32

»Was lest Ihr denn da Spannendes?«, fragte Rikka, während sie die massive Tür mit der Schulter zudrückte. Zedd stieß ein verdrießliches Grunzen aus, ehe er von dem aufgeschlagen vor ihm liegenden Buch aufsah. »Leere Seiten.«

Durch das runde Fenster zu seiner Linken konnte er auf die Dächer der Stadt Aydindril hinabblicken, die sich tief unter ihm erstreckten. Im goldenen Licht der untergehenden Sonne bot die Stadt einen grandiosen Anblick, aber der Schein trog. Jetzt, da sämtliche Bewohner auf der Flucht vor den einfallenden Horden die Stadt verlassen hatten, glich Aydindril eher einer leeren Hülse ohne jedes Leben, nicht unähnlich den abgestreiften Häuten der erst kürzlich aus der Erde hervorgeschlüpften Zikaden. Rikka beugte sich über den prachtvollen, glänzenden Schreibtisch zu ihm hin, den Kopf leicht zur Seite geneigt, um besser sehen zu können, während sie neugierig auf das Buch starrte. »Die Seiten sind doch gar nicht völlig leer«, rief sie aus. »Außerdem, wo nichts steht, kann man auch nichts lesen, also lest Ihr doch wohl eher die Schrift und nicht die leeren Seiten. Ihr solltet Euch um eine etwas präzisere, um nicht zu sagen ehrlichere Ausdrucksweise bemühen, Zedd.«

Zedds verdrießliche Miene verfinsterte sich noch mehr, als er den Kopf hob, um ihr in die Augen zu sehen. »Manchmal ist das, was verschwiegen wird, aufschlussreicher als das, was man sagt. Habt Ihr je darüber nachgedacht?«

»Bittet Ihr mich etwa, den Mund zu halten?« Sie stellte eine große hölzerne Schale mit seinem Abendessen neben ihn, dessen Dampf den Duft von Zwiebeln, Knoblauch, Gemüse und saftigem Fleisch herantrug. Es roch köstlich.

»Keineswegs. Ich verlange es.«

Durch das runde Fenster rechter Hand konnte Zedd die düsteren Mauern der Burg der Zauberer bis in den Himmel ragen sehen. Hineingebaut in die Flanke jenes Berges, der die Stadt Aydindril überblickte, wirkte die Burg der Zauberer selbst fast wie ein Berg. Wie die Stadt, so war auch sie zurzeit unbewohnt – mit Ausnahme von Rikka, Chase, Rachel und seiner Wenigkeit. Aber nicht mehr lange, dann würde es in der Burg der Zauberer wieder lebhafter zugehen, denn schon bald würde sie immerhin wieder von einer ganzen Familie bevölkert werden, und dann würden die verlassenen Flure endlich wieder von freudigem Gelächter widerhallen, so wie einst, als unzählige Menschen die Burg ihr Zuhause nannten.

Rikka begnügte sich damit, ihren Blick über die Regale in dem kreisrunden Turmzimmer schweifen zu lassen, die mit Gläsern und Krügen in den unterschiedlichsten Formen sowie zart getönten Glasbehältern voll gestellt waren, teils gefüllt mit den für Banne erforderlichen Ingredienzien, in einem Fall aber mit der für den Schreibtisch, den kunstvoll verzierten Eichenstuhl mit gerader Lehne, die niedrige, neben seinem Stuhl stehende Truhe sowie die Bücherregale bestimmten Politur. Den meisten Platz in den Regalen nahmen jedoch die in einer Vielzahl von Sprachen abgefassten Schriften ein, und selbst die Eckschränke mit den Glastüren standen noch voller Folianten.

Rikka verschränkte die Arme, beugte sich weiter vor und betrachtete einige der vergoldeten Bücherrücken. »Habt Ihr diese Bücher wirklich alle gelesen?«

»Selbstverständlich«, murmelte Zedd. »Mehrfach sogar.«

»Zauberer zu sein muss ziemlich langweilig sein«, meinte sie. »Immerzu muss man seine Nase in Bücher stecken und über irgendetwas nachdenken. Dabei lassen sich Antworten viel einfacher bekommen, wenn man die Menschen bis aufs Blut foltert.«

Entrüstet räusperte sich Zedd. »Wer starke Schmerzen leidet, mag vielleicht zu sprechen bereit sein, gewöhnlich aber neigt eine solche Person dazu, einem zu erzählen, was man ihrer Meinung nach hören will, ob dies nun der Wahrheit entspricht oder nicht.«

