55

Nicci klopfte an die oben abgerundete Eichentür und wartete; desgleichen die unmittelbar hinter ihr stehende Rikka. »Herein«, war eine gedämpfte Stimme zu vernehmen. Nicci fand, dass sie weniger nach Zedds, sondern vielmehr nach Nathans tiefer, volltönender Stimme klang. Drinnen in dem kleinen runden Zimmer, das Richards Großvater gern benutzte, sah sie den Propheten neben Ann stehen, die in geduldiger Erwartung ihres geladenen Gasts die Hände in die gegenüberliegenden Ärmel ihres einfachen grauen Kleides geschoben hatte. Nathan, in seiner dunkelbraunen Hose und hohen Stiefeln sowie dem weißen Rüschenhemd unter einem weiten Umhang, wirkte eher wie ein Abenteurer denn wie ein Prophet.

Ruhig, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, stand Zedd vor einem runden, bleiverglasten Fenster zwischen den mit Glastüren versehenen Bücherschränken und schien gedankenversunken hinaus auf die tief unten am Fuß des Berges liegende Stadt Aydindril zu blicken. Die Aussicht war herrlich, Nicci konnte gut verstehen, warum er diesem gemütlichen Zimmer den Vorzug gab. Als Rikka sich anschickte, die massive Eichentür zu schließen, lenkte Ann, das geübte Lächeln einer Prälatin auf den Lippen, ihre Aufmerksamkeit auf sich. »Rikka, meine Liebe, ich habe von all dem Rauch gestern, als dieses grauenhafte Geschöpf die Bibliothek in Brand setzte, noch immer eine ziemlich trockene Kehle. Würde es Euch etwas ausmachen, mir ein wenig Tee aufzubrühen, vielleicht mit einem Tropfen Honig darin?«

Die Hand noch an der halb geschlossenen Tür, zuckte Rikka mit den Achseln. »Ach wo, gar nicht.«

»Sind vielleicht auch noch von Euren Keksen welche übrig?«, erkundigte sich Nathan mit breitem Lächeln. »Sie waren ausgezeichnet, vor allem, als sie noch warm waren.«

Rikka bedachte alle Anwesenden mit einem kurzen Blick. »Gut, dann also Tee mit Honig und dazu ein paar Kekse.«

»Tausend Dank, meine Liebe«, flötete Ann, ohne dass ihr Lächeln auch nur einen Riss bekam, als Rikka durch die Tür verschwand.

Obwohl Zedd, der noch immer aus dem Fenster starrte, bislang geschwiegen hatte, wandte sich Nicci, Ann und Nathan ignorierend, an ihn. »Rikka sagte, Ihr wolltet mich sprechen.«

»So ist es«, antwortete Ann an seiner Stelle. »Wo steckt Richard überhaupt?«

»Unten in dem Raum, von dem ich Euch erzählt habe, dem Raum zwischen den Schilden, wo er in Sicherheit ist. Er liest, sucht nach Informationen und tut eben, was ein Sucher tut, nehme ich an.« Nicci verschränkte übertrieben vorsichtig ihre Finger. »Demnach wolltet Ihr also mit mir über Richard sprechen.«

Nathan entfuhr ein kurzes Lachen, das sich, nach einem tadelnden Blick Anns, in ein klärendes Räuspern verwandelte. Zedd starrte, den anderen den Rücken zugewandt, noch immer schweigend aus dem Fenster. »Ihr wart doch stets ein kluger Kopf«, begann Ann.

