26

Die Soldaten auf ihren riesigen Schlachtrössern musterten Nicci mit abschätzigen Blicken, als Ishaq ihr Pferd auf den kleinen Platz am Ostrand der Stadt führte und neben dem öffentlichen Brunnen anhalten ließ. In Gegenwart dieser mächtigen Tiere, denen die bis weit über ihre Gesichter reichenden gepanzerten Platten ein bedrohliches Aussehen verliehen, wirkte ihr Hengst Sa’din eher schmächtig. Dies waren ausgesprochene Kavalleriepferde, deren Panzerung ihnen beim Ansturm gegen die feindlichen Linien als zusätzlicher Schutz gegen Pfeile diente. Im Boden scharrend bekundeten sie schnaubend ihre Geringschätzung für ihren kleineren Artgenossen, der plötzlich mitten unter ihnen aufgetaucht war. Als eines der Schlachtrösser nach ihm schnappte, wich Sa’din einen Schritt zurück, außer Reichweite seiner Zähne, ließ aber keine übermäßige Angst erkennen. Hatten die Pferde bereits etwas Furchterregendes, so waren die Soldaten unverkennbar ihre Herren. In ihrer dunklen Lederrüstung, den Kettenhemden und bewaffnet mit einem ganzen Arsenal bedrohlich aussehender Waffen, machten diese Männer nicht nur einen überaus gewalttätigen Eindruck, sie waren auch ausnahmslos größer als die Verteidiger der Stadt. Nicci vermutete, dass sie höchstwahrscheinlich wegen ihres Aussehens für diese Mission ausgewählt worden waren. Es entsprach ganz dem Stil der Imperialen Ordnung, die Herzen ihrer Gegner durch das Aussenden solch einschüchternder Botschaften mit Angst und Schrecken zu erfüllen. Die Stadtbewohner hatten sich in ihre Häuser zurückgezogen und verfolgten aus dunklen Fensteröffnungen, zurückversetzten Türeingängen, engen Straßen und den Schatten der Hintergässchen die Übergabe der bis zur Hüfte entblößten und an den Händen gefesselten Frau an die Soldaten. Den Ritt quer durch die Stadt hatte Nicci nur deshalb ausgehalten, weil sie ihn verdrängt und ihre Gedanken stattdessen ganz auf die Notwendigkeit konzentriert hatte, das Ganze so schnell wie möglich hinter sich zu bringen, um Richard hinterher reiten zu können, das allein zählte. Gewiss, die Menschen starrten sie an, aber was machte das schon? Von den Soldaten der Imperialen Ordnung hatte sie schon weit Schlimmeres erdulden müssen. »Ich bin ein Adjutant des Bürgermeisters«, wandte sich Ishaq in unterwürfigem Ton an den muskelbepackten Hünen auf seinem hoch gewachsenen, stiernackigen Wallach. Der Knauf der Stange mit der weißen Unterhändlerfahne ruhte zwischen den Beinen des Mannes auf dem Sattel, dessen fleischige Hand den nicht eben dünnen Schaft etwa auf halber Höhe gepackt hielt. Der Soldat saß schweigend im Sattel und wartete. Ishaq benetzte seine Lippen und machte eine Verbeugung, ehe er fortfuhr. »Er schickt mich als seinen Stellvertreter mit dieser Frau, seiner Gemahlin ... als Geschenk an den großen Kronos, zum Zeichen, dass wir ernsthaft bemüht sind, seinen Wünschen zu entsprechen.«

Nach einem ausgiebigen und übertrieben eindeutigen Blick auf ihre Brüste bedachte der Soldat, eine Art Offizier mittleren Ranges, Nicci mit einem anzüglichen Feixen. In seinen breiten Ledergurten steckten mehrere Messer, eine neunschwänzige Katze, ein Kurzschwert sowie eine sichelförmige Axt. Das Kettenhemd sowie die Metallringe an den mit Nieten verzierten Riemen quer über seiner mächtigen Brust klingelten leise, sobald sein Pferd mit den Hufen stampfte. Zu ihrer Erleichterung erkannte sie den Mann nicht wieder. Sie hielt den Kopf gesenkt, um ihr Gesicht vor den ihn begleitenden Soldaten zu verbergen.

Der Offizier schwieg noch immer.

