36

Mit einer schnellen und doch lautlosen Bewegung nahm Richard in Vorbereitung eines Angriffs das Schwert vor seinen Körper – noch war ihm nicht klar, wie dieser Angriff erfolgen würde, aber er war fest entschlossen, gewappnet zu sein. Er presste den kalten Stahl der Klinge an seine schweißnasse Stirn, dann sprach er mit leisem, kaum hörbarem Flüstern die Worte: »Klinge, sei mir treu an diesem Tag«, Worte, mit denen er sich selbst und seine Klinge darauf einschwor, zu tun, was immer nötig war. Ein paar dicke Regentropfen klatschten auf seine nackte Brust. Der anfangs noch verhaltene Regen nahm nach und nach ein wenig zu, bis das leise Wispern der Regentropfen auf dem dichten Laubdach sich in der Stille des Waldes auszubreiten begann. Immer wieder musste er sich blinzelnd von den sich in seinen Wimpern verfangenden Tropfen befreien.

Er vernahm das Rascheln von sich bewegenden Zweigen und gleich darauf das plötzliche Losstürzen von Schritten in seine Richtung – und erkannte Caras unverwechselbaren Gang. Offenbar hatte sie das Gelände in der unmittelbaren Umgebung ihres Lagerplatzes abgesucht und dieselben Geräusche gehört wie er. Er kannte Cara, daher war er angesichts ihrer angespannten Aufmerksamkeit keineswegs überrascht. Im Schutz des Geräuschs des ringsum niedergehenden Regens konnte er jetzt Äste und Zweige langsam gegeneinander reiben hören. Da und dort brachen knisternd ein paar dünnere Zweige, so als nähere sich ihm etwas von allen Seiten. Etwas berührte seinen linken Arm. Sofort schnellte er einen Schritt zurück und befreite seinen Arm aus dem zähen, klebrigen Kontakt. Die Brandwunde erzeugte einen pochenden Schmerz, jetzt rann ihm schon aus zwei Wunden warmes Blut am Arm herab. Er spürte, wie sich etwas hinten an seinem Hosenbein verfing, und löste sein Bein mit einem Ruck von dem zähen Kontakt. Unterdessen tauchte nicht weit entfernt Cara unter lautem Krachen zwischen den Bäumen auf – behutsam ging sie dabei nicht gerade vor. Sie schob ein kleines Türchen an der Blendlaterne zurück, die sie bei sich trug, und richtete den schwachen Lichtstrahl auf ihren Lagerplatz. Sofort konnte Richard ein Gebilde erkennen, das ihn an eine Art bizarres Netz aus dunklen Fäden erinnerte, die ihn auf allen Seiten kreuz und quer umspannten und sich mit Bäumen, Gestrüpp, Baumstämmen und Büschen verwoben hatten. Das Material erinnerte an eine Art Strick, war aber offenbar von einer zähen, gummiartigen Klebrigkeit. Er hatte nicht den leisesten Schimmer, um was es sich handeln könnte oder wie es ihm gelungen war, ihn von allen Seiten zu umfangen.

»Lord Rahl! Ist alles in Ordnung?«

»Ja. Rührt Euch nicht von der Stelle.«

»Was ist denn los?«

»Das weiß ich selbst noch nicht genau.«

Das Geräusch kam näher, gleichzeitig zogen sich die Fäden rings um ihn her abermals enger zusammen, einer drückte bereits gegen seinen Rücken. Sofort wich er zurück, wirbelte herum und zertrennte ihn mit seinem Schwert.

Doch kaum hatte er ihn durchtrennt, da geriet das Gewirr um ihn herum erneut unter Spannung und zog sich noch enger zusammen.

