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»Shota, es tut mir Leid«, rief er ihr hinterher. »Aber Ihr habt es selbst gesagt, mein Leben gehört mir. Wenn Ihr mich auch nur ein kleines bisschen als Freund betrachtet – als jemanden, der Euch nicht völlig gleichgültig ist –, dann würdet Ihr wollen, dass ich mein Leben lebe, wie ich selbst glaube, es leben zu müssen, und nicht, wie Ihr es Euch vielleicht wünscht.«

Sie drehte sich um, ihre Brust wogte. »Schön. Du hast deine Entscheidung getroffen, Richard, und jetzt geh. Geh und lebe das, was von deinem Leben noch übrig ist.«

»Aber ich bin doch hergekommen, weil ich Eure Hilfe brauche.«

Shota bedachte ihn mit einem so unnahbaren Blick, wie er ihn noch nie bei einem Menschen gesehen hatte. Es war unverkennbar die Maske einer Hexe. Fast konnte er die Luft rings um sie her flimmern sehen. »Ich habe dir meine Hilfe gewährt – die zu erlangen mich Opfer gekostet hat, von denen du dir, wie ich ernsthaft bezweifeln möchte, nicht einmal ansatzweise einen Begriff zu machen vermagst. Nutze diese Hilfe, wie immer es dir beliebt. Und nun verlasse mein Heim.«

So gern er ihrer Bitte in diesem Moment nachgekommen wäre, so wenig es ihm behagte, sie unter Druck zu setzen, er war aus einem bestimmten Grund hergekommen, auf den sie noch immer nicht eingegangen war, und vorher würde er auf keinen Fall wieder gehen.

»Ich brauche unbedingt Eure Hilfe, um Kahlan wieder zu finden.«

Ihr Blick wurde noch eine Spur abweisender. »Wenn du klug bist, wirst du das Wissen, das ich dir gegeben habe, dazu benutzen, so lange wie möglich am Leben zu bleiben, entweder um deinen Teil zu einem Sieg über Jagang beizutragen, oder aber um irgendwelchen Hirngespinsten hinterherzujagen – was, ist für mich nicht länger von Belang. Geh einfach, ehe du dahinter kommst, warum Zauberer Angst davor haben, mich in meinem Heim zu besuchen.«

»Ihr sagtet, Eure Talente befähigten Euch, die Ereignisse im Fluss der Zeit zu sehen. Was seht Ihr mit Euren Talenten über meine Zukunft?«

Einen Augenblick lang schwieg Shota, schließlich wich sie seinem bohrenden Blick aus. »Aus irgendeinem Grund vermag ich den Fluss der Zeit nicht mehr eindeutig zu erkennen. So etwas kommt bisweilen vor.« Ihr Blick kehrte zurück, entschlossener denn je. »Wie du siehst, kann ich dir nicht weiterhelfen. Und jetzt geh.«

Er war fest entschlossen, sie nicht am Kern der Sache vorbeireden zu lassen. »Ihr wisst ganz genau, dass ich wegen eines Hinweises hergekommen bin, irgendetwas, das mir helfen könnte, etwas Licht in die rätselhaften Geschehnisse zu bringen. Es ist wichtig, und nicht bloß für Euch und mich. Verschließt Euch nicht vor mir, Shota, ich bitte Euch.«

Sie sah ihn herausfordernd an. »Wann hättest du jemals einen Rat befolgt, den ich dir gegeben habe?«

»Ich gebe ja zu, dass ich in der Vergangenheit nicht immer mit allem einverstanden war, was Ihr zu sagen hattet, aber ich wäre bestimmt nicht hier, wenn ich Euch nicht für eine Frau von scharfem Verstand hielte. Es ist richtig, einiges von dem, was Ihr mir in der Vergangenheit erzählt habt, stimmte, aber wenn ich mich andererseits strikt an Eure Anweisungen gehalten hätte, ohne mich im Lauf der Entwicklung auf mein eigenes Urteil zu verlassen, wäre ich gescheitert, und wir alle wären entweder unter die Herrschaft Darken Rahls geraten oder aber in den erbarmungslosen Armen des Hüters der Unterwelt gelandet.«

