59

Cara wartete bereits ungeduldig auf der anderen Seite des Schildes, während Rikka neben der Eisentür Wache stand, den Blick nach außen in das Turmzimmer gerichtet. Beide drehten sich um, als sie das rote Leuchten bemerkten und Richard kommen hörten. Unmittelbar hinter der Tür erblickte Richard einige Bündel sowie andere, zu einem säuberlichen Stapel aufgeschichtete Kleidungs- und Ausrüstungsgegenstände. Er zog sein Bündel zwischen den anderen hervor und verstaute die beiden Bücher darin. »Wir gehen also fort?«, fragte Cara.

Richard schob seine Arme durch die Gurte und schwang das Bündel auf seinen Rücken. »So ist es. Ich denke, wir sollten keine Zeit verlieren.« Als er seinen Bogen mitsamt Köcher aufhob, nahmen die anderen dies zum Anlass, ebenfalls zu ihren Sachen zu greifen.

Wie sich herausstellte, hatte Cara, die wollte, dass Nicci in seiner Nähe blieb, damit sie im Notfall rasch zu seinem Schutz einspringen konnte, die Sachen der Hexenmeisterin ebenfalls mitgebracht. Richard fragte sich, inwieweit der Wunsch, Nicci mitzunehmen, wohl auf die Äußerungen Shotas zurückging. Dann sah er, dass auch Rikka ein Bündel mitgenommen hatte. Er wollte schon fragen, was sie da eigentlich zu tun gedachte, doch dann wurde ihm klar, dass sie erklären würde, als Mord-Sith sei ihr Platz an seiner Seite. Er war so lange ausschließlich von Cara beschützt worden, dass ihm die Vorstellung, mehr als nur eine Mord-Sith um sich zu haben, etwas seltsam erschien.

»Sind alle so weit?«, fragte er, als er sie ihre Tragegurte und Schnallen festzurren sah. Nachdem die drei Frauen dies mit einem Nicken bestätigt hatten, geleitete Richard das entschlossen dreinblickende Grüppchen zur Türöffnung hinaus. Ihm allein wäre Cara wohl gefolgt, ohne irgendwelche Fragen zu stellen, allerdings würde sie ohne triftigen Grund weder Niccis noch sonst jemandes Befehle befolgen, weshalb er vermutete, dass sie, ganz nach Art der Mord-Sith, jede Menge gezielter Fragen gestellt hatte und längst über den Grund ihres Aufbruchs im Bilde war.

Am Fuß des Turmes – Richard hatte bereits eine Hand auf dem eisernen Geländer und machte Anstalten, dem Steg zu folgen – ließ ihn eine plötzliche Erkenntnis innehalten. Die anderen warteten und sahen ihn verwundert an.

Er blickte in Niccis verdutzte blaue Augen. »Sie werden Euch in dieser Angelegenheit nicht trauen.«

»Was soll das heißen?«, fragte sie.

»Dafür ist die Angelegenheit zu wichtig. Sie werden Euch die Entscheidung darüber, ob Ihr ihre Anweisungen befolgt, kaum überlassen, sei es, weil sie befürchten, Ihr könntet den Mut verlieren, oder aber weil Ihr versagen und mich entkommen lassen könntet.«

Cara kam näher. »Mit anderen Worten, Ihr glaubt, sie werden Euch suchen?«

»Nein, suchen werden sie mich wohl nicht«, gab Richard zurück, »aber ich wette, irgendwo zwischen hier und dem Ausgang aus der Burg werden sie auf der Lauer liegen für den Fall, dass es mir gelingt, mich an Nicci vorbeizumogeln, und ich versuche, mich aus dem Staub zu machen. Wenn wir unerwartet auf sie stoßen, ist es zu spät.«

»Lord Rahl«, warf Rikka ein, »Herrin Cara und ich würden niemals erlauben, dass Euch jemand ein Leid zufügt.«

Richard zog eine Augenbraue hoch. »So weit möchte ich es lieber erst gar nicht kommen lassen. Die drei sind der festen Überzeugung, mir helfen zu müssen. Sie haben ganz bestimmt nicht die Absicht, mir Schaden zuzufügen – jedenfalls nicht vorsätzlich. Ich möchte nicht, dass Ihr ihnen etwas antut.«

»Aber wenn sie uns überraschen, entschlossen, ihre Magie gegen Euch zu benutzen, könnt Ihr nicht erwarten, dass wir sie einfach gewähren lassen«, wandte Cara ein.