In der Hoffnung, besser sehen zu können, entfernte Cara die Blende von der Laterne. In diesem Moment erkannte Richard, dass ihn die seidig glänzenden Fäden bereits nahezu vollständig in einen Kokon eingesponnen hatten, sogar über seinem Kopf sah er das Zeug kreuz und quer Fäden ziehen. Es war bereits so nah, dass ihm kaum noch Bewegungsspielraum blieb. Dank einer plötzlichen Eingebung konnte er jetzt auch das seidige Geräusch zuordnen, das er von Beginn an wahrgenommen hatte. Die gleitende, anhaltende Bewegung rührte von etwas her, das diese Fäden um ihn herumspann, so als sollte er einer Spinne als Mahl dienen, nur waren diese Fäden dick wie seine Handgelenke. Ihre Beschaffenheit entzog sich nach wie vor seiner Kenntnis, er wusste nur, dass sie bei jeder Berührung, wenn sie an seinem Hosenbein, an seinem linken Arm und auf seinem Rücken haften blieben, schmerzhafte Brandwunden hervorriefen.

Er sah Cara sich mit ihrer Laterne in der Hand mal hierhin, mal dorthin bewegen. Offenbar suchte sie nach einer Möglichkeit, sich bis zu ihm durchzuschlagen.

»Bleibt, wo Ihr seid, Cara! Die Fäden verätzen einen, sobald man mit ihnen in Berührung kommt!«

»Verätzen?«

»Ja, ich denke, etwa so wie Säure. Außerdem sind sie klebrig. Haltet Euch von ihnen fern, sonst verfangt Ihr Euch womöglich noch darin.«

»Und wie wollt Ihr Euch aus ihnen befreien?«

»Ich werde mich halt irgendwie durchschlagen müssen. Bleibt, wo Ihr seid, ich komme zu Euch rüber.«

Als die Fäden links von ihm sich immer mehr zusammenzuziehen begannen, holte er schließlich mit dem Schwert aus und hieb auf sie ein. Im Schein von Caras Laterne blitzte die Klinge kurz auf, als sie das ihn umhüllende Netz aus klebrigen Fäden zerfetzte. Kaum hatte die Klinge sie durchtrennt, schnellten sie zurück, als hätten sie unter Spannung gestanden. Einige blieben an den Baumstämmen haften und hingen dort herab, einer dunklen Moosart nicht unähnlich. Im Schein der Laterne konnte er das Laub verwelken sehen, das bei der Berührung mit den Fäden offenbar verätzt worden war.

Was immer das Geflecht aus diesem seltsamen Material erzeugen mochte, es blieb Richards Blicken verborgen. Während der Regen mittlerweile dazu übergegangen war, noch stärker niederzuprasseln, lief Cara noch immer auf und ab, um einen Weg ins Innere des Kokons zu finden. »Ich glaube, ich kann ...«

»Nein!«, schrie er sie an. »Ich sagte doch – haltet Euch fern von diesem Zeug!«

Wann immer sie sich um ihn zusammenzuziehen begannen, schlug Richard mit seinem Schwert auf die mächtigen, dunklen Stränge ein, um sie auf ihre Festigkeit zu prüfen und ihren Zusammenhalt zu schwächen, was er aber gezwungenermaßen erst konnte, wenn ihm keine andere Wahl mehr blieb, denn die klebrigen Fäden blieben jetzt immer häufiger an seiner Klinge haften.

»Aber ich muss Euch doch helfen, dieses Ding aufzuhalten!«, rief sie zurück, voller Ungeduld, ihn endlich wieder befreit zu sehen.