»Das sagst du.«

Er gab seinen nachsichtigen Tonfall auf und beugte sich ganz nah zu ihr. »Ihr werdet Euch doch wohl erinnern, wie Ihr mich im Dorf der Schlammmenschen aufgesucht habt, oder nicht? Wie Ihr mich angefleht habt, den Schleier wieder zu schließen, damit der Hüter nicht unser aller habhaft werden konnte? Ihr werdet doch noch wissen, wie versessen der Hüter darauf war, die mit der Gabe Gesegneten, aber auch Euch, eine Hexe, für alle Ewigkeit unvorstellbare Qualen erleiden zu lassen?«

Richard stieß ihr den gestreckten Finger gegen die Brust, um seinen Argumenten Nachdruck zu verleihen. »Nicht Ihr habt all die entsetzlichen Dinge durchgemacht, die nötig waren, um diese Entwicklung aufzuhalten sondern ich. Nicht Ihr musstet gegen die Schrecken des Hüters ankämpfen, damit der Schleier wieder geschlossen werden konnte – sondern ich. Ihr wart ja nicht einmal fähig, Eure Haut vor dem Hüter zu retten – selbst das musste ich noch tun.«

Sie sah ihn mit gesenkter Stirn von unten herauf an. »Ja, ich erinnere mich.«

»Und zwar mit Erfolg. Ich war es, der Euch dieses Schicksal erspart hat.«

»Du hast dir dieses Schicksal vor allem selbst erspart; dass dabei auch ich gerettet wurde, war gar nicht deine Absicht, das war nur eine Begleiterscheinung.«

Er stieß einen langen Atemzug aus und bemühte sich, die Geduld zu wahren. »Shota, ich spüre es geradezu. Ihr müsst etwas über diese Geschichte wissen – darüber, was Kahlan zugestoßen ist.«

»Ich sagte es bereits, ich kann mich an keine Frau namens Kahlan erinnern.«

»Richtig, und der Grund ist, dass etwas entsetzlich aus dem Lot geraten ist. Mir ist klar, dass Ihr Euch aus ebendiesem Grund nicht an sie erinnert, trotzdem bin ich überzeugt, dass Ihr irgendetwas wisst, das mir bei meiner Suche nach der Wahrheit helfen könnte – irgendein noch so kleiner Hinweis, der mir herauszufinden hilft, was hier in Wahrheit vor sich geht.«

»Du glaubst, du kannst einfach unaufgefordert in mein Heim spazieren, mein Leben in Gefahr bringen, mir deine üblichen Sprüche auftischen und dir damit ganz nach Belieben einen Teil meines Lebens und meiner Talente erkaufen?«

Richard starrte sie an. Nicht nur hatte sie nicht abgestritten, dass sie etwas wusste, das ihm womöglich helfen konnte, plötzlich war ihm auch klar geworden, dass er sich tatsächlich nicht in ihr getäuscht hatte. »Shota, hört auf, Euch zu verstellen und so zu tun, als wären meine Forderungen an Euch unberechtigt. Ihr wisst, ich habe Euch noch nie angelogen. Lasst Euch gesagt sein, dies ist auch für Euch wichtig, ob Ihr das nun einseht oder nicht. Mit anderen Worten: Ihr wisst etwas, das mir bei meiner Suche nach der Wahrheit behilflich sein könnte, nicht wahr?«

»Ich weiß eine Menge Dinge über die unterschiedlichsten Facetten der Wahrheit.«

»Aber wisst Ihr auch etwas, das ich wissen muss, um die Wahrheit über das herauszufinden, was mich dazu bewogen hat, Euch aufzusuchen?«

»Ja.« Na also! Mit rauer Stimme sagte er: »Nennt mir Euren Preis.«

»Du wirst nicht bereit sein, ihn zu bezahlen.«

Er überlegte, welchen Preis sie ihm wohl nennen würde. Sie betrachtete ihn auf eine Weise, die ihm das Gefühl gab, durchsichtig zu sein, aber ohne diese Information würde er nicht wieder gehen. Punktum. Immerhin ging es um Kahlans Leben. Was immer er tun musste, um ihr Leben zu retten, die Aufgabe seines eigenen eingeschlossen, er würde es tun.