Er sah ihr einen Moment in die Augen. »Ich sagte es bereits, so weit möchte ich es erst gar nicht kommen lassen.«

»Aber Lord Rahl«, zischte Cara mit leiser Stimme, »ich kann nicht zulassen, dass Euch jemand auf diese Weise attackiert, selbst wenn der Betreffende im Glauben handelt, Euch zu helfen. Wortklaubereien helfen in einer solchen Situation nicht weiter. Wenn sie Euch angreifen, müssen sie daran gehindert werden – Punkt. Lassen wir sie gewähren, werdet Ihr nie wieder so sein wie früher. Ihr wärt nicht mehr der Lord Rahl, den wir kennen, der Lord Rahl, der Ihr seid.«

Cara beugte sich noch weiter vor und fixierte ihn mit dem für die Mord-Sith typischen Blick, der ihm stets den Schweiß aus den Poren trieb. »Wenn sie angreifen und wir sie gewähren lassen, weil Ihr Angst habt, ihnen ein Leid zuzufügen, werdet Ihr Euch, wenn sie fertig sind, nicht mehr an diese Frau, Kahlan, erinnern. Wollt Ihr das?«

Richard biss die Zähne zusammen und atmete einmal tief aus. »Nein, natürlich nicht.«

Nicci ließ den Blick an der Innenwand des Turmes hinaufwandern und erfasste die Türen überall ringsum mit ihren blauen Augen. »Wo, glaubst du, werden sie uns wohl auflauern?«

»Keine Ahnung«, antwortete er und hakte seine Daumen unter die Schulterriemen seines Bündels. »Die Burg der Zauberer ist riesig, trotzdem gibt es letztendlich nur einen einzigen Weg nach draußen. Da uns bis dahin eine Vielzahl von Routen zur Verfügung steht, wird es wohl irgendwo in der Nähe des Burghofs passieren, der zum Fallgatter hinausführt.«

»Lord Rahl«, meldete sich Rikka zu Wort, wurde aber sofort etwas verlegen, als er ihr in die Augen sah, »es gibt noch einen anderen Ausgang.«

Richard sah sie an und runzelte die Stirn. »Was wollt Ihr damit sagen?«

»Neben dem Haupteingang gibt es noch eine zweite Möglichkeit, die Burg zu verlassen. Aber dieser Ausgang ist nur über Verbindungsstollen tief unten in der Burg zugänglich.«

»Woher wisst Ihr das?«

»Euer Großvater hat ihn mir selbst gezeigt.«

Richard hatte nicht die Zeit, sich darüber zu wundern. »Meint Ihr, Ihr könntet ihn wieder finden?«

Rikka überlegte einen Moment, schließlich sagte sie: »Ich denke schon. Ich möchte wirklich nicht schuld daran sein, dass wir uns in den untersten Gefilden der Burg verirren, aber ich glaube, ich würde ihn wieder finden. Wir sind hier schon fast auf halber Strecke, allzu schwierig sollte es also nicht werden.«

Beim Nachdenken machte Richard Anstalten, seine Hand auf das Heft seines Schwertes zu legen, aber natürlich war es nicht da. Stattdessen rieb er sich die Hände. »Vielleicht wäre es wirklich besser, wenn wir diesen Weg nähmen.«

»Also dann«, sagte Rikka und machte so schwungvoll kehrt, dass ihr Zopf um ihren Kopf herumwirbelte, »mir nach.«

Er ließ Nicci vorangehen, dann folgte er ihr, sodass Cara die Nachhut bilden konnte. Schon nach einem knappen Dutzend Schritte blieb er abermals stehen, wandte sich herum und schaute zurück. Nach einem kurzen Blick hinüber zu der Stelle, auf die er schaute, sahen die anderen ihn verdutzt an, was ihm wohl nun schon wieder durch den Kopf gehen mochte.

