Für Vincent Cascella, einen Mann, dessen Verstand, Geist, Kraft und Mut mich stets beflügelt haben ... und einen Freund, der stets für mich da ist.
»Wie viel von diesem Blut stammt wohl von ihm?«, fragte eine Frauenstimme. »Das meiste, fürchte ich«, antwortete eine zweite. Die beiden Frauen liefen mit hastigen Schritten neben ihm her. Für Richard, der größte Mühe hatte, seine Gedanken auf die unbedingte Notwendigkeit zu konzentrieren, nicht das Bewusstsein zu verlieren, klangen die gehetzten Stimmen, als kämen sie schemenhaft irgendwo aus weiter Ferne. Er war unsicher, wer die beiden waren, er wusste nur, dass er die beiden kannte, aber das schien im Augenblick nicht weiter von Belang.
Der überwältigende Schmerz in seiner linken Brusthälfte sowie seine Atemnot ließen ihn allmählich panische Reaktionen zeigen. Er schaffte es gerade noch, einen lebenswichtigen Atemzug nach dem anderen in die Lungen zu saugen.
Doch eigentlich quälte ihn eine viel größere Sorge.
Unter Aufbietung seiner letzten Kraftreserven versuchte er, dieser brennenden Sorge Ausdruck zu verleihen, doch war er außerstande, die Worte zu formen, und brachte nicht mehr als ein stöhnendes Keuchen über seine Lippen. In dem verzweifelten Bemühen, die beiden zum Stehen bleiben zu bewegen und dazu, ihm zuzuhören, packte er den Arm der neben ihm laufenden Frau. Sie missverstand die Geste und trieb die Männer, die ihn trugen, zu noch größerer Eile an, obwohl die ungeheure Anstrengung, ihn durch das felsige Gelände im tiefen Schatten der hohen Föhren zu schleppen, sie bereits jetzt schwer atmen ließ. Sie gaben sich größte Mühe, so behutsam wie möglich dabei vorzugehen, wagten aber nicht, das Tempo zu drosseln. Unweit in der stillen Luft krähte ein Hahn, so als wäre dies ein ganz normaler Morgen wie jeder andere. Mit einem seltsam entrückten Gefühl beobachtete Richard den Aufruhr hektischer Aktivität, deren Mittelpunkt er bildete. Nur die Schmerzen erschienen ihm wirklich. Er erinnerte sich, irgendwo einmal gehört zu haben, dass man stets einsam und allein starb, ganz gleich, wie viele Menschen dabei zugegen waren. Genauso fühlte er sich jetzt – einsam und allein.
Als sie aus dem dichten Baumbestand auf eine spärlich bewaldete, unebene Fläche klumpigen Grases gelangten, erblickte Richard über den belaubten Zweigen einen bleiernen Himmel, aus dem jeden Augenblick ein Regenguss herabzustürzen drohte. Dies war das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte. Hoffentlich ließ er wenigstens noch eine Weile auf sich warten.
Endlich kamen die nackten, ungetünchten Außenmauern einer kleinen Kate in Sicht, und kurz darauf ein zu einem silbrig grauen Farbton verwitterter, schiefer Viehzaun. Aufgescheuchte Hühner stoben verängstigt gackernd aus dem Weg. Richard, dessen Körper sich gegen die Schwindel erregenden, durch den holprigen Transport verursachten Schmerzen versteift hatte, nahm von den aschfahlen Gesichtern kaum Notiz, die zuschauten, wie er vorüber getragen wurde. Er fühlte sich, als würde er in Stücke gerissen. Der gesamte Trupp, der ihn umgab, zwängte sich durch eine schmale Türöffnung und drängte in das dahinter liegende Dunkel.
»Hierher«, rief die erste Frauenstimme. Zu seiner Überraschung erkannte Richard jetzt, dass es sich um Niccis Stimme handelte. »Legt ihn hierher, auf den Tisch. Beeilt euch.«
Richard vernahm das Scheppern von Blechtassen, als jemand diese zur Seite fegte. Weitere Gegenstände fielen mit dumpfem Poltern zu Boden. Dann wurden mit einem Knall die Fensterläden aufgestoßen, um ein wenig trübes Licht in die muffig riechende Stube zu lassen. Offenbar handelte es sich um eine aufgegebene Bauernkate, deren Wände sich in schiefem Winkel neigten, so als hätte das Haus Mühe, sich aufrecht zu halten, und könnte jeden Augenblick in sich zusammenfallen. Ohne seine Bewohner, die es einst zu ihrem Heim gemacht und mit Leben erfüllt hatten, verströmte es die Atmosphäre eines Ortes, der nur darauf wartete, dass sich der Tod dort häuslich niederließ.