»Nennt mir Euren Preis.«

»Das Schwert der Wahrheit.«

Die Welt schien schlagartig stillzustehen. »Was?«

»Du hast mich nach dem Preis für die Information gefragt, die ich dir geben kann, und dieser Preis ist das Schwert der Wahrheit.«

Richard stand wie gelähmt. »Das kann unmöglich Euer Ernst sein.«

Ein kaum merkliches Schmunzeln kräuselte ihre Mundwinkel. »Ist es aber.«

Ein Stück entfernt, zwischen den Bäumen, sah er den plötzlich hellwach gewordenen Samuel sich erheben. »Was in aller Welt wollt Ihr mit dem Schwert?«

»Du hast mich nach dem Preis gefragt, ich habe ihn dir genannt. Was ich damit anzufangen beabsichtige, sobald er entrichtet ist, muss dich nicht weiter kümmern.«

Richard fühlte den Schweiß zwischen seinen Schulterblättern hinabrinnen. »Shota ...«

Er schien sich nicht überwinden zu können, sich zu bewegen oder auch nur ein einziges Wort hervorzubringen. Er hatte etwas völlig anderes erwartet.

Shota kehrte ihm den Rücken zu und machte Anstalten, sich Richtung Straße zu entfernen. »Leb wohl, Richard. Es war nett, dich kennen zu lernen. Lass dich hier nicht mehr blicken.«

»So wartet doch!«

Shota blieb stehen und blickte über ihre Schulter. Ein Strahl des goldenen Sonnenlichts ließ die Locken ihres kastanienbraunen Haars aufleuchten. »Ja oder nein, Richard. Ich habe dir schon genug von mir gegeben, ohne eine Gegenleistung zu erhalten. Mehr wirst du von mir nicht bekommen, es sei denn, du zahlst den verlangten Preis. Aber dieses Angebot mache ich dir nur ein einziges Mal.«

Sie beobachtete ihn einen Moment lang, dann machte sie abermals Anstalten, sich abzuwenden. Zähneknirschend gab Richard schließlich nach. »Also gut.«

Doch sie blieb stehen. »Du bist also einverstanden?«

»Ja.« Sie wandte sich ganz herum, sah ihm in die Augen und wartete. Sofort hob er die Arme, um den Waffengurt über seinen Kopf zu ziehen, doch Cara war mit einem Satz bei ihm und fasste mit beiden Händen sein Handgelenk. »Was glaubt Ihr eigentlich, was Ihr da tut?«, fauchte sie ihn an. Ihr roter Lederanzug leuchtete im Licht der tief stehenden Sonne, als wollte er es mit dem feurigen Funkeln ihrer Augen aufnehmen. »Shota weiß etwas über dieses Durcheinander«, versuchte er ihr klar zu machen, »und ich muss unbedingt herausfinden, was sie mir dazu sagen kann. Ich wüsste einfach nicht, was ich sonst tun sollte. Mir bleibt gar keine andere Wahl.«