»Nun, für diese kleine Vermutung waren wohl kaum große denkerische Fähigkeiten vonnöten«, gab Nicci zurück, nicht gewillt, Ann diese plumpe Schmeichelei durchgehen zu lassen. »Wenn Ihr die Freundlichkeit hättet, Euch das Lob aufzusparen, bis ich es mir durch mein Tun verdient habe.«

Beide, Nathan wie auch Ann, lächelten. In Nathans Fall wirkte es sogar echt. Zeit ihres Lebens hatten Nicci plumpe Schmeicheleien wie eine Pest verfolgt. »Nicci, du bist so ein kluges Kind, du musst dich mehr einbringen.« – »Nicci, du bist so wunderschön, das hübscheste Wesen, das ich je zu Gesicht bekommen habe, ich muss dich einfach in die Arme nehmen.« – »Nicci, meine Liebe, Ihr müsst mir einfach eine Kostprobe Eurer köstlichen Reize gewähren, denn sonst sterbe ich als armer Mann.« Derart leere Schmeicheleien klangen in ihren Ohren wie das Geräusch des Brecheisens in der Hand eines Diebes, der sie mit Gewalt ihres Hab und Guts zu berauben versuchte.

»Also, was kann ich für Euch tun?«, fragte sie in bewusst geschäftsmäßigem Ton. Ann, die Hände immer noch in den gegenüberliegenden Ärmeln, zuckte mit den Achseln. »Wir müssen mit Euch über Richards bedauerlichen Zustand sprechen. Die Erkenntnis, dass er an einer Wahnvorstellung leidet, war ein ziemlicher Schock für uns.«

»Ich kann nicht behaupten, dass ich dem widersprechen möchte«, erwiderte Nicci. »Habt Ihr irgendwelche Vorschläge?«

Nicci ließ ihre Finger über die polierte Oberfläche des prachtvollen Schreibtischs gleiten. »Vorschläge? Was genau meint Ihr damit?«

»Spielt nicht die Bescheidene«, antwortete Ann, deren nachsichtiger Unterton sekundenschnell verflog. »Ihr wisst sehr gut, was ich damit meine.«

Zu guter Letzt wandte sich Zedd um, offenbar gefiel ihm Anns Vorgehensweise nicht. »Wir machen uns seinetwegen große Sorgen, Nicci. Und zwar, das ist ganz richtig, wegen der Prophezeiung und weil sie besagt, dass er unsere Truppen anführen muss, und was sonst noch alles darin steht, aber ...« Er hob eine Hand und ließ sie verzweifelt wieder fallen. »Aber vor allem gilt unsere Sorge Richard selbst. Irgendetwas stimmt nicht mit ihm, ganz und gar nicht. Ich kenne ihn seit dem Tag, an dem er geboren wurde, ich habe viele Jahre mit ihm verbracht, allein und in Gesellschaft anderer. Ich war auf den Jungen so stolz, dass mir die Worte fehlen, es Euch zu beschreiben. Es war schon immer seine Art, bisweilen etwas verwirrende Dinge zu tun, Dinge, die mich oft enttäuscht und verwundert haben, aber noch nie habe ich ihn sich so benehmen sehen, noch nie erlebt, dass er derart verrückte Geschichten glaubt. Ihr könnt Euch gar nicht vorstellen, wie sehr es mir zu schaffen macht, ihn so zu sehen.«

Nicci nahm ein Kratzen an der Stirn zum Vorwand, dem schmerzerfüllten Blick seiner haselnussbraunen Augen auszuweichen. Sein schlohweißes Haar wirkte noch wirrer als gewöhnlich, er selbst noch hagerer als sonst, ja geradezu ausgezehrt. Er wirkte wie ein Mann, der seit Wochen kaum ein Auge zugemacht hatte. »Ich denke, ich kann nachvollziehen, wie Ihr Euch fühlt«, versicherte sie ihm, ehe sie nachdenklich tief durchatmete und langsam den Kopf zu schütteln begann. »Ich weiß nicht, Zedd, seit ich ihn an jenem Morgen fand, mühsam nach Atem ringend und fast schon in der Gewalt des Hüters, habe ich versucht, dahinter zu kommen.«

»Ihr sagtet, er hätte eine Menge Blut verloren«, warf Nathan ein. »Und dass er tagelang ohne Bewusstsein gewesen sei.«