»Den Weg können wir leider auch nicht nehmen.« Er wandte sich wieder herum zu Rikka. »Zedd hat Euch diesen Ausweg aus der Burg gezeigt. Er kennt die Mord-Sith. So gut ihr beide Euch auch verstanden haben mögt, er weiß, dass Ihr Euch, vor die Wahl gestellt, stets für mich entscheiden würdet. Außerdem liebt Zedd es, sich irgendwelcher Tricks zu bedienen, er wird also ganz sicher Ann und Nathan die Wege zum Haupteingang der Burg bewachen lassen. Er selbst aber wird an der Strecke lauern, die er Euch gezeigt hat, Rikka.«

»Also schön«, warf Nicci ein. »Wenn es nur zwei Wege aus der Burg gibt, bedeutet das, dass sie sich aufteilen müssen, wenn sie sichergehen wollen, dass beide abgeriegelt sind. Immer vorausgesetzt natürlich, dass Zedd genauso denkt, wie du es dargestellt hast, Richard. Möglicherweise hat er aber auch längst vergessen, dass er Rikka von dem anderen Ausgang erzählt hat, oder aber er glaubt, sie würde ihn dir nicht verraten. Der Weg könnte also noch offen sein.«

Richard schüttelte langsam den Kopf, er hatte längst etwas ganz anderes im Blick – die breite Plattform ein Stück weiter vorn auf dem Steg, der um das brackige Wasser am Grund des dämmrigen Turm-innern herumführte. »Was Ihr sagt, ist zwar nicht völlig abwegig, trotzdem wäre es töricht, darauf zu vertrauen, dass Zedd ein so entscheidender Fehler unterläuft.«

Auf Niccis Gesicht machte sich eine gewisse Besorgnis breit. »Du kannst deine magischen Kräfte nicht benutzen, ohne Gefahr zu laufen, die Bestie anzulocken, aber für mich gilt das ganz sicher nicht. Und ich gebiete über weitaus größere Kräfte als Zedd. Wenn sie sich tatsächlich so aufgeteilt haben, wie du es angedeutet hast, werden wir uns wenigstens nicht mit allen dreien auf einmal auseinander setzen müssen.«

»Das nicht, ich würde trotzdem gern auf diese Art der Kraftprobe verzichten, erst recht hier, in der Burg der Zauberer. Zumal Zedd, selbst wenn Ihr damit Erfolg haben solltet, uns anschließend trotzdem noch verfolgen könnte.«

Leicht pikiert, verschränkte Nicci die Arme. »Was also schlägst du vor?«

Er wandte sich herum und sah ihr abermals in ihre blauen Augen. »Ich schlage vor, dass wir einen Ausweg benutzen, auf dem sie uns nicht folgen können.«

Sie rümpfte verständnislos die Nase. »Was?« »Durch die Sliph.«

Sofort sahen sich alle um und blickten den Steg entlang zurück, so als könnte die Sliph bereits dort stehen und darauf warten, dass sie in ihr reisten.

»Aber ja.« Cara war sofort einverstanden. »Auf diese Weise könnten wir uns davonmachen, ohne dass sie je erfahren, wohin wir uns gewendet haben. Es würden keine Spuren zurückbleiben, vor allem aber würden wir uns ein gewaltiges Stück von der gefährlichen Situation entfernen, sodass die drei die Hoffnung aufgeben müssten, uns jemals zu verfolgen.«

»Genau.« Richard versetzte ihr einen anerkennenden Klaps auf die Schulter. »Gehen wir.«

Sie folgten ihm, als er den Steg entlangeilte und schließlich durch die herausgesprengte Türöffnung den Raum der Sliph betrat. Dort angekommen, entzündete Nicci mit ihrer Magie die in den Wandhalterungen steckenden Fackeln, derweil sich alle um den Brunnen versammelten. Wie auf Kommando schoben sie den Kopf über den Rand und spähten in die Tiefe.