Cara löste eine Hand von seinem Handgelenk und presste sie gegen ihre Stirn, während sie versuchte, ihre Gedanken zusammenzunehmen und ihre plötzlich hektische Atmung zu beruhigen. »Das könnt Ihr unmöglich tun, Lord Rahl, auf gar keinen Fall. Ihr könnt nicht mehr klar denken. Ihr habt Euch von Eurer momentanen Schwäche hinreißen lassen, der Schwäche, etwas unbedingt zu wollen, das sie Eurer Meinung nach besitzt. Ihr habt Euch in den Kopf gesetzt, es unbedingt, unter allen Umständen haben zu müssen, dabei wisst Ihr nicht einmal, was sie überhaupt anzubieten hat. So wütend, wie sie auf Euch ist, hat sie wahrscheinlich gar nichts wirklich Wertvolles zu bieten.«

»Ich brauche unbedingt einen Hinweis, der mir hilft, die Wahrheit herauszufinden.«

»Und es gibt nicht die geringste Gewähr, dass ihre Antwort dies leisten kann. Hört auf mich, Lord Rahl, Euer Denken ist getrübt. Lasst Euch gesagt sein, der Preis ist viel zu hoch.«

»Für Kahlans Leben ist kein Preis zu hoch – erst recht nicht, wenn es sich bloß um einen Gegenstand handelt.«

»Aber es ist doch nicht Ihr Leben, was Ihr damit erkauft, sondern nur das Versprechen einer Hexe, Euch einen nützlichen Hinweis zu geben – einer Hexe, die Euch demütigen will, weil Ihr ihr gerade einen Korb gegeben habt. Nichts, was sie Euch je verraten hat, war letztlich so, wie ursprünglich behauptet, das habt Ihr eben selbst gesagt. Und diesmal wird es nicht anders sein. Ihr werdet Euer Schwert verlieren – und dafür keinen vernünftigen Gegenwert bekommen.«

»Ich muss es tun, Cara.«

»Das ist Wahnsinn, Lord Rahl.«

»Und wenn ich es bin, der wahnsinnig ist?«

»Was redet Ihr da?«

»Angenommen, ihr alle habt Recht, und Kahlan existiert tatsächlich nicht? Angenommen, ich bin wahnsinnig geworden? Das glaubt doch sogar Ihr. Ich muss wissen, was Shota mir zu sagen hat. Wenn ich mich in allem täusche, wovon ich fest überzeugt bin, was nützt dann mir, einem Verrückten, ein solches Schwert? Solltet ihr tatsächlich alle Recht haben, und ich bin einer Selbsttäuschung erlegen, wem könnte ich dann noch von Nutzen sein? Wem nütze ich, wenn ich den Verstand verloren habe? Zu was bin ich dann überhaupt noch nütze?«

Ein feuchter Glanz legte sich über ihre Augen. »Ihr seid nicht wahnsinnig.«

»Ach nein? Demnach glaubt Ihr also, dass es tatsächlich eine Frau namens Kahlan gibt, mit der ich verheiratet bin?« Als sie darauf nichts erwiderte, löste er ihre Hand von seinem Handgelenk. »Hätte mich auch überrascht.«

Erbost wandte sie sich herum zu Shota und deutete mit ihrem Strafer auf sie. »Ihr dürft ihm sein Schwert nicht wegnehmen!«

»Der Preis, den ich verlangt habe, ist nur eine Lappalie ... Das Schwert gehört nicht einmal ihm – es hat ihm nie gehört.«

Auf ihren lockenden Wink mit dem Finger kam Samuel, der die Szene aus dem Schatten beobachtet hatte, mit hastigen Trippelschritten zwischen den Bäumen hervor.

Sofort baute sich Cara zwischen Richard und Shota auf. »Es wurde ihm vom Obersten Zauberer persönlich als Geschenk überreicht. Lord Rahl wurde in das Amt des Suchers berufen und bekam dabei das Schwert der Wahrheit überreicht. Es gehört ihm!«

»Und woher hatte es wohl Eurer Meinung nach der Oberste Zauberer?« Sie wies mit dem Zeigefinger auf den Boden. »Er hatte es von hier. Der ehrenwerte Zedd ist hierher gekommen, in mein Heim, und hat es gestohlen. Richard trägt es also keineswegs zu Recht, sondern weil es irgendwann gestohlen wurde. Es seinem rechtmäßigen Besitzer zurückzugeben ist gemessen an dem, was er wissen möchte, wohl eine eher geringe Strafe.«