Schließlich riss sich Ishaq mit einer Hand den Hut vom Kopf. »Wenn Ihr unsere Friedensbotschaft weiterleiten würdet an ...«

Der Offizier warf Ishaq die Stange mit der weißen Unterhändlerfahne zu. Der stülpte seinen Hut rasch wieder auf, um die Stange mit einer Hand aufzufangen, da er mit der anderen Hand nach wie vor Sa’dins Zügel unmittelbar unter der Trense gepackt hielt. Die Stange sah schwer aus, doch Ishaq hatte den größten Teil seines Lebens Transportwagen beladen und deshalb keine Mühe, sie aufzufangen. »Kronos wird dich wissen lassen, ob das Angebot zufrieden stellend ist«, brummte der Offizier. Statt einer Erwiderung räusperte sich Ishaq und machte abermals eine höfliche Verbeugung, was ihm das amüsierte Kichern sämtlicher Soldaten eintrug, ehe diese sich erneut mit wissendem Blick an Niccis Nacktheit weideten. Offensichtlich machte es ihnen einen Heidenspaß, ihre Macht über andere zur Schau zu stellen. Um sich ein unnachgiebiges Aussehen zu geben, hatten sich die meisten von ihnen Nase, Ohren und Wangen mit metallenen Ringen oder zugespitzten Nieten durchbohrt – in Niccis Augen wirkten sie dadurch nur albern. Mehrere der etwa ein Dutzend Krieger hatten ihre Gesichter über und über mit wilden, düsteren Tätowierungen verunstaltet, die ebenfalls der Einschüchterung dienen sollten. Diese Männer hatten offenkundig ihr höchstes Ideal erreicht: ein Dasein als Barbaren.

Unter den weiblichen Bewohnern der Städte, die vor den anrückenden Truppen der Imperialen Ordnung kapitulierten, war es mittlerweile fast schon zur Gewohnheit geworden, sich zum Zeichen der Bitte um Schonung bis zur Hüfte entblößt zu präsentieren. Da diese Form der Unterwerfung inzwischen als mehr oder weniger üblich galt, waren die Soldaten von der Art, wie ihnen die Gemahlin des Bürgermeisters übergeben wurde, kaum überrascht – und genau deshalb hatte Nicci es unter anderem getan. Solchen Gesuchen um Gnade und schonende Behandlung wurde niemals stattgegeben, doch das wussten die sich auf diese Weise anbiedernden Frauen nicht – im Gegensatz zu Nicci, die die Gefangennahme solcher Frauen durch die Truppen der Imperialen Ordnung bereits mehrfach miterlebt hatte. Wer sich so entgegenkommend verhielt, bildete sich ein, den Feind durch eine unterwürfige Kapitulation für sich einnehmen und für sich eine akzeptable Behandlung herausschlagen zu können – in Wahrheit jedoch ahnten sie nicht einmal, dass sie sich dadurch freiwillig unvorstellbaren Schrecken auslieferten. Wie die weiblichen Gefangenen seitens der Soldaten behandelt wurden, galt unter den geistigen Führern der Imperialen Ordnung als unerheblich – verglichen mit dem angeblich höheren Wohl, das der Orden den Ungläubigen brachte.

Schon mehrfach hatte Nicci lieber sterben wollen, als mit diesen Erinnerungen und dem Wissen weiterleben zu müssen, einst selbst Teil dieses Grauens gewesen zu sein. Jetzt aber wollte sie die Dinge auf eine Weise gerade rücken, wie nur sie dies konnte: Sie wollte ein Teil jener Kräfte sein, die der Geißel der Imperialen Ordnung den endgültigen Garaus machten.

Der mürrische Offizier, der die weiße Unterhändlerfahne nach Altur’Rang gebracht hatte, beugte sich herab und nahm Ishaq die Zügel ihres Pferdes aus der Hand, dann lenkte er sein Ross neben sie und lehnte sich zu ihr herüber. Beiläufig packte er ihre linke Brustwarze mit zwei Fingern und drehte sie, während er in vertraulichem Ton auf sie einredete.

»Bruder Kronos wird einer Frau rasch überdrüssig, ganz gleich, wie schön sie ist. Ich gehe davon aus, dass es mit dir nicht anders sein wird. Sobald er sich der nächsten zuwendet, überlässt er uns die, mit der er fertig ist. Sei dir darüber im Klaren, dass ich der Erste sein werde.«

Die Kerle in seiner Begleitung stimmten ein boshaftes Gelächter an, während er ihr, ein bedrohliches Funkeln in den Augen, ein hässliches Grinsen zeigte. Dann drehte er fester, bis sie vor Schmerz aufstöhnte und ihr die Tränen in den Augen stachen. Zufrieden mit sich und ihrer ängstlichen Reaktion, ließ er endlich von ihr ab. Nicci, die Augen fest geschlossen, presste ihre gefesselten Handgelenke vor den Körper und versuchte, den pochenden Schmerz ein wenig zu lindern.