Nicci nickte. »Gut möglich, dass ihn diese verzweifelte Angst, womöglich aus Atemnot zu sterben, veranlasst hat, sich einen ihn liebenden Menschen zusammenzufantasieren – eine Art Ablenkungsmanöver zur eigenen Beruhigung. Ich habe mich früher ganz ähnlich verhalten, wenn ich mich fürchtete, meist stellte ich mir dann vor, ich sei an einem anderen Ort, einem Ort, an dem ich sicher war. Angesichts des hohen Blutverlusts und der ungewöhnlich langen Schlafphase im Anschluss an die Heilung, als er halbwegs wieder zu Kräften kam, könnte dieser Traum einen immer größeren Raum in seiner Fantasie eingenommen haben.«

»Und sich seines gesamten Denkens bemächtigt haben«, schloss Ann. Nicci sah ihr in die Augen. »Das war auch meine Vermutung.«

»Und jetzt?«, fragte Zedd.

Nicci hob den Blick und starrte hinauf zu den schweren Eichenbalken, während sie nach Worten suchte. »Jetzt bin ich mir nicht mehr sicher, ich bin keine Expertin in diesen Dingen, schließlich habe ich mein Leben nicht gerade als Heilerin verbracht. Vermutlich wisst Ihr sehr viel mehr über derartige Leiden als ich.«

Ann machte ein Gesicht, als sei sie erfreut, dieses Zugeständnis aus Niccis Mund zu hören. »Nun, wir neigen in der Tat dazu, dieser Einschätzung zuzustimmen.«

Nicci musterte die drei voller Misstrauen. »Und wo, glaubt Ihr, liegt sein Problem?«

»Nun ja«, begann Zedd, »wir sind noch nicht so weit, eine Reihe von Dingen ausschließen zu können, die ...«

»Habt Ihr schon einmal an einen Betörungsbann gedacht?«, unterbrach Ann ihn und fixierte Nicci mit festem Blick, so wie sie es früher getan hatte, um Novizinnen erzittern zu lassen und sie zu dem Eingeständnis zu bewegen, sie hätten sich um ihre Pflichten gedrückt.

»Es ist mir in den Sinn gekommen«, antwortete sie, da sie keinen Grund sah, es abzustreiten. »Aber um sein Leben zu retten, musste ich den Bolzen mithilfe subtraktiver Magie entfernen. Ich fürchte, zu dem Zeitpunkt bin ich gar nicht auf die Idee gekommen, so sehr war ich in meiner Panik bemüht, zu verhindern, dass er stirbt. Gut, vielleicht hätte ich daran denken sollen, dass der Bolzen verzaubert sein könnte, aber ich habe es nicht getan. Und jetzt, wo er nicht länger existiert, lässt sich nicht mehr feststellen, ob es sich tatsächlich so verhielt, und selbst wenn: Ohne den Bolzen lässt sich ohnehin nichts mehr machen.«

Zedd wandte sich ab und rieb sich über das glatt rasierte Kinn. »Das dürfte die Dinge zweifellos erschweren.«

»Erschweren?«, ereiferte sich Nicci. »Ein solcher Bann lässt sich nicht einmal dann ohne weiteres aufheben, wenn man den Gegenstand noch hat, der das Opfer mit einer Betörung infiziert hat. Ohne ihn kann die Betörung nur von derselben Hexenmeisterin zurückgenommen werden, die sie ursprünglich bewirkt hat. Für die Heilung einer solchen Infektion ist unbedingt das Medium vonnöten, mit dessen Hilfe sie übertragen wurde. Und das gilt auch nur dann, wenn man sicher weiß, dass es sich um einen Betörungsbann gehandelt hat; es könnte ja auch ganz etwas anderes sein. Aber was immer es auch gewesen sein mag – um es zu heilen, muss man die Ursache kennen.«

»Nicht unbedingt«, warf Ann ein, den Blick erneut auf Nicci gerichtet. »In diesem fortgeschrittenen Stadium steht die Ursache gar nicht mehr zur Debatte.«

Ein Zucken ging über Niccis Stirn. »Steht nicht mehr zur Debatte – was in aller Welt wollt Ihr damit sagen?«

