Kaum hatte Kahlan einen der Türflügel mit den geschnitzten Schlangen an der Außenseite aufgestoßen, da wurde sie auch schon von den Schwestern Ulicia und Tovi erspäht, die ihr mit verstohlenen Gesten bedeuteten, zu der Stelle herüberzukommen, wo sie, ein Stück weiter den Flur entlang, auf sie warteten. Offenbar wollten die beiden unter keinen Umständen in der Nähe der mit dem Totenschädel und den Schlangen verzierten Tür gesehen werden.
Den Blick auf das Marmormuster gerichtet, um Schwester Ulicia nicht in die Augen sehen zu müssen, durchquerte sie den Korridor.
Als sie ein Stück den Flur entlanggegangen und nahe genug war, packte Schwester Ulicia sie an der Schulter ihres Hemdes und zerrte sie zu einer Mauernische in der gegenüberliegenden Wand hinüber, wo sie sogleich von den beiden Schwestern in die Mangel genommen wurde.
»Hat dich jemand aufzuhalten versucht?«, wollte Schwester Tovi wissen. Kahlan schüttelte den Kopf.
Schwester Ulicia stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. »Gut. Dann lass sie mal sehen.«
Kahlan nahm ihr Bündel von der Schulter und zog es weit genug nach vorn, dass die Schwestern die Lasche öffnen konnten. Die beiden machten sich etwas unbeholfen an dem Riemen zu schaffen, mit dem diese festgezurrt war, aber schließlich bekamen sie ihn auf und schlugen die Lasche zurück. Die beiden Schwestern stand dicht nebeneinander, Schulter an Schulter, sodass niemand im Flur sehen konnte, was sie taten, niemand jenen unseligen Gegenstand erkennen konnte, den sie im Begriff waren, ans Tageslicht zu fördern. Behutsam entfernte Schwester Ulicia den glänzenden weißen Kleiderstoff, der noch immer halb im Bündel steckte, um einen Blick auf das darin eingehüllte tiefschwarze Kästchen zu werfen.
Die beiden standen in stummer Ehrfurcht da und starrten.
Mit vor Aufregung zitternden Fingern schob Schwester Ulicia ihren Arm erneut hinein und begann ungeschickt darin herumzuwühlen.
»Wo sind die beiden anderen?«
Kahlan schluckte. »Ich konnte nur eines im Bündel unterbringen, die beiden anderen haben nicht mehr hineingepasst. Ich weiß, Ihr habt gesagt, ich müsste sie unbedingt dort drin verstecken, aber dafür waren sie zu groß. Ich werde ...«
Weiter kam sie nicht. Ehe sie erklären konnte, dass sie beabsichtige, zwei weitere Male loszuziehen, um die beiden anderen Kästchen zu beschaffen, schlug Schwester Ulicia mit ihrem Eichenstab so wuchtig zu, dass die Bewegung ein Sirren in der Luft erzeugte.
Kahlan vernahm ein ohrenbetäubendes Krachen, als er mit voller Wucht seitlich gegen ihren Kopf prallte. Die Welt ringsum schien in vollkommener Stille und Dunkelheit zu versinken. Nach einer Weile merkte Kahlan, dass sie zusammengebrochen war und auf ihren Knien am Boden kauerte. Sie hielt sich eine Hand über das linke Ohr und stöhnte unter lähmenden Schmerzen. Dann sah sie das überall auf den Boden gespritzte Blut; sie zog ihre Hand zurück und meinte plötzlich, sie in einem warmen, blutdurchtränkten Handschuh stecken zu sehen. Sie konnte nur darauf starren, währenddessen ging ihr Atem in kurzen kleinen Stößen. Die Schmerzen waren so ungeheuerlich, dass ihre Stimme ihr den Dienst versagte. Sie war nicht einmal fähig, einen gequälten Schrei auszustoßen. Ihr war, als blicke sie durch einen langen, verschwommenen schwarzen Tunnel, und ein Gefühl von Übelkeit breitete sich in ihrem Magen aus. Unvermittelt packte Schwester Ulicia ihr Hemd und riss sie wieder auf die Beine, nur um sie gleich darauf gegen die Wand zu schleudern. Kahlans Kopf prallte gegen den Stein, aber verglichen mit dem Schmerz, der von der Seite ihres Kopfes bis zu Unterkiefer und Ohr ausstrahlte, schien das nicht weiter von Belang. »Du dämliches Miststück!«, fluchte Schwester Ulicia, während sie Kahlan zurückriss und ein weiteres Mal gegen die Wand schleuderte. »Du dummes, unfähiges, nichtsnutziges Stück Dreck!«
Tovi schien sich ebenfalls tatkräftig über sie hermachen zu wollen. Sie sah eine Hälfte von Schwester Ulicias zerbrochenem Eichenstab ein Stück den Flur entlang an der Wand liegen. Kahlan, wissend, dass es ihre einzige Rettung war, bemühte sich, ihre Stimme wieder zu finden.