Als er ihre Arme von der Brust wegschlug, fuhr sie überrascht auf, schlug dann aber unterwürfig die Augen nieder. Wie oft hatte sie Frauen solche Männer schon auf ähnliche Weise zu besänftigen versuchen sehen, während sie im Stillen um Erlösung flehten? Doch Erlösung war diesen Frauen nicht vergönnt. Sie erinnerte sich, dass sie damals geglaubt hatte, die Lehren der Imperialen Ordnung müssten richtig sein, der Schöpfer müsse tatsächlich auf ihrer Seite stehen, wenn er das Verhalten seiner Vorkämpfer mit so offenkundiger Gleichgültigkeit hinnahm.

Doch sie unternahm gar nicht erst den Versuch, um Erlösung zu flehen, schließlich war sie fest entschlossen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.

Als der Soldat sein Pferd wenden ließ und sie abführte, warf Nicci einen letzten Blick über die Schulter auf Ishaq, der, den Hut in beiden Händen, die Krempe zwischen seinen Fingern kreisen ließ. Tränen glitzerten in seinen Augen. Sie hoffte, dass dies nicht das letzte Mal war, dass sie ihn und die seinen sah; gleichwohl wusste sie, dass diese Möglichkeit durchaus bestand.

Der Offizier hatte ihre Zügel in den Händen behalten, daher hielt sie sich beim Reiten am Sattelknauf fest. Während sie Richtung Osten ritten, nahm der Begleittrupp aus Kriegern sie in seine Mitte –wohl mehr, um sie gründlich in Augenschein zu nehmen, denn aus echter Sorge, dass sie entkommen könnte. Ihre Art, sich locker im Sattel zu wiegen, ihr Geschick im Umgang mit ihren Pferden zeigte, dass dies erfahrene Reiter waren, die den größten Teil ihrer wachen Stunden im Sattel verbrachten. Keiner von ihnen schien ernsthaft zu befürchten, dass sie ihnen entwischen könnte.

Während des Ritts über die staubige, nach Osten führende Straße zeigten ihr die Männer mit ihrem lüsternen Feixen, wenn sie sie von Kopf bis Fuß musterten, was sie sich im Stillen erhofften, auch wenn sie wusste, dass keiner von ihnen den nötigen Dienstgrad oder das Format besaß, um sie für ein kurzes Vergnügen unterwegs vom Pferd zu zerren. Männer von Kronos’ Schlag mochten es nicht, wenn ihre Eroberungen frisch vergewaltigt waren, und das wussten diese Männer. Außerdem spekulierten sie wohl darauf, schon bald bei ihr zum Zug zu kommen – und wenn nicht bei ihr, dann bei der freien Auswahl, die sie nach ihrem Einmarsch in Altur’Rang erwartete.

Nicci versuchte, die lüstern zu ihr herüberschielenden Soldaten zu ignorieren, indem sie sich ganz auf ihren Plan konzentrierte. Sie wusste, dieses Benehmen war Teil ihres gewohnheitsmäßigen Verhaltens, für mehr als Anzüglichkeiten und Einschüchterungsversuche reichte ihr Verstand nicht, weshalb sie es wie einen Stein benutzten, den man wieder und wieder zur Beruhigung zwischen den Fingern kreisen ließ. Während sie so dahinritt, suchte sie ihr Heil immer mehr in ihrer Entschlossenheit. Obschon es noch eine Weile dauern würde, bis die tief stehende Sonne hinter ihrem Rücken unterginge, hatten die Zikaden bereits ihren endlosen, monotonen Gesang aufgenommen. Sie musste an Richard und an jenen Abend zurückdenken, als er sich über diese Geschöpfe ausgelassen hatte, die nur alle siebzehn Jahre aus der Erde hervorkamen. Nicci fand es bemerkenswert, dass die Zikaden in ihrem Leben zehnmal geschlüpft waren, ohne dass sie jemals etwas davon mitbekommen hatte. Das Leben unter dem Bann des Palasts der Propheten war nicht nur von schier endloser Eintönigkeit geprägt gewesen, sondern hatte dazu geführt, dass man sich auf eine Weise abkapselte, die ihr nie so recht bewusst geworden war. Während die Welt rings um sie her ihren Lauf nahm, hatte sie ihre Zeit anderen Welten gewidmet. Andere, wie die Schwestern der Finsternis, die dort Richards Ausbilderinnen gewesen waren, hatten den verführerischen Verheißungen dieser Welten nachgegeben – das hatte sie auch getan, allerdings nicht wegen dieser Verheißungen. Sie war einfach überzeugt gewesen, dass diese Welt ihr nichts von Wert zu bieten hatte.

