22

Bis zur Morgendämmerung war es noch eine Weile hin.

Die an den kräftigen Balken hängenden Laternen tauchten die Stallungen in ein anheimelndes Licht, und der breite Gang vor den Pferdeboxen und den kleinen Ställen war erfüllt vom staubigen Geruch nach frischem Stroh. Anfangs hatten die Männer und Frauen, manche in Begleitung ihrer Kinder, noch den Mittelgang gefüllt und an einigen Stellen sogar in die leeren Pferche ausweichen müssen, doch jetzt, nach Richards Ansprache vor den Angehörigen der Getöteten, hatten sich viele bereits wieder auf den Heimweg gemacht, nicht ohne ihm zuvor noch eine gute Reise zu wünschen.

»Dann also gute Reise, Lord Rahl«, sagte Henden, ein alter Mann, der wie so viele andere gekommen war, um Richards Ratschläge zu hören. »Danke für alles, was Ihr für uns getan habt. Wir freuen uns schon auf Eure Rückkehr in die freie Stadt Altur’Rang.«

Ehe Richard etwas erwidern konnte, hörte er unmittelbar draußen vor der Tür ein Durcheinander. Kurz darauf kamen einige Männer, die in der unmittelbaren Umgebung ihre Runden gemacht hatten, zur Tür herein, im Schlepp zwei kräftige Kerle. Die beiden – der eine hatte verfilztes, fettiges, strähniges Haar, während der andere kurz geschoren war – waren mit den gleichen braunen Überwürfen bekleidet, wie sie auch viele Stadtbewohner trugen.

Victor beugte sich zu Richard und raunte mit leiser Stimme: »Spione.«

Richard zweifelte nicht einen Augenblick daran. Die breiten Gürtel unter den Überwürfen, wahrscheinlich voll gestopft mit Waffen, waren nicht zu übersehen. Die Truppen der Imperialen Ordnung waren bereits bis in die unmittelbare Umgebung der Stadt vorgerückt und hatten vermutlich Kundschafter vorgeschickt, die in Erfahrung bringen sollten, welche Art Gegenwehr sie erwartete. Jetzt, da man sie gefangen genommen hatte, ließen sie sich vielleicht dazu bewegen, ein paar brauchbare Informationen über den bevorstehenden Angriff preiszugeben. Trotz des offensichtlichen Versuchs, ihre Kleidung entsprechend anzupassen, wirkten die beiden inmitten der Stadtbewohner völlig fehl am Platz. Die einfachen Kleider, die sie trugen, waren etwas zu knapp bemessen, um ihre kräftigen Körper zu bedecken. Keiner der beiden war wirklich groß, noch waren sie ungewöhnlich muskelbepackt, aber ihr Verhalten verriet, dass sie gut ausgebildet und abgeklärt genug waren, um sich zu helfen zu wissen. Beide schwiegen, doch ihre Augen waren ständig in Bewegung und nahmen alles ringsumher auf. Sie wirkten so brandgefährlich wie zwei Wölfe unter lauter Schafen. Als einer der beiden Wachposten sich herumdrehte, trat der Kerl mit den langen Haaren dem Mann, der ihn festhielt, mit unvermittelter Heftigkeit gegen das Schienbein. Der Wachposten schrie auf vor Schmerz und Schreck und ging zu Boden. Sofort befreite sich der Gefangene mit einer plötzlichen Körperdrehung aus dem Griff der Männer, die ihn an den Armen hielten, und schleuderte sie zur Seite. Einige der Umstehenden wurden zu Boden gestoßen, doch weitere Wachposten warfen sich auf den Mann, der sich losgerissen hatte. In dem Handgemenge holte sich manch einer eine blutige Nase.

Die gedämpfte Stimmung im Stallgebäude schlug schlagartig um, als ringsum Panik ausbrach. Frauen schrien, Kinder fingen an zu kreischen, Männer brüllten, Wachposten belferten Befehle. Eine Woge aus Verwirrung und Angst schwappte durch die Menge.