Sie zog einen Band hervor und blätterte flüchtig darin, ehe sie ihn wieder ins Regal zurückstellte. »Deswegen werden wir ja darin ausgebildet, Menschen unter Verwendung der geeigneten Methoden zu verhören. Wir machen ihnen klar, wie viel schmerzhafter es für sie ist, uns anzulügen. Wer einmal begriffen hat, welch außerordentlich grauenhafte Folgen das Lügen für ihn hat, sagt die Wahrheit.«

Doch Zedd hatte ihr gar nicht zugehört, sondern war ganz darauf konzentriert, die Bedeutung dieses Fragments einer Prophezeiung zu enträtseln, aber leider verdarben ihm die bislang in Betracht gezogenen Möglichkeiten nur noch gründlicher den Appetit. Unberührt stand die dampfende Schale neben ihm, bis er endlich merkte, dass Rikka wahrscheinlich nur deswegen untätig herumlungerte, weil sie irgendeine Bemerkung über sein Abendessen erwartete womöglich sogar ein Kompliment.

»Was gibt es denn zu essen?«

»Eintopf.«

Zedd reckte seinen Hals ein Stück vor, um einen Blick in die Holzschale zu werfen. »Und wo sind die Kekse?«

»Kekse gibt es nicht, nur Eintopf.«

»Das hab ich schon verstanden, Eintopf, ich bin ja nicht blind. Was ich meinte, war, wo sind die Kekse, die unbedingt dazugehören?«

Rikka zuckte mit den Achseln. »Wenn Ihr wollt, kann ich Euch ein wenig frisches Brot holen.«

»Das hier«, stieß er mit düsterer Miene hervor, »ist Eintopf, und Eintopf verlangt nach richtigen Keksen, nicht nach Brot.«

»Wenn ich gewusst hätte, dass Ihr Kekse zum Abendessen wollt, hätte ich Euch statt des Eintopfs Kekse backen können. Allerdings hättet Ihr mir das früher sagen sollen.«

»Ich will die Kekse nicht anstelle des Eintopfs«, knurrte Zedd.

»Wenn Ihr unzufrieden seid, scheint Ihr wohl nicht so recht zu wissen, was Ihr wollt, könnte das sein?«

Zedd blinzelte sie aus einem zusammengekniffenen Auge an. »Als Quälgeist seid Ihr wahrhaft ein Naturtalent.«

Ein Lächeln auf den Lippen, machte sie auf dem Absatz kehrt und rauschte erhobenen Hauptes aus dem Zimmer. Vermutlich, überlegte Zedd, legten Mord-Sith dieses affektierte Gehabe selbst dann noch an den Tag, wenn sie allein waren.

Er wandte sich wieder seinem Buch zu und versuchte, das Problem von einem anderen Blickwinkel aus anzugehen, konnte den betreffenden Abschnitt aber nur einige Male überfliegen, ehe der Riegel an der Tür angehoben wurde und Rachel, einen Gegenstand in beiden Händen, ins Zimmer geschlurft kam. Sie nahm den Fuß zu Hilfe, um die Tür zu schließen.

»Du solltest jetzt wirklich dein Buch beiseite legen und etwas zu Abend essen.«

Zedd schenkte der Kleinen ein Lächeln, er musste stets lächeln, wenn er sie sah. In dieser Hinsicht hatte sie eine ansteckende Wirkung auf ihn.

»Na, Rachel, was hast du denn da Schönes?«

Sie streckte die Arme vor, stellte die Blechschale auf den Schreibtisch und schob sie mit langem Arm zu ihm herüber.

»Kekse.«

Verdutzt erhob sich Zedd ein Stück von seinem Stuhl, um sich vorzubeugen und einen Blick in die Blechschale zu werfen.

»Woher hast du denn die?«

Sie blinzelte ihn mit ihren großen Augen verständnislos an, so als sei dies die seltsamste Frage, die sie je gehört hatte. »Sie sind für dein Abendbrot. Rikka bat mich, sie ihr abzunehmen. Sie hatte mit den beiden Schalen Eintopf für dich und Chase schon beide Hände voll.«

»Du sollst dieser Frau doch nicht helfen«, erwiderte er, die Stirn drohend in Falten gelegt. »Sie ist böse.«

Rachel kicherte. »Du redest dummes Zeug, Zedd. Rikka erzählt mir Geschichten über die Sterne. Erst fügt sie sie zu Bildern zusammen, und dann erzählt sie mir zu jedem Bild eine Geschichte.«

»Tut sie das. Nun, klingt ja richtig nett von ihr.«

Wegen des nachlassenden Tageslichts wurde das Lesen zunehmend beschwerlich. Zedd streckte eine Hand vor und schickte einen Funken seiner Gabe zu den Dutzenden von Kerzen im reich verzierten Kandelaber hinüber. Sofort tauchte deren warmer Schein das gemütliche kleine Zimmer in ein helles Licht, das die säuberlich verfugten Steine der Mauern und die schweren, quer unter der Decke verlaufenden Eichenbalken erstrahlen ließ.

