7

Auf ihrem Marsch nach Altur’Rang hatten sie den ganzen Nachmittag über ein gleichmäßig forsches Tempo angeschlagen. Nach dem brutalen Gemetzel unter den Männern hatte keiner der vier übermäßig großen Appetit verspürt, trotzdem wussten sie, dass sie essen mussten, wenn ihre Kraftreserven für den Fußmarsch reichen sollten, also hatten sie auf ihrem Weg durch die weglose Wildnis Trockenfleisch und Reisekekse zu sich genommen, wenn auch nur mit leisem Widerwillen. Richards Erschöpfung war mittlerweile so weit fortgeschritten, dass er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Um den Weg abzukürzen, aber auch, um zu verhindern, dass sie gesehen wurden, hatte er die anderen durch dichten Wald geführt, auf einer Route weit abseits aller Pfade, wo das Vorankommen meist überaus beschwerlich war. Der Marsch an diesem Tag war eine schlimme Strapaze gewesen, Kopfschmerzen plagten ihn, sein Rücken schmerzte und seine Beine nicht minder. Aber wenn sie zeitig aufbrachen und das kräftezehrende Tempo beibehielten, konnten sie Altur’Rang womöglich schon nach einem weiteren Tagesmarsch erreichen. Und wenn sie sich erst Pferde beschafft hatten, würde das Reisen weniger beschwerlich werden und vor allem schneller vonstatten gehen.

Richard tat, als sei er mit dem Bau eines Unterschlupfes für die Nacht beschäftigt, war aber mit den Gedanken nicht wirklich bei der Sache. Wie immer um sein Wohlergehen besorgt, beobachtete Cara ihn im schwindenden Licht immer wieder aus den Augenwinkeln.

Während er seine Arbeit versah, grübelte Richard über die vage, gleichwohl durchaus reale Möglichkeit nach, dass Soldaten der Imperialen Ordnung die Wälder nach ihnen durchkämmen könnten. Gleichzeitig beschäftigte ihn nach wie vor die bohrende Frage, was Victors Männer getötet haben konnte – und sie womöglich in diesem Moment verfolgte. Er dachte darüber nach, welche zusätzlichen Vorsichtsmaßnahmen er treffen könnte, und überlegte, wie er sich gegen etwas zur Wehr setzen sollte, das zu einem derart brutalen Gewaltakt fähig war. Vor allem aber versuchte er immer wieder der Frage nach Kahlans Aufenthaltsort nachzugehen. In Gedanken spielte er jedes Detail seiner Erinnerung durch und grübelte darüber nach, ob sie nun verletzt war oder nicht. Er quälte sich mit der Frage, was er womöglich falsch gemacht hatte, und sah sie vor sich, von Angst und Zweifeln und der bangen Frage erfüllt, wieso er nicht kam, um ihr zur Flucht zu verhelfen, wieso er sie nicht längst gefunden hatte und ob er sie überhaupt jemals finden würde, ehe ihre Häscher sie umbrachten. Nur mit größter Mühe gelang es ihm, die bohrende Vorstellung aus seinen Gedanken zu verbannen, dass sie womöglich längst tot war – und was man einer Gefangenen ihres Ranges Schlimmes antun könnte, Dinge, die vielleicht unendlich viel grausamer waren als eine simple Hinrichtung, wagte er gar nicht erst, sich auszumalen. Jagang hatte allen Grund, ihr zu wünschen, dass sie seine Foltern lange überlebte, denn nur ein Lebender konnte Schmerz empfinden. Von Anfang an hatte Kahlan Jagangs ehrgeizige Pläne immer wieder durchkreuzt, seine Siege bisweilen sogar in Misserfolge umgemünzt. So hatten die allerersten Expeditionsstreitkräfte der Imperialen Ordnung in der Neuen Welt – neben zahlreichen anderen Gräueltaten – die gesamte Einwohnerschaft der großen galeanischen Stadt Ebinissia hingemetzelt. Kahlan war am Schauplatz dieses grässlichen Verbrechens eingetroffen, kurz nachdem eine Truppe junger galeanischer Rekruten ihn entdeckt hatte. Trotz ihrer zehnfachen Unterlegenheit waren diese jungen Männer in ihrem blinden Zorn ganz versessen auf den Ruhm erfolgreicher Rache und wild entschlossen gewesen, ebenjenen Soldaten auf dem Schlachtfeld die Stirn zu bieten, die ihre Angehörigen gefoltert, vergewaltigt und ermordet hatten.