»Ihr würdet Euch nur darin verfangen, und ist das erst einmal passiert, könnt Ihr mir gar nicht mehr helfen. Bleibt, wo Ihr seid. Wie gesagt, ich werde versuchen, mich zu Euch durchzuschlagen.«

Das schien sie zumindest fürs Erste von dem Versuch abzubringen, sich bis zu ihm durchzukämpfen. In halb gebückter Stellung, die Lippen aus Hilflosigkeit und Wut zusammengepresst, den Strafer in der Hand, stand sie da und wusste nicht, was sie tun sollte. Einerseits wollte sie nicht seiner Anordnung zuwiderhandeln, zumal sie eingesehen hatte, dass sie durchaus vernünftig war andererseits behagte ihr die Vorstellung nicht, dass er sich allein würde befreien müssen. Es war ein seltsamer, verwirrender Kampf, der ganz ohne Gewaltanwendung stattfand und bei dem offenbar keine Eile zu bestehen schien. Die klaffenden Wunden, die er dem Wesen beibrachte, schienen diesem keine Schmerzen zu bereiten. Das langsame, unerbittliche Näherrücken des ihn umgebenden Fadengewirrs schien ihn einlullen und insofern zu einer zögerlichen Haltung bewegen zu wollen, als es offenbar reichlich Zeit gab, die Situation abzuwägen. Doch trotz der scheinbaren Ruhe, trotz dieser trügerischen Untätigkeit, empfand Richard das unerbittliche Näherrücken der ihn umgebenden Falle als überaus bedrohlich. Nicht gewillt, der Aufforderung zur Untätigkeit nachzukommen, schwang Richard abermals sein Schwert und hackte in die Wand aus ineinander verwobenen Fäden hinein.

Doch dann, noch während er versuchte, sich einen Weg nach draußen freizuschlagen, sah er immer mehr dieser Fäden im Wald ringsum auftauchen. Das Wesen verstärkte sich und war bereits im Begriff, eine zweite Netzschicht zu spinnen, während er noch damit beschäftigt war, den Teil, der ihn unmittelbar umgab, in Stücke zu schlagen. Für jedes Dutzend Fäden, das er durchtrennte, verstärkten zwei Dutzend weitere den ihn umspannenden Kokon. Immer wieder suchte er den Wald mit den Augen ab und versuchte herauszufinden, was dieses immerfort weiter wachsende Fadengewirr hervorbringen mochte, um nicht nur das Ergebnis, sondern endlich auch dessen Ursprung attackieren zu können, doch sosehr er sich auch bemühte, er konnte weder einen Anfang entdecken, noch sah er, was dieses sich immer mehr verdichtende Fadengeflecht erzeugte, dessen zähe Taue sich zwischen den Bäumen und Sträuchern erstaunlich schnell bewegten. Die Fäden wurden immer länger und vermehrten sich ohne Unterlass, wodurch der ihn umgebende Kokon, sich fortwährend selbst reproduzierend, immer weiter wuchs.

Er schien alle Zeit der Welt zu haben, sich einen Ausweg zu überlegen, und doch war ihm längst klar, dass dies die trügerische Hoffnung eines Narren war. Er war sich sehr wohl bewusst, dass ihm die Zeit davonlief, und das schnell. Mit jedem Augenblick wuchs seine Besorgnis, seine verätzte Haut pochte schmerzhaft und gemahnte ihn an das Schicksal, das ihn erwartete, wenn es ihm nicht gelang, sich zu befreien. Irgendwann, dessen war er sich bewusst, würde der Augenblick kommen, da er jeder Handlungsmöglichkeit beraubt sein würde. Hatte sich diese fein gesponnene Falle erst zusammengezogen, würde er darin umkommen, und es stand sehr zu bezweifeln, dass dies ein schneller Tod sein würde. Während sich das Fadengeflecht ringsumher immer mehr verflocht und zusammenzog, griff Richard in dem verzweifelten Bemühen, sich einen Weg durch die immer mehr zusammenziehende Falle freizuhacken, mit einem wütenden Rundumschlag an. Doch mit jedem Schlag verhedderte sich seine Klinge mehr in der klebrigen Substanz, aus der die Fäden bestanden, und je mehr von ihnen er durchtrennte, desto größer die klebrige Masse, die sich mit der bereits hartnäckig an seiner Klinge haftenden Substanz zu einem Klumpen verband. Die schwerfällige Masse gewann immer mehr an Gewicht, was das Durchtrennen der Fadenwand zusätzlich erschwerte.