Rachel grinste. Sie mochte es, ihn die Kerzen anzünden zu sehen. »Du kannst von allen die beste Magie, Zedd.«

Er seufzte. »Ich wünschte, du würdest mich nicht allein lassen, Kleines. Rikka weiß meinen Kerzenanzündetrick nämlich nicht zu würdigen.«

»Wirst du mich denn vermissen?«

»Nun, das nicht gerade. Ich möchte nur nicht mit Rikka allein gelassen werden«, murmelte er, während er die letzten Zeilen ein weiteres Mal überflog.

Zuerst werden sie ihn anzweifeln, ehe sie die rechten Ränke zu seiner Gesundung finden. Was mochte das nur bedeuten?

»Vielleicht könntest du Rikka bitten, dir ein paar Geschichten über die Sterne zu erzählen.« Sofort ging ein trauriger Zug über Rachels Gesicht, und sie kam um seinen Schreibtisch herum. »Aber ich werde dich schrecklich vermissen, Zedd.«

Er erinnerte sich, wie er vor langer Zeit in ebendiesem Zimmer gesessen hatte. Damals war seine Tochter genauso alt gewesen wie Rachel jetzt. Nun war ihm nur noch Richard geblieben. Er vermisste ihn sehr. »Natürlich werde ich dich vermissen, Kleines, aber ehe du dich versiehst, wirst du mit all den anderen aus deiner Familie wieder hier sein, und dann wirst du deine Geschwister zum Spielen haben und nicht bloß einen alten Mann.« Zedd nahm sie auf seine Knie. »Es wird mir bestimmt gut tun, wenn ihr alle hier bei mir in der Burg der Zauberer seid. Und wenn erst mal wieder etwas Leben eingekehrt ist, wird es hier wieder richtig fröhlich zugehen.«

»Rikka hat gesagt, wenn meine Mutter hier ist, braucht sie nicht mehr zu kochen.«

Zedd nahm einen Schluck lauwarmen Tee aus dem Zinnbecher auf der Truhe neben ihm. »Hat sie das.«

Rachel nickte. »Außerdem hat sie gesagt, meine Mutter wird dich wahrscheinlich zwingen, dir endlich die Haare zu bürsten.« Als sie die Hände vorstreckte, weil sie einen Schluck aus seinem Becher abbekommen wollte, ließ er sie etwas Tee trinken, ehe er fragend seinen Kopf zur Seite neigte. »Mein Haar bürsten?«

Rachel, das Gesicht ernst, nickte. »Es steht ab wie Kraut und Rüben. Aber mir gefällt es so.«

»Gehst du Zedd schon wieder auf die Nerven, Rachel?«, war plötzlich die Stimme von Chase zu hören, der soeben mit eingezogenem Kopf durch die mit einem Rundbogen versehene Tür trat. Rachel schüttelte vehement den Kopf. »Ich hab ihm Kekse gebracht. Rikka hat gesagt, er mag zu seinem Eintopf Kekse, und ich soll ihm eine ganze Schale voll bringen.«

Chase stemmte die Fäuste in die Hüften. »Und wie, bitte schön, soll er seine Kekse essen, solange ein hässliches Kind auf seinem Schoß hockt?«

Kichernd ließ Rachel sich heruntergleiten, und Zedd beugte sich wieder über das Buch. »Hast du schon gepackt?«

»Ja«, antwortete der hünenhafte Grenzposten. »Ich möchte unbedingt früh aufbrechen, vorausgesetzt, Ihr habt nichts dagegen.«

Zedd tat seine Besorgnis mit einer wegwerfenden Handbewegung ab, ohne die Augen von der Prophezeiung zu lösen. »Ja, sicher. Je eher du deine Familie hierher schaffst, desto besser. Wir alle werden erleichtert sein, sie endlich hier zu haben, wo wir sie in Sicherheit wissen und ihr alle zusammen sein könnt.«

Chase’ buschige Brauen senkten sich tief über seine wachen braunen Augen. »Was ist eigentlich los mit Euch, Zedd? Was ist nicht in Ordnung?«

Zedd sah stirnrunzelnd zu ihm auf. »Nicht in Ordnung? Gar nichts. Alles bestens.«

»Er will nur nicht beim Lesen gestört werden«, versicherte Rachel ihrem Ziehvater, während sie sich mit beiden Armen an sein Bein klammerte und ihren Kopf an seine Hüfte legte. »Zedd!«, wiederholte Chase gedehnt in einem fordernden Tonfall, der verriet, dass er ihm kein Wort glaubte. »Wie kommst du darauf, dass etwas nicht in Ordnung ist?«