Kahlan traf auf diese von Captain Bradley Ryan angeführten Rekruten, unmittelbar bevor sie in eine lehrbuchmäßige Feldschlacht marschieren wollten, die, wie ihr sofort klar wurde, ihren sicheren Tod bedeutet hätte. Sie wusste, wie die erfahrenen Soldaten der Imperialen Ordnung kämpften, wusste, dass diese jungen Rekruten, wenn sie ihnen erlaubte, ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen, geradewegs in einen gewaltigen Fleischwolf hineinmarschieren würden, in dem sie bis zum letzten Mann umkommen würden. Also hatte sie das Kommando über diese jungen Rekruten übernommen und sich an die Arbeit gemacht, ihnen ihre naiven Vorstellungen von einem fairen Kampf auszutreiben. Es gelang ihr, ihnen klar zu machen, dass es für sie nur ein einziges Ziel gab: das Töten der Eindringlinge. Wie die jungen Galeaner es schafften, sich über die Leichen dieser brutalen Rohlinge zu erheben, war ganz egal, was zählte, war, dass sie es schafften. Bei diesem tödlichen Unterfangen gab es keinen Ruhm zu ernten, es ging ums nackte Überleben. Und so kämpften diese blutjungen Rekruten am nächsten Tag an ihrer Seite, befolgten ihre Befehle, lernten von ihr und mussten entsetzliche Verluste hinnehmen, letztendlich aber töteten sie die fünfzigtausend Mann starke Vorhut der Imperialen Ordnung bis zum letzten Mann – eine in der Geschichte nahezu beispiellose militärische Glanzleistung.

Es war der erste von zahlreichen Schlägen, die Kahlan Jagang beibrachte. In Richards Abwesenheit – Nicci hatte ihn kurz zuvor in die Alte Welt verschleppt – war sie anschließend aufgebrochen, um sich Zedd und den Streitkräften des d’Haranischen Reiches anzuschließen und hatte bei der Entwicklung von Schlachtplänen geholfen, mit dem Erfolg, dass Jagangs Armee hunderttausende Soldaten verlor.

Kahlan hatte die Armee der Imperialen Ordnung ausgeblutet und entscheidend dazu beigetragen, dass ihr Vormarsch vor der Stadt Aydindril zum Erliegen kam – kurz vor dem Erreichen ihres Endziels, der Eroberung D’Haras und der Unterwerfung der Neuen Welt durch die brutale Herrschaft der Glaubensgemeinschaft des Ordens.

Jagangs Hass auf Kahlan wurde nur von seinem Hass auf Richard übertroffen. Erst vor kurzem hatte er einen äußerst gefährlichen Zauberer auf sie angesetzt, sodass Richard und Kahlan sich nur mit knapper Not ihrer Gefangennahme hatten entziehen können.

Er wusste, dass man in den Reihen der Imperialen Ordnung größten Gefallen daran fand, dafür zu sorgen, dass gefangen genommene Feinde abscheulichste Qualen erlitten – und außer ihm selbst gab es niemanden, den Jagang lieber foltern lassen würde als die Mutter Konfessor. Er würde weder Zeit noch Mühen scheuen, ihrer habhaft zu werden. Für Kahlan würde sich Kaiser Jagang die unaussprechlichsten Torturen aufsparen. Plötzlich merkte Richard, dass er, eine Hand voll Tannenzweige in den Händen, am ganzen Körper zitterte und fror. Cara beobachtete ihn schweigend. Er ließ sich abermals auf die Knie hinunter und ging daran, die Zweige an ihren Platz zu stopfen, während er mit aller Gewalt versuchte, diese entsetzlichen Gedanken aus seinem Kopf zu verbannen. Auch Cara nahm ihre Arbeit wieder auf. Unter Aufbietung aller Kräfte konzentrierte er sich ganz auf die Fertigstellung ihres Unterschlupfes. Je eher sie Schlaf fanden, desto ausgeruhter würden sie beim Aufwachen sein und umso kraftvoller würden sie ausschreiten können. Obwohl sie sich weitab aller Straßen und ein gutes Stück abseits der Pfade befanden, hatte Richard nach wie vor darauf bestanden, kein Lagerfeuer zu entzünden, da er befürchtete, Soldaten auf Erkundungsgang könnten es erspähen.