»Wenn sich jemand einen Arm gebrochen hat, richtet man ihn und stützt ihn mit einer Schiene, aber man vergeudet keine Zeit damit, überall herumzufragen, wie der Betreffende sich den Arm gebrochen hat. Man muss handeln, um das Leiden zu kurieren; mit Reden ist nichts gewonnen.«

»Wir sind der Meinung, er braucht unsere Hilfe«, brachte Zedd in versöhnlicherem Tonfall vor. »Uns allen ist klar, dass die Dinge, von denen er ständig spricht, schlechterdings unmöglich sind. Als er anfangs davon sprach, er habe das Schwert der Wahrheit Shota überlassen, dachte ich noch, er hätte einfach nur eine ungeheuerliche Torheit begangen, mittlerweile jedoch ist mir klar geworden, dass er weder vorsätzlich gehandelt hat noch sich die wahre Tragweite seines Tuns so einfach begreifen lässt. Ich habe mit wütenden Vorhaltungen reagiert, wo ich hätte erkennen müssen, wie krank er ist, um mich dann vor diesem Hintergrund mit dem Thema, zu befassen.«

Zedd schien entsetzliche Qualen zu leiden. Seine Sorge um seinen Enkelsohn stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.

Unfähig, den schmerzhaften Ausdruck seiner Augen länger zu ertragen, senkte Nicci den Blick zum Boden. »Tut mir Leid, Zedd, aber ich wüsste nichts, was mir sinnvoll erschiene. Unglücklicherweise bin ich nicht der Ansicht, dass der Leichnam, den er ausgegraben hat, irgendetwas schlüssig beweist, denn in diesem Fall hätte sich uns vielleicht die Chance geboten, ihn zu zwingen, das Beweisstück als Tatsache zu akzeptieren. Gleichwohl bin ich überzeugt, dass der von ihm exhumierte Leichnam tatsächlich die Mutter Konfessor war, Kahlan Amnell, ebenjene Frau, mit der er sich in seinem wirren, schmerzgepeinigten Zustand nach seiner Verwundung einbildete, liiert zu sein.

Wahrscheinlich hatte er den Namen auf seiner ersten Reise in die Midlands aufgeschnappt, und anschließend ist er ihm dann im Gedächtnis haften geblieben. Wahrscheinlich war es eine sehr angenehme Vorstellung, meiner Meinung nach ein nur zu verständlicher Tagtraum für einen jungen Mann, der als Waldführer aufgewachsen ist vergleichbar mit dem Wunsch, eines Tages in ein fremdes Land zu gehen und eine Königin zu ehelichen. Aber dann, nach seiner Verwundung, wurde ein Wunschtraum daraus, der sich schließlich zur Besessenheit steigerte.«

Nicci musste sich zwingen aufzuhören. Es tat ihr in der Seele weh, in Gegenwart anderer so über Richard zu sprechen, selbst wenn diese anderen ihn, wie sie, sehr mochten und ihm helfen wollten. Sogar Ann, der Nicci nicht selten niedere Beweggründe unterstellte, war Richard in Wahrheit sehr zugetan. Auch wenn er ihrer Meinung nach gebraucht wurde, um die Prophezeiungen zu erfüllen, so hegte sie für ihn als Individuum durchaus herzliche Gefühle.

Nicci wüsste, dass sie mit ihrer Bemerkung über Richard richtig gehandelt hatte, und doch fühlte sie sich wie eine Verräterin. In Gedanken sah sie sein Gesicht vor sich, wie er sie, insgeheim gekränkt wegen ihrer nüchternen Skepsis, ansah.

»Wir sind der Meinung, dass Richard, was immer seinen Irrglauben hervorgerufen haben mag, unbedingt wieder zur Vernunft gebracht werden muss«, erklärte Ann.