Bis Richard eines Tages erschienen war.

Die Luft war warm und feucht, also musste Nicci auf dem Ritt wenigstens nicht frieren, allerdings kamen jetzt die ersten Mücken zum Vorschein und wurden zunehmend zur Plage. Sinnvollerweise hatte man ihr ja die Hände nicht auf den Rücken gebunden, sodass sie die stechenden Biester wenigstens von ihrem Gesicht fern halten konnte. Die weizenbedeckten Hügel im Osten der Stadt, durch die sie jetzt ritten, schimmerten grünlich-golden im späten Licht, beinahe wie polierte Bronze. Sie sah weder Menschen auf den Feldern arbeiten, noch ließ sich jemand auf den Straßen blicken; wie Tiere vor einem Steppenbrand waren sie alle vor der drohenden Invasion der Armee geflohen.

Dann endlich, als sie einen Hügelkamm erklommen, sah Nicci sie: Die Masse aus Soldaten und Pferden der Imperialen Ordnung erstreckte sich, einer dunklen Flut gleich, vor ihr über das ausgedehnte Tal. Allem Anschein nach weilten sie noch nicht lange hier, denn alle Zeichen deuteten darauf hin, dass sie eben erst mit dem Aufschlagen ihres Feldlagers begonnen hatten. Offenbar wollten sie nahe der Stadt lagern, um bei ihrem Angriff gleich am nächsten Morgen keine große Strecke zurücklegen zu müssen. Noch hatte sich der Untergrund unter den Unmengen von Soldaten und Pferden, Maultieren und Wagen nicht vollständig in Morast verwandelt. Einzelne Bereiche waren mithilfe von Pfählen markiert, kleine Zelte waren errichtet worden. Das Soldatenmeer wurde von mehreren aus Wachen und Vorposten bestehenden Ringen bewacht, und auf jeder Hügelkuppe gab es Späher, die auf jeden, der sich dem Lager näherte, ein Auge hatten. Die Zelte warfen lange Schatten über den niedergetrampelten Weizen, und schon jetzt hing eine dunstige, aus dem Rauch der Kochfeuer bestehende Glocke über dem Tal. Nicci konnte sehen, dass man einen der Olivenhaine seines wertvollen Baumbestandes beraubt hatte, der jetzt als Feuerholz Verwendung fand. Die Soldaten bereiteten sich ihr Essen einzeln oder in kleinen Gruppen zu –einfache Gerichte wie Eintopf, Reis mit Bohnen, Gerstenfladen oder Fettgebackenes. Der Geruch von brennendem Holz und die Essensdünste vermischten sich auf höchst unangenehme Weise mit den Ausdünstungen von Tier, Mensch und Mist. Ihre Eskorte bildete eine geschlossene Formation um sie, als sie den Pfad entlang trabten, der kurz darauf in eine behelfsmäßige, mitten durch das brodelnde Gewimmel führende Straße überging. Nicci hatte erwartet, sie im Zustand grölender Ausgelassenheit zu sehen, sie hatte angenommen, dass sie sich am Vorabend der großen Schlacht betrinken und feiern würden, doch das war nicht der Fall: Mit gewissenhaftem Ernst bereiteten sich die Soldaten auf die vor ihnen liegende Aufgabe vor, wetzten ihre Waffen, besserten ihre Sättel und andere Ausrüstungsgegenstände aus und versorgten ihre Pferde. Lanzen und Speere standen, bereits gespitzt, überall im Lager zu ordentlichen Stapeln aufgestellt bereit. Schmiede arbeiteten mit Hämmern und Zangen an fahrbaren Essen, während ihre Gehilfen fieberhaft die Blasebälge pumpten. Hufschmiede beschlugen die Pferde, während andere Soldaten das Lederzeug ausbesserten. Überall wurden Kavalleriepferde gefüttert, versorgt und gepflegt. Dies entsprach nicht dem üblichen Feldlager der Imperialen Ordnung, wo gewöhnlich das Chaos regierte. Die weiter nördlich stehende Armee war von nahezu unvorstellbaren Ausmaßen und bestand in weiten Teilen aus wenig mehr als einem aufsässigen Mob, den man in regelmäßigen Abständen auf hilflose Zivilisten hetzte und nach Gutdünken plündern ließ. Diese Streitmacht dagegen war ungleich kleiner und bestand aus weniger als zwanzigtausend Mann: das Feldlager einer gut eingespielten Kriegsmaschine. Im Hauptlager der Armee der Imperialen Ordnung wäre eine Frau mit entblößten Brüsten, so wie Nicci jetzt, längst von einem Mob vom Pferd gezerrt und vergewaltigt worden, und obschon diese Männer hier nicht weniger lüstern waren, so waren sie doch weitaus disziplinierter. Dies waren nicht irgendwelche Soldaten, abkommandiert, um irgendeinen schmutzigen Auftrag zu erledigen, dies waren erfahrene, entschlossene und handverlesene Truppen, entsandt, um dem Zorn des Kaisers über die Demütigung Luft zu machen, dass sich seine Heimatstadt allem widersetzte, wofür er stand.