»Ihr habt keinen einzigen Bissen gegessen.« Chase legte eine Hand auf den hölzernen Griff eines der langen Messer in seinem Gürtel und strich mit der anderen über Rachels langen, goldblonden Haarschopf. Wahrscheinlich hatte er ein Dutzend Messer unterschiedlicher Größe um Hüfte und Beine geschnallt, die er vor seinem Aufbruch am nächsten Morgen noch durch Schwerter und Streitäxte ergänzen würde. »Und das kann nur bedeuten, dass irgendetwas nicht in Ordnung ist.«

Zedd ließ einen Keks in seinem Mund verschwinden. »Bitte«, murmelte er mit vollem Mund. »Bist du jetzt zufrieden?«

Während er den noch warmen Keks kaute, beugte sich Chase hinab und bog das Kinn des Mädchens nach oben. »Rachel, geh jetzt auf dein Zimmer und sieh zu, dass du mit Packen fertig wirst. Außerdem erwarte ich, dass deine Messer gesäubert und geschärft sind.«

Sie nickte ernst. »Ganz bestimmt, Chase.«

Für ein Mädchen ihres zarten Alters hatte Rachel bereits einige harte Schicksalsschläge erlitten. Aus Gründen, die stets Zedds Misstrauen geweckt hatten, hatte sie bei einer Reihe folgenschwerer Situationen im Mittelpunkt gestanden. Als Chase das verwaiste Mädchen bei sich aufgenommen hatte, um sie wie eine Tochter großzuziehen, hatte Zedd persönlich ihm dringend geraten, er solle ihr beibringen, sich zu schützen und so zu sein wie er selbst, damit sie sich verteidigen und allen Gefahren trotzen könne. Rachel, die Chase vergötterte, hatte sich seine Lektionen zu Herzen genommen und konnte mittlerweile mit einem der kleineren Messer, die sie stets bei sich trug, auf zehn Schritte eine Fliege an einen Zaunpfahl heften. »Außerdem möchte ich, dass du früh zu Bett gehst, damit du ausgeruht bist«, sagte Chase zu ihr. »Ich denke nämlich nicht daran, dich zu tragen, wenn du müde bist.«

Rachel sah ihn verwirrt an. »Aber du trägst mich doch sogar, wenn ich sage, dass ich nicht müde bin.«

Chase warf Zedd einen gequälten Blick zu, ehe er sie mit einem eindeutig gespielten finsteren Blick musterte. »Morgen wirst du dich jedenfalls aus eigener Kraft auf den Beinen halten müssen.«

Rachel, von dem sich über sie beugenden Hünen alles andere als aus der Fassung gebracht, nickte ernst. »Werde ich.« Dann sah sie zu Zedd hinüber. »Kommst du noch und gibst mir einen Gutenachtkuss?«

»Natürlich«, erwiderte Zedd, der jetzt selbst schmunzeln musste. »Noch ein Weilchen, dann komme ich und decke dich zu.«

Er fragte sich, ob Rikka wohl noch kurz bei ihr reinschauen und ihr eine Geschichte erzählen würde. Der Gedanke, dass eine Mord-Sith einem Kind Geschichten über Sterne erzählte, die sich am Himmel zu Bildern zusammensetzten, hatte etwas Rührendes. Allerdings schien Rachel auf jeden diese Wirkung zu haben. Durch die offene Tür beobachtete Chase, wie seine Tochter den breiten Wehrgang entlang rannte. Zedd erschien es wie ein Wunder, dass man sich auf so dünnen Beinen derart flink fortbewegen konnte. Als Chase sicher sein durfte, dass Rachel ungefährdet auf dem Weg war, schloss er die schwere Eichentür und trat näher an den Schreibtisch heran. Sein massiger Körper ließ das Zimmer- ein Zimmer, das Zedd stets als einigermaßen gemütlich empfunden hatte –plötzlich sehr klein und beengt wirken. »Also, wo liegt das Problem?«

Er würde keine Ruhe geben, bis er mehr in Erfahrung gebracht hätte. Zedd stieß einen Seufzer aus und drehte das Buch mit einem Finger herum, damit der einstige Grenzposten darin lesen konnte. »Lies selbst und sag es mir.«

Chase warf einen Blick in das sehr alte Buch und schlug jeweils eine Seite vor und zurück, um auch dort nachzusehen, ehe er wieder zurückblätterte.