»Es war unmöglich, alle drei gleichzeitig im Bündel zu verstauen, Schwester Ulicia.« Der salzige Geschmack ihrer Tränen vermischte sich mit dem ihres Blutes. »Ihr habt mir aufgetragen, sie in meinem Bündel zu verstecken, aber sie haben nicht hineingepasst. Ich wollte doch einfach noch einmal zurückgehen und sie holen, das ist alles. Bitte, ich mache mich augenblicklich auf den Weg. Ich schwöre es, ich werde sie Euch holen.«
Schwester Ulicia trat ein Stück zurück, in den Augen einen glühenden Zorn, der beängstigend war. Noch im Zurückweichen bohrte sie Kahlan einen Finger mitten in die Brust, sodass diese hart gegen die Marmorwand geworfen und mit so unerschütterlicher Kraft dort festgehalten wurde, als lehnte sich ein Bulle gegen sie. Jeder Atemzug geriet zum Kampf gegen diesen zermalmenden Druck, jeder Versuch, etwas zu erkennen, geriet zum Kampf gegen das in ihre Augen rinnende Blut.
»Du hättest die beiden anderen Kästchen in dein Bettzeug wickeln sollen, dann hättest du sie jetzt alle beisammen. Oder etwa nicht?«
Kahlan hatte diese Möglichkeit gar nicht erst in Betracht gezogen, denn sie war schlicht nicht infrage gekommen. »Aber darin ist doch schon etwas anderes eingewickelt, Schwester.«
Schwester Ulicia beugte sich abermals vor, sodass Kahlan schon fürchtete, man werde sie jetzt dazu bringen, sich zu wünschen, sie wäre bereits tot, oder müsse fürchten, es bald zu sein. Sie war alles andere als sicher, welches Schicksal vorzuziehen wäre. Plötzlich fühlte sie einen Schmerz im Innern ihres Kopfes auflodern, der dem äußerlichen, von dem Hieb verursachten in nichts nachstand. Gegen die Wand gepresst, war es ihr unmöglich, sich zu Boden sinken zu lassen, sich die Hände vor die Ohren zu schlagen und zu schreien, sonst hätte sie es gewiss getan.
»Das Ding, das du in dein Bettzeug gewickelt hast, interessiert mich nicht, du hättest es eben zurücklassen müssen. Die Kästchen sind wichtiger.«
Kahlan, wegen der Kraft, die sie flach gegen die Wand presste, unfähig, sich zu bewegen, unfähig, auch nur ein einziges Wort hervorzubringen, weil ein brutaler Schmerz ihr das Gehirn zu zermalmen drohte, konnte sie nur anstarren. Es war, als würden ihr Eispfrieme langsam in die Ohren getrieben und dann herumgedreht. Fußknöchel und Handgelenke zitterten gegen ihren Willen. Doch so sehr sie sich auch bemühte, jede noch so kleine Bewegung löste eine Woge von Schmerzen aus, die ihr ein Keuchen entlockte und sie der Fähigkeit beraubte, sich mit einer Körperdrehung unter diesen bohrenden Schmerzen herauszuwinden. »Was meinst du?«, fuhr Schwester Ulicia leise mit unheilschwangerer Stimme fort, in der eine tödliche Drohung mitschwang, »könntest du das tun? Meinst du, du könntest noch einmal zurückgehen, die beiden anderen Kästchen in dein Bettzeug wickeln und sie mir bringen, wie du es gleich von Anfang an hättest tun sollen?«
Kahlan versuchte, ein Wort über die Lippen zu bringen, aber sie konnte nicht. Stattdessen nickte sie in dem verzweifelten Bemühen, ihr Einverständnis zu bekunden, dem verzweifelten Bemühen, den Schmerz irgendwie zu beenden. Schon spürte sie erneut Blut aus ihrem Ohr sickern und ihr seitlich über den Kopf rinnen, bis es den Kragen ihres Hemdes durchtränkte. Den Rücken gegen die Wand gepresst, stand sie auf Zehenspitzen und wünschte, sie könnte mit der Wand verschmelzen, um Schwester Ulicia auf diese Weise zu entkommen. Der Schmerz ließ nicht einmal lange genug nach, um Luft zu holen. »Erinnerst du dich an die Soldaten, die wir auf unserem Weg nach oben gesehen haben?«, fragte Schwester Ulicia. »Das waren nur einige wenige jener aberhunderte Männer, die in den unteren Gefilden dieses Palasts einquartiert sind.«
Wieder nickte Kahlan.
