir – du vor allem müssen vorbereitet sein, wie es uns in den Legenden beigebracht wurde.«
»Wie lange werde ich warten müssen?«
»Das kann ich dir unmöglich sagen. Du musst dich bei den Seelen versteckt halten. Für diesen Fall haben wir beide, du und ich, Lebensmittel gehortet, ganz so, wie Lokey und wie es die Legendenerzähler seit vielen Jahrhunderten gehalten haben. Du wirst genug zu essen haben, um nicht hungern zu müssen, außerdem kannst du fisehen und auf die Jagd nach Wild gehen, wenn es sicher ist, die Stätte zu verlassen.«
»Ja schon, Großvater, aber könntest du dich nicht mit mir verstecken?«
»Ich werde dich dort hinaufbringen, dir helfen, dich vorzubereiten, und dir mein ganzes Wissen anvertrauen. Aber dann muss ich hierher zurückkehren und helfen, diese Fremden glauben zu machen, dass wir ihnen einen offenen und freundlichen Empfang bereiten, damit der Rest unseres Volkes fliehen kann – und du dich verstecken kannst. Ich wäre ohnehin nicht so flink wie du und außerdem nicht klein genug, um mich durch die schmalen Spalten zu zwängen, damit diese Männer mir nicht folgen können. Ich werde hierher zurückkehren und meines Amtes walten müssen.«
»Und wenn diese Fremden dir etwas antun?«
Der alte Mann holte tief Luft und stieß sie mit matter Entschlossenheit wieder aus. »Das wäre sehr gut möglich. Die Männer, die sich auf dem Weg hierher befinden, sind zu solchen Grobheiten durchaus fähig – eben deswegen ist es ja so wichtig. Gerade wegen ihrer Grausamkeit müssen wir Stärke zeigen und dürfen ihnen keinesfalls nachgeben. Selbst wenn ich sterben sollte« – warnend hob er einen Finger –, »und sei gewiss, dass ich es nach Kräften zu vermeiden versuchen werde, werde ich euch anderen den Vorsprung verschaffen, den ihr braucht.«
Julian biss sich auf die Unterlippe. »Hast du denn keine Angst zu sterben?«
Er nickte, ein Lächeln auf den Lippen. »Große sogar. Aber ich habe ein erfülltes Leben gehabt und würde mich schon aus Liebe zu dir entscheiden, dir die Chance zu geben, in meine Fußstapfen zu treten.«
»Großvater«, sagte sie mit tränenerstickter Stimme, »ich möchte, dass du mein Leben lang bei mir bleibst.«
Er ergriff ihre Hand. »Das möchte ich auch, Kleines. Wie gern würde ich dich zu einer erwachsenen Frau heranwachsen sehen, die selbst Kinder hat. Aber ich möchte nicht, dass du dir meinetwegen zu große Sorgen machst, ich bin gar nicht so hilflos und überdies kein Narr. Ich werde bei den anderen im Schatten sitzen, sodass ich für diese Männer keine Gefahr darstelle. Anschließend werden wir den Fremden gestehen, dass die Jüngeren aus unserem Volk aus Angst geflohen sind, wir aber dazu nicht mehr fähig waren. Vermutlich werden sie Wichtigeres zu tun haben, als ihre Kräfte darauf zu verschwenden, ein paar alten Männern etwas anzutun. Uns wird schon nichts geschehen. Ich möchte, dass du dich ganz auf deine Aufgabe konzentrierst und dich nicht um mich sorgst.«
Julian wurde ein wenig leichter ums Herz. »Ja, Großvater.«
»Außerdem«, setzte er hinzu, »wird Lokey bei dir sein, der meine Seele in sich trägt. Es wird also fast so sein, als wachte ich persönlich über dich.« Als daraufhin ein Lächeln um ihre Lippen spielte, sagte er: »Und jetzt komm. Wir müssen los und einige Vorkehrungen treffen.«
Kurz darauf, nachdem der alte Mann ihnen erklärt hatte, er werde Julian jetzt mitnehmen, damit sie bei den Seelen ihrer Vorfahren ausharren und über die Sicherheit ihres Volkes wachen könne, erhielten ihre Eltern kurz Gelegenheit, sich von ihr zu verabschieden. Ob die beiden begriffen, wie wichtig es war, sie gehen zu lassen, oder ob sie den alten Mann zu sehr fürchteten, um ihm die Erlaubnis zu verweigern, sie nahmen sie kurz in den Arm und wünschten ihr Kraft bis zum Wiedersehen.