»Da wäre nur ein Problem«, sagte Richard laut, als ihm beim Blick in den schwarzen Abgrund ein Gedanke durch den Kopf schoss. Er sah hoch zu Nicci. »Ich kann die Sliph nur mithilfe meiner Magie herbeirufen.«

Nicci holte einmal tief Luft und stieß sie, einen entmutigten Ausdruck im Gesicht, wieder aus. »Das ist allerdings ein Problem.«

»Nicht unbedingt«, warf Cara ein. »Nach Shotas Worten birgt die Anwendung deiner Magie die Möglichkeit, dass die Bestie herbeigelockt wird, allerdings handelt diese vollkommen planlos. Es wäre zwar logisch, wenn sie Euch aufgrund der Anwendung Eurer Magie aufspüren würde, aber da ihr Handeln nicht von Logik bestimmt ist, wäre ihr Erscheinen, wie Shota sagte, ebenso gut möglich wie auch nicht. Das lässt sich unmöglich vorhersagen.«

»Andererseits können wir mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass wir hier nicht einfach hinausspazieren können, ohne auf die anderen zu stoßen«, betonte Nicci noch einmal. »Ein Fluchtversuch birgt zwei Probleme«, erklärte Richard. »Erstens müssen wir uns an ihnen vorbei stehlen, und zweitens dürfen wir ihnen auch später nicht in die Hände fallen, um zu verhindern, dass sie mich zu ›heilen‹ versuchen. Da erscheint mir dieser Weg sinnvoller. Die Sliph bietet eine sichere Fluchtmöglichkeit, ohne dass Zedd, Ann und Nathan uns verfolgen oder wissen können, wohin ich gegangen bin – außerdem würden wir einer Konfrontation mit ihnen aus dem Weg gehen, und das ist etwas, auf das ich wirklich gern verzichten würde. Ich liebe meinen Großvater, ich möchte mich nicht gegen ihn zur Wehr setzen müssen.«

»Ich sage es nur ungern«, sagte Cara, »aber mir erscheint das auch sinnvoller.«

»Ich bin derselben Meinung«, erklärte Rikka.

»Also gut, ruf die Sliph.« Sich mit einer Hand das Haar aus dem Gesicht haltend, spähte sie noch einmal hinab in den Brunnen. »Und beeil dich, bevor sie neugierig werden, warum ich so lange brauche.«

Ohne eine Sekunde zu zögern, streckte Richard seine geballten Fäuste über den Brunnenrand. Er musste seine Gabe auf den Plan rufen, um die Sliph herbeizurufen, und sich auf seine Talente zu berufen gehörte nicht eben zu den Dingen, in denen er geübt war. Doch dann fasste er einen Entschluss: Er hatte es schon einmal getan, nun würde er es eben wieder tun müssen.

Er ließ seine Anspannung von sich abfallen. Sofort löste das ehrliche und brennende Bedürfnis, zu tun, was immer er tun musste, um Kahlan zu helfen, tief in seinem Innern sein Verlangen aus. Deutlich spürte er, wie es aus dem Kern seines Seins tosend an die Oberfläche schoss, ihm den Atem raubte. Das machtvolle Gefühl in seinem Innern ließ ihn die Bauchmuskeln anspannen.

Zwischen seinen ausgestreckten Handgelenken flammte ein Licht auf. Er erkannte das Gefühl augenblicklich wieder und presste die beiden gepolsterten, mit Silber durchwirkten Armbänder aneinander, die daraufhin mit einer solchen Helligkeit erstrahlten, dass er durch Fleisch und Knochen hindurch die andere Seite der schweren Silberarmbänder erkennen konnte.

Richard konzentrierte sich voll und ganz auf sein Vorhaben, bis er keinen anderen Wunsch mehr verspürte, als dass die Sliph zu ihm komme, damit er Kahlan helfen könne. Es dürstete ihn so sehr danach, dass er es schlicht verlangte.

Komm zu mir!

Ein gleißendes Licht entzündete sich und zuckte unter lautem Geheul wie ein Blitz genau in der Mitte des Brunnenschachts in die Tiefe, doch statt des Donnengrollens vernahm man ein lautes Knistern, als das Gemisch aus Licht und Feuer die Luft mit lautem Getöse zerriss und mit unfassbarer Geschwindigkeit in die Tiefen der Dunkelheit hinabschoss.