Derweil er sich also um sich hackend und schlagend zu befreien versuchte, verdichtete sich der Fadenknoten an seiner Klinge nicht nur immer mehr zu einer klumpigen Masse, sondern verklebte obendrein mit den übrigen Fäden der Falle, sodass jede Bewegung mit der Klinge zu einem schier unüberwindbaren Problem wurde. Er kam sich vor wie eine in einem Spinnennetz gefangene Fliege. Es kostete ihn eine übermenschliche Anstrengung, das Schwert aus dieser Wand aus Fäden wieder herauszuziehen, die natürlich ihrerseits am Schwert haften blieben, sich dehnten und lange, zähe Fäden zogen. Zum allerersten Mal sah sich Richard mit einem Gegner konfrontiert, der seinem Schwert solche Mühe bereitete. Panzerungen und Eisenstangen hatte er damit schon durchschlagen, diese klebrige Substanz jedoch, obwohl an sich leicht zu durch trennen, fiel einfach ab und blieb an allem haften. Einige der schleimigen Fäden streckten sich und blieben an seinem Hosenbein kleben. Als sich beim Zurückreißen seines Schwertes einer davon auf seinen rechten Arm legte, stieß er einen Schmer-zensschrei aus und sank auf die Knie.

»Lord Rahl!«

»Rührt Euch nicht von der Stelle!«, brüllte er zurück, ehe Cara Gelegenheit hatte, einen weiteren Versuch zu unternehmen, sich zu ihm durchzuschlagen. »Alles in Ordnung. Bleibt einfach, wo Ihr seid.«

Er nahm eine Hand voll Blätter, Rinde und Erde vom Boden auf und benutzte diesen Mulch, um seine Hand zu schützen, während er die dunkle, pappige Substanz von seinem Arm entfernte. Der beißende Schmerz war so enorm, dass er fast alles ringsumher vergaß.

Schließlich verdichtete sich die faserige Struktur erneut, bis ihre dicken Fäden junge Schösslinge umrissen. Zweige brachen, ganze Äste wurden von den Bäumen abgerissen, und der Wald füllte sich mit dem beißenden Geruch nach Verbranntem.

Obwohl die Raserei des Schwertes in ihm hochstieg und seinen Zorn entfesselte, dämmerte Richard, dass er drauf und dran war, diesen Kampf zu verlieren. Wo immer er zuschlug, wichen die durchtrennten Fäden einfach nur zurück, verbanden sich mit anderen und schlössen die Lücke wieder. Und obwohl es ihm immer wieder gelang, das ineinander verknotete Geflecht der Netze zu zerschlagen, verflocht sich das Gewirr sofort erneut zu einem klebrigen Brei und schuf so ein noch enger verwobenes Netz. Nach und nach wich seine stille Verzweiflung der panischen Erkenntnis, dass er in der Falle saß, und diese Angst gab seinen Muskeln neue Energie, als er mit letzter Kraft sein Schwert schwang. Es war nicht schwer, sich vorzustellen, dass diese seltsame dunkle Masse ihn umfangen und letztendlich ersticken würde, wenn sie ihn nicht schon vorher dadurch tötete, dass sie ihm das Fleisch von den Knochen ätzte. Unter Aufbietung seiner ganzen Körperkraft gelang es Richard, sein Schwert immer wieder hochzureißen und eine Bresche in die schier undurchdringliche Wand aus dieser Substanz zu schlagen, doch war er letztlich drauf und dran, zu scheitern, denn seine Bemühungen machten seinen Widersacher zunehmend stärker. »Lord Rahl, ich muss unbedingt zu Euch!«