Als Cara ihren Strafer hob, hatte sie einen so gefährlichen Blick in den Augen, dass Richard sie sachte beim Handgelenk fasste und ihren Arm nach unten drückte, ehe sie etwas beginnen konnte, das allzu schnell einen hässlichen Ausgang hätte nehmen können. Er hatte keine Ahnung, wie eine solche Konfrontation ausgehen mochte, wollte aber weder riskieren, Shotas Enthüllungen zu verlieren ... noch Cara. »Ich tue, was ich tun muss«, erklärte er Cara mit ruhiger Stimme. »Macht die Sache nicht noch komplizierter, als sie schon ist.«

Er hatte sie bereits in allen erdenklichen Stimmungen erlebt, er hatte sie glücklich gesehen, traurig, entmutigt, entschieden, entschlossen und wütend, aber bis zu diesem Augenblick hatte er nie das Gefühl gehabt, dass ihr Zorn so bewusst und unmittelbar gegen ihn gerichtet war.

Und dann schoss ihm plötzlich ein Bild von ihr durch den Kopf, als sie, vor langer Zeit, schon einmal von unbarmherzigem Zorn erfüllt gewesen war, aber er konnte es sich in diesem Moment nicht leisten, sich von solchen Erinnerungen ablenken zu lassen, deshalb verbannte er sie aus seinem Verstand. Hier ging es um Kahlan, um die Zukunft, nicht um die Vergangenheit.

Richard streifte den Waffengurt über den Kopf und raffte ihn mit der Scheide in einer Hand zusammen. Samuel, der sich in der sicheren Nähe der Rockschöße seiner Herrin hielt, verfolgte wortlos das Geschehen, die gierigen Augen auf den mit Draht umwickelten Griff geheftet.

Richard nahm die glänzende, aus Gold und Silber gearbeitete Scheide mit beiden Händen und reichte sie, zusammen mit dem Waffengurt aus geprägtem Leder, Shota. Im ersten Moment machte sie Anstalten, es entgegenzunehmen, aber dann ging ein triumphierendes Lächeln über ihre Lippen. »Das Schwert gehört Samuel, meinem treuen Gefährten. Übergib es ihm.«

Wie versteinert stand Richard da. Er konnte Samuel unmöglich das Schwert der Wahrheit überlassen, vermutlich hatte er zu verdrängen versucht, was die Übergabe an Shota wirklich bedeutete. »Aber es war doch dieses Schwert, das ihn so zugerichtet hat. Zedd meinte, die Magie des Schwertes hätte ihm das angetan und ihn zu dem gemacht, was er jetzt ist.«

»Und sobald er sein rechtmäßiges Eigentum zurückerhalten hat, wird er wieder der sein, der er einst war, bevor dein Großvater ihm das Schwert gestohlen hat.«

Richard kannte Samuels Charakter; er ahnte, dass ihm alles zuzutrauen war, Mord eingeschlossen. Einem Kerl seines Schlags konnte er unmöglich einen so gefährlichen Gegenstand wie das Schwert der Wahrheit aushändigen!

Zu viele Burschen wie Samuel hatten das Schwert bereits getragen, hatten sich darum geprügelt, es einander gestohlen, es an den Meistbietenden verhökert, der daraufhin ein Sucher geworden war, dessen Dienste gegen Bezahlung für jeden verabscheuungswürdigen Zweck zu haben waren, sofern er nur den Kaufpreis wieder einbrachte. Heimlich war es im Schutz der Dunkelheit von Hand zu Hand gewandert, für niedrige und gewalttätige Zwecke missbraucht worden. Als Zedd das Schwert schließlich wiederbeschafft hatte und es Richard übergab, war der Sucher längst zum Ziel von Spott und Verachtung geworden, ein Mann, der nur noch als Übeltäter galt, und obendrein als gefährlich.