Der feindliche Spion, der sich losgerissen hatte, ein kräftiger Kerl, der mit Gegnern umzugehen und sich selbst auf verhältnismäßig beengtem Raum, wo nicht die Massen eingesetzt werden konnten, die nötig gewesen wären, um ihn durch schiere Übermacht zu überwältigen, einen Vorteil zu verschaffen wusste, sprang auf, einen wilden Schrei ausstoßend.

Er hielt Jamilas kleine Tochter bei den Haaren.

Irgendwie war es ihm in dem allgemeinen Durcheinander gelungen, jemandem ein Messer zu entreißen, und das presste er jetzt dem Mädchen an die Kehle. Das Kind schrie vor Entsetzen. Sofort stürzte Jamila zu ihr hin, nur um sich einen Tritt seitlich gegen den Kopf einzuhandeln. Ein weiterer Posten, am Boden auf der anderen Seite, erhielt ebenfalls einen hässlichen Fußtritt, als er die Gelegenheit nutzen wollte, sich an ihn heranzumachen. Unterdessen näherte sich Richard, seine ganze Konzentration auf die drohende Gefahr gerichtet, bereits ganz methodisch.

»Alles zurück!«, knurrte der Kerl die ihn von allen Seiten umringenden Leute an. Er warf den Kopf in den Nacken, um sein Gesicht von den fettigen Haaren zu befreien, ehe er die Leute mit wild umherzuckenden Blicken zurückscheuchte. Er war von dem kurzen Handgemenge immer noch außer Atem, und der Schweiß rann ihm über sein pockennarbiges Gesicht.

»Alles zurück, oder ich schlitze ihr die Kehle auf!«

Das Mädchen, von einer fleischigen Hand in seinem Haar hochgehalten, kreischte abermals vor Entsetzen. Er hielt sie fest gegen seinen Leib gepresst, sodass ihre Füße bei dem vergeblichen Versuch, sich zu befreien, ins Leere traten.

»Gebt ihn frei!«, befahl er den Wachposten, die noch immer seinen Kumpan festhielten. »Sofort! Oder die Kleine stirbt!«

Richard hatte sich bereits ganz seinem entfesselten Zorn hingegeben. Es würde keine Kompromisse geben, keine Verhandlungen, kein Pardon.

Er stand, den Körper zur Seite gedreht, in leicht geduckter Haltung, die rechte Seite dem Kerl zugewandt, der das Mädchen hielt, sodass dieser sein Schwert nicht sehen konnte. Der blickte ein ums andere Mal zu den Wachposten hinüber, die den anderen Kerl festhielten, ohne Richard besondere Beachtung zu schenken.

Der stämmige Kerl, der das leise wimmernde Mädchen hielt, ahnte nichts davon, aber in Gedanken hatte Richard die Tat bereits vollzogen. In seinen Gedanken war der Mann längst tot. Der Zorn der Magie des Schwertes war bereits entfesselt, da hatte seine Hand das Heft noch nicht berührt, und als sie es schließlich tat, durchflutete er ihn mit ungezügelter Wucht, verlieh seinen Muskeln Kraft und wurde eins mit seinem überwältigenden Verlangen, den tödlichen Gedanken in die Tat umzusetzen. Ein einziger Augenblick genügte, und seine innere Ruhe wich einem geradezu beängstigenden Drang zu handeln.

In diesem Augenblick hatte Richard keinen sehnlicheren Wunsch als das Blut dieses Mannes, nichts Geringeres würde ihn zur Ruhe kommen lassen. Die innere Gewissheit ließ alle Unsicherheit verglühen. Das Schwert der Wahrheit war ein Werkzeug der Absicht des Suchers, und diese Absicht war nun allzu klar. Jetzt, da Richards Hand das Heft seines Schwertes berührte, existierte nichts außer seinem Ziel, und sein einziges Ziel war es, den Mann dort vor ihm mit Tod und Verderben zu überziehen.

Der Mann mit dem Messer brauchte dieses nur über die zarte Schicht ihrer Haut zu ziehen, und das Mädchen würde sterben. Aber das würde eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen, nur wenig zwar, gewiss, aber trotzdem Zeit, denn zuvor würde er einen entsprechenden Entschluss fassen müssen. Und in diesem Moment war sein Leben mit dem des Mädchens verknüpft, denn wenn sie starb, verlor sein Schutzschild seinen Nutzen. Dies galt es zu bedenken – die Entscheidung, sie zu töten, musste abgewogen und gefällt werden, ehe er sie in die Tat umsetzen konnte –, ein Entscheidungsprozess, der einen winzigen flüchtigen Funken Zeit in Anspruch nehmen würde.