Angesichts des Gefühls, sich wieder inmitten solcher Männer zu befinden, überlief Nicci ein ängstlicher Schauder. Dies war die Elite der Imperialen Ordnung, dies waren Soldaten, die mit Freuden jeden vernichteten, der sich ihnen in den Weg zu stellen wagte. Es waren gewalttätige Kerle, die sich daran ergötzten, ihre Überzeugungen mithilfe roher Gewalt zu festigen, und die zum Inbegriff des Ausdrucks blutrünstig geworden waren. Es waren Männer, die den Lehren der Imperialen Ordnung Geltung zu verschaffen wussten. Als Nicci und ihre Eskorte durch das Lager ritten, wurde sie allenthalben von den Soldaten beäugt, auf Schritt und Tritt begleiteten sie laute Zurufe, Grölen und Gejohle. Wo immer sie vorüberkam, wurden lachend obszöne Andeutungen gemacht, die nichts der Fantasie derer überließen, die sich in Hörweite befanden. Sie musste sich Beschreibungen ihres Körpers in allen wollüstigen Begriffen anhören, die sie jemals gehört hatte – und unter Jagangs Soldaten hatte sie alle gehört –, nur waren sie jetzt auf sie gemünzt. Beim Reiten hielt sie die Augen strikt nach vorn gerichtet und dachte daran, wie Richard sie behandelt hatte und wie ungeheuer wichtig dieser Respekt war. In der Nähe eines Pappelwäldchens am Ufer des durch das Tal fließenden Bachs erspähte Nicci einige Zelte aus Schafsfell, die ein wenig größer waren als die anderen. Obschon keinesfalls so kunstvolle Behausungen wie die Zelte der kaiserlichen Entourage Jagangs, waren diese, an Armeemaßstäben gemessen, noch immer luxuriös. Die kleine Gruppe aus Kommandozelten stand auf einer Erhebung, die den Offizieren die Möglichkeit bot, den Rest des Feldlagers zu überblicken. Im Gegensatz zum Hauptlager der Armee gab es hier keinen Ring aus Wachposten, der die Elitetruppen und Offiziere vor den normalen Soldaten abschottete. Soeben wurden vor dem Hauptzelt große Fleischstücke an Spießen gegrillt, von Sklaven, wie sie den höherrangigen Offizieren oder Hohepriestern der Imperialen Ordnung stets zu Diensten waren. In einer Streitmacht wie dieser hatte man sicherlich nur die zuverlässigsten Sklaven mitgenommen.

Als sie schließlich Halt machten, bedeutete der Mann, der die Zügel von Niccis Pferd hielt, einem seiner Männer mit einem Kopfnicken, sie anzukündigen. Der Mann schwang ein Bein über den Hals seines Pferdes und sprang ab. Bei jedem seiner entschlossenen Schritte, mit denen er auf das Hauptzelt zuhielt, stieg Staub von seiner Hose auf.

Nicci bemerkte, dass von allen Seiten neugierige Soldaten herbeigeschlendert kamen, um die Frau in Augenschein zu nehmen, die ihrem Anführer als Geschenk überbracht wurde. Sie konnte sie lachen und untereinander scherzen hören, während sie sie mit lüsternen Blicken musterten – aus Augen, so kalt und Furcht einflößend, wie sie sie noch nie gesehen hatte.