Wenn er Samuel das Schwert aushändigte, würde dies alles wieder passieren, alles würde von vorn anfangen. Tat er es hingegen nicht, dann hatte er keine Chance, die sehr viel größere Gefahr zu bannen, die der Welt drohte, keine Chance, Kahlan jemals wieder zu sehen. Obschon Kahlan ihm persönlich am meisten bedeutete, war er überzeugt, dass ihr Verschwinden eine weitaus rätselhaftere und unheilvollere Gefahr ankündigte, eine Gefahr von so diabolischem Ausmaß, dass er gar nicht darüber nachzudenken wagte. Als Sucher war er der Wahrheit verpflichtet und nicht dem Schwert, das ihren Namen trug! Zoll für Zoll, ohne die Augen von dem Schwert zu lassen, schob sich Samuel mit ausgestreckten Armen immer näher heran, die Handflächen wartend nach oben gedreht.

»Meins, gib her«, knurrte er ungeduldig, ein hasserfülltes Funkeln in den Augen. Richard hob den Kopf und betrachtete Shota. Diese verschränkte die Arme, als wollte sie andeuten, dass dies seine letzte Chance war, seine letzte Chance, jemals die Wahrheit zu erfahren. Hätte er einen anderen Weg gewusst, zu einer Lösung zu gelangen, ganz gleich, wie vage die Erfolgsaussichten auch sein mochten, er hätte das Schwert in diesem Moment wieder an sich genommen und es riskiert. Aber er durfte diese Chance nicht vertun, durfte die Hinweise, die Shota für ihn hatte, nicht aufs Spiel setzen. Mit zitternden Händen streckte Richard ihm das Schwert entgegen. Samuel, nicht gewillt, noch eine Sekunde länger zu warten, machte rasch einen Schritt nach vorn, riss es ihm aus den Händen und presste das Objekt seiner Begierde an seine Brust. Kaum hielt er es in Händen, ging ein merkwürdiger Ausdruck über sein Gesicht. Den Unterkiefer schlaff, die Augen staunend aufgerissen, blickte er kurz hoch in Richards Augen. Richard konnte sich nicht vorstellen, was Samuel infolge seiner Wiederinbesitznahme des Schwertes der Wahrheit in diesem Augenblick sah. Vielleicht, überlegte er, hatte ihn plötzlich eine ehrfürchtige Scheu ergriffen, als er merkte, dass es tatsächlich in seinen Besitz zurückgekehrt war.

Unvermittelt entfernte sich Samuel mit schnellen Schritten und verschwand flugs unter den Bäumen. Das Schwert der Wahrheit führte wieder ein Schattendasein.

Richard fühlte sich entblößt und benommen. Ziellos starrte er in die Richtung, in der Samuel verschwunden war, und wünschte sich auf einmal, er hätte Shotas Gefährten gleich bei seinem ersten Angriff getötet. Mehrfach hatte er es versucht, doch jedes Mal hatte er sich die Gelegenheit durch die Lappen gehen lassen. Er bedachte Shota mit einem galligen Blick. »Wenn er irgendjemandem auch nur ein Härchen damit krümmt, werdet Ihr es mit mir zu tun bekommen.«

»Nicht ich habe ihm das Schwert ausgehändigt, sondern du – und zwar aus eigenem, freiem Entschluss. Ich habe dir weder den Arm verdreht, noch habe ich dich mit meinen magischen Kräften zu zwingen versucht. Versuche nicht, die Verantwortung für deine Entscheidungen und dein Tun auf andere abzuwälzen.«

»Ich bin für seine Handlungen nicht verantwortlich. Sobald er irgendjemandem etwas antut, werde ich dafür sorgen, dass er diesmal für seine Verbrechen büßt.«

Shota ließ den Blick zu den Bäumen hinüberschweifen, die da und dort das weite Grasland sprenkelten. »Hier gibt es niemanden, dem er etwas antun könnte. Er hat sein Schwert zurück und ist glücklich.«

Das bezweifelte Richard ernsthaft; aber er behielt seine Verärgerung für sich und richtete sein Augenmerk stattdessen auf das anstehende Problem. Er hatte genug von ihren ewigen Ausflüchten und wollte jetzt endlich Nägel mit Köpfen machen.