»Na ja, wie ich schon sagte, wo ist das Problem? Sieht nicht so aus, als stünde hier viel, über das man sich den Kopf zerbrechen müsste.«

Zedd zog eine Augenbraue hoch. »Und genau da liegt das Problem.«

»Was wollt Ihr damit sagen?«

»Dies ist ein Buch der Prophezeiungen, also sollte es auch Text enthalten – Prophezeiungen nämlich. Ein Buch, dessen Text vollständig fehlt, kann schließlich schlecht im eigentlichen Sinn als Buch bezeichnet werden, oder? Der Text ist verschwunden.«

»Verschwunden?« Nachdenklich kratzte sich Chase an seiner ergrauten Schläfe. »Das ergibt doch keinen Sinn, wie soll denn die Schrift verschwunden sein? Schließlich kann doch niemand die Worte einfach von der Seite klauben.«

Das war eine interessante Sicht der Dinge! Chase, der bis zum Fall der Grenze vor einigen Jahren den größten Teil seines Lebens Grenzposten gewesen war, gehörte zu der Sorte Menschen, die hinter allem stets als Erstes Diebstahl vermuteten, eine Möglichkeit, die Zedd, dessen Geist bereits die ebenso unerforschten wie dunklen Pfade wilder Spekulation entlanghastete, noch gar nicht in Betracht gezogen hatte. »Ich kann mir das Verschwinden der Worte ebenso wenig erklären«, räumte er schließlich ein, nachdem er einen weiteren Schluck Tee genommen hatte.

»Wovon handeln die Prophezeiungen überhaupt?«, wollte Chase wissen. »Zufälligerweise handelt es sich um ein Buch voller Prophezeiungen, die sich fast ausschließlich mit Richard befassen.«

Nach außen hin schien Chase die Ruhe in Person zu sein, was natürlich bedeutete, dass er innerlich alles andere als das war. »Seid Ihr wirklich sicher, dass dieses Buch früher Text enthielt?«, fragte er. »Vielleicht habt Ihr ja wegen seines Alters einfach nur vergessen, dass es ein paar leere Seiten enthielt. Wenn man ein Buch liest, erinnert man sich schließlich vor allem an den Text und nicht an irgendwelche leeren Stellen.«

»Da ist etwas dran.« Er stellte den Zinnbecher beiseite. »Ich kann natürlich nicht mit Sicherheit beschwören, dass es Text enthielt, andererseits mag ich mich nicht damit abfinden, dass es größtenteils leer gewesen sein soll. Aber das ist es jetzt.«

Chase’ Gesichtsausdruck war nicht anzusehen, was er empfand, als er über das Rätsel nachdachte. »Zugegeben, das hört sich seltsam an ... aber ist es wirklich ein Problem? Richard hat nie viel von Prophezeiungen gehalten und hätte ihnen sowieso keine Beachtung geschenkt.«

Zedd erhob sich, stieß einen Finger in das Buch und tippte nachdrücklich darauf. »Chase, dieses Buch hat tausende von Jahren hier in der Burg der Zauberer gestanden und jahrtausendelang Text enthalten, nämlich Prophezeiungen. Und jetzt besteht es plötzlich aus lauter leeren Seiten. Klingt das für dich etwa so, als hätte es nichts zu bedeuten?«

»Ich weiß nicht, Zedd, ich bin kein Experte auf diesem Gebiet. Ich denke nur, wenn Ihr mit Euren Fragen über die Bücher der Prophezeiungen schon zu mir kommt, müsst Ihr in großen Schwierigkeiten stecken. Ihr seid der Zauberer, sagt Ihr es mir.«

Zedd stützte sich mit seinem ganzen Gewicht auf seine Hände und beugte sich zu ihm hin. »Ich kann mich an absolut nichts erinnern, was früher in diesem Buch gestanden hat, ebenso wie ich mich an nichts erinnern kann, was auf den leeren Seiten all der anderen Bücher der Prophezeiungen stand, in denen Teile des Textes fehlen.«

Chase’ Miene bekam einen harten Zug. »Es gibt noch andere Bücher mit leeren Seiten?«

Zedd nickte und strich sich das Haar aus dem Gesicht. Als sein Blick dabei auf das Fenster fiel, vor dem es allmählich dunkler wurde, versuchte er, sich darin zu betrachten, doch das war nicht möglich, dafür war es draußen noch zu hell.