Aber am meisten Sorgen bereitete ihr der Umstand, dass die meisten von ihnen Speere in den Händen hielten oder Pfeile in ihre Bogen eingespannt hatten. Das waren keine Krieger, die irgendetwas auf die leichte Schulter nahmen. Sogar während sie sie mit lüsternen Blicken musterten, waren sie auf jedwede Gefahr vorbereitet, die ihr Auftauchen mit sich bringen mochte.

Der Soldat, der losgeschickt worden war, ihr Eintreffen zu melden, wurde von einem Gehilfen ins Hauptzelt geführt. Einen Augenblick darauf kam er wieder zum Vorschein, gefolgt von einem hoch gewachsenen Soldaten in einem fließenden, hennarot gefärbten Gewand. Seine Art, sich zu kleiden, hob sich gegen den farblosen Hintergrund ab wie geronnenes Blut. Trotz der Hitze und Luftfeuchtigkeit trug er seine Kapuze zum Zeichen frommer Machtbefugnis würdevoll über den Kopf drapiert. Gemessenen Schritts trat er bis an den Rand der Erhebung vor, bis in ihre unmittelbare Nähe, und nahm eine arrogante Haltung ein. Er nahm sich Zeit, sie ausgiebig zu betrachten – die Ware zu prüfen. Der Soldat, der die Zügel ihres Pferdes hielt, verneigte sich im Sattel. »Eine bescheidene Gabe von den Bewohnern der Stadt Altur’Rang«, erklärte er mit aufgesetzter Höflichkeit, worauf die Soldaten weit und breit leise lachten und untereinander Bemerkungen über die ganz speziellen Freuden austauschten, die Kronos von seinem Geschenk erwarten konnte. Neugierig, was vor sich ging, traten einige Offiziere aus den umliegenden Zelten.

Ein lüsternes Grinsen ging über Kronos’ Gesicht. »Schafft sie nach drinnen. Ich werde das Geschenk von seiner Verpackung befreien und einer genaueren Betrachtung unterziehen müssen.«

Das Gelächter der Soldaten schwoll an. Kronos’ Grinsen wurde breiter. Es freute ihn sichtlich, dass sie sein geistreicher Scherz so amüsierte.

Nicci empfand die Umstände ihrer Bekleidung als überaus peinigend, aber darin lag eben das Risiko, ein Risiko, das sie als unumgänglich angesehen hatte. Diese Soldaten waren Rohlinge, und ihre Notlage war genau nach ihrem Geschmack.

Bruder Kronos maß sie mit forschendem Blick, während er darauf wartete, dass sie hineingebracht wurde. Es war unmöglich, sich seinem unerschütterlichen Blick zu entziehen; sie ertappte sich dabei, wie sie in seine dunklen Augen starrte.

Immer mehr Soldaten umringten sie von allen Seiten.

Nicci wusste nur eins: Sie durfte auf keinen Fall zulassen, dass jemand sie vom Pferd riss. Es musste jetzt geschehen, sofort.

Tausend Dinge hätte sie Bruder Kronos an den Kopf schleudern wollen. Gern hätte sie ihm erklärt, was sie von ihm hielt, was sie mit ihm tun würde, was Richard mit der gesamten Imperialen Ordnung machen würde. Ein rascher, einfacher Tod schien für diesen Mann zu simpel, sie wollte, dass er vor seinem Tod litt. Sie wollte, dass er in vollem Umfang begriff, was sie für ihn bereithielt, sie wollte, dass er es spürte, dass er sich vor Qualen und Schmerzen wand, dass er um Gnade winselte und den bitteren, galligen Geschmack der Niederlage kostete. Er sollte den Preis für all das bezahlen, was er unschuldigen Menschen angetan hatte. Sie wollte ihn spüren lassen, dass sein ganzes Leben vergeudet war und dass es sich dem Ende zuneigte. Und doch wusste sie, dass das nicht ihre Aufgabe war. Wenn sie auch nur einen kleinen Teil davon zu erreichen versuchte, liefe sie Gefahr, letztlich zu scheitern.

Stattdessen streckte Nicci ihm ganz zwanglos ihre Hände ein kleines Stück entgegen und rief mit reiner Willenskraft ihr Han auf den Plan. Aus Angst, Kronos auf sein nahes Schicksal aufmerksam zu machen, vermied sie es, sich den zusätzlichen Sekundenbruchteil Zeit zu nehmen, einen besonders ausgefeilten Zauber zu erzeugen, und öffnete die Schleusentore – unter Zuhilfenahme eines eher simplen, auf ihn gerichteten Luftstoßes, dessen Dichte all seine Erwartungen übertreffen würde, selbst wenn er geargwöhnt hätte, dass sie womöglich eine Hexenmeisterin war.