Alle, die um den Brunnenrand herumstanden, warfen einen bangen Blick in den vom Blitz erhellten Brunnenschacht, nur Nicci dachte daran, sich außerdem noch umzusehen, und hielt ein Auge auf den Raum ringsum. Offenbar befürchtete sie, die Bestie könnte plötzlich auftauchen. Das Echo der Energie, die Richard in den Brunnen hinabgejagt hatte, brauchte lange, bis es endgültig verklungen war, aber schließlich herrschte wieder völlige Stille.

Und in dieser Stille der Burg, in der Ruhe dieses Berges aus totem Gestein, der sich ringsum und über ihnen auftürmte, war plötzlich ein fernes, tiefes Grollen zu hören. Das Grollen von etwas, das zum Leben erwachte.

Eine immer stärker werdende Kraft brachte den Boden zum Zittern, bis aus den Ritzen und Spalten Staub aufzusteigen begann und kleine Steinchen über den bebenden Steinfußboden hüpften. Ganz unten in den fernen Tiefen begann der Brunnen sich mit etwas zu füllen, das, vom heulenden Kreischen extrem hoher Geschwindigkeit begleitet, mit unglaublichem Tempo den Schacht heraufgeschossen kam. Das Heulen schwoll immer mehr an, als die Sliph, dem Ruf folgend, nach oben raste. Die drei Frauen traten vom Brunnenrand zurück, als die silbrig schimmernde Masse nach oben schwappte und mit einer Plötzlichkeit zum Stillstand kam, der eine gewisse Eleganz nicht abzusprechen war. In der Mitte des schwappenden, silbrigen Beckens entstand ein metallisch glänzender Höcker, der sich über den Rand der steinernen, den Brunnen einfassenden Ummauerung erhob. Scheinbar wie von selbst zog er sich zu einem massigen Körper zusammen, der zu einer erkennbaren Gestalt heranwuchs, deren glänzende Oberfläche, einem flüssigen Spiegel gleich, den gesamten Raum ringsum reflektierte, immer höher wuchs, sich verformte und dabei die auf ihrer Außenseite gespiegelten Bilder verzerrte. Es sah in der Tat aus wie flüssiges Quecksilber.

Die noch immer in die Höhe wachsende Gestalt verzog sich weiter, bildete Flächen und Kanten, Falten und Rundungen aus, bis schließlich das Gesicht einer Frau entstand. Ein silbriges Lächeln breitete sich über das Gesicht, ausgelöst, so schien es, durch das Wieder erkennen. »Du hast mich gerufen, Herr?«

Die gespenstische, feminine Stimme der Sliph hallte ringsum durch den Raum, obwohl sich ihre Lippen nicht bewegt hatten.

Ohne Niccis und Rikkas großäugig staunende Gesichter zu beachten, trat Richard näher heran. »Ja. Ich danke dir, dass du gekommen bist, Sliph. Ich brauche dich.«

Das silbrige Lächeln war sichtlich erfreut. »Du möchtest reisen, Herr?«

»Ja, ich möchte reisen. Wir alle möchten reisen. Wir müssen.«

Das Lächeln wurde breiter. »Dann kommt. Reisen wir.«

Richard bat die anderen, sich dicht an der Ummauerung um ihn zu scharen. Das flüssige Metall bildete eine Hand aus, die herüberlangte und jede der drei Frauen nacheinander berührte. »Du bist schon einmal gereist«, sagte die Sliph nach einer flüchtigen Berührung ihrer Stirn zu Cara. »Du darfst reisen.«

Dann strich die Innenfläche der glänzenden Hand über Niccis Stirn, wo sie ein wenig länger verweilte. »Du besitzt, was nötig ist. Du darfst reisen.«

Ihren Widerwillen gegen alles Magische ignorierend, reckte Rikka ihr das Kinn entgegen und behauptete tapfer ihre Stellung, als die Sliph sie an der Stirn berührte.

»Du darfst nicht reisen«, entschied die Sliph.

Rikka machte ein empörtes Gesicht. »Aber wenn Cara es kann wieso dann nicht auch ich?«

»Du bist nicht im Besitz beider erforderlicher Seiten«, antwortete die Stimme.