Cara hatte die tödliche Gefahr klar erkannt, in der er sich befand, und wollte mit allen Mitteln einen Weg finden, ihm aus der Klemme zu helfen, aber wie er stand sie der Situation völlig ratlos gegenüber. »Cara, hört mir zu. Wenn Ihr Euch in diesem Geflecht verfangt, werdet Ihr darin umkommen. Haltet Euch fern davon – und was immer Ihr tut, berührt es auf keinen Fall mit Eurem Strafer. Ich werde mir schon etwas einfallen lassen.«

»Dann sputet Euch und tut etwas, ehe es zu spät ist.«

Als ob er das nicht längst versuchte! »Lasst mir nur eine Minute Zeit zum Nachdenken.«

Um wieder zu Atem zu kommen, lehnte er sich keuchend unweit seines Bettzeugs mit dem Rücken gegen den schützenden Stamm einer hoch gewachsenen Föhre und versuchte, sich eine Fluchtmöglichkeit zu überlegen. Rings um den Baum war kaum noch Platz, und es würde nicht mehr lange dauern, bis auch dieser wenige Platz verschwunden sein würde. Aus den Wunden, wo ihn die rätselhafte Substanz berührt hatte, rann ihm das Blut über die Arme, und die Wunden brannten und pochten mit einer Heftigkeit, die jeden klaren Gedanken erschwerte. Er musste unbedingt einen Weg finden, durch dieses klebrige Fadengewirr zu gelangen und sich daraus zu befreien, ehe es ihn endgültig eingeschlossen hatte. Und dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.

Benutze das Schwert für den Zweck, für den es sich am besten eignet. Ohne einen weiteren Augenblick zu verlieren, löste sich Richard mit einem Schritt vom Baum, wirbelte herum, holte aus und schwang das Schwert unter Aufbietung seiner ganzen Körperkraft so wuchtig wie nur irgend möglich. Wissend, dass sein Leben davon abhing, legte er seine ganze Wut, seine ganze Energie in diesen einen mit letzter Kraft geführten Schlag. Pfeifend flog die Klingenspitze mit der Geschwindigkeit eines Blitzes heran und bohrte sich in den Stamm – mit einem lauten Krachen, das wie der Einschlag eines Blitzes klang und ebenso große Wirkung zeitigte. Der Baumstamm zersplitterte, schartige Holzsplitter flogen in alle Richtungen davon. Größere Bruchstücke kreisten sirrend durch die Luft, während kleinere Späne und ein wahrer Regen aus Rindenstücken im klebrigen Gewirr dahinter hängen blieben.

39i Dann begann der Baum zu kippen, und mit einem Ächzen brach die weit in den Himmel ragende Krone der mächtigen Föhre durch das dichte Laubdach. Immer schneller stürzte die Föhre durch die dicht beieinander stehenden Bäume und riss auf ihrem Sturz durch den zugewucherten Wald mit ihrem gewaltigen Gewicht mächtige Äste von anderen Bäumen ab.

Wo der Stamm das verworrene Geflecht überragt hatte, zerfetzte er im Fallen die Fäden über ihm und riss dabei die zähen Stricke mit, ehe er krachend auf das Gewirr aus klebrigen Strängen stürzte, dieses zu Boden drückte und unter dem Rest seines Stammes sowie einem dichten Dach aus Zweigen begrub. Ehe das Netz Gelegenheit hatte, sich neu zu bilden und die klaffende Lücke zu schließen, sprang Richard mit einem Satz auf den Stamm, als dieser nach dem Aufprall auf dem Boden wieder nach oben federte, breitete die Arme aus und ließ sich in die Hocke fallen, um das Gleichgewicht zu wahren. Mittlerweile hatte der Regen noch weiter zugenommen, infolgedessen war der Stamm recht glitschig. Kaum war der mächtige Stamm nach einem Durchfedern auf dem Waldboden zur Ruhe gekommen, nutzte Richard die Gelegenheit und lief, noch während ein Regen aus kleinen Zweigen, Rindenstücken, Ästen, Nadeln und Blättern auf ihn niederging, der Länge nach über den mächtigen Föhrenstamm, indem er ihn wie eine Brücke über das klebrige Netz benutzte. Endlich aus der Falle befreit, langte er keuchend bei Cara an. Diese hatte ihn kommen sehen und war auf einen kräftigen Ast geklettert, um ihm notfalls die Hand reichen zu können. Sie packte seinen Arm, um zu verhindern, dass er auf seinem Weg durch das Gewirr aus Zweigen auf der nassen Rinde ausglitt. »Seht«, rief Cara und zeigte auf sein Schwert.

