40

Als Richard und Cara an eine Stelle gelangten, wo die prachtvollen Rotbuchen und Ahornbäume auf dem höchsten Punkt einer Anhöhe ein kleines Wäldchen bildeten, suchte er, nach Anzeichen einer drohenden Gefahr Ausschau haltend, die umliegenden Hügel mit den Augen ab. Die geraden, hoch gewachsenen Stämme, die sich mit zunehmender Höhe in sanftem Schwung immer mehr verzweigten, gaben Richard das Gefühl, unter massiven, das gewölbte Dach einer gewaltigen Kathedrale aus Grün stützenden Säulen zu stehen. Eine sanfte Brise trug den Duft von Wildblumen heran, und durch den Baldachin aus leise raschelnden Blättern konnte er immer wieder quälend verlockende Blicke auf die emporstrebenden Türme von Shotas Palast erhaschen. Streifen goldenen Sonnenlichts fielen zitternd durch das Blattwerk und tanzten über das niedrige Gras. Durch eine Öffnung in einem flachen Flussstein sprudelte das Wasser einer Quelle, ehe es an dessen glatt geschliffenen Seiten herabrann und zu einem seichten, mäandernden Bachlauf wurde, in dessen Bett man da und dort kleinere Steine liegen sah, deren Oberfläche eine Schicht aus flaumiggrünem Moos bedeckte. Auf einem Felsen am Ufer des Bachlaufs, im scheckigen Sonnenlicht, saß, elegant auf einen Arm gestützt, eine Frau mit einer dichten Mähne blonden Haars und ließ das glasklare Wasser durch ihre Finger rinnen. Es war, als leuchtete sie innerlich, ja, selbst die Luft rings um sie her schien von einem ganz besonderen Licht erfüllt. Obwohl sie ihm den Rücken zukehrte, erschien sie ihm nur zu vertraut. Cara beugte sich zu ihm und fragte in vertraulichem Ton: »Ist das nicht Nicci?«

»In gewisser Hinsicht wünschte ich, sie wäre es, aber sie ist es nicht.«

»Seid Ihr sicher?«

Richard nickte. »Ich habe Shota dies schon einmal machen sehen. Bei unserer allerersten Begegnung erschien sie mir in Gestalt meiner verstorbenen Mutter.«

Cara sah kurz zu ihm herüber. »Welch eine grausame Täuschung.«

»Sie behauptete, es sei ein Geschenk, eine Aufmerksamkeit, die für einen kurzen Augenblick eine liebe Erinnerung wachrufen sollte.«

Cara schnaubte skeptisch. »Und welchen Grund könnte sie haben, Euch Nicci in Erinnerung rufen zu wollen?«

Er warf Cara einen Blick zu, wusste aber keine Antwort auf ihre Frage. Als sie schließlich beim Felsen anlangten, erhob sich die Frau mit einer eleganten Bewegung und wandte sich zu ihnen herum. Ein blaues, wohl vertrautes Augenpaar begegnete seinem Blick. »Richard«, begrüßte ihn die Frau, dje Nicci aufs Haar glich. Selbst ihre Stimme war von derselben seidigen Sanftheit, nur der tiefe Ausschnitt ihres geschnürten Leibchens schien etwas gewagter als in seiner Erinnerung. »Ich bin überaus erfreut, dich wieder zu sehen.« Sie legte ihm die Handgelenke auf die Schultern und verschränkte beiläufig die Finger hinter seinem Kopf. Die Luft rings um sie her schien plötzlich leicht getrübt, was ihrer Erscheinung etwas verschwommen Weichgezeichnetes, Unwirkliches verlieh. »Mehr als erfreut sogar«, setzte sie mit atemloser Leidenschaft hinzu.

Nicht einmal Nicci selbst hätte ihrem Ebenbild ähnlicher klingen oder aussehen können. Die Täuschung war so absolut überzeugend, dass Cara mit hängender Kinnlade dastand, und sogar Richard verspürte fast so etwas wie Erleichterung über das Wiedersehen mit der Hexenmeisterin – wenn auch nur fast. »Ich bin gekommen, um mit Euch zu sprechen, Shota.«

Ein geziertes, fast scheues Lächeln ging über ihre eleganten Züge. »Eine Plauderei unter Liebenden?«

Sie ließ ihre Finger durch das Haar an seinem Hinterkopf gleiten, während ihr sanftmütiges Lächeln einen Ausdruck zärtlicher Leidenschaft annahm, der auf ihre Augen übersprang, in denen sich ihr Entzücken über das Wiedersehen spiegelte. In diesem Moment wirkte sie freudiger, mehr von stiller Zufriedenheit erfüllt und im Frieden mit sich selbst, als er dies bei Nicci je beobachtet hatte. Außerdem glich sie Nicci äußerlich so sehr, dass er Mühe hatte, sich immer wieder klarzumachen, dass sie Shota war. Wenigstens ihr Auftreten erinnerte weit eher an Shota als an Nicci, Nicci wäre niemals so draufgängerisch gewesen, von dem vertraulichen Umgangston einmal ganz abgesehen. Es konnte also nur Shota sein.