Trotzig verschränkte Rikka die Arme vor der Brust. »Aber ich muss sie begleiten, also werde ich es auch tun, und damit basta.«

»Die Entscheidung liegt bei dir, aber wenn du in mir reist, wirst du sterben, und dann kannst du ebenso wenig bei ihnen sein.«

Ehe sie etwas erwidern konnte, legte Richard ihr eine beschwichtigende Hand auf den Arm. »Cara hat die Kräfte einer Person übernommen, die einen Funken der erforderlichen Magie enthielt, deswegen kann sie reisen. Da ist leider nichts zu machen. Ihr werdet hier zurückbleiben müssen.«

Rikka machte einen alles andere als glücklichen Eindruck, schließlich aber nickte sie. »Na schön, aber dann solltet Ihr Euch jetzt auf den Weg machen.«

»Komm«, wandte sich die Sliph an Richard, »wir werden reisen. An welchen Ort möchtest du reisen?«

Fast hätte Richard es laut ausgesprochen, aber im letzten Moment konnte er sich noch zurückhalten. Er wandte sich noch einmal an Rikka.

»Wenn Ihr uns schon nicht begleiten könnt, halte ich es für das Beste, wenn Ihr jetzt geht, damit Ihr nicht einmal hört, wohin ich reise. Wenn Ihr Bescheid wisst, besteht die Gefahr, dass die anderen doch noch irgendwie dahinter kommen, und das möchte ich nicht riskieren. Wenn er es darauf anlegt, kann mein Großvater nämlich ziemlich gerissen sein und alle möglichen üblen Tricks anwenden, um zu bekommen, was er will.«

»Das müsst Ihr mir wohl kaum erklären.« Rikka stieß einen resignierten Seufzer aus. »Aber wahrscheinlich habt Ihr Recht, Lord Rahl.« Mit einem Lächeln sagte sie zu Cara: »Pass gut auf ihn auf.«

Cara nickte. »Das tue ich immer. Ohne mich ist er nämlich ziemlich aufgeschmissen.«

Richard überging Caras Prahlerei. »Ihr müsst Zedd etwas von mir ausrichten, Rikka. Ihr müsst ihm eine Nachricht von mir überbringen.«

Die Stirn in Falten gelegt, hörte Rikka aufmerksam zu. »Richtet ihm bitte aus, dass vier Schwestern der Finsternis Kahlan gefangen genommen haben, und zwar die echte Mutter Konfessor, nicht den Leichnam, der unten in Aydindril begraben liegt. Sagt ihm, dass ich vorhabe, so bald wie möglich zurückzukehren, und ihm dann den Beweis liefern werde. Außerdem bitte ich ihn, mir nach meiner Rückkehr Gelegenheit zu geben, ihm den mitgebrachten Beweis zu zeigen, und zwar bevor er einen Versuch unternimmt, mich zu heilen. Und bitte sagt ihm noch, ich liebe ihn und habe Verständnis dafür, dass er um mich besorgt ist, dass ich aber tun müsse, was die Aufgabe des Suchers ist, wie er es mir selbst beim Überreichen des Schwertes der Wahrheit aufgetragen hat.«

Kaum war Rikka gegangen, da fragte Cara: »Welchen Beweis?«

»Woher soll ich das wissen? Ich habe ihn ja noch nicht gefunden.« Damit wandte er sich an Nicci. »Vergesst nicht, was ich Euch vorhin erklärt habe. Sofort nach dem Eintauchen müsst Ihr die Sliph einatmen. Anfangs werdet Ihr das Bedürfnis verspüren, den Atem anzuhalten, aber das ist einfach völlig ausgeschlossen. Sobald wir dann am Ziel angelangt sind und aus der Sliph herausklettern, müsst Ihr sie sofort aus Euren Lungen herauspressen und stattdessen wieder die Luft einatmen.«

Nicci schien einigermaßen nervös. Richard ergriff ihre Hand. »Ich werde bei Euch sein, und Cara auch. Wir haben es beide schon gemacht. Ich werde Euch nicht loslassen. Beim ersten Mal ist es nicht ganz einfach, sich zu zwingen, die Sliph einzuatmen, aber sobald Ihr Euch einmal überwunden habt, werdet Ihr feststellen, dass es eine ziemlich erstaunliche Erfahrung ist. Es ist reine Verzückung.«

»Verzückung«, wiederholte Nicci mit nicht eben geringer Skepsis. »Es stimmt, was Lord Rahl sagt«, warf Cara ein. »Ihr werdet schon sehen.«

»Nur vergesst bitte eins nicht«, setzte Richard hinzu, »wenn es vorbei ist, werdet Ihr nicht von der Sliph lassen und wieder Luft einatmen wollen – trotzdem müsst Ihr es tun, denn sonst werdet Ihr sterben. Habt Ihr das verstanden?«

»Natürlich«, erwiderte Nicci mit einem Nicken.