Nicci schleppte einen Arm voll Balsamzweige herbei, während Richard noch immer damit beschäftigt war, diese zu verarbeiten. Auch Victor schleppte eine schwere Ladung Balsamzweige heran und legte sie zu Richards Füßen ab. »Braucht Ihr noch mehr?«

Richard tippte den Haufen mit der Stiefelspitze an, um anhand seiner Dichte abzuschätzen, wie weit er reichen und wie dicht er das noch verbliebene Gestänge bedecken würde. »Nein, ich denke, mit diesen hier und denen, die Nicci gerade bringt, sollten wir auskommen.«

Nicci ließ eine weitere Ladung neben der von Victor auf den Boden fallen. Es erschien ihm sonderbar, Nicci eine solche Arbeit verrichten zu sehen; selbst mit einem Büschel Tannenzweigen in den Armen hatte ihre Erscheinung etwas Stattliches. Gewiss, auch Cara war eine auffallend schöne Frau, doch wegen ihres üblicherweise dreisten Auftretens wirkte die Errichtung eines Unterschlupfes oder das Herstellen eines dornenbewehrten Dreschflegels zum Töten irgendwelcher Eindringlinge bei ihr ganz natürlich. Bei Nicci dagegen wirkte diese Schufterei im Wald unnatürlich, so als wollte sie sich darüber beklagen, sich die Hände schmutzig zu machen, wenngleich sie es nie tat. Nicht dass sie sich jemals gesträubt hätte zu tun, was er von ihr verlangte, nur wirkte sie dabei einfach völlig fehl am Platz. Wegen ihres vornehmen Auftretens schien es einfach unter ihrer Würde, Zweige für einen Unterschlupf im Wald herbeizuschaffen. Nachdem sie einen ausreichend großen Vorrat an Zweigen für Richard herbeigeschleppt hatte, stand sie, die Arme zitternd um den Körper geschlungen, schweigend unter den tröpfelnden Bäumen, während er mit von der Kälte tauben Fingern rasch die restlichen Zweige einflocht. Beim Befestigen der Zweige sah er Cara gelegentlich ihre Hände unter die Achselhöhlen schieben. Nur Victor war äußerlich nicht anzumerken, ob er fror. Vermutlich, überlegte Richard, genügte ihm meist schon sein glutvoller Blick, um sich zu wärmen. »Warum legt ihr drei euch nicht ein wenig schlafen?«, schlug Victor vor, während Richard den letzten Zweig am Unterschlupf befestigte. »Wenn keiner was dagegen hat, übernehme ich erst einmal die Wache. Ich bin nicht sehr müde.«

Dem übellaunigen Unterton in seiner Stimme entnahm Richard, dass er vermutlich noch eine ganze Weile nicht müde werden würde. Er konnte Victors Verbitterung durchaus verstehen, bestimmt würde der arme Kerl seine ganze Wache damit verbringen, darüber nachzugrübeln, was er Ferrans Mutter und den Angehörigen der anderen Männer erzählen sollte.

Verständnisvoll legte ihm Richard eine Hand auf die Schulter. »Wir wissen nicht, womit wir es zu tun haben. Zögere also nicht, uns zu wecken, sobald du etwas auch nur im Entferntesten Ungewöhnliches hörst oder siehst. Und vergiss nicht, in den Unterschlupf zu kriechen und dir deinen Anteil an der Nachtruhe zu gönnen; der Reisetag morgen wird lang. Wir müssen alle bei Kräften sein.«

Victor nickte. Richard sah zu, wie der Schmied seinen Umhang aufnahm und ihn sich um die Schultern warf, ehe er in die Wurzeln und festsitzenden Schlingpflanzen griff, um über den Felsen oberhalb des Unterschlupfes bis zu jener Stelle hinaufzuklettern, von wo aus er über sie wachen würde. Nicci legte Richard eine Hand an die Stirn, um zu prüfen, ob er fieberte. »Du brauchst dringend Ruhe und wirst heute Nacht keine Wache übernehmen. Wir werden uns zu dritt abwechseln.« Er wollte schon widersprechen, wusste aber, dass sie Recht hatte. Es war eine Auseinandersetzung, auf die er sich am besten gar nicht erst einließ, und so erklärte er sich stattdessen mit einem Nicken einverstanden. Cara, die offenkundig bereit gewesen war, sich im Falle eines Widerspruchs sofort auf Niccis Seite zu schlagen, kehrte der kleinen Lücke in den Zweigen, durch die sie die beiden beobachtet hatte, wieder den Rücken zu. Unterdessen war das Schnarren, das in der aufkommenden Dunkelheit von allen Seiten zu kommen schien, zu einem schrillen Zirpen angeschwollen. Jetzt, da die mühevollen Arbeiten zur Errichtung des Unterschlupfes abgeschlossen waren, war das Getöse kaum noch zu überhören – der ganze Wald schien von hektischer Betriebsamkeit nur so zu wimmeln. Schließlich bemerkte es auch Nicci und hielt inne, um sich umzusehen. Ihre Stirn legte sich in Falten. »Was ist das eigentlich für ein Lärm?«

Richard pflückte eine leere Haut vom Stamm eines Baumes. Überall im ganzen Wald waren die Stämme mit den blassbraunen, daumengroßen Hülsen bedeckt.