Sachte zog sie ihn näher zu sich heran. Noch im selben Moment hatte Richard Mühe, sich einen Grund zu überlegen, warum er sich dem widersetzen sollte, spontan fiel ihm jedenfalls keiner ein. Er brachte es einfach nicht über sich, den Blick von ihren bezaubernden Augen loszureißen. Es war, als zöge ihm die schlichte Freude, in Niccis liebreizendes Antlitz zu schauen, den Boden unter den Füßen weg. »Falls es das ist, was du mir vorschlägst, dann bin ich gerne einverstanden.«

Mittlerweile hatte sie ihn so eng umgarnt, dass er den süßen Hauch ihrer Worte auf seinem Gesicht spüren konnte. Sie schloss die Augen. Ihre weichen Lippen legten sich zu einem zarten, schwelgerischen Kuss auf seine, den er jedoch nicht erwiderte – er schob sie aber auch nicht zurück. Als ihre Arme ihn in eine immer innigere Umarmung, in den Kuss hineinzogen, schien sein ganzes Denken durcheinander zu geraten, und er fühlte sich wie gelähmt. Mehr noch als der Kuss war es diese Umarmung, die eine schreckliche Sehnsucht nach dem tröstlichen Gefühl beständigen Beistands wachrief, nach hingebungsvollem Schutz und zärtlicher Bestätigung. Mehr als alles andere war es die Verheißung dieses so lange vermissten Trosts, die ihm allen Wind aus den Segeln nahm. Er spürte, wie sich ihr Körper mit jedem Zoll, jeder Rundung, jedem sanften Schwung an ihn schmiegte. Ganz bewusst versuchte er, an etwas anderes zu denken als an diesen Kuss, diese Umarmung und diesen Körper, und doch hätte er sich um nichts in der Welt daran erinnern können, was es war. In Wahrheit bereitete es ihm bereits enorme Schwierigkeiten, überhaupt zu denken.

Und schuld daran war ebendieser Kuss. Es war ein Kuss, der ihn vergessen ließ, wer er war und warum er hier war, und doch schien es seltsamerweise kein Kuss zu sein, der Liebe oder auch nur sinnliche Lust verhieß. Er wusste selbst nicht recht, was er verhieß, fast schien es, als wäre eine Bedingung daran geknüpft. Sicher wusste er nur eins: Er war vollkommen anders als der Kuss, den Nicci ihm kurz vor seiner Abreise im Stallgebäude gegeben hatte. Jener Kuss war, wenn nichts sonst, erfüllt gewesen von der außerordentlichen Freude und Klarheit der Magie. Es war ein Kuss gewesen, hinter dem er die wahre Nicci gespürt hatte. Aber dies war eben nicht Nicci, trotz der täuschend echten Illusion, und auch der Kuss selbst schien bestenfalls so unwiderstehlich wie eine große Last, ohne jedoch sonderlich ... erotisch zu sein. Nichtsdestoweniger drohte er ihn mit seinen vorsichtigen Fragen und stummen Verheißungen in seinen Bann zu schlagen.

»Nicci oder Shota, wer immer Ihr sein mögt«, knurrte Cara mit zusammengebissenen Zähnen, die geballten Fäuste in die Hüften gestemmt, »was glaubt Ihr eigentlich, was Ihr da tut?«

Sie löste sich, drehte, ihre Wange noch immer an Richards geschmiegt, leicht den Kopf und musterte sie fragend. Kraulend bahnten sich ihre zarten Finger einen Weg durch das Haar an seinem Hinterkopf. Richard drehte sich der Verstand.

Cara wich leicht zurück, als Shota, in Niccis Gestalt, der Mord-Sith voller Zartgefühl die leicht geöffnete Hand unter das Kinn legte.

»Nun ... gewiss nichts anderes als das, was auch Ihr gern tätet.«

Cara trat noch einen vollen Schritt zurück und entzog ihr Gesicht so der beschwichtigenden Geste. »Was?«

»Das ist es doch, was Ihr wollt, oder sollte ich mich täuschen? Ich finde, Ihr solltet mir eher dankbar sein, dass ich Euch bei Eurem großen Plan helfe.«

Cara stemmte die Fäuste in die Hüften. »Ich habe keinen Schimmer, wovon in aller Welt Ihr überhaupt sprecht.«

»Warum so erbost?« Ihr Lächeln bekam etwas Durchtriebenes. »Die Idee stammt schließlich nicht von mir, sie stammt von Euch. Es ist Euer Plan – den Ihr ganz allein ausgebrütet habt. Ich helfe Euch einfach nur, ihn in die Tat umzusetzen.«

»Wie kommt Ihr darauf ...?« Cara schienen die Worte auszugehen. Der Blick aus ihren blauen Augen, die so sehr Niccis glichen, wanderte zu Richard. Ihr Lächeln kehrte zurück, als sie seine Züge aus nächster Nähe prüfend musterte.

»Diese junge Frau ist eine so teure Freundin und Beschützerin. Hat deine teure Freundin und Beschützerin dir eigentlich schon verraten, was sie alles für dich ausersehen hat, Richard?« Sie berührte seine Nase mit dem Finger. »Und was das erst für Pläne sind! Sie hat dein ganzes restliches Leben verplant und für dich arrangiert. Du solltest sie wirklich einmal fragen, was sie für dich ausersehen hat.«

Plötzlich dämmerte es Cara, und sie errötete zutiefst.

Richard fasste Shota bei den Schultern, schob sie behutsam von sich, sodass sie ihre Hände von seinen Schultern gleiten lassen musste. Gleichzeitig unternahm er noch einmal den Versuch, seine Beherrschung wiederzuerlangen.