»Was meinst du, muss ich mir wirklich die Haare bürsten?« Er sah wieder zu Chase. »Stehen sie möglicherweise zu sehr ab?«

Leicht verwirrt neigte Chase den Kopf. »Was?«

Zedd machte eine wegwerfende Handbewegung und murmelte: »Schon gut. Die Sache ist, ich habe in einer ganzen Reihe von Büchern der Prophezeiungen Leerstellen entdeckt, und das hat mich verwirrt.«

Chase verlagerte sein Gewicht und verschränkte die Arme vor dem Körper, während sich seine Stirn noch tiefer furchte. Sein Gesicht bekam einen ernsthaft besorgten Zug, was sich bei ihm darin äußerte, dass er den Eindruck erweckte, als hätte er das dringende Bedürfnis, jeden Augenblick größere Menschenscharen niederzumetzeln. »Vielleicht sollte ich erst einmal hier bleiben, schließlich müssen wir nicht unbedingt morgen früh aufbrechen. Wir können warten, bis Ihr herausgefunden habt, ob eine Gefahr besteht.«

Zedd stieß einen Seufzer aus und begann sich zu wünschen, er hätte gar nichts erst davon angefangen. Das war kein Problem, mit dem man Chase behelligen durfte. Er hätte ihn wegen einer Sache, die er ohnehin nicht verstand und gegen die er nichts auszurichten vermochte, gar nicht erst beunruhigen sollen. Nur war die Geschichte halt so verdammt merkwürdig!

»Das wird nicht nötig sein. Dieses Problem gehört wohl kaum zu der Sorte, die sich mit einem Würgegriff deinerseits erledigen ließe.«

Doch Chase fuchtelte mit dem Finger über dem Buch. »Was hat eigentlich dieser letzte Satz hier zu bedeuten, wo es heißt: Zuerst werden sie ihn anzweifeln, ehe sie die rechten Ränke zu seiner Gesundung finden? Ihr habt gesagt, es ist eine Prophezeiung über Richard. Für mich klingt das irgendwie bedrohlich – so als würde jemand eine Intrige gegen ihn schmieden.«

»Nun, nicht unbedingt.« Zedd fuhr sich mit der Hand über den Mund, während er nach einer brauchbaren Erklärung suchte. »In den Prophezeiungen ist mit der Wendung ›die rechten Ränke finden‹ oft nichts Schlimmeres gemeint als ›eine Lösung finden‹. Etwa so, wie man davon spricht, man wolle eine Lösung finden, wie man vorgehen soll. In diesem Fall war in dem Abschnitt von seinen engsten Beratern die Rede, seinen Verbündeten. Wenn es dort also heißt, man wolle versuchen, die rechten Ränke zu finden, dann bedeutet das höchstwahrscheinlich, dass man ihn erst von der Notwendigkeit überzeugen muss, dass er die Hilfe seiner Verbündeten braucht, und dass diese Verbündeten – zu denen höchstwahrscheinlich auch einige von uns gehören –, sobald ihnen das gelungen ist, darangehen können, einen Plan zu seiner Genesung auszuarbeiten.«

»Seiner Genesung – von was?«

»Davon wird hier nichts erwähnt.«

»Demnach ist es also nichts Ernstes?«

Zedd warf dem Grenzposten einen bedeutungsschwangeren Blick zu. »Ich fürchte, das könnte genau der fehlende Teil sein.«

»Also ist es ernst, und Richard ist in Gefahr. Er braucht Hilfe, womöglich ist er verletzt.«

Zedd schüttelte betrübt den Kopf. »Nach meinen Erfahrungen sind Prophezeiungen selten so klar und eindeutig.«

Chase nickte und musste gleich darauf zur Seite treten, als die Tür aufging und Rikka ins Zimmer gerauscht kam. Sie hatte die Hand bereits ausgestreckt, um die Schalen einzusammeln, zögerte dann aber, als sie sah, dass sie kaum angerührt worden waren.

»Was ist nur los? Wieso habt Ihr nichts gegessen?« Als Zedd darauf eine Handbewegung machte, als fühlte er sich von dem Thema belästigt, sah sie über die Schulter zu Chase. »Ist er krank? Ich dachte, er hätte die Schale mit Eintopf längst verdrückt und obendrein noch ausgeleckt. Vielleicht sollten wir uns besser ein paar Gedanken machen, wie wir ihn ans Essen kriegen.«

»Versteht Ihr jetzt, was ich mit ›Lösung finden‹ meinte?«, fragte er, an Chase gewandt. »Es könnte genauso harmlos sein.«

Einen Moment lang musterte Rikka prüfend sein Gesicht, so als suchte sie nach offenkundigen Anzeichen geistiger Umnachtung, dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf Chase. »Was redet er da?«

»Es geht um irgendwelche Bücher«, erklärte Chase ihr.