»Jetzt habt Ihr Eure Bezahlung erhalten.«

Lange starrte sie ihn mit nicht entzifferbarer Miene an, bis sie schließlich mit völlig ruhiger Stimme ein einziges Wort aussprach: »Feuerkette.« Damit wandte sie sich herum und machte Anstalten, sich in Richtung Straße zu entfernen.

Er bekam sie am Arm zu fassen und wirbelte sie herum. »Was?«

»Du wolltest einen Hinweis von mir, der dir bei deiner Suche nach der Wahrheit helfen kann, und den habe ich dir gegeben: Feuerkette.«

Richard starrte sie fassungslos an. »Feuerkette? Was in aller Welt soll das bedeuten?«

Shota zuckte mit den Achseln. »Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur, dass es das ist, was du wissen musst, um herauszufinden, was in Wahrheit hinter alldem steckt.«

»Was soll das heißen, Ihr habt keine Ahnung? Ihr könnt mir doch nicht einfach irgendein Wort an den Kopf werfen, das ich noch nie gehört habe, und dann einfach gehen. Das ist wohl kaum eine angemessene Gegenleistung für das, was ich Euch gegeben habe.«

»Nichtsdestoweniger entspricht es der Vereinbarung, die du getroffen hast. Ich habe meinen Teil der Abmachung gehalten.«

»Ihr müsst mir erklären, was es bedeutet.«

»Aber ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass es den Preis wert ist, den du dafür entrichtet hast.«

Er war fassungslos, dass er sich auf einen Handel eingelassen hatte, bei dem er am Ende mit leeren Händen dastand. Mit seiner Suche nach Kahlan war er keinen Schritt weiter als vor seinem Besuch bei Shota! »Damit ist unser Handel abgeschlossen. Leb wohl, Richard. Geh jetzt, bitte. Es wird bald dunkel, und eins kann ich dir versichern: Wenn es erst dunkel ist, wird es dir hier nicht mehr gefallen.«

Damit trat Shota auf die Straße und hielt auf ihren fernen Palast zu. Während er ihr hinterher schaute, erteilte Richard sich selbst eine Rüge, weil er sich so bereitwillig mit dem Scheitern abgefunden hatte, ohne sich überhaupt um ein Gelingen zu bemühen. Immerhin war er jetzt im Besitz eines Hinweises, der irgendwie mit dem Rätsel in Verbindung stand. Er war ein Teil des Puzzles, ein Teil der Lösung und offenbar so wertvoll, dass ihn zuvor nur eine Hexe gekannt hatte. Für ihn war er der Beweis für die Existenz Kahlans und damit Grund genug, sich einzureden, er sei einen Schritt weiter. An diesen Glauben musste er sich klammern. »Shota!«

Sie blieb stehen, wandte sich herum und wartete, was er sagen würde. Sie schien auf einen Wutausbruch gefasst. »Danke«, rief er ihr mit ernster Stimme zu. »Ich weiß nicht, was mir der Hinweis Feuerkette nutzen wird, trotzdem möchte ich mich bei Euch bedanken. Ihr habt mir wenigstens einen Grund gegeben weiterzumachen. Als ich herkam, hatte ich den nicht. Dafür möchte ich Euch danken.«