»Ihr habt es selbst gesagt – Cara ist eine Freundin, deshalb fürchte ich auch nicht, was sie für mein Leben vorgesehen hat. Ihr müsst wissen, was immer meine Freunde und Angehörigen mir wünschen, was immer sie hoffen, dass ich erreichen werde, es ist mein Leben, und ich selbst entscheide, was ich daraus zu machen versuche. Die Menschen können sich für die, denen sie zugetan sind, erhoffen, so viel sie wollen, am Ende muss jeder selbst die Verantwortung für sein Leben tragen und seine Entscheidungen alleine fällen.«

Hinter ihrem strahlenden Lächeln sah man ihre weißen Zähne aufblitzen. »Wie aufreizend naiv du doch bist, dass du das wirklich denkst.« Sie strich ihm mit den Fingern durchs Haar. »Dennoch möchte ich dir den dringenden Rat geben, sie zu fragen, welches Komplott sie für dein Herz geschmiedet hat.«

Er warf einen kurzen Blick hinüber zu Cara, die gleichzeitig kurz vor einem Zornesausbruch und einer panikartigen Flucht zu stehen schien. Tatsächlich tat sie keins von beiden, sondern blieb standhaft und enthielt sich jeden Kommentars. Richard hatte zwar keine Ahnung, wovon Shota redete, aber er wusste, dass dies kaum der geeignete Zeitpunkt oder Ort war, es herauszufinden. Er durfte nicht zulassen, dass Shota ihn von seinem Vorhaben abbrachte.

Außerdem hatte er bemerkt, dass die Knöchel der Hand, in der Cara ihren Strafer hielt, bereits weiß hervortraten. »Schluss mit dieser Scharade, Shota. Caras Sehnsüchte und Sorgen gehen nur mich etwas an, nicht Euch.«

Nicci lächelte betrübt. »Das glaubst du, Richard. Das glaubst du nur.«

Der Dunsthauch, der sie umgab, schimmerte kurz auf, und plötzlich war Nicci nicht mehr Nicci, sondern Shota. Sie war nicht länger eine traumhafte Sinnestäuschung, sondern war klar und deutlich zu erkennen. Ihr Haar, eben noch blond, war; obschon genauso voll, jetzt wellig und von kastanienbrauner Farbe. Das schwarze Kleid hatte sich in ein hauchzartes, aus mehreren Stoffschichten bestehendes Gebilde aus changierenden Grautönen verwandelt, das ebenso tief ausgeschnitten war und dessen lose Spitzen kaum merklich in der Brise flatterten. Sie war in jeder Hinsicht so schön wie das Tal ringsum.

Als sie ihre Aufmerksamkeit schließlich auf Cara richtete, bekamen ihre Züge einen erschreckend eindringlichen Zug. »Ihr habt Samuel wehgetan.«

Cara zuckte nur mit den Achseln. »Tut mir Leid. Das war nicht meine Absicht.«

Shota, ein bedrohliches Funkeln in den Augen, zog herausfordernd eine Braue hoch, so als wollte sie sagen, sie glaube ihr kein Wort.

»Ich hatte eigentlich vor, ihn umzubringen«, setzte Cara hinzu. Im Nu war Shotas Ärger verflogen, und ein strahlendes Lächeln begleitete ihren aufrichtigen, wenn auch knappen Lacher. Das Lächeln noch immer auf den Lippen, betrachtete sie Richard mit einem schrägen Seitenblick.

»Sie gefällt mir. Von mir aus kannst du sie behalten.«

Vage erinnerte er sich, dass Cara sich einst mit genau denselben Worten über Kahlan geäußert hatte. »Wie ich bereits sagte, Shota, ich muss Euch dringend sprechen.«

Ihre leuchtenden, klaren Mandelaugen maßen ihn mit erstauntem Blick. »Dann bist du also gekommen, um dich mir als Liebhaber anzudienen?«

Ein Stück entfernt, zwischen den Bäumen, bemerkte er Samuel, der sie, die gelben Augen sprühend vor Hass, beobachtete.

»Ihr wisst genau, dass das nicht stimmt.«

»Ah.« Ihr Lächeln kehrte zurück. »Dann möchtest du also sagen, dass du gekommen bist, weil du etwas von mir willst.« Sie bekam eines der wehenden Enden ihres Kleides mit der Hand zu fassen. »Oder stimmt das etwa auch nicht, Richard?«

Er musste sich ermahnen, nicht ständig in ihre alterslosen Augen zu starren, nur war es so unendlich schwer, sich zu zwingen, den Blick abzuwenden. Es war, als lenkte Shota seinen Blick, sodass er ernstliche Schwierigkeiten hatte, sich auf die schicklichen Teile ihres Körpers zu konzentrieren.

Einst hatte Kahlan ihm erklärt, Shota habe ihn verhext. Ihrer Ansicht nach war sie nicht einmal schuld daran, es war eben das, was eine Hexe tat, es entsprach einfach ihrer Natur. Kahlan – der Gedanke an sie rüttelte seine Gedanken wach.

»Kahlan ist verschwunden.«

Ein kaum merkliches Kräuseln ging über ihre Stirn. »Wer?«

Richard seufzte. »Schaut, es geschehen fürchterliche Dinge. Kahlan, meine Frau ...«

»Deine Frau! Wann hast du dir bloß eine Frau genommen?«

Ihr Gesicht gerann zu einer hasserfüllten Maske mit stechendem Blick. Der plötzliche Zorn, der sich ihrer Züge bemächtigte, und die Art, wie ihr Busen am Saum des tief ausgeschnittenen Kleides wogte, zeigten Richard, dass ihre Überraschung nicht geheuchelt war. Sie erinnerte sich tatsächlich nicht an Kahlan. Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, nahm seine Gedanken zusammen und versuchte es noch einmal. »Ihr seid Kahlan mehrmals persönlich begegnet, Shota. Ihr habt sie sogar recht gut kennen gelernt. Irgendetwas muss passiert sein, das sie aus jedermanns Erinnerung gelöscht hat. Kein Mensch, nicht einmal Ihr, erinnert sich mehr an sie und ...«