»Dann kommt jetzt.« Richard machte sich daran, die Ummauerung zu erklimmen, und zog Nicci mit sich nach oben.

»Wohin werden wir reisen, Herr?«, fragte die Sliph.

»Ich denke, wir sollten es im Palast des Volkes in D’Hara versuchen. Kennst du diesen Ort?«

»Natürlich. Der Palast des Volkes ist eine zentrale Stätte.«

»Eine zentrale Stätte?«

Wenn sich behaupten ließe, dass lebendiges Quecksilber so aussehen konnte, als reagiere es verwirrt auf eine Frage, dann reagierte die Sliph verwirrt. »Richtig, eine zentrale Stätte. So wie auch dieser Ort hier.«

Richard verstand nicht recht, hielt es jedoch nicht für zweckdienlich und hakte deshalb nicht weiter nach. »Verstehe.«

»Und warum ausgerechnet der Palast des Volkes?«, fragte Nicci. Richard zuckte mit den Achseln. »Irgendwohin müssen wir schließlich reisen, außerdem sind wir dort sicher. Viel wichtiger aber ist, dass es dort Bibliotheken voller seltener alter Schriften gibt. Ich hoffe, dass wir dort etwas über diese ›Feuerkette‹ in Erfahrung bringen können. Da sich Kahlan in der Gewalt der Schwestern befindet, vermute ich, dass der Begriff irgendetwas mit einer bestimmten Art Magie zu tun haben könnte. Nach meinen Informationen befindet sich die Armee der Imperialen Ordnung auf ihrem Marsch nach Süden irgendwo ganz in der Nähe. Außerdem habe ich Berdine, eine weitere Mord-Sith, das letzte Mal gesehen, als ich sie hier in Aydindril zurückließ; ich nehme also an, dass sie sich entweder in der Nähe unserer Truppen oder des Palasts selbst befindet. Sie muss mir unbedingt beim Übersetzen einiger Passagen aus den Büchern helfen, die ich mitnehmen werde. Außerdem hat sie Kolos Tagebuch. Möglicherweise hat sie bereits ein paar hilfreiche Informationen zusammengetragen.«

Mit einem Seitenblick auf Cara fügte er hinzu: »Vielleicht können wir sogar General Meiffert einen Besuch abstatten und uns ein Bild von der Situation bei den Truppen machen.«

Caras Miene hellte sich überrascht auf, und ein strahlendes Lächeln ging über ihr Gesicht. Nicci nickte nachdenklich. »Schätze, das klingt ganz vernünftig. Der Ort ist vermutlich so gut wie jeder andere jedenfalls wärst du dort nicht mehr unmittelbar in Gefahr, und das ist es, was im Augenblick am meisten zählt.«

»Also gut, Sliph«, beendete Richard die Diskussion, »wir möchten zum Palast des Volkes in D’Hara reisen.«

Ein Arm aus flüssigem Silber erschien und schlang sich um die drei. Richard spürte, wie sich der warme, sich wellenförmig um ihn legende Griff straffte, um ihn sicher in der Gewalt zu haben. Nicci klammerte sich in Todesangst an seine Hand. »Lord Rahl?«, fragte Cara.