Die zähe, noch immer an seiner Klinge haftende Substanz hatte sich im Regen aufzulösen begonnen, und auch die Masse der den gesamten Wald durchziehenden Stränge war erschlafft. Wann immer sich einzelne Stränge voneinander lösten, drückte der Regen das Netz ein Stück weiter Richtung Boden, wodurch immer mehr der langen, dicken Stränge von den Bäumen gerissen wurden und in dunklen Klumpen zu Boden fielen, wo sie, im Regen leise vor sich hin zischend, schmolzen – ganz ähnlich dem ersten Schnee des Winters, der es, kaum ist der Schneesturm wieder in Regen übergegangen, nicht schafft, liegen zu bleiben. Erst jetzt, im grauen Licht der morgendlichen Dämmerung, konnte Richard das wahre Ausmaß der Masse erkennen, die ihn in einen Kokon zu hüllen versucht hatte: Es war ein Knäuel von wahrlich enormer Größe. Offenbar hatte der Baum durch das Zerreißen der oberen Maschen des Netzes den Zusammenhalt des Ganzen so nachhaltig zerstört, dass es unter seinem eigenen Gewicht zerrissen und schließlich kraftlos in sich zusammengefallen war.

Jetzt, da der kalte Regen noch einmal an Heftigkeit zunahm, wurden die dunklen Fäden auch von den Ästen und Sträuchern gewaschen, ehe sie zu Boden fielen, wo sie an nichts anderes erinnerten als an die Innereien eines riesigen toten Ungeheuers.

Richard wischte sein Schwert an den regennassen Sträuchern und Gräsern ab, bis von der klebrigen Masse gar nichts mehr zu sehen war. Die Masse am Boden schmolz mit zunehmender Geschwindigkeit dahin, verdampfte und wurde vom aufziehenden grauen Nebel aufgesogen. Etwas entfernt, in den Schatten der Bäume, stieg der dunkle Nebel, gleich dem Dampf über einem frischen Leichnam an einem kalten Wintertag, langsam über dem Boden auf, ehe die düsteren Schwaden, getragen von der eben aufgekommenen schwachen Brise, hinter den dichten Vorhang aus Bäumen geweht wurden.

Im Schutz der Bäume wechselte der dunkle Nebel dann auf unbestimmte, für Richard kaum nachvollziehbare Weise die Richtung und verdichtete sich zu einem tintenschwarzen Schatten. Blitzartig, und ehe er recht begriff, was er sah, zerfiel die unheimliche Erscheinung in tausend flatternde Formen, die in alle Himmelsrichtungen auseinander stoben, so als hätte sich ein rätselhaftes Fantasiegebilde in regennasse Schatten und Nebel aufgelöst. Kurz darauf war nichts mehr zu sehen.

Ein Frösteln kroch Richards Wirbelsäule hoch.