»Niemand außer dir?«, unterbrach sie ihn ungläubig. »Du bist der Einzige, der sich an sie erinnert?«

»Das ist eine lange Geschichte.«

»Sie mag lang sein, aber das macht sie nicht unbedingt wahrer.«

»Doch, sie ist wahr«, beharrte Richard. Er gestikulierte aufgebracht. »Ihr wart sogar bei unserer Hochzeit.«

Sie verschränkte die Arme. »Das glaube ich kaum.«

»Als ich das erste Mal herkam, hattet Ihr Kahlan gefangen genommen und sie über und über mit Schlangen bedeckt...«

»Schlangen.« Sie konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. »Du willst also tatsächlich behaupten, ich sei dieser Frau zugetan gewesen, und lässt sogar durchblicken, ich hätte mich ihr gegenüber entgegenkommend verhalten?«

»Das nicht gerade. Ihr wolltet ihren Tod.«

Ihr Schmunzeln wurde breiter. Sie legte ihm wieder ihre Handgelenke auf die Schultern. »Wie schrecklich grob von mir, findest du nicht auch?«

Er fasste sie bei den Handgelenken und schob sie sachte von sich. Wenn er ihr nicht augenblicklich Einhalt gebot, würde sie ihn in kürzester Zeit um den letzten Rest seines Verstandes bringen. »Damals war ich durchaus dieser Meinung«, gab er zurück. »Denn unter anderem wolltet Ihr verhindern, dass wir überhaupt heiraten.«

Mit einem lackierten Fingernagel fuhr Shota ihm von oben nach unten über die Brust, ehe sie ihn mit einem Blick von unten herauf betrachtete.

»Nun, vielleicht hatte ich ja meine Gründe.«

»Die hattet Ihr ganz sicher – Ihr wolltet nicht, dass wir ein Kind in die Welt setzten. Ihr wart der Ansicht, wir würden ein Ungeheuer zeugen, da dieses Kind von mir die Gabe erben und gleichzeitig von Kahlans Seite aus als Konfessor geboren würde.«

»Ein Konfessor!« Shota wich einen Schritt zurück, als sei er plötzlich aussätzig. »Ein Konfessor! Hast du den Verstand verloren?«

»Shota ...«

»Es gibt keine Konfessoren mehr, sie sind lange ausgestorben.«

»Das stimmt nicht ganz. Sie sind alle tot, bis eben auf Kahlan.«

Sie wandte sich herum zu Cara. »Hatte er vielleicht ein Fieber oder etwas Ähnliches?«

»Na ja ... er wurde von einem Armbrustbolzen getroffen, der ihn beinahe umgebracht hätte. Nicci hat ihn zwar heilen können, trotzdem war er mehrere Tage ohne Bewusstsein.«

Als hätte sie soeben eine heimtückische Intrige aufgedeckt, hob Shota misstrauisch einen Finger. »Jetzt sagt bloß, dabei hat sie subtraktive Magie verwendet.«

»Ja, das hat sie in der Tat«, antwortete er an Caras Stelle. »Und aus ebendiesem Grund hat sie mir das Leben gerettet.«

Shota trat den einen Schritt wieder auf die beiden zu, den sie vor ihnen zurückgewichen war. »Sie hat subtraktive Magie verwendet ...«, murmelte sie bei sich, ehe sie wieder zu ihm aufsah. »Und wie hat sie das getan – zu welchem Zweck?«

»Sie hat sie benutzt, um den mit Widerhaken versehenen Bolzen zu entfernen, der in meinen Körper steckte.«

Mit einer ungeduldigen Handbewegung forderte Shota ihn auf fortzufahren. »Sie muss außerdem noch etwas anderes getan haben.«

»Sie hat subtraktive Magie benutzt, um das Blut zu entfernen, das sich in meiner Brust gesammelt hatte. Nach ihren Worten gab es keine andere Möglichkeit, den Bolzen oder das Blut zu entfernen, und beides dort zurücklassen, nun, das hätte unweigerlich zu meinem Tod geführt.«

Shota, eine Hand auf ihrer Hüfte, kehrte ihnen den Rücken zu und entfernte sich einige Schritte, um sich seine knappe Schilderung durch den Kopf gehen zu lassen.

»Das erklärt in der Tat einiges«, meinte sie schließlich betrübt mit kaum hörbarer Stimme. »Ihr habt Kahlan eine Halskette geschenkt«, warf Richard ein. Stirnrunzelnd warf sie ihm einen Blick über ihre Schulter zu. »Eine Halskette? Was für eine Halskette hätte ich ihr schenken sollen? Und was bringt dich auf den abwegigen Gedanken, mein Bester, ich würde etwas Derartiges jemals für deine ... deine Geliebte tun?«

»Meine Frau«, verbesserte er sie. »Kahlan und Ihr wart einige Zeit zusammen – allein – und hattet eine Art Abkommen getroffen. Ihr habt Kahlan die Halskette zum Geschenk gemacht, damit sie und ich ... na ja, damit wir zusammen sein konnten. Sie war mit einer Art magischer Kraft versehen, die verhinderte, dass wir Kinder bekommen konnten. Auch wenn ich angesichts des gegenwärtigen Krieges nicht mit Eurer damaligen Sicht der Zukunft übereinstimme, wir kamen damals zu dem Entschluss, Euer Geschenk und die damit verbundene Waffenruhe anzunehmen.«

»Mir ist völlig unbegreiflich, wie du auf den irrigen Gedanken kommen kannst, ich würde auch nur eines dieser Dinge tun.« Sie sah erneut zu Cara. »Hatte er neben der Verletzung womöglich hohes Fieber?«