Nicci verzichtete auf eine Erwiderung. Obwohl sie im Grunde der gleichen Meinung war, gab es ihres Wissens nichts, was man tun konnte, außer ihn mit der Zeit von selbst wieder zur Besinnung kommen zu lassen. Nathan trat einen Schritt vor und lächelte Nicci von oben herab an, was ihn in dem kleinen Zimmer noch imposanter wirken ließ. Letztlich aber waren es seine tiefblauen Augen, die sie fesselten. Er breitete in einer unverhohlen bittenden Geste die Hände aus.

»Manchmal muss man einem Menschen wehtun, um ihm zu helfen, später aber wird der Betreffende einsehen, dass es die einzige Möglichkeit war, und wenn er schließlich wieder genesen ist, wird er sogar froh sein, dass man getan hat, was getan werden musste.«

»Wie beim Richten eines gebrochenen Arms«, setzte Ann hinzu, die Nathans Worte mit einem Nicken kommentiert hatte. »Kein Mensch ist versessen darauf, die dabei entstehenden Schmerzen über sich ergehen zu lassen, aber manchmal sind diese Dinge unerlässlich, wenn man wieder gesund werden und in sein altes Leben zurückkehren will.«

Verwundert legte Nicci die Stirn in Falten. »Demnach wollt Ihr ihn also heilen?«

»So ist es«, bestätigte ihr Zedd. Dann ging ein Lächeln über seine Lippen. »Ich habe eine Richard betreffende Prophezeiung gefunden, in der es heißt: ›Zuerst werden sie ihn anzweifeln, ehe sie die rechten Ränke zu seiner Gesundung finden.‹ Ich hätte nie gedacht, dass sie so rasch oder auf diese Weise in Erfüllung gehen würde, aber ich denke, wir alle stimmen darin überein, dass wir Richard lieben und ihn gesund und als sein altes Selbst bei uns sehen wollen.«

In Nicci keimte der Verdacht, dass mehr dahintersteckte, als sie alle behaupteten. Sie begann sich zu fragen, wieso sie Rikka fortgeschickt hatten, um Tee zu holen – oder präziser, warum sie Richards Leibwächterin nicht in der Nähe haben wollten.

»Wie gesagt, ich bin nicht gerade eine Heilerin.«

»Trotzdem habt Ihr hervorragende Arbeit geleistet, nachdem dieser Bolzen ihn getroffen hatte«, widersprach Zedd. »Nicht einmal ich wäre imstande gewesen, ein solches Kunststück zu vollbringen, außer Euch wäre keiner hier im Raum dazu fähig gewesen. Ihr meint vielleicht, keine große Heilerin zu sein, trotzdem wart Ihr imstande, etwas zu tun, das keiner von uns hätte schaffen können.«

»Nun ja, letztendlich war ich nur deswegen erfolgreich, weil ich subtraktive Magie angewandt habe.«

Keiner sagte etwas, alle starrten sie nur schweigend an.

»Augenblick mal«, sagte Nicci, während sie ihren Blick vom einen zum anderen schweifen ließ, »soll das etwa heißen, Ihr wollt, dass ich Richard noch einmal mit subtraktiver Magie behandle?«

»Exakt so lautet unser Vorschlag«, bestätigte Zedd.

Mit einem flüchtigen Wink wies Ann auf Zedd und Nathan. »Wenn es einer von uns könnte, würden wir es tun, aber wir können es nicht. Dafür brauchen wir Euch.«

Nicci verschränkte die Arme. »Wofür genau? Mir ist nicht ganz klar, was Ihr von mir erwartet.«