»Zikaden.« Richard schmunzelte, als er die zarte Haut des Tieres, das einst darin gelebt hatte, in seine Handfläche rollen ließ. »Das ist alles, was übrig bleibt, nachdem sie sich gehäutet haben.«

Nicci warf einen flüchtigen Blick auf die leere Hülse in seiner Hand, dann ließ sie ihre Augen über ein paar andere schweifen, die ringsum an den Bäumen hafteten. »Auch wenn ich den größten Teil meines Lebens in Ortschaften und Städten sowie in geschlossenen Räumen verbracht habe, seit dem Verlassen des Palasts der Propheten war ich auch viel draußen in der freien Natur. Diese Insekten kommen bestimmt ausschließlich in diesen Wäldern vor, ich kann mich nämlich nicht erinnern, sie jemals zuvor gesehen oder gehört zu haben.«

»Das wäre auch schlecht möglich gewesen. Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, war ich noch ein kleiner Junge. Diese Zikadenart kommt alle siebzehn Jahre aus dem Boden hervor, und dies ist der erste Tag, an dem sie zu schlüpfen beginnen. Sie werden nur wenige Wochen zu sehen sein, nämlich während sie sich paaren und ihre Eier ablegen, danach werden wir sie für die nächsten siebzehn Jahre nicht mehr zu Gesicht bekommen.«

»Tatsächlich?« Sofort erschien Caras Kopf wieder in der Lücke. »Alle siebzehn Jahre?« Sie ließ sich das einen Moment durch den Kopf gehen, dann schaute sie hoch zu Richard. »Trotzdem sollten sie uns besser nicht länger wach halten.«

»Wegen ihrer ungeheuren Zahl erzeugen sie ein wahrhaft unvergessliches Geräusch. Wenn unzählige dieser Zikaden gleichzeitig zirpen, so wie jetzt, kann man das harmonische An- und Abschwellen ihres Gesangs manchmal wie eine Welle durch den Wald gehen hören. Zunächst erscheint einem ihr Zirpen in der nächtlichen Stille ohrenbetäubend, aber ob Ihr es glaubt oder nicht, nach einer Weile hat es tatsächlich sogar eine einschläfernde Wirkung.«

In der zufriedenen Gewissheit, dass die Insekten ihren Schützling nicht wach halten würden, verschwand Cara wieder im Unterschlupf.

Richard erinnerte sich, wie erstaunt er gewesen war, als Zedd ihm bei einem Spaziergang durch den Wald die frisch geschlüpften Kreaturen gezeigt und ihm alles über ihren siebzehnjährigen Lebenszyklus erzählt hatte. Jetzt überkam ihn eine Woge tiefer Traurigkeit, denn diese unschuldige Zeit seines Lebens war für immer vorbei. Als kleiner Junge war ihm das Schlüpfen der Zikaden so ziemlich als das erstaunlichste Phänomen erschienen, das er sich hatte vorstellen können, und siebzehn Jahre bis zu ihrer Rückkehr zu warten erschien ihm als die schwerste Aufgabe, die er jemals würde bewältigen müssen. Und nun waren sie tatsächlich zurückgekehrt – und er war ein erwachsener Mann. Er warf die leere Hülse fort.

Richard legte seinen durchnässten Umhang ab, kroch hinter Nicci nach drinnen und zog die Zweige zusammen, um die Eingangsöffnung ihres behaglichen Unterschlupfes zu verschließen. Die dichten Zweige dämpften den schrillen Gesang der Zikaden etwas, und kurz darauf ließ ihn das unablässige Gesumm schläfrig werden. Zu seiner Freude stellte er fest, dass die Balsamtannenzweige den Regen wirkungsvoll abhielten, sodass es in dem höhlenartigen Unterschlupf, wenn schon nicht warm, so doch wenigstens trocken blieb. Sie hatten ein Bett aus Zweigen über den nackten Boden gelegt, um eine vergleichsweise weiche und trockene Fläche zu erhalten, auf der es sich schlafen ließ.

Richard sehnte sich nach einem heißen Bad und hoffte, dass wenigstens Kahlan warm und trocken und unverletzt war. Müde und schläfrig, wie er war, fasste er dennoch einen Entschluss: Noch vor dem Einschlafen würde er in Erfahrung bringen, was Nicci über die Todesursache von Victors Männern wusste.

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