Ohne ein weiteres Wort führte der alte Mann sie unter ihren Blicken fort. Er führte sie über die uralten Straßen, vorbei an den verlassenen Außenposten und rätselhaften Gebäuden und schließlich den gewaltigen Anstieg des Geländes hinauf. Während des Aufstiegs senkte sich die Sonne allmählich hinter den goldenen Staubschweif, der ebenso langsam wie unaufhaltsam näher kam. Ehe die Sonne ganz untergegangen wäre, das wusste sie, würde der größte Teil ihres Volkes abgezogen sein.
Mit dem Untergang der Sonne begannen dunkle Schatten die Hohlwege zu bevölkern; immer wieder verführten die verschlungenen, im glatten Fels eingelagerten Gesteinsschichten sie dazu, weiter einen Fuß vor den anderen zu setzen, um zu sehen, was sich wohl hinter der nächsten Biegung verbarg, immer wieder fanden sich im Geröll am Boden des Hohlwegs die Knochen kleiner Tiere, meist waren es die Überreste von Coyoten oder Wölfen. Sie hatte schwer gegen die Vorstellung anzukämpfen, ständig ihre eigenen verblichenen Knochen dort im Geröll verstreut liegen zu sehen.
Im immer dunkler werdenden Blau des Abendhimmels zog Lokey über ihnen träge seine Kreise und beobachtete sie und Großvater auf ihrem Weg hinauf zur Landzunge. Als sie die steinernen Türme erreichten, glitt der Vogel lautlos, fast spielerisch zwischen den Spitzen der Felsensäulen dahin. Er war ihnen schon so oft bis in die alte Stadt hinauf gefolgt, dass er sich vermutlich gar nichts dabei dachte. Julian dagegen erschien diesmal alles neu, und das, obwohl ihr Großvater sie schon viele Male durch diesen Irrgarten aus Schluchten, trockenen Wasserläufen und tiefen Canons hier heraufgeführt hatte.
Diesmal machte sie den Weg als Priesterin der Gebeine, als Überbringerin der Träume. An einer Stelle, wo ein stiller Bach einem verschlungenen Pfad durch das Geröll am Grund eines sehr tiefen Canons folgte, führte Großvater sie zu einem kleinen, im kühlen Schatten liegenden Fels und hieß sie sich hinsetzen. Ringsum erhoben sich die glatten, gewellten Seitenwände des Canons nahezu lotrecht in die Höhe, sodass es im Falle eines plötzlichen Regengusses keine Möglichkeit gab hinauszuklettern. Es war ein überaus gefährlicher Ort – und das beileibe nicht nur wegen der Gefahr unerwarteter Überschwemmungen. Das Gelände war von einem Gewirr von Wasserläufen und Schluchten durchzogen, die sich mancherorts einen komplizierten Weg um die gewaltigen Felssäulen gebahnt hatten, sodass man ohne weiteres im Kreis gehen konnte, ohne jemals wieder herauszufinden. Doch Julian kannte den Weg durch dieses Labyrinth – wie auch durch andere. Während sie still und abwartend dasaß, zog ihr Großvater einen Beutel auf, den er stets an seinem Gürtel trug, nahm zwischen den anderen Dingen, die er darin aufbewahrte, ein zusammengefaltetes Stück Wachstuch hervor und faltete es in seiner Handfläche auseinander. Dann tunkte er den Zeigefinger in die ölige schwarze Substanz, die sich darin befand, und bog ihr Kinn leicht nach oben. »Halt still jetzt, solange ich dein Gesicht bemale.«
Julian war noch nie angemalt worden. Sie kannte die Zeremonie aus den Erzählungen ihres Großvaters, aber bisher hatte sie nie auch nur einen Gedanken daran verschwendet, dass sie selbst eines Tages die Priesterin der Gebeine sein könnte, dass sie es sein könnte, die bemalt wurde. Während er damit beschäftigt war, saß sie so still wie irgend möglich da. Sie hatte das Gefühl, dass alles viel zu schnell passierte – ehe sie überhaupt Gelegenheit hatte, so recht darüber nachzudenken. Noch am Morgen dieses Tages hatte sie keine andere Sorge gehabt, als eine Echse für Lokey zu fangen, und nun kam es ihr so vor, als lastete das Gewicht der Welt auf ihren Schultern. »So«, sagte ihr Großvater. »Komm her und schau dich an.«
Julian ließ sich neben einem Tümpel mit stehendem Wasser auf die Knie herunter, beugte sich vor und erschrak. Was sie dort sah, war Furcht erregend. Quer über das ihr entgegenstarrende Gesicht lief ein schwarzes gemaltes Band, ganz ähnlich einer Augenbinde, nur dass sie hindurchsehen konnte. Mitten aus dieser rauchschwarzen Maske starrten ihr die eigenen kupferfarbenen Augen entgegen. »So werden dich die bösen Geister nicht sehen können«, erklärte er ihr im Aufstehen. »Du kannst dich unter unseren Vorfahren aufhalten, ohne Angst haben zu müssen.«
Julian erhob sich ebenfalls, sie fühlte sich in der Tat sehr seltsam, wie verwandelt. Das Gesicht, in das sie eben geschaut hatte, war das Gesicht einer Priesterin. In den Erzählungen ihres Großvaters hatte sie davon gehört, im wirklichen Leben aber hatte sie ein solches Gesicht noch nie gesehen, geschweige denn erwartet, es könnte je ihr eigenes sein.