Einige Männer packten Richard an Armen und Beinen, hoben ihn hoch und legten ihn behutsam auf einen Tisch aus grob behauenen Planken. Am liebsten hätte er das Atmen vollends eingestellt, so schier unerträglich waren die von seiner linken Brusthälfte ausstrahlenden Schmerzen, doch er benötigte die Luft, die zu bekommen nahezu unmöglich schien, dringend. Er brauchte sie, um sprechen zu können.
Es blitzte. Einen Lidschlag darauf folgte heftiges Donnergrollen. »Reines Glück, dass wir es noch vor dem Regen bis zu diesem trockenen Plätzchen geschafft haben«, sagte einer der Männer.
Nicci, die sich soeben über Richard beugte und zielstrebig seine Brust abtastete, nickte zerstreut. Er stieß einen Schrei aus und presste in dem Versuch, sich ihren tastenden Fingern zu entziehen, seinen Rücken gegen die schwere hölzerne Tischplatte. Sofort war die andere Frau zur Stelle und drückte seine Schultern herunter, um zu verhindern, dass er seine Lage veränderte.
Er versuchte zu sprechen. Fast hätte er die Worte über die Lippen gebracht, doch dann erbrach er einen Mund voll zähflüssigen Blutes. Als er danach weiteratmen wollte, fing er an zu würgen. Die Frau, die seine Schultern festhielt, drehte seinen Kopf zur Seite, beugte sich ganz dicht über ihn und sagte:
»Spuckt es aus.«
Das Gefühl, keine Luft zu bekommen, ließ ein heißes Angstgefühl aufblitzen. Während sie ihm mit den Fingern in den Mund fuhr, um den Atemweg freizumachen, nahm sich Richard ihren Rat zu Herzen, sodass es ihm mit ihrer Hilfe schließlich gelang, genug Blut hervorzuwürgen und auszuspucken, um so wenigstens einen Teil der so dringend benötigten Luft in seine Lungen zu saugen.
Als Nicci den Bereich um den aus der linken Seite seiner Brust ragenden Pfeil abtastete, entfuhr ihr ein unterdrückter Fluch.
»Bei den Gütigen Seelen«, sprach sie dann leise ein Gebet, während sie sein blutgetränktes Hemd zerriss. »Gebt, dass ich noch rechtzeitig bin.«
»Ich hatte Angst, den Pfeil herauszuziehen.« Das war wieder die andere Frau. »Ich wusste ja nicht, was passieren würde, und war unsicher, ob ich es tun sollte, also beschloss ich, ihn besser stecken zu lassen und darauf zu hoffen, dass es mir gelingt, Euch zu finden.«
»Ihr könnt von Glück reden, dass Ihr es nicht versucht habt«, erwiderte Nicci, während sie Richard, der sich vor Schmerzen wand, eine Hand unter den Rücken schob. »Hättet Ihr ihn herausgezogen, wäre er jetzt nicht mehr am Leben.«
»Aber Ihr könnt ihn wieder gesund machen.« Es klang eher wie eine Bitte denn wie eine Frage. Nicci antwortete nicht.
»Ihr könnt ihn wieder gesund machen.« Diesmal wurden die Worte zwischen zusammengebissenen Zähnen hervorgepresst.