Richard hob seine freie Hand, um die Sliph zu bitten, kurz anzuhalten, ehe sie sie in den Brunnen heben konnte. »Was ist?«

Cara biss sich verlegen auf die Unterlippe, aber schließlich rückte sie mit ihrem Anliegen heraus. »Ihr haltet Niccis Hand, würdet Ihr vielleicht auch mich an die Hand nehmen? Ich ... na ja, ich möchte verhindern, dass wir drei getrennt werden.«

In Anbetracht ihrer sorgenvollen Miene versuchte Richard, sich ein Schmunzeln zu verkneifen. Cara hatte trotz allem eine Heidenangst vor allem, was mit Magie zu tun hatte. »Aber sicher.« Er fasste ihre Hand. »Ich möchte auch nicht, dass wir getrennt werden.«

Dann kam ihm plötzlich ein Gedanke. »Warte!« Er stoppte die Sliph gerade noch, ehe sie beginnen konnte. »Ja, Herr?«

»Ist dir vielleicht eine Person mit Namen Kahlan bekannt? Kahlan Amnell, die Mutter Konfessor.« »Der Name sagt mir nichts.«

Richard stieß einen enttäuschten Seufzer aus, auch wenn er nicht wirklich erwartet hatte, dass sie Kahlan kannte. Schließlich kannte sie auch sonst niemanden.

»Oder vielleicht einen Ort, der das Herz der Leere genannt wird ?« »In dem Gebiet dieses Namens sind mir verschiedene Orte bekannt. Einige davon wurden zerstört, andere dagegen existieren bis heute. Wenn du es wünschst, kann ich dorthin reisen.«

Die überraschende Erklärung ließ Richards Herz schneller schlagen. »Gibt es unter diesen Orten im Herzen der Leere auch einen, der als zentrale Stätte gilt?«

»Ja, einer davon. Caska, im Herzen der Leere, ist eine zentrale Stätte. Möchtest du dorthin reisen?«

Er sah zu Cara und Nicci. »Kennt eine von Euch diesen Ort, dieses Caska?«

Nicci schüttelte den Kopf, Cara jedoch runzelte nachdenklich die Stirn. »Ich meine mich zu erinnern, irgendetwas darüber gehört zu haben, als ich noch klein war. Tut mir Leid, Lord Rahl, aber ich weiß beim besten Willen nicht mehr genau, was es war – nur, dass mir der Name aus irgendwelchen alten Legenden bekannt vorkommt.« »Was genau meint Ihr mit alten Legenden?« Cara zuckte mit den Achseln. »Alte d’Haranische Legenden halt ... irgendetwas über Menschen, die Träume übertragen, Geschichten eben, die sich die Leute so erzählen. Es hat etwas mit der d’Haranischen Geschichte zu tun. Mir scheint, Caska ist ein Ortsname aus alter Zeit.«

Alte Zeiten, Menschen, die Träume übertragen. Richard erinnerte sich, beim Überfliegen einiger Passagen des Buches mit dem Titel Gegendrauss, das er in dem mit Schilden gesicherten Raum gefunden hatte, etwas über das Übertragen von Träumen gelesen zu haben, hatte die Stelle aber nicht übersetzt. Nun war er zum Herrscher des d’Haranischen Reiches aufgestiegen, und noch immer wusste er nur sehr wenig über dieses rätselhafte Land. Auch wenn sich Caras Wissen darin zu erschöpfen schien, plötzlich hatte er das Gefühl, dem Wiedersehen mit Kahlan einen Schritt näher gekommen zu sein.

»Wir möchten jetzt reisen«, wandte er sich an die Sliph. »Und zwar nach Caska, im Herzen der Leere.«

Seine letzte Reise in der Sliph lag schon eine ganze Weile zurück, daher war ihm ein wenig mulmig zumute. Die Aufregung jedoch, dass er endlich die ersten Zusammenhänge ahnte, die ihn vielleicht zu den lange so ungreifbar scheinenden Antworten führen würden, ließ ihn alle Bedenken über Bord werfen. »Reisen wir also nach Caska.« Die Stimme der Sliph hallte durch den steinernen Raum, in dem Kolo einst, nach Beendigung des Großen Krieges, über sie gewacht hatte. Zumindest hatten alle geglaubt, er wäre damals beendet worden, doch die uralten Konflikte waren nicht so leicht zu klären gewesen, und nun waren sie von neuem entbrannt. Der Arm hob die drei von der Ummauerung und tauchte sie in den silbrigen Schaum. Er spürte, wie Niccis Klammergriff an seiner Hand sich noch verstärkte, als sie, kurz vor dem Eintauchen, japsend noch einmal tief Luft holte.

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