Sie richtete einen zunehmend erbosten Blick auf Zedd. »Also, ich hab mir solche Mühe mit diesem Abendessen für Euch gegeben, deshalb werdet Ihr Euch jetzt sofort hinsetzen und essen. Wenn nicht, verfüttere ich es stattdessen an die Maden im Mist. Und wenn Ihr dann später ankommt, um Euch zu beschweren, Ihr hättet Hunger, habt Ihr Euch das selbst zuzuschreiben. Von mir könnt Ihr jedenfalls kein Mitgefühl erwarten.«

Verdutzt sah Zedd sie aus zusammengekniffenen Augen an. »Was ? Was habt Ihr da gerade gesagt?«

»Dass ich es an die Maden verfüttern werde, wenn Ihr nicht sofort ...«

»Verdammt!« Zedd schnippte mit den Fingern. »Das ist es!« Er streckte die Arme nach ihr aus. »Ihr seid ein Genie, Rikka. Ich könnte Euch umarmen.«

Rikka versteifte sich widerborstig. »Ich würde es vorziehen, wenn Ihr mich von weitem anhimmeln würdet.«

Doch Zedd hörte ihr gar nicht zu. Sich die Hände reibend versuchte er sich zu erinnern, wo genau er den Querverweis gesehen hatte. Auf jeden Fall war es eine Ewigkeit her, aber wie lange genau? Und wo? »Was ist?«, erkundigte sich Chase. »Habt Ihr des Rätsel Lösung?«

Zedd dachte so angestrengt nach, dass er den Mund verzog. »Ich erinnere mich, einen Querverweis gelesen zu haben, der sich auf ein solches Ereignis bezog, eine Art Exegese.«

»Eine was?«

»Eine Erläuterung, eine Analyse dieses Punktes.«

»Dann geht es also um irgendwelche Bücher?«

Zedd nickte. »Ja, ganz recht. Ich muss mir nur in Erinnerung rufen, wo genau ich die besagte Textpassage gelesen habe. Jedenfalls war darin von Maden die Rede. Ja, ganz recht, Maden. Prophetische Maden. Es ging um eine Art Berechnung, glaube ich, in der untersucht wurde, ob ein derartiges Phänomen imstande wäre, die Prophezeiungen zu zersetzen.«

Chase und Rikka starrten ihn an, als hätte er den Verstand verloren, sagten aber nichts. Derweil lief Zedd zwischen seinem Schreibtisch und dem Eckbücherschrank auf und ab und stieß dabei gedankenverloren mit dem Fuß den schweren Eichenstuhl zur Seite, während er in Gedanken eine Liste mit Orten durchging, wo ein bestimmtes Buch stehen könnte, das möglicherweise einen solchen Querverweis enthielt. Bibliotheken gab es zuhauf in der Burg der Zauberer, Bibliotheken, die tausende, vielleicht zehntausende von Bänden enthielten. Immer vorausgesetzt, er hatte den Querverweis überhaupt in der Burg der Zauberer gesehen, schließlich hatte er auch andernorts jede Menge Bibliotheken aufgesucht. Der Palast der Konfessorinnen in Aydindril besaß eine Reihe von Archiven, auf der Kings Row, ebenfalls in Aydindril, gab es Paläste, die über umfangreiche Büchersammlungen verfügten, aber auch in einer ganzen Reihe von Städten, die Zedd besucht hatte, gab es Magazine und Archive. Die Masse der Bücher war schlicht unüberschaubar, wie sollte er sich da an ein Exemplar erinnern, dass er seit einer Ewigkeit – womöglich seit seiner Jugend – nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte?

»Wovon genau sprecht Ihr eigentlich?«, fragte Rikka schließlich, als sie es leid war, ihm bei seinem Auf-und-ab-Gerenne zuzuschauen. »Von was für einer Erklärung sprecht Ihr?«

»Ich bin mir noch nicht völlig sicher, es ist so lange her. Muss damals gewesen sein, als ich noch jung war. Aber es wird mir schon wieder einfallen, ganz bestimmt. Ich muss nur ein wenig nachdenken. Und wenn es die ganze Nacht dauert, ich werde mich erinnern, wo ich besagte Textpassage gesehen habe. Ich wünschte nur, ich hätte meinen Denk-Stuhl hier«, murmelte er bei sich, während er sich abwandte. Rikka sah Chase stirnrunzelnd an, ohne den noch immer auf und ab laufenden Zedd ganz aus den Augen zu lassen. »Seinen was?«

»Damals in Westland«, erklärte Chase mit gesenkter Stimme, »hatte er auf seiner Veranda einen Stuhl stehen, in dem er oft saß, um nachzudenken. Das war damals, als alles anfing und plötzlich Darken Rahl auftauchte, um ihn und Richard gefangen zu nehmen. Sie konnten gerade noch rechtzeitig fliehen. Anschließend kamen sie zu mir, und ich führte sie durch eine Bresche in das Grenzgebiet.«