»Nun, solltest du mich noch einmal enttäuschen, werde ich dich, nachdem ich dir jeden einzelnen Knochen im Leib gebrochen und dich eines tausendfachen, qualvollen Todes habe sterben lassen, gerade so weit wieder heilen, dass ich dich an diese Soldaten als Käsernenhure verschachern kann. Dort wirst du dann den Rest deines kümmerlichen Daseins fristen, von einem Wildfremden zum anderen gereicht, ohne dass sich irgendjemand um deinen Verbleib schert.«
Kahlan wusste, das waren keine leeren Drohungen, Schwester Ulicia war vollkommen skrupellos. Unfähig, dem forschenden Blick der Schwester länger standzuhalten, wandte sie mit einem unterdrückten Schluchzen die Augen ab, doch diese packte sie am Kinn und bog ihr Gesicht zurück. »Bist du sicher, dass du begriffen hast, was dir blüht, solltest du mich noch einmal enttäuschen?«
Trotz Ulicias festem Griff an ihrem Kinn gelang es ihr zu nicken, und plötzlich spürte sie, wie die Kraft, die sie gegen die Wand presste, nachzulassen begann. Sie sackte auf die Knie und stöhnte unter den Wogen brennenden Schmerzes, die ihre gesamte linke Gesichtshälfte erfasst hatten. Ihrem Gefühl nach bestand kein Zweifel, dass etliche Knochen gebrochen waren.
»Was geht hier vor?«, erkundigte sich ein Soldat. Die Schwestern Ulicia und Tovi wandten sich herum und schenkten dem Mann ein freundliches Lächeln. Der runzelte die Stirn und warf einen Blick auf Kahlan, die in der Hoffnung, endlich aus der Gewalt dieser Bestien befreit zu werden, flehentlich zu ihm heraufstarrte. Der Soldat hob den Kopf und öffnete den Mund, als wollte er etwas zu den Schwestern sagen, besann sich dann aber anders. Stattdessen blickte er, jetzt selber lächelnd, von Schwester Ulicias lächelndem Gesicht zu Tovis. »Alles in Ordnung, meine Damen? »Aber ja«, erwiderte Tovi mit einem aufgeräumten Lachen. »Wir wollten uns nur ein wenig auf der Bank hier ausruhen. Ich hatte ein wenig über Rückenschmerzen geklagt, das ist alles. Wir sprachen gerade darüber, welche Plage doch das Altern ist.«
»Schätze, das ist es wohl.« Er neigte kurz den Kopf. »Dann noch einen angenehmen Tag, die Damen.«
Damit entfernte er sich, ohne Kahlans Anwesenheit auch nur zu bemerken. Wenn er sie überhaupt gesehen hatte, so hatte er sie bereits wieder vergessen, ehe er etwas sagen konnte. Plötzlich dämmerte Kahlan, dass sie auf die gleiche Weise Dinge über sich selbst vergaß.
»Steh auf«, knurrte die Stimme über ihr.