Einen gleißenden Augenblick lang wurde das spätnachmittägliche Feldlager von einem Blitz aus knisterndem Licht erhellt – einer Entladung, erzeugt durch die ungeheure Hitze, wie sie in einer dichten Luftkonzentration entsteht. Lichtfäden umzuckten die ihrem Ziel entgegenstrebende Entfesselung reiner Energie. Schon die kleinste Nachlässigkeit hätte ihm möglicherweise Gelegenheit gegeben, vor seinem Tod noch zurückzuschlagen, daher verzichtete Nicci sogar auf die Genugtuung eines Lächelns, als der eisenharte Dorn aus Luft auf seinen Kopf zuschoss.

Noch bevor Bruder Kronos überhaupt bemerkte, dass etwas geschah, hatte Niccis unvermittelte Energieentladung ihm bereits ein Loch mitten in die Stirn gesprengt. Blut und Hirnmasse spritzten auf die Lammfellwand des Zeltes hinter ihm, ehe er, längst seiner Lebenskräfte beraubt, wie ein Sandsack in sich zusammenfiel. Er hatte nicht einmal den Hauch einer Chance, ihren Angriff mit gleicher Münze zu erwidern. Mithilfe eines Spans aus purer Energie durchtrennte Nicci die Stricke, mit denen ihre Handgelenke gefesselt waren, bis sie, unter der sengenden Hitze leise zischend, von ihr abfielen. Unmittelbar darauf verdichtete sie einen Strom ihres Han zu einer Linie aus gebündelter Energie, die sie, einem von meisterlicher Hand geführten Schwert gleich, um ihren Kopf kreisen ließ. Der Offizier, der ihr Pferd geführt und sie dabei die ganze Zeit lüstern angestarrt hatte, stöhnte auf, als die glühend heiße Schneide durch seinen Körper fetzte und ihn unterhalb des Brustkorbs säuberlich durchtrennte. Sein Mund klaffte auf, doch es ertönte kein Schrei, als sein Torso zu Boden fiel und mit einem harten, dumpfen Geräusch aufschlug. Ein weiterer dumpfer Aufprall ließ dem zweiten Mann, als auch er von der Kraft getroffen und entzweigerissen wurde, gerade noch Gelegenheit zu einem kurzen Keuchen, dann ergossen sich seine zu einem Knäuel verschlungenen Eingeweide über den Hals seines Pferdes. Nicci drehte sich im Sattel herum und ließ ihre magische Klinge in weitem Bogen kreisen. Leise zischend sirrte die Schneide aus todbringender Energie mit beängstigender Geschwindigkeit und einem Lichtstrahl durch die Luft, der das Laub der umstehenden Pappeln aufleuchten ließ. Ehe auch nur ansatzweise jemand reagieren konnte, hatte sie ringsum sämtliche noch in ihren Sätteln sitzenden Reiter niedergemetzelt.

Der Gestank von verbranntem Fleisch und dem Inhalt zerfetzter Eingeweide erfüllte die Luft, Pferde bäumten sich auf oder bockten bei dem Versuch, sich der vom Körper abgetrennten Gliedmaßen zu entledigen. Schlachtrösser waren normalerweise an das Chaos eines hitzigen Gefechts gewöhnt, hauptsächlich, weil ein vertrauter Reiter auf ihrem Rücken sie lenkte und ihnen zeigte, was sie zu tun hatten. Nun waren sie auf sich gestellt und brachen aus. Nicht wenige der herbeieilenden Soldaten wurden von den in Panik geratenen Pferden umgestoßen und zu Boden getrampelt, was die allgemeine Verwirrung noch vergrößerte. Während rings um sie her die Hölle losbrach und von allen Seiten Soldaten auf sie zustürzten, nahm Nicci ihre ganze innere Willenskraft zusammen und bereitete sich darauf vor, einen Ansturm von vernichtender, zerstörerischer Wucht zu entfesseln.