Unter anderen Umständen wäre er vielleicht auf den Gedanken gekommen, dass Shota sarkastisch sein wollte, doch ihr Gesichtsausdruck sagte ihm, dass ihre Frage durchaus ernst gemeint war. »Ein hohes Fieber war es nicht gerade«, antwortete Cara zögernd. »Eher ein leichtes. Aber Nicci meinte, seine Schwierigkeiten gingen zum Teil darauf zurück, wie nah er dem Tod gewesen sei, mehr noch aber auf seine lange Bewusstlosigkeit.« Ihrem Tonfall nach schien Cara nur ungern mit einem Menschen darüber sprechen zu wollen, den sie als potenziell gefährlich betrachtete, doch dann schloss sie ihre Antwort mit den Worten: »Sie meinte, er leide an einer Bewusstseinsstörung.«

Shota verschränkte die Arme, stieß einen tiefen Seufzer aus und musterte ihn dabei forschend aus ihren Mandelaugen. »Was soll ich nur mit dir machen?«, murmelte sie halb zu sich selbst. »Bei meinem letzten Besuch«, antwortete Richard, »habt Ihr mir erklärt, Ihr würdet mich töten, sollte ich jemals nach Agaden zurückkehren.«

Sie ließ sich nach außen hin keinerlei Reaktion anmerken. »Ach, hab ich das? Und warum, bitte, sollte ich so etwas sagen?«

»Vermutlich, weil Ihr ziemlich verärgert über mich wart. Weil ich mich geweigert hatte, Kahlan zu töten, und auch nicht zulassen wollte, dass Ihr es selber tut.« Er wies mit dem Kinn hinter sich, zum Bergpass hinauf. »Ich dachte schon, Ihr wolltet womöglich Wort halten und hättet deshalb Samuel geschickt, um Eure Drohung wahr zu machen.«

Shota sah kurz zu ihrem ein wenig abseits zwischen den Bäumen lauernden Gefährten hinüber, der auf einmal einen ziemlich beunruhigten Eindruck machte.

»Wovon redest du überhaupt?« Die Stirn gerunzelt, sah sie wieder zu Richard. »Wollt Ihr jetzt etwa behaupten, Ihr wusstet gar nichts davon?«

»Wovon?«

Einen kurzen Moment lang betrachtete Richard forschend die gelben, ihn hasserfüllt anstarrenden Augen. »Samuel lag oben am Pass in einem Versteck auf der Lauer und hat mich aus einem Schneegestöber heraus angefallen. Er hat mir das Schwert aus der Hand gerissen und mich den Abhang hinunter gestoßen. Ich konnte mich gerade noch mit knapper Not festhalten. Wäre Cara nicht zur Stelle gewesen, hätte Samuel mit dem Schwert dafür gesorgt, dass ich von der Klippe stürze. Er hätte mich um ein Haar umgebracht, und dass es nicht dazu gekommen ist, hatte nichts mit fehlender Absicht oder mangelnder Unentschlossenheit seinerseits zu tun.«

Shotas wütender Blick schwenkte hinüber zu der schattenhaften, zwischen den Bäumen kauernden Gestalt. »Ist das wahr?«

Samuel, außerstande, ihrem vorwurfsvollen Blick standzuhalten, schlug winselnd vor Selbstmitleid die Augen nieder und starrte auf den Boden. Das war Antwort genug.

»Wir werden uns später darüber unterhalten«, beschied sie ihn mit einer leisen Stimme, die klar und deutlich durch die Bäume trug und Richard eine Gänsehaut bereitete.

»Ich kann dir versichern, Richard, das war weder meine Absicht, noch entspricht es meinen Anordnungen. Mein Auftrag an Samuel lautete lediglich, diese kleine falsche Schlange von einer Aufpasserin zu bitten, dich hierher zu begleiten.«

»Wisst Ihr was, Shota? Ich bin es allmählich leid, Samuels Versuche, mich umzubringen, hinnehmen und mir hinterher als Rechtfertigung anhören zu müssen, Ihr hättet ihm niemals einen solchen Befehl erteilt. Einmal mag das noch glaubwürdig klingen, aber mittlerweile ist es fast zur Gewohnheit geworden. Ihr macht es Euch ein bisschen leicht mit Eurer überraschten Unschuldsmiene, die Ihr jedes Mal aufsetzt, wenn es passiert. Allmählich habe ich den Eindruck, dass Ihr nur deshalb daran festhaltet, weil Ihr es einfach praktisch findet, alles abzustreiten.«

»Das ist nicht wahr, Richard«, erwiderte sie in wohl überlegtem Ton. Sie löste ihre Arme, verschränkte die Hände vor dem Körper und blickte auf den Boden vor ihren Füßen. »Du trägst sein Schwert, ein Punkt, in dem Samuel zugegebenermaßen etwas empfindlich ist. Er hat es nicht aus freien Stücken hergegeben, sondern es wurde ihm weggenommen – mit anderen Worten, es gehört noch immer ihm.«

Um ein Haar hätte Richard widersprochen, doch dann ermahnte er sich, dass er nicht hier war, um über diesen Punkt zu debattieren.