Richard dagegen hatte seinen Entschluss längst gefasst. Er drehte sich von der Gefahr fort, zeigte dem Mann mit dem Mädchen die Rückseite seiner Schulter und tat, als wende er sich ab, wie der Kerl es ihm befohlen hatte. Jetzt, da so viele Dinge seine ganze Aufmerksamkeit erforderten, würde er Richard unterschätzen und sein ganzes Augenmerk auf die sehr viel augenfälligere Bedrohung durch die Männer seitlich neben und hinter ihm richten.

Das mit Draht umwickelte Heft des Schwertes fest im Griff, nahm Richard einen tiefen Atemzug. Die Welt rings um ihn her schien in völliger Regungslosigkeit und Stille zu versinken. Am Scheitelpunkt seiner Rückwärtsdrehung hielt er kurz inne.

Richard fühlte sein Herz zu einer Kontraktion ansetzen.

Während die Leute aus der Stadt wie versteinert dastanden, der Kerl mit dem Messer kurz vor einer Gräueltat stand und der spitze Schrei des Mädchens sich zu einem drahtfeinen Laut dehnte, der diese winzige Leere in der Zeit zu füllen schien, entlud sich Richard unter Aufbietung seiner gesamten Körperkraft in einer einzigen explosiven Bewegung.

Seine Anspannung löste sich mit ungeheurer Wucht. Seine Klinge, aufgeladen nicht nur mit dem ihr innewohnenden Zorn, sondern auch mit Richards tödlicher Entschlossenheit, schoss aus der Scheide hervor. Gleichzeitig mit dem metallischen Klirren des Schwertes der Wahrheit, das seine Befreiung verkündete, entfuhr Richard ein wütender Schrei, ein Gebrüll, in das er, noch in der Drehung, seinen ganzen Zorn legte. Mit jeder Unze der ihm zur Verfügung stehenden Kraft, mit aller Geschwindigkeit und Wucht, die er aufzubieten vermochte, riss er die Klinge herum.

Einen winzigen Augenblick von kristallener Klarheit lang konzentrierte sich Richards Blick ganz auf den vor Überraschung erstarrten Mann mit dem Messer. Auf diese Lücke in der Zeit konzentrierte Richard all sein Streben, seine ganze Körperkraft, all seinen Zorn und sein Verlangen. Dieser Augenblick gehörte ihm allein, und er nutzte ihn für seine einzigartige Absicht.

Er konnte die Schweißtropfen des Mannes sich von dessen Gesicht lösen sehen, als dessen Kopf zu ihm herumfuhr; winzige Punkte des gelblich-trüben Scheins der Laternen spiegelten sich in ihnen, als sie scheinbar schwerelos in der Luft zu stehen schienen. Jeden Lichtpunkt jeder einzelnen Laterne konnte er sich in den einzelnen Schweißtropfen widerspiegeln sehen, als sein Schwert unendlich langsam seine Bahn beschrieb. Ja, sogar die einzelnen Strähnen seines Haars hätte er zählen können, als es um den Kopf des Kerls peitschte und für einen Moment zusammen mit den Tröpfchen in der Luft schwebte. Richard wusste, dass alle Augen hier im Stall auf ihn gerichtet waren, auch die des Mädchens, aber das kümmerte ihn nicht. Das Einzige, was für ihn zählte, waren jene dunklen Augen, die endlich, ganz allmählich, seinem zornigen Blick begegneten.

Und in diesen Augen sah er die Geburt eines Gedankens aufflackern. Die Spitze seines Schwertes sirrte durch die staubige Luft, der Schein der Laternen brach sich im rasiermesserscharfen Stahl. Er sah die Klinge sich in den dunklen Augen des Mannes spiegeln, Augen, in denen jetzt das erste Aufflackern der Erkenntnis des vollen Ausmaßes der Gefahr zu erkennen war.