»Also, ich finde, hier stehen genug Stühle herum, über den einen dort fällt er ja geradezu.« Vor lauter Aufgebrachtheit verzog sich Rikkas Mund. »Außerdem braucht niemand einen Stuhl, um seinen Verstand ans Arbeiten zu kriegen. Und wenn, dann höchstens nur, wenn er ernsthafte Probleme hat.«

»Vermutlich.« Gemeinsam schauten Chase und Rikka Zedd beim Auf-und-ab-Gehen zu, bis Chase, dessen Sache es nicht war, tatenlos herumzustehen, ihn schließlich am Ärmel seines Gewands zu fassen bekam. »Ich denke, während Ihr über Eure Lösung nachdenkt, sollte ich besser gehen und mich um Rachel kümmern. Ich möchte sicher sein, dass sie ihre Sachen zusammengepackt hat und ins Bett kommt.«

Zedd entließ ihn mit einer unwirschen Handbewegung. »Ja, du hast Recht. Geh schon vor und sag ihr, ich komme in einer Weile nach und gebe ihr einen Gutenachtkuss. Ich muss nur noch ein wenig über diese Angelegenheit nachdenken.«

Kaum war er gegangen, lehnte Rikka eine lederbedeckte Hüfte gegen den schweren Schreibtisch und verschränkte die Arme vor der Brust. »Wollt Ihr etwa behaupten, eine Art Wurm ist schuld daran, dass die Worte aus den Prophezeiungen verschwunden sind, so eine Art Bücherwurm, der sich von Klebstoff oder Papier ernährt?«

»Nein, er frisst ja die Worte, nicht das Papier.«

»Dann handelt es sich um ... was? Eine Art winzigen Wurm, der die Tinte frisst?«

Zedd, ungehalten über die Unterbrechung, hielt in seinem Hin-und-her-Gerenne inne und starrte sie an. »Frisst... ? Nein, so ist das nicht zu verstehen. Es geht dabei um Magie, um einen cleveren Dreh in einem an sich schon raffinierten Vorgang. Wenn ich mich recht erinnere, hat man ihm den Namen ›prophetischer‹ Wurm gegeben, weil er imstande ist, die Zweige der Prophezeiungen abzufressen, vergleichbar etwa den Holzböcken, die ganze Bäume vernichten. Er beginnt mit einer dem Thema oder der Chronologie nach verwandten Prophezeiung, ganz ähnlich dem Borkenkäfer, der einen einzelnen Zweig befällt. Hat er sich dort einmal eingenistet, beginnt der Wurm dann den Stamm der Prophezeiung abzufressen, in diesem Fall also den Ast, der sich mit der Zeit nach Richards Geburt befasst.«

Rikka, die gleichzeitig aufrichtig fasziniert und beunruhigt wirkte, straffte sich und neigte den Kopf in seine Richtung. »Ist das wahr? Magie ist tatsächlich zu so etwas imstande?«

Zedd, den Ellbogen in eine Hand gestützt, das Kinn auf die Fingerspitzen seiner anderen, stieß ein Knurren aus. »Ich denke ja. Es könnte sein, sicher bin ich mir nicht.« Dann entrang sich seiner Brust ein ungeduldiger, gereizter Seufzer. »Ich versuche ja, mich zu erinnern, aber ich habe diesen Hinweis nur ein einziges Mal gesehen, deshalb weiß ich eben nicht, ob es eine Theorie war, die ich damals gelesen habe, oder der Zauber selbst, oder ob es sich nur um eine in einem Verzeichnis aufgeführte Hypothese handelte, oder ... Augenblick mal!«

Er starrte hoch zur Balkendecke, die Augen vom anstrengenden Vorgang des Erinnerns halb zusammengekniffen. »Es war vor Richards Geburt, zumindest was diesen Punkt betrifft, da bin ich mir sicher. Ich erinnere mich, dass ich noch ein junger Mann war, was bedeuten würde, dass es während meines Aufenthaltes hier gewesen sein muss. Bis dahin scheint alles zusammenzupassen. Und wenn ich hier war ...«

Zedd ließ den Kopf sinken. »Gütige Seelen.«

Rikka beugte sich vor. »Was ist denn? Gütige Seelen ... was?«

»Jetzt fällt es mir wieder ein«, hauchte Zedd, während seine Augen sich immer mehr weiteten. »Jetzt weiß ich wieder, wo ich ihn gesehen habe.«

»Und wo?«

Zedd schob die Ärmel seine knochendürren Arme hinauf und war bereits unterwegs zur Tür. »Lasst nur, ich kümmere mich schon darum. Geht Ihr nur auf Patrouille oder was immer Ihr um diese Zeit tut. Ich bin bald wieder zurück.«

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