Ann legte ihr die Hand auf den Arm. »Hört uns erst einmal an, Nicci. Wir kennen die Ursache von Richards Krankheit nicht, und es ist uns vollkommen unmöglich, etwas zu kurieren, solange wir nicht wissen, worum es sich überhaupt handelt. Selbst wenn wir sicher wüssten, dass der Bolzen mit einem Betörungsbann behandelt worden ist – ohne den Urheber dieses magischen Netzes und ohne den Bolzen selbst könnte keiner von uns dreien den Bann aufheben. Und doch können wir nicht einmal sicher sein, ob es ein solcher oder womöglich ein ganz anderer Bann war oder ob es sich vielleicht nur um eine durch die Verletzung ausgelöste Wahnvorstellung handelt. Wir kennen die Ursache nicht und werden sie vielleicht nie erfahren. Worauf es jetzt ankommt«, fuhr sie ernsthaft fort, »ist, dass diese Besessenheit beseitigt wird – unabhängig von ihrer Ursache. Es spielt keine Rolle, ob sie durch einen Bann, einen Traum oder durch eine plötzlich ausbrechende Geisteskrankheit ausgelöst wurde. Die Erinnerung an diese Frau, Kahlan, ist eine falsche Erinnerung, die sein Denken verbiegt und deshalb aus seinem Verstand entfernt werden muss.«

Das, was sie da hörte, machte Nicci ganz benommen. Sie sah von der früheren Prälatin zu Zedd. »Schlagt Ihr etwa allen Ernstes vor, ich soll den Verstand Eures Enkelsohns mit subtraktiver Magie behandeln? Ich soll einen Teil seines Bewusstseins entfernen, einen Teil dessen, was seine Persönlichkeit ausmacht?«

»Nein, nicht einen Teil seiner Persönlichkeit – natürlich nicht. So etwas würde ich niemals verlangen.« Zedd benetzte seine Lippen. Plötzlich schwangen Hilflosigkeit und Verzweiflung in seiner Stimme mit. »Ich will nichts weiter, als dass Ihr ihn heilt. Ich will Richard zurück, den Richard, so wie ich ihn kenne, so wie wir alle ihn kennen – den wahren Richard, nicht den mit diesen seltsamen Vorstellungen, die sich seines Verstandes bemächtigen und ihn zu zerstören drohen.«

Nicci schüttelte den Kopf. »Das kann ich dem Mann nicht antun, den ich ...« Sie schloss rasch den Mund, ehe sie den Satz beenden konnte.

»Ich will den Richard zurück, den ich liebe«, sagte Zedd, und es klang wie eine flehentliche Bitte. »Den Richard, den wir alle lieben.« Nicci wich einen Schritt zurück, kopfschüttelnd, unfähig zu überlegen, was sie diesem Ausmaß an Verzweiflung entgegensetzen sollte. Es musste doch einen anderen Weg geben, Richard wieder zur Vernunft zu bringen.

»Zeig es ihr«, forderte Nathan Ann auf mit einer Stimme, die plötzlich ganz nach dem stattlichen Propheten, nach dem Rahl klang, der er war.

Mit einem Nicken gab Ann sich geschlagen und zog einen Gegenstand aus ihrer Tasche, den sie Nicci reichte. »Lest selbst.«

Als Ann ihr besagten Gegenstand in die Hand drückte, sah sie, dass es ein Reisebuch war. Sie hob den Kopf und sah erst Nathan und Ann an und schließlich Zedd.

»Nun macht schon«, forderte der Prophet sie auf. »Lest die Nachricht, die Ann von Verna erhalten hat.«

Nicci schlug das unschätzbar wertvolle Erzeugnis uralter Magie auf und senkte den Blick auf die Schrift. Ann, begann der in deutlich lesbarer Handschrift verfasste Text, mit Bangen muss ich berichten, dass es um unsere Streitkräfte nicht zum Besten steht. Wo bleibt nur Richard? Habt Ihr ihn schon gefunden? Verzeiht, dass ich Euch erneut bedränge, denn ich weiß, dass Ihr alle gebührende Eile walten lasst, doch die Probleme innerhalb der Armee werden mit jedem Tag dramatischer. Schon gibt es die ersten Deserteure – nicht viele, wohlgemerkt –, doch wir stehen jetzt in D’Hara, und die Gerüchte nehmen zu, dass Lord Rahl nicht ihre Führung in der Schlacht übernehmen wird, die jeder unserer Soldaten für glatten Selbstmord hält –und Richards anhaltende Abwesenheit bestätigt sie nur in ihren Befürchtungen. Mit jedem Tag verstärkt sich das Gefühl, sie seien von ihrem Lord Rahl im Stich gelassen worden. Unter den Soldaten glaubt niemand mehr daran, dass sie gegen den Feind eine Chance haben, solange Richard nicht bei der Truppe ist, um ihre Führung zu übernehmen.