Das Schwert schoss heran und näherte sich peitschenschnell diesen Augen, vollführte einen Bogen in Richtung auf das Ziel, das Richard mit dem Blick fixierte.

In diesem Moment schloss der Mann seine Überlegung ab und entschied sich zu handeln – und in diesem unendlich kurzen Zeitabschnitt, der nötig war, um diesen Gedanken zu Ende zu denken, durchmaß die Klinge den größten Teil der Entfernung. Seine Entscheidung war noch nicht ganz getroffen, da ließ ihn Angst vor Richards Schlachtgebrüll zusammenzucken.

In diesem winzigen Augenblick, als Angst und Vorsatz miteinander rangen, hielten die Muskeln des Mannes inne.

Es wurde ein Wettlauf, wer seine Klinge zuerst sich in das Fleisch des anderen bohren sehen würde, ein Wettlauf, in dem eine Niederlage unwiderruflich sein würde.

Den Blick fest auf die Augen des Mannes geheftet, sah Richard endlich sein Schwert mit beängstigender Geschwindigkeit in sein Gesichtsfeld eintreten, ein Anblick, der ihn mit gelöster Heiterkeit erfüllte. Angetrieben von kolossalem Zorn, traf die Klinge, genau wie von Richard beabsichtigt, den Mann seitlich am Kopf in Höhe seiner dunklen Augen.

In diesem Moment löste sich der winzige, bis zum Zerreißen angespannte Augenblick kristallener Klarheit auf in Lärm und Raserei. Die Welt in Richards Gesichtsfeld färbte sich rot, als der Kopf des Mannes ober- und unterhalb der sich krachend in seinen Schädel bohrenden Klinge auseinander platzte. Das hammerharte Klingen beim Aufprall hallte durch das Stallgebäude. Knochen zersplitterten, eine Gischt aus dunkelroten Tropfen schoss in die Höhe und zerstob; die gesamte obere Schädelhälfte wurde abgehoben. Knochensplitter, Gewebefetzen und Blut zeichneten die Bahn des Schwertes in einer langen Spur an der Stallwand nach.

Ein einziger Augenblick mörderischer Gewalt raffte das Leben des Mannes dahin, doch Richards unerbittlicher Zorn bewahrte ihn davor, auch nur einen Hauch von Mitleid zu empfinden. Die Wucht des Aufpralls bewirkte, dass der Messerarm des Mannes sich von dem Mädchen löste, ehe der Schwung von Richards Schwert vollends abgeschlossen war. Der Körper des Mannes begann, in sich zusammenzusinken, als sei er nichts weiter als eine knochenlose Masse. Richard hörte die Leute entsetzt aufstöhnen, nicht wenige schrien.

Das kleine Mädchen stolperte, vor Entsetzen kreischend, mit hastigen Schritten in die ausgestreckten Arme seiner Mutter.

Die Klinge schräg vor dem Körper, bereit, sich jeder weiteren Gefahr zu stellen, blickte Richard in die Augen des zweiten Mannes, der, von Victors Männern gehalten, noch immer an seinem Platz stand. Er unternahm keinerlei Versuch, zu fliehen oder sich zu wehren.

In diesem Moment zwängte sich Victor durch eine Lücke der Schaulustigen, seine schwere Keule kampfbereit erhoben. Von irgendwoher erschien Cara hinter Richards Rücken, den Strafer in der Hand. In diesem Moment erblickte Richard zum ersten Mal auch Nicci, die mit erhobenen Armen durch den Mittelgang auf sie zugelaufen kam.

»Halt!«, schrie sie. »Aufhören!«

Überrascht richtete sich Victor auf. Nicci packte seine erhobene Hand am Gelenk, so als glaubte sie, er sei im Begriff, den anderen Gefangenen niederzuprügeln.

»Zurück, Schmied!«

Verblüfft hielt Victor inne und ließ seinen Arm sinken.

Ein wutentbranntes Funkeln in den Augen, wandte Nicci sich an Richard. »Du auch, Zimmermann! Du wirst jetzt tun, was ich sage, und dich mäßigen. Hast du verstanden?«, kreischte sie aufgebracht. Richard maß sie mit verständnislosem Blick. Zimmermann?

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