Sie beugte sich vor und warf einen verstohlenen Blick in den stehenden Tümpel. »Macht mich das wirklich unsichtbar?«
»Es wird dich beschützen«, bestätigte er mit einem Nicken.
Sie fragte sich, ob Lokey sie wohl wieder erkennen oder ob er sich eher vor ihr fürchten würde. Ihr jedenfalls machte das Gesicht Angst, das ihr aus dem stillen Tümpel entgegenstarrte. »Komm«, sagte ihr Großvater, »wir müssen dich jetzt nach oben bringen, und dann muss ich zurück, damit die Fremden mich bei denen aus unserem Volk antreffen, die hier bleiben werden.«
Als sie zu guter Letzt aus den steinernen Türmen und Felsschluchten emporkletterten, befanden sie sich endlich oben ganz in der Nähe der Stadt, unmittelbar vor dem mächtigen Hauptwall, aber bereits innerhalb der ersten äußeren Ringe aus kleineren Mauern. Sie waren in der Nähe des Friedhofs herausgekommen. Der alte Mann machte eine Handbewegung. »Geh du voran, Julian. Dieser Ort untersteht jetzt dir.«
Mit einem Nicken machte sie sich auf den Weg in die im goldenen spätnachmittäglichen Licht erglühende Stadt. Es war wie immer ein wundervoller Anblick, aber an diesem Tag hatte er für sie auch etwas Bedrückendes. Es war, als sehe sie alles mit neuen Augen, und auf einmal erschien ihr die Verbindung zu ihren Vorfahren sehr real.
Die prachtvollen Gebäude schienen noch immer von Menschen bewohnt, es war, als könnte sie jeden Moment einige davon durch die leeren Fensteröffnungen ihrem täglichen Leben nachgehen sehen. Manche Bauten, mit ihren hohen, den vorspringenden Teil eines Schieferdaches stützenden Säulen, waren von gewaltigen Ausmaßen, andere besaßen in jedem Stockwerk mit Rundbögen überwölbte Fensterreihen. Ihr Großvater hatte sie bereits in einige von ihnen mitgenommen; der Anblick dieser Gebäude, in denen mehrere Geschosse voller Zimmer übereinander lagen, sodass man, um in die oberen Zimmer zu gelangen, tatsächlich eine im Innern des Gebäudes angebrachte Treppe emporsteigen musste, hatte sie zutiefst erstaunt. Die Leistungen dieser Baumeister aus alter Zeit hatten fast etwas Magisches, und wenn sie im goldenen Licht erglühten, boten sie von weitem einen wahrhaft majestätischen Anblick.
Nun würde sie allein durch die Straßen wandern, begleitet nur von den Seelen derer, die einst hier gelebt hatten. Immerhin, zu wissen, dass ihr Großvater ihr die Maske der Priesterin der Gebeine aufgemalt hatte, gab ihr ein Gefühl von Sicherheit.
Sie würde diejenige sein, die den Fremden die Träume übermitteln würde. Wenn sie ihre Arbeit gut machte, würden es die Fremden so mit der Angst bekommen, dass sie die Flucht ergriffen, und ihr Volk wäre gerettet. Sie versuchte den Gedanken zu verdrängen, dass die Menschen, die einst hier gelebt hatten, dasselbe versucht hatten und gescheitert waren.
»Was meinst du, werden es zu viele sein?«, fragte sie, plötzlich von den Erzählungen über dieses vorzeitige Debakel aufgeschreckt.
»Zu viele?« Er sah sie verdutzt an, während sie an einer Mauer entlangliefen, die schon vor langer Zeit vollständig von einem lebendigen Geflecht aus Schlingpflanzen umschlossen worden war, das Einzige, was das bröckelnde Mauerwerk mittlerweile noch zusammenhielt.