Meine und General Meifferts Verzweiflung, womit wir diese verzagten Männer noch vertrösten sollen, wächst mit jedem Tag. Selbst wenn ein triftiger Grund vorliegen sollte, für Männer, die wissen, dass sie dem Tod ins Auge blicken, ist es schwer, ganz ohne Nachricht von dem ersten Anführer ihres Lebens zu sein, an den sie wirklich geglaubt haben.

Bitte, Ann, richtet Richard aus, sobald Ihr zu ihm stoßt, wie dringend ihn all diese tapferen jungen Männer brauchen, die nun schon so lange die Hauptlast im Kampf für unsere Sache tragen und so viel durchgemacht haben. Bringt bitte in Erfahrung, wann er endlich zu uns stoßen wird – und bittet ihn, sich zu sputen. Erwarte dringend Antwort.

Im Licht des Schöpfers, Eure

Verna.

Nicci ließ die Hände mit dem Buch darin sinken; Tränen stachen ihr in den Augen. Ann nahm ihr das Reisebuch aus den zitternden Fingern. »Was soll ich Verna antworten? Was soll sie, Eurer Meinung nach, den Soldaten sagen?«, fragte Ann in ruhigem, fast sanftem Ton. Nicci blinzelte die Tränen fort. »Ihr wollt, dass ich ihn seines Verstandes beraube? Dass ich ihn verrate?«

»Nein, das wollen wir ganz und gar nicht«, beschwichtigte Zedd sie und fasste mit kräftigen Fingern ihre Schulter. »Wir wollen, dass Ihr ihm helft... ihn heilt.«

»In seinem gegenwärtigen Zustand haben wir Angst, uns ihm auch nur zu nähern. Wir befürchten, er könnte Verdacht schöpfen. Ich fürchte, zum Teil bin ich selbst schuld daran, weil ich auf seine Wahnvorstellungen so schroff reagiert habe. Der Schöpfer möge mir verzeihen, aber ich habe zeit meines Lebens die Geschicke anderer gelenkt und erwarte nun einmal Gehorsam. Alte Gewohnheiten sind bekanntlich nicht so einfach abzulegen. Und nun denkt er, ich will ihn mit allen Mitteln zwingen, sich an die Prophezeiungen zu halten. Sein Misstrauen uns gegenüber wächst ständig... bei Euch ist das ganz anders.«

»Euch würde er vertrauen«, beschwor Zedd sie. »Ihr könntet Hand an ihn legen, ohne dass er auch nur den geringsten Verdacht schöpft.«

Nicci starrte fassungslos. »Hand an ihn legen ...«

Zedd nickte. »Ihr würdet die Kontrolle über ihn erlangen, ehe er überhaupt merkt, wie ihm geschieht. Er wird nicht das Geringste spüren. Und wenn er wieder aufwacht, wird die Erinnerung an Kahlan erloschen sein, und er wird wieder der Richard sein, wie wir ihn kennen.«

Außerstande, ihrer Stimme zu vertrauen, biss sich Nicci auf die Unterlippe. Zedd standen die Tränen in seinen haselnussbraunen Augen. »Ich liebe meinen Enkelsohn von ganzem Herzen und würde alles für ihn tun. Ich würde es ja selbst machen, wenn ich dafür nur halbwegs so befähigt wäre wie Ihr. Ich will nichts weiter, als dass er wieder gesund wird, wir alle wollen das.«

Er drückte abermals ihre Schulter. »Wenn Ihr ihn wirklich liebt, Nicci, dann tut es, bitte. Bitte tut, was nur Ihr allein tun könnt, und heilt ihn noch ein einziges Mal.«

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