Sie war bereits im Begriff, die tödliche Attacke einzuleiten, als ein unvermittelter Stoß sie nach vorn warf. Im selben Moment spürte sie den betäubenden Schmerz eines schweren Gegenstandes, der auf ihren Rücken gedroschen wurde, mit solch ungeheurer Wucht, dass ihr mit einem Aufschrei der Atem aus den Lungen gepresst wurde. Dann sah sie die zersplitterten Bruchstücke einer schweren Lanze vorüberfliegen, die jemand wie eine Keule geschwungen hatte. Benommen vermerkte Nicci, dass sie soeben mit dem Gesicht voran zu Boden gegangen war, und unternahm einen verzweifelten Versuch, wieder zur Besinnung zu kommen. Ihr Gesicht fühlte sich merkwürdig taub an, und sie schmeckte warmes Blut, das sie, als sie sich mit zittrigen Armen hochzustemmen versuchte, in langen Fäden von ihrem Kinn herabtropfen sah.

Als sie feststellte, dass sie nicht einmal mehr Luft in ihre Lungen saugen konnte, dämmerte ihr, dass es ihr mit ungeheurer Wucht den Atem verschlagen hatte. Von Panik ergriffen, versuchte sie es gleich noch einmal, doch allen verzweifelten Bemühungen zum Trotz bekam sie einfach keine Luft. Die Welt ringsum verschwamm zu einem Schwindel erregenden Chaos. Über ihr stand Sa’din, nervös tänzelnd, aber unfähig, sich von der Stelle zu rühren. Obwohl sie befürchtete, das Tier könnte versehentlich auf sie treten, konnte sie sich nicht überwinden, aus dem Weg zu kriechen. Von allen Seiten herbeistürmende Soldaten drängten das Tier schließlich zur Seite, während andere sich neben ihr auf die Knie fallen ließen. Jemand bohrte ihr sein Knie in den Rücken und drückte sie erneut der Länge nach zu Boden, ehe kräftige Hände sie an Armen, Beinen und im Haar packten und sie am Boden festhielten – so als wäre sie noch fähig, aus eigener Kraft wieder aufzustehen. Offenbar befürchtete man, sie könnte, wieder auf den Beinen, ihre Kraft erneut entfesseln – so als müssten die mit der Gabe Gesegneten dafür aufrecht stehen und brauchten nur am Boden festgehalten zu werden, um dies sicher zu verhindern. Allerdings mussten sie ihre fünf Sinne beieinander haben, wenn sie sich ihrer Kraft bedienen wollten, und das war bei ihr nicht mehr der Fall. Schließlich wurde sie unsanft auf den Rücken gewälzt. Ein auf ihre Kehle gesetzter Stiefel hielt sie am Boden fest. Von allen Seiten wurden Waffen auf sie gerichtet.

In diesem Moment schoss ihr ein schrecklicher Gedanke durch den Kopf... diese dunklen Augen – der Zauberer, den sie soeben getötet hatte, hatte dunkle Augen gehabt. Nicht aber Kronos. Kronos’ Augen, hieß es, seien angeblich blau. Sie hatte größte Schwierigkeiten, ihre Gedanken zu ordnen. Sie hatte den Hohepriester doch eben erst getötet, das ergab alles keinen Sinn.

Es sei denn, da war mehr als ein Ordensbruder gewesen.

Unvermittelt ließen die Soldaten von ihr ab, die sie am Boden festhielten. Harte blaue Augen starrten auf sie herab, ein Mann in einem langen Gewand. Er hatte die Kapuze zurückgeschlagen – ein Hohepriester.

»Nun, Hexenmeisterin, soeben ist es Euch gelungen, Bruder Byron zu töten, einen treuen Diener der Glaubensgemeinschaft der Imperialen Ordnung.«

Sein mühsam beherrschter Tonfall verriet ihr, dass er noch nicht einmal damit begonnen hatte, seinem überschäumenden Zorn Luft zu machen.

Aufgrund des Schocks war Nicci noch immer unfähig, Luft zu holen. Der Schmerz in ihrer Seite breitete sich in Übelkeit erregenden Wellen über ihren ganzen Körper aus, sodass sie sich schon fragte, ob der Kerl, der sie niedergeschlagen hatte, ihr womöglich die Rippen gebrochen hatte – oder gar das Rückgrat. Aber vermutlich spielte das jetzt alles keine Rolle mehr.

»Erlaubt, dass ich mich vorstelle«, sagte der rothaarige Mann über ihr und schlug seine Kapuze zurück. »Ich bin Bruder Kronos. Ihr gehört jetzt mir. Und ich bin fest entschlossen, Euch lange und teuer für die Ermordung eines rechtschaffenen Mannes bezahlen zu lassen, der nie etwas anderes im Sinn hatte als das noble Werk des Schöpfers.«

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