Shota hob den Blick und sah ihm in die Augen. Ihre Verärgerung war offenkundig. »Und woher nimmst du die Frechheit, dich bei mir über Samuels Benehmen zu beschweren, von dem ich nicht einmal Kenntnis habe, während du dir gleichzeitig herausnimmst, wissentlich mit einer tödlichen Gefahr den Frieden meines Heims zu stören?«

Richard war verblüfft. »Was redet Ihr denn da?«

»Spiel nicht den Dummen, Richard, das passt nicht zu dir. Du wirst von einer völlig unberechenbaren Bedrohung verfolgt. Wie viele Menschen mussten eigentlich schon ihr Leben lassen, nur weil sie das Pech hatten, in deiner Nähe zu sein, als diese Bestie dich suchen kam? Angenommen, sie beschließt, dich ausgerechnet hier töten zu wollen? Du tauchst hier einfach ohne meine Erlaubnis auf, gefährdest dadurch ganz unbekümmert mein Leben, und das alles nur, weil du mal eben etwas von mir willst? Findest du es etwa richtig, mich in Gefahr zu bringen, nur weil du dich in einer Notlage befindest? Erlaubt dir etwa der Umstand, zu glauben, ich besäße etwas, das du gern hättest, nach Belieben über mein Leben zu verfügen und es einfach einer großen Gefahr auszusetzen?«

»Natürlich nicht.« Richard schluckte. »So habe ich das noch gar nicht betrachtet.«

Shota warf die Hände in die Luft. »Ach, jetzt willst du dich damit rausreden, du hättest mich nur aus Gedankenlosigkeit in Gefahr gebracht?«

»Ich brauche dringend Eure Hilfe.«

»Mit anderen Worten, du erscheinst hier als armseliger Bittsteller, der ungeachtet der Gefahr, in die mich das bringt, um Hilfe bettelt, und alles nur, weil du etwas von mir willst?«

Richard rieb sich die Stirn. »Schaut, ich weiß auch nicht auf alles eine Antwort, aber eins kann ich Euch versichern, ich habe allen Grund zu der Annahme, dass ich Recht habe mit meiner Behauptung, Kahlan existiert und ist verschwunden.«

»Wie ich schon sagte, du willst etwas, machst dir aber nicht die Mühe, das Risiko für andere zu bedenken.«

Er machte einen Schritt auf sie zu. »Das ist nicht wahr. Begreift Ihr denn nicht? Ihr erinnert Euch nicht an Kahlan, niemand außer mir tut das. Denkt nach, Shota, denkt darüber nach, was es bedeuten würde, wenn ich Recht hätte.«

Ein Zucken ging über ihre Stirn, während sie ihn fragend musterte. »Wovon redest du überhaupt?«

»Wenn ich Recht habe, dann ist in der Welt etwas ganz fürchterlich aus dem Lot geraten – etwas, das jedermann, Euch eingeschlossen, Kahlan vergessen macht. Sie wurde aus Eurer Erinnerung gelöscht. Tatsächlich aber ist die Sache noch viel ernster, denn nicht nur die Person Kahlan ist aus der Erinnerung aller gelöscht worden, sondern auch alles, was Ihr oder sonst jemand mit ihr zusammen getan hat. Auch wenn einige dieser Erinnerungslücken nicht weiter von Bedeutung sein mögen, andere dagegen könnten lebenswichtig sein. Ihr erinnert Euch nicht, gesagt zu haben, dass Ihr mich töten würdet, falls ich es jemals wagen sollte, hierher zurückzukehren. Das aber bedeutet, dass diese Drohung in Eurer Erinnerung irgendwie mit Kahlan verknüpft sein muss, denn sie hatte einen gewissen Anteil an Eurem Entschluss, die Drohung auszusprechen. Weil Ihr Euch aber nicht an Kahlan erinnert, wisst Ihr auch nicht mehr, das zu mir gesagt zu haben. Begreift Ihr jetzt das ungeheure Ausmaß des Problems? Könnt Ihr nicht ermessen, dass es das Potenzial enthält, sich auf die Wahrnehmung jedes Einzelnen auszuwirken? Wenn alle Menschen vergessen, welche Veränderungen Kahlan in ihrem Leben bewirkt hat, wird ihr künftiges Handeln schwerlich von dem positiven Wandel in ihrem Denken profitieren können.«

Richard stemmte eine Hand in die Hüfte und begann gestikulierend auf und ab zu gehen. »Stellt Euch einen Menschen vor, den Ihr gut kennt.« Er wandte sich zu ihr herum und sah ihr in die Augen. »Sagen wir, Eure Mutter. Und nun versucht Euch vorzustellen, was Euch verloren ginge, wenn jede Erinnerung an sie, alles, was sie Euch je beigebracht hat, sämtliche Entscheidungen, die sie mittelbar oder unmittelbar beeinflusst hat, ausgelöscht würden. Und nun stellt Euch vor, jeder würde einen Menschen vergessen, der für ihn so wichtig wäre wie Eure Mutter für Euch – nur dass die Vergessenen im Mittelpunkt von Ereignissen stünden, die für alle von Bedeutung sind. Versucht Euch einfach nur einen Moment lang vorzustellen, wie sich Euer Leben – ja Euer ganzes Denken verändern würde, wenn Ihr vergessen hättet, dass es mich gibt, und Ihr Euch nicht mehr an die Dinge erinnern könntet, die Ihr mit mir oder meinetwegen getan habt. Dämmert Euch vielleicht jetzt, welche Auswirkungen das haben würde? Ihr habt Kahlan diese Halskette zum Geschenk gemacht, sie war ein an uns beide gerichtetes Hochzeitsgeschenk, das verhindern sollte, dass sie – zumindest vorerst – ein Kind bekommt. Aber sie hatte auch noch eine andere Bedeutung, denn sie war das Symbol eines Waffenstillstands, des Friedens zwischen Euch und mir sowie zwischen Euch und Kahlan. Welche Waffenstillstände, Bündnisse und Schwüre mögen noch wegen Kahlan geschlossen worden sein, die jetzt, genau wie diese Halskette, in Vergessenheit geraten sind? Wie viele wichtige Missionen mögen deswegen aufgegeben worden sein? Begreift Ihr nicht? Die ganze Welt könnte dadurch ins Chaos gestürzt werden. Ich vermag die möglichen Auswirkungen eines so weit reichenden Ereignisses nicht einzuschätzen, aber meines Wissens könnte es den Charakter des Freiheitskampfes verändern, ja, es könnte sogar das Ende alles Lebendigen einleiten.«