»Ja, zu viele für die Träume. Ich bin schließlich ganz allein – außerdem hab ich weder Erfahrung, noch bin ich älter oder sonst etwas. Ich bin nur ich.«
Mit seiner großen Hand gab er ihr einen tröstlichen Klaps zwischen ihre Schulterblätter. »Zahlen spielen keine Rolle. Er wird dir die Kraft verleihen, die du brauchst.« Warnend hob er einen Finger. »Und vergiss nicht, Julian, in den Erzählungen heißt es, dass du diesem Mann treu ergeben sein musst. Er wird dein Meister sein.«
Julian nickte, und im selben Moment betraten sie das weitläufige Friedhofsgelände. Hier, in den unteren Bereichen, sah man nur einfache Grabsteine, doch als sie höher hinaufstiegen, vorbei an endlosen Gräberreihen, gelangten sie schließlich zu größeren und kunstvoller verzierten Gedenkstätten für die Toten, nicht selten dekoriert mit prachtvollen Statuen von Personen in stolzen Posen. Andere wiesen alte, von ewiger Liebe kündende Inschriften auf, einige wenige zierte lediglich ein uraltes Symbol, bei dem es sich, wie ihr Großvater erklärte, um eine Huldigung handelte. Manche der größeren Grabmonumente trugen nichts als einen Namen. Tief im Herzen dieser Stätte der Toten, ganz in der Nähe ihrer höchstgelegenen Stelle, wo die der Witterung ausgesetzten Bäume hoch und krumm gewachsen waren, gelangten sie schließlich zu einer prunkvollen, mit einem riesigen, überaus kunstvoll gearbeiteten Steinmonument markierten Grabstätte. Darauf stand eine Urne aus scheckigem grauem Granit voller aus demselben Stein gemeißelter Oliven, Birnen und anderer Früchte, darunter einige Trauben, die zu einer Seite bereits über den Rand hinausquollen. Nach Aussage ihres Großvaters, der sie schon viele Male zu diesem Grabmal mitgenommen und dabei die Erzählungen an sie weitergegeben hatte, sollte diese Urne die Fülle des Lebens versinnbildlichen, wie sie der Mensch dank seines kreativen Schaffens und seiner harten Arbeit hervorgebracht hat.
Er beobachtete sie, wie sie erst zögernd stehen blieb, dann näher an den monumentalen Grabstein eines längst Verstorbenen herantrat, der zu Zeiten, als diese alte Stadt noch voller Leben war, aus einem Stück gemeißelt worden war. Sie fragte sich, wie er wohl gewesen sein mochte, ob er ein freundlicher oder ein grausamer, ein junger oder alter Mann gewesen war.
Lokey landete auf den in Stein gemeißelten Trauben und plusterte sein schwarz glänzendes Gefieder auf, ehe er sich endgültig niederließ. Sie war froh, dass Lokey ihr an diesem so einsamen Ort Gesellschaft leisten würde. Julian streckte die Hand vor und zeichnete mit dem Finger die Buchstaben nach, aus denen sich der in den grauen Granit gemeißelte Namen zusammensetzte. »Was meinst du, Großvater, sind die Erzählungen wahr? Ich meine, wirklich wahr?«
»So hat man es mir beigebracht.«
»Dann wird er tatsächlich zu uns zurückkehren, aus dem Totenreich? Er wird wirklich von den Toten auferstehen?«
Sie sah über ihre Schulter. Ihr Großvater, der dicht hinter ihr stand, berührte das steinerne Monument ehrfürchtig mit der Hand, dann nickte er ernst.
»Ja, das wird er.«
»Dann werde ich ihn erwarten. Die Priesterin der Gebeine wird zugegen sein, um ihn bei seiner Rückkehr ins Leben willkommen zu heißen und ihm zu Diensten zu sein.«
Ihr Blick wanderte kurz hinüber zu der Staubfahne am Horizont, ehe sie ihn wieder auf das Grabmal richtete. »Aber bitte beeil dich«, beschwor sie den Toten, ehe sie – unter den wachsamen Blicken ihres Großvaters – mit ihren zierlichen Fingern über die erhabenen Buchstaben des Grabmals strich. »Ohne dich kann ich die Träume nicht weitergeben«, wandte sich Julian mit leiser Stimme an den in Stein gemeißelten Namen. »Bitte beeil dich, Richard Rahl, und kehre zu den Lebenden zurück.«