Mühsam rappelte sie sich hoch. Mit einem Ruck zerrte Schwester Ulicia ihr Bündel wieder nach vorn, schlug die Lasche zurück und förderte das düstere, in Kahlans weiß glänzendes Kleid gewickelte Kästchen ans Licht. Sie reichte das Paket Schwester Tovi. »Wir halten uns hier ohnehin schon viel zu lange auf und ziehen bereits die ersten Blicke auf uns. Nehmt dies und macht Euch auf den Weg.«
»Aber das gehört mir!«, protestierte Kahlan und machte Anstalten, nach dem Kleid zu greifen. Schwester Ulicias Handrücken traf sie mit solcher Wucht, dass ihre Zähne aufeinander schlugen. Der Hieb schickte sie der Länge nach zu Boden. Überall war der Marmor voller Blut. Plötzlich ging ein Zucken durch ihren Körper, als der Schmerz sie übermannte und nicht mehr nachlassen wollte. »Ihr wollt, dass ich ohne Euch aufbreche?«, erkundigte sich Schwester Tovi, während sie das in das weiße Kleid gewickelte Kästchen unter ihren Arm klemmte.
»Ich denke, das wäre wohl das Beste. Das Sicherste wird sein, wenn wir dieses Kästchen auf den Weg bringen, während dieses nutzloses Miststück hier noch einmal zurückgeht, um die anderen zu holen. Wenn es genauso lange dauert wie beim ersten Mal, möchte ich nicht, dass wir beide hier im Flur herumstehen und darauf warten, bis die Soldaten auf die Idee kommen nachzusehen. Wir können jetzt keinen Kampf gebrauchen, es ist erforderlich, dass wir unbemerkt von hier verschwinden, ohne Spuren zu hinterlassen.«
»Im Falle eines Verhörs würde es sich gar nicht gut machen, wenn sie dahinter kämen, dass wir eines der Kästchen der Ordnung in unserem Besitz haben«, pflichtete ihr Schwester Tovi bei. »Ich werde mich also einfach auf den Weg machen und irgendwo auf Euch warten – oder wollt Ihr, dass ich mich gleich an unseren Bestimmungsort begebe?«
»Am besten, Ihr macht erst einmal überhaupt nicht Halt.« Schwester Ulicia bedeutete Kahlan aufzustehen, während sie mit Schwester Tovi sprach. »Schwester Cecilia, Arminia und meine Wenigkeit werden wieder zu Euch stoßen, sobald wir an unserem Bestimmungsort eingetroffen sind.«
Während Kahlan mühsam wieder auf die Beine kam, meinte Schwester Tovi leicht vorgebeugt zu ihr: »Schätze, das gibt dir ein paar Tage Zeit, darüber nachzudenken, was ich mit dir machen werde, sobald ihr wieder zu mir gestoßen seid, was meinst du?«
Kahlan brachte nur ein mattes Flüstern zustande. »Ja, Schwester.«
»Gute Reise«, sagte Schwester Ulicia.
Kaum hatte sich Schwester Tovi mit eiligen Schritten den Flur entlang entfernt – und mit ihr Kahlans wunderschönes Kleid! –, krallte Schwester Ulicia ihr eine Faust ins Haar und drehte ihr Gesicht ganz nah zu sich heran, um mit der anderen Hand die Seite ihres Gesichts zu betasten, bis Kahlan vor Schmerz aufschrie. »Du hast dir ein paar Knochen gebrochen«, erklärte sie, nachdem sie Kahlans Verletzungen untersucht hatte. »Bring deinen Auftrag hinter dich, dann werde ich dich heilen. Versagst du, dann wird dies erst der Anfang gewesen sein.
Bis zur Erreichung unserer Ziele haben die anderen Schwestern und ich noch eine ganze Reihe von Dingen zu erledigen, und das Gleiche gilt für dich. Wenn du deine Aufgabe heute noch zu Ende bringst, wirst du geheilt. Ich sähe es gerne, wenn du für deine künftigen Aufgaben bei guter Gesundheit wärst« – sie tätschelte in herablassender Weise Kahlans Wange –, »aber solltest du versagen, kann ich jederzeit andere Vorkehrungen treffen. Und jetzt beeil dich und schaff mir die beiden anderen Kästchen her.«
Wegen des pochenden Schmerzes immer noch den Tränen nahe, zog Kahlan das Bündel wieder herum, zwängte ihren Arm durch den Tragegurt und schwang das Ganze auf den Rücken. »Und sieh zu, dass du meine Anweisungen genau befolgst und alle beide mitbringst«, knurrte Schwester Ulicia. Mit einem Nicken entfernte sich Kahlan durch den breiten Flur. Niemand beachtete sie; es war, als wäre sie unsichtbar.