Shota machte ein überraschtes Gesicht. »Alles Lebendigen?«

»Dinge von dieser Tragweite geschehen nicht aus purem Zufall, es handelt sich weder um einen bedauerlichen Unfall noch um ein durch Nachlässigkeit verursachtes Unglück. Es muss einen Grund dafür geben, und alles, was ein universelles Ereignis von solcher Ungeheuerlichkeit zu bewirken vermag, bringt übelste Begleiterscheinungen mit sich.«

Eine Zeit lang betrachtete Shota ihn mit unergründlicher Miene, dann fing sie einen flatternden Zipfel des mehrlagigen Stoffes auf, aus dem ihr Kleid bestand, und wandte sich ab, um über seine Worte nachzudenken. Schließlich drehte sie sich wieder um.

»Und wenn du einfach nur einer Selbsttäuschung erlegen bist? Es wäre die einfachste Erklärung und somit höchstwahrscheinlich die richtige Antwort.«

»Auch wenn das im Allgemeinen zutreffen mag, muss es nicht unbedingt richtig sein.«

»Wie du es darstellst, handelt es sich nicht um ein gewöhnliches Entweder-oder, Richard. Was du beschrieben hast, ist ein außerordentlich komplexer Vorgang. Es fällt mir schwer, mir auch nur ansatzweise die komplexen Folgen auszumalen, die ein solches Ereignis mit sich brächte. So viele Dinge müssten ungeschehen gemacht werden, es entstünde ein derart weit reichendes Chaos, dass jedem schon nach kürzester Zeit klar sein müsste, dass in der Welt etwas entsetzlich aus dem Lot geraten ist – auch wenn niemand genau zu benennen wüsste, was. Aber das ist einfach nicht der Fall.«

Shota holte zu einer großen Geste aus. »Wie viel Schaden wirst du dagegen mit dieser verrückten Suche nach einer Frau anrichten, die gar nicht existiert? Das erste Mal bist du zu mir gekommen, um mich um Hilfe im Kampf gegen Darken Rahl zu bitten. Ich habe dir meine Hilfe gewährt und dir dadurch zum Titel des Lord Rahl verholfen. Der dadurch ausgelöste Krieg tobt noch immer, das d’Haranische Reich kämpft noch immer verzweifelt ums Überleben, aber du bist nicht etwa hier, um eine wichtige Rolle in diesem Kampf zu übernehmen, wie es sich für dich als Lord Rahl geziemt. Vielmehr haben deine Selbsttäuschungen und unüberlegten Handlungen dazu geführt, dass du dich überaus wirkungsvoll aus deiner Machtstellung entfernt hast. Wo Führung geboten wäre, besteht nur noch ein Vakuum. Was immer du an Unterstützung hättest geben können, steht den Kämpfern für die gerechte Sache, zu deren Verfechter du dich aufgeschwungen hast, jetzt nicht mehr zur Verfügung.«

»Ich bin trotzdem überzeugt, dass ich Recht habe«, widersprach Richard. »Und wenn dem so ist, dann besteht eine Gefahr, von der niemand außer mir auch nur etwas ahnt, eine Gefahr, die allein aus diesem Grund keiner außer mir bekämpfen kann. Die Tatsache einer verborgenen Gefahr, deren Ungeheuerlichkeit niemand erkennt, kann ich nicht guten Gewissens ignorieren.«

»Das ist doch nur eine bequeme Ausrede, Richard.«

»Nein, ist es nicht.«

Sie nickte spöttisch. »Und wenn in der Zwischenzeit das eben erst gegründete d’Haranische Reich untergeht? Und die Barbaren der Imperialen Ordnung ihre bluttriefenden Schwerter triumphierend über die Leichen der tapferen Männer erheben, die bei der Verteidigung der Freiheit ums Leben kommen, während ihr Anführer fernab irgendwelchen Hirngespinsten nachjagt? Werden diese Toten weniger tot sein, nur weil du eine rätselhafte Gefahr erkannt zu haben meinst? Wäre ihr Anliegen – und deines – damit weniger gescheitert? Würde das der Welt etwa den frohgemuten Übergang in ein langes düsteres Zeitalter erleichtern, in dem Millionen und Abermillionen in ein elendes, von Unterdrückung, Hunger, Leid und Tod gezeichnetes Leben hineingeboren werden?«

Richard wusste nicht, was er darauf erwidern sollte, schon der Versuch einer Antwort hätte angesichts ihrer Darstellung der Dinge hohl und egoistisch geklungen. Er hatte das sichere Gefühl, gute Gründe für das Festhalten an seinen Überzeugungen zu besitzen, gleichzeitig war er sich bewusst, dass allen anderen diese Beweise ziemlich dürftig erscheinen mussten, deshalb hielt er es für das Klügste, einfach den Mund zu halten. Hinzu kam, dass irgendwo unter der Oberfläche der Schatten einer grauenhaften Angst lauerte, der Angst, sie könnte vielleicht doch Recht haben und dies alles ließe sich auf eine entsetzliche, ausschließlich in seinem Verstand verwurzelte Täuschung zurückführen.

Was machte ihn zum alleinigen Besitzer der Wahrheit, während alle anderen sich täuschten? War das überhaupt möglich? Und woher nahm er die Gewissheit, im Recht zu sein? Schließlich besaß er außer seiner eigenen Erinnerung keinen einzigen Beweis, es gab keinen einzigen konkreten Hinweis, an den er sich klammern, auf den er mit dem Finger hätte zeigen können.