Sie starrte ihn unverwandt an. Er konnte sich nicht vorstellen, was in diesem Moment in ihr vorging. Schließlich machte sie einen bedächtigen Schritt in seine Richtung, faltete die Hände vor dem Körper und senkte den Blick kurz zum Boden, ehe sie, blicklos zu den Bäumen hinüberstarrend, offenbar über etwas nachdachte. Schließlich sagte sie: »Was du suchst, ist lange begraben.« »Lange begraben?«, fragte er unschlüssig. »Wie schon im Falle des Begriffs Feuerkette, so kann ich dir auch hier nicht sagen, was es bedeutet. Die Dinge fliegen mir einfach zu, ich gebe diese Hinweise nur weiter – als eine Art Mittler, wenn man so will, aber ich bin nicht deren Quelle. Ich kenne die Bedeutung nicht, ich kann dir nur sagen, was du suchst, ist lange begraben.«

»Feuerkette, und etwas suchen, das lange begraben ist«, wiederholte Richard mit einem Nicken. »Verstehe. Ich werde es bestimmt nicht vergessen.«

Ein leichtes Kräuseln ging über ihre Stirn, so als wäre ihr noch etwas eingefallen. »Du musst die Stätte der Knochen im Herzen der Leere finden.«

Er fühlte eine Gänsehaut seine Beine heraufkriechen. Was bedeutete »Herz der Leere« ? Dem Klang nach schien es nichts Gutes zu verheißen, ebenso wenig wie die Suche nach irgendwelchen alten Knochen, also vermied er es erst einmal, über den tieferen und vermutlich unheilvollen Sinn nachzudenken. Shota wandte sich wieder der Straße zu und setzte sich abermals in Richtung ihres Palasts in Bewegung. Sie war noch kein Dutzend Schritte gegangen, da blieb sie erneut stehen und drehte sich um. Der Blick aus ihren alterslosen Augen begegnete seinem.

»Hüte dich vor der vierköpfigen Viper.«

Erwartungsvoll neigte Richard den Kopf zur Seite.

»Es mag dir in diesem Moment vielleicht nicht bewusst sein, aber ich habe dich sehr gerecht behandelt. Ich habe dir die Antworten geliefert, die du unbedingt haben wolltest. Du bist der Sucher – oder zumindest warst du es. Die Bedeutung, die sich hinter diesen Antworten verbirgt, wirst du selbst suchen müssen.«

Damit wandte sie sich ein letztes Mal herum und entfernte sich im goldenen Sonnenlicht auf der endlos scheinenden Straße.

»Gehen wir«, sagte er, an Cara gewandt. »Ich bin nicht erpicht darauf, herauszufinden, warum wir nicht mehr hier sein wollen, wenn es dunkel wird.«

Betrübt argwöhnte Richard, dass sie mit ihrer Bemerkung Recht haben könnte. Samuel würde sich kaum damit zufrieden geben, das Schwert wieder in seinem Besitz zu haben. Wahrscheinlicher war, dass er den rechtmäßigen Besitzer ausschalten wollte, und damit jede Möglichkeit, dass Richard Anspruch darauf erhob oder sonst irgendwie versuchte, es wieder in seinen Besitz zu bringen.

Denn trotz Shotas gegenteiligen Behauptungen war Samuel der eigentliche Dieb. Die Verantwortung für das Schwert der Wahrheit oblag dem Obersten Zauberer, er war es, der die Sucher ernannte und ihnen das Schwert aushändigte. Es gehörte keineswegs dem, der es, auf welche Weise auch immer, in seinen Besitz gebracht hatte, es gehörte dem wahren, von einem Zauberer ernannten Sucher, und das war Richard.

Mit einem schauderhaften Schrecken überkam ihn die plötzliche Erkenntnis, dass er das Vertrauen verraten hatte, das sein Großvater mit dem Überreichen des Schwertes in ihn gesetzt hatte. Aber welchen Wert hatte das Schwert für ihn, wenn es zu behalten bedeutete, dass Kahlan ihr Leben verlieren würde?

Für ihn war das Leben eines Menschen der höchste Wert, den es gab.

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