Kahlan fasste den bronzenen Totenschädel mit beiden Händen und zog einen der Schlangentürflügel auf, hastete über die dicken Teppiche und hatte die Wachen passiert, ehe diese auch nur auf die Idee kamen, sich zu fragen, was sie da gesehen hatten. Sie hastete die Stufen hinauf, ohne die in den Fluren patrouillierenden Soldaten auch nur eines Blickes zu würdigen.
Ächzend vor Anstrengung zog sie einen der goldbeschlagenen Türflügel weit genug auf, um in den Garten hineinschlüpfen zu können. Sie litt so entsetzliche Schmerzen, dass es ihr gar nicht schnell genug gehen konnte, sie wollte nichts als zurück, damit Ulicia sie endlich von diesen Schmerzen befreite. Wie schon zuvor, so war es auch jetzt im Garten so still, wie es sich für ein Sanktuarium geziemte. Sie nahm sich nicht einmal die Zeit, von Bäumen und Blumen Notiz zu nehmen oder sich gar an ihrem Anblick zu erfreuen, und machte erst wieder auf der Rasenfläche Halt, wo sie, wie gelähmt von ihrem Anblick und der Erinnerung an das, was man ihr aufgetragen hatte, kurz zu den beiden schwarzen auf der Steinplatte stehenden Kästchen hinüberstarrte.
Den Rest der Strecke legte sie langsamer, viel langsamer zurück, da sie im Grunde gar nicht dort ankommen wollte, nicht gezwungen sein wollte zu tun, wozu ihr, wie sie wusste, keine Alternative blieb –aber der quälende, pochende Schmerz, der sich über die ganze Seite ihres Gesichts erstreckte, trieb sie immer weiter. Endlich bei der Steinplatte angelangt, ließ sie ihr Bündel von der Schulter gleiten und legte es neben den Kästchen auf den Rücken, statt es wie zuvor aufrecht hinzustellen. Mit dem Ärmel wischte sie sich über ihre laufende Nase, ehe sie ganz behutsam über die Seite ihres Gesichts strich, stets in der Angst, es zu berühren und den Schmerz womöglich noch zu verschlimmern, gleichzeitig aber erfüllt von dem dringenden Bedürfnis, den pochenden Schmerz wenigstens ein bisschen zu lindern. Als sie dabei eine vorstehende Zacke ertastete, wäre sie fast in Ohnmacht gefallen. Sie wusste nicht, ob es sich um einen Splitter aus Schwester Ulicias Eichenstab oder um einen Knochensplitter handelte, aber wie auch immer, plötzlich wurde ihr schwindlig, und sie glaubte, sich übergeben zu müssen.
In der Gewissheit, dass ihre Zeit knapp bemessen war, presste sie einen Arm quer über ihre Magengegend und ging mit der anderen daran, die Lederriemen aufzuknoten, mit denen ihr Bettzeug unter ihr Bündel geschnallt war – eine Aufgabe, die durch ihre blutverschmierten Finger zusätzlich erschwert wurde, sodass sie schließlich doch gezwungen war, beide Hände zu Hilfe zu nehmen.
Als sie sie endlich losgebunden hatte, rollte sie ihr Bettzeug behutsam auseinander, nahm den darin eingewickelten Gegenstand heraus und stellte ihn vorsichtig auf der Steinplatte ab, um Platz für die verhassten Kästchen zu schaffen. Mit einem unterdrückten Schluchzen versuchte sie zu verdrängen, was sie gezwungen war zurückzulassen, dann überwand sie sich und ging daran, die beiden verbliebenen Kästchen in ihr Bettzeug zu wickeln. Als sie damit fertig war, verschnürte sie die beiden Riemen und zurrte sie fest, um sicherzustellen, dass die beiden Kästchen nicht herausfallen konnten. Dann schwang sie ihr Bündel wieder auf den Rücken und schickte sich, wenn auch widerstrebend, an, das freie Stück nackten Erdbodens in der Mitte des riesigen Innengartens zu überqueren.