Diese Ungewissheit hatte in seinem Selbstvertrauen einen ersten Riss erzeugt, der ihm Angst machte. Wenn er sich weitete oder gar endgültig barst, würde die Welt mit aller Macht über ihn hereinbrechen und ihn erdrücken, und das war eine Belastung, der er, wenn Kahlan nicht existierte, nicht würde standhalten können. Zwischen Kahlan und der Vergessenheit stand allein sein Wort, ohne sie konnte er nicht weiterleben und würde es in einer Welt ohne sie auch gar nicht wollen. Sie bedeutete ihm alles. Bis zu diesem Augenblick hatte er seine ganz persönliche, ja intime, liebevolle Erinnerung an sie hintangestellt und sich stattdessen mit irgendwelchen Einzelheiten abgegeben, um den Schmerz über ihr Verschwinden auch noch am nächsten Tag ertragen zu können, während er gleichzeitig alles daransetzte, sie zu finden. Mittlerweile jedoch schnürte ihm dieser Schmerz das Herz zusammen und drohte, ihn in die Knie zu zwingen. Der Schmerz über ihr Verschwinden ging mit einer wahren Flut von Schuldgefühlen einher, denn er war Kahlans einzige Hoffnung, er allein hielt ihre Flamme über dem reißenden Strom am Brennen, der ihre Existenz zu vernichten drohte, er allein versuchte, sie wieder zu finden und zurückzuholen. Und doch hatte er in dieser Hinsicht noch nichts Verwertbares zuwege gebracht. Die Tage gingen ins Land, und er hatte noch nichts erreicht, was ihn ihr näher gebracht hätte. Und um alles noch schlimmer zu machen, war er sich durchaus bewusst, dass Shota in einem entscheidenden Punkt Recht hatte. Während er alle Hebel in Bewegung setzte, um Kahlan zu helfen, vernachlässigte er alle anderen. In erster Linie war er es gewesen, der die Menschen von der Vorstellung, ja der sehr realen Möglichkeit eines freien D’Hara überzeugt hatte, eines Landes, wo die Menschen auf ihre eigenen Ziele hinarbeiten und selbst über ihr Leben bestimmen konnten.

Gleichwohl war er sich schmerzlich bewusst, dass überwiegend er selbst für den Fall der großen Barriere verantwortlich war, der es Jagang erst ermöglicht hatte, den Einfluss der Imperialen Ordnung auf die Neue Welt auszuweiten und die dort eben erst gewonnene Freiheit wieder zu gefährden. Wie viele Menschen mochten in Gefahr geraten oder gar ihr Leben verlieren, während er diesem einen geliebten Menschen nachjagte? Und was würde Kahlan wollen, dass er tat? Er wusste, wie sehr sie den Menschen in den Midlands zugetan war, ebenjenen Menschen, über die sie einst geherrscht hatte, also würde sie vermutlich wollen, dass er sie aus seinen Gedanken verbannte und stattdessen diese Menschen zu retten versuchte. Bestimmt würde sie sagen, es stehe zu viel auf dem Spiel, um ihr hinterherzulaufen. Andererseits, wenn er an ihrer Stelle verschollen wäre, würde sie ihn um nichts in der Welt aufgeben. Aber ganz gleich, wie Kahlan sich entscheiden würde, was für ihn zählte, war ihr Leben, es bedeutete ihm alles. Und als er sich schließlich fragte, ob Shota nicht vielleicht Recht hatte und er die Vorstellung der Gefahr, die Kahlans Verschwinden für den Rest der Welt bedeutete, nicht vielleicht doch als Ausrede benutzte, entschied er, dass es fürs Erste das Klügste wäre, das Thema zu wechseln – zumindest so lange, bis sich eine bessere Möglichkeit fand, die nötige Hilfe zu beschaffen, und er etwas Zeit gewonnen hatte, um seinen Mut zu sammeln und seinen Entschluss zu festigen.

»Was hat es eigentlich mit diesem Wesen auf sich«, fragte er und machte eine unbestimmte Geste, »dieser Bestie, die mich verfolgt?« Aus seiner Stimme war alle Leidenschaft gewichen, und zum ersten Mal wurde ihm bewusst, wie sehr ihn der lange Marsch über den Pass erschöpft hatte, ganz zu schweigen von den nebelhaften Tagen des Ritts aus der Alten Welt hierher. »Könnt Ihr mir vielleicht dazu etwas sagen?«

Mit dieser Frage fühlte er sich auf sichererem Boden, schon allein deswegen, weil die Bestie nicht nur seine Suche nach Kahlan, sondern auch die Mission gefährden konnte, zu der zurückzukehren ihn Shota drängte. Sie musterte ihn einen Moment lang, dann antwortete sie ihm in einem deutlich milderen Tonfall als zuvor, so als hätten sie, ohne es zu merken, wortlos eine Waffenruhe vereinbart, um die Heftigkeit ihres Streits ein wenig abzumildern. »Dieses Wesen, das dich verfolgt, ist längst nicht mehr dasselbe Wesen, das es war, als es erschaffen wurde. Es ist durch die Geschehnisse längst mutiert.«

»Mutiert?« Plötzlich hatte Cara einen bestürzten Ausdruck im Gesicht. »Was soll das heißen? Mutiert zu was?«

Shota maß die beiden mit einem prüfenden Blick, als wollte sie sich vergewissern, dass sie ihre Aufmerksamkeit hatte.

»Zu einer Blutbestie.«

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