Cara stand und staunte. »Habt Ihr das gesehen?«

Richard nickte. »Dem Verhalten nach ähnelte es ein wenig diesem Wesen in Altur’Rang, nachdem es sich durch die Wände auf mich gestürzt hatte. Das hat sich, unmittelbar bevor es meiner hätte habhaft werden können, auf mehr oder weniger die gleiche Weise aus dem Staub gemacht.«

»Demnach muss es sich wohl um dasselbe unheimliche Wesen handeln.«

Richard suchte die Schatten zwischen den Bäumen ringsum im frühmorgendlichen Platzregen mit den Augen ab. »Das wäre auch meine Vermutung.«

Auch Cara ließ den Blick auf der Suche nach Anzeichen einer Gefahr durch den umliegenden Wald schweifen. »Wir können von Glück reden, dass es genau im richtigen Moment zu regnen angefangen hat.«

»Ich glaube nicht, dass das der Regen war.«

Sie wischte sich das Wasser aus den Augen. »Aber was dann?«

»Mit Bestimmtheit kann ich das nicht sagen, aber womöglich war es einfach der Umstand, dass ich mich aus seiner Falle befreien konnte.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Bestie, die über solche Macht verfügt, sich so leicht beirren lässt weder jetzt noch das Mal davor.«

»Eine andere Erklärung habe ich nicht, aber ich kenne jemanden, der eine wissen könnte.« Er fasste Cara beim Arm. »Kommt jetzt. Lasst uns unsere Sachen zusammensuchen und dann von hier verschwinden.«

Mit einer Handbewegung wies sie in den Wald. »Geht Ihr die Pferde holen. Ich packe inzwischen unser Bettzeug zusammen. Trocknen können wir es später.«

»Nein. Ich möchte, dass wir diesen Ort sofort verlassen.« Rasch entnahm er seinem Bündel ein Hemd und einen Umhang, um wenigstens den Versuch zu unternehmen, einigermaßen trocken zu bleiben. »Die Pferde lassen wir hier zurück. Solange sie in ihrem Pferch eingesperrt sind, wo sie genügend Gras und Wasser haben, werden sie eine Weile gut zurechtkommen.«

»Aber zu Pferd könnten wir diesen Ort schneller verlassen.«

Er schob seine Arme in die Ärmel seines Hemdes, ohne den umliegenden Wald aus den Augen zu lassen. »Über den Gebirgspass können wir sie nicht mitnehmen, der ist an einigen Stellen viel zu eng, und ebenso wenig nach Agaden, wo Shota lebt. Gönnen wir ihnen also ihre wohlverdiente Verschnaufpause, während wir die Hexe besuchen. Sobald wir in Erfahrung gebracht haben, was sie über Kahlans jetzigen Aufenthaltsort weiß, können wir wieder zurückkommen und sie holen. Vielleicht weiß Shota sogar, wie wir dieses Wesen abschütteln können, das mich verfolgt.«

Cara nickte und stopfte die wenigen Gegenstände, die sie herausgenommen hatte, wieder in ihr Bündel zurück, dann holte auch sie einen Umhang hervor. Sie nahm ihr Bündel an einem Tragegurt auf und warf es sich über die Schulter. »Wir müssen noch ein paar Dinge aus unseren Satteltaschen drüben bei den Pferden holen.«

»Die lassen wir hier zurück. Ich möchte nicht mehr als unbedingt nötig mitschleppen müssen, das würde uns nur behindern.«

Den Blick in den dichten Regenschleier gerichtet, sagte sie: »Aber jemand könnte unsere Vorräte stehlen.«

»Kein Dieb würde sich in Shotas Nähe wagen.«

Erstaunt blickte sie zu ihm auf. »Und warum nicht?«

»Weil sie und ihr Gefährte durch diese Wälder streifen; und sie ist eine ziemlich unduldsame Frau.«

»Na, das ist ja großartig«, murmelte Cara.

Richard schwang sein Bündel herum auf seinen Rücken und marschierte los. »Kommt jetzt. Beeilt Euch.«

Sie hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten. »Habt Ihr jemals die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass die Hexe gefährlicher sein könnte als dieses Wesen?«

Er warf einen Blick über die Schulter. »Ihr seid heute Morgen von ausnehmend sonnigem Gemüt, wisst Ihr das?«

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