Wieder auf dem Rasen, blieb sie kurz stehen, drehte sich um und warf einen letzten, tränenverschmierten Blick auf jenen Gegenstand, den sie im Begriff war, anstelle der Kästchen auf der Steinplatte zurückzulassen. Es war ihr wertvollster Besitz – und nun ließ sie ihn dort einfach stehen. Überwältigt und unfähig, auch nur einen weiteren Schritt zu tun, erfüllt von einem nie gekannten Gefühl hilfloser Hoffnungslosigkeit, sank Kahlan auf dem Rasen auf die Knie, kippte vornüber und brach schluchzend zusammen. Wie war ihr das ganze Leben doch verhasst! Wegen dieser bösartigen Schwestern musste der Gegenstand, den sie am meisten liebte, hier zurückbleiben.
Schließlich begann sie unkontrolliert zu weinen und krallte ihre Hände in das Gras. Sie wollte ihn nicht zurücklassen; aber wenn sie es nicht tat, würde Schwester Ulicia ihr diese krasse Befehlsverweigerung niemals durchgehen lassen. Von Selbstmitleid gepackt, überwältigt von ihrer ausweglosen Situation, begann Kahlan zu schluchzen.
Außer den Schwestern kannte sie niemand, kein Mensch wusste auch nur von ihrer Existenz. Wenn sich doch nur irgendjemand an sie erinnerte!
Wenn doch nur Lord Rahl seinen Garten aufsuchte und sie rettete. Wenn doch nur, wenn doch nur! Was nützte diese Wünscherei?
Sie stemmte sich hoch und starrte mit tränenverschmierten Augen zu der Granitplatte hinüber, zu dem Gegenstand, den sie dort hatte stehen lassen.
Kein Mensch würde kommen und sie retten.
Sie war nicht immer so gewesen. Woher dieser Gedanke auf einmal kam, wusste sie nicht, sie wusste nur, dass er zutreffend war. Irgendwann in ihrer fernen, längst versunkenen Vergangenheit, so ihr Gefühl, hatte sie sich meist auf sich selbst und ihre Stärke verlassen können, um zu überleben, hatte sie ihre Zeit nicht mit Herumlamentieren verschwendet.
Den Blick quer durch den Garten gerichtet, den wunderschönen und friedvollen Garten des Lord Rahl, schöpfte sie plötzlich neue Kraft aus dem, was sie dort stehen sah, aber gleichzeitig auch aus einem Punkt tief in ihrem Innern. Und auf einmal wusste sie, was sie zu tun hatte, sie musste Entschlossenheit beweisen – so wie sie es auch früher schon getan hatte. Irgendwie musste sie es schaffen, stark zu sein, um ihrer selbst willen. Sie musste sich selbst retten, egal wie.
Was dort stand, gehörte nicht mehr ihr, es sollte ihr Geschenk an den Lord Rahl sein, im Tausch für die Erhabenheit des Lebens – ihres Lebens –, auf die sie sich in seinem Garten besonnen hatte. »Führe uns, Meister Rahl«, zitierte sie aus der Andacht. »Ich danke dir, Meister Rahl, für die Orientierung, die du mir an diesem Tag gegeben hast, und dass du mir meine Selbstachtung zurückgegeben hast.«
Mit den Handrücken wischte sie sich über die Augen und entfernte Blut und Tränen. Sie musste stark sein, denn sonst wäre sie den Schwestern weiterhin unterlegen. Sie würden ihr alles nehmen und am Ende die Oberhand behalten.
Das durfte sie unter keinen Umständen zulassen.
Dann kam ihr ein Gedanke. Sie berührte die Halskette, die sie trug, und drehte den kleinen daran befestigten Stein zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her. Wenigstens die Kette war ihr noch geblieben. Schwerfällig erhob sich Kahlan und richtete sich unter dem Gewicht des Bündels auf. Zuallererst musste sie zurück zu Schwester Ulicia, damit sie wenigstens die Verletzung heilte, die sie ihr selbst beigebracht hatte. Sie war fest entschlossen, diese Hilfe anzunehmen, denn nur so würde sie die Kraft haben, weiterzumachen und ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen.
Ein letzter Blick, dann wandte sie sich ab und ging zur Tür.
In diesem Moment war ihr etwas klar geworden: Sie durfte sich nicht dem Willen dieser Frauen unterwerfen, ihrem Glauben, dass sie ein Recht auf ihr Leben hätten. Möglich, dass sie am Ende die Oberhand behielten, aber auf keinen Fall durfte es so weit kommen, weil sie selbst es zugelassen hatte. Auch wenn sie am Ende mit ihrem Leben dafür bezahlte – ihre Seele würden sie niemals bezwingen!