An dem herrischen, aus überstrapazierter Geduld geborenen Ton erkannte Richard, dass es sich um Cara handelte. Er hatte vor dem Überfall keine Gelegenheit mehr gehabt, es ihr zu sagen. Sie musste es doch wissen, aber wenn sie es wusste, wieso sagte sie es dann nicht? Wieso beruhigte sie ihn nicht? »Wäre er nicht gewesen, wir wären glatt überrumpelt worden«, sagte ein etwas abseits stehender Mann. »Er hat die Soldaten abgefangen, die sich an uns herangeschlichen hatten, und uns allen dadurch die Haut gerettet.«
»Ihr müsst ihm helfen«, beharrte ein anderer mit eindringlicher Stimme. Nicci fuchtelte gereizt mit den Armen. »Macht, dass ihr rauskommt, alle miteinander. Hier ist es sowieso schon viel zu eng, und im Augenblick kann ich nicht die kleinste Störung gebrauchen. Ich brauche dringend etwas Ruhe.«
Wieder blitzte es, so als wollten die Gütigen Seelen höchstselbst ihr vorenthalten, was sie so dringend brauchte. Ein krachender Donner, gefolgt von einem tiefen Echo, kündete von dem sich bedrohlich rings um sie her zusammenbrauenden Gewitter.
»Werdet Ihr Cara nach draußen schicken, sobald Ihr etwas wisst?«, wollte einer der Männer wissen. »Ja, ja. Jetzt verschwindet schon.«
»Und seht nach, ob nicht noch weitere Soldaten in der Nähe sind, die uns überraschen könnten«, fügte Cara hinzu. »Falls ja, lasst euch bloß nicht blicken. Wir können es uns nicht erlauben, entdeckt zu werden – nicht ausgerechnet jetzt.«
Die Männer gelobten zu tun, wie ihnen geheißen. Im Vorübergehen berührte einer der Männer kurz Richards Schulter – eine tröstliche und Mut zusprechende Geste. Richard erinnerte sich nur vage an das Gesicht, er hatte diese Männer eine Weile nicht gesehen. Der Gedanke schoss ihm durch den Kopf, dass dies wohl kaum die rechte Art war, ein Wiedersehen zu begehen. Dann zogen die Männer die Tür hinter sich zu.
»Nicci«, tuschelte Cara mit gesenkter Stimme. »Ihr könnt ihn doch heilen?«
Richard war zu einem Treffen mit Nicci unterwegs gewesen, als eine Gruppe von Soldaten – entsandt, um den Aufstand gegen die brutale Herrschaft der Imperialen Ordnung niederzuwerfen – zufällig auf sein verstecktes Lager stieß. Der erste Gedanke, der ihm, unmittelbar bevor die Soldaten über ihn stolperten, durch den Kopf schoss, war, dass er unbedingt Nicci finden musste. Jetzt erhellte ein erster Hoffnungsschimmer das Dunkel seiner brennenden Sorge. Nicci würde ihm gewiss helfen können. Er musste sie nur dazu kriegen, ihn anzuhören.
Als sie sich über ihn beugte und ihre Hand dabei unter ihn schob, offenbar um festzustellen, wie dicht der Pfeil davor war, an seinem Rücken wieder auszutreten, konnte Richard ihr schwarzes Kleid an der Schulter packen und sah, dass seine Hand vor Blut glänzte. Bei jedem Husten spürte er, wie weiteres Blut über sein Gesicht rann. Ihre blauen Augen wandten sich ihm zu. »Alles wird wieder gut, Richard. Lieg still.« Eine blonde Haarsträhne fiel über ihre Schulter nach vorn, als er versuchte, sie näher zu sich herabzuziehen. »Ich bin ja da. Beruhige dich. Ich lasse dich nicht im Stich. Lieg still. Es ist alles in Ordnung; ich werde dir helfen.«
So geschickt sie es auch zu überspielen suchte, in ihrer Stimme lauerte Panik. Trotz ihres begütigenden Lächelns glitzerten Tränen in ihren Augen. In diesem Moment kam ihm zum ersten Mal der Gedanke, ihre Heilkräfte könnten mit seiner Verletzung überfordert sein.
Umso wichtiger war es, dass er sie dazu bewog, ihn endlich anzuhören. Richard öffnete den Mund und versuchte zu sprechen, schien aber nicht genug Luft zu bekommen. Er bibberte vor Kälte, und jeder Atemzug glich einem Kampf, der wenig mehr als ein feuchtes Rasseln hervorbrachte. Er konnte doch nicht sterben, nicht hier, nicht jetzt! Tränen stachen ihm in den Augen. Sachte drückte Nicci ihn wieder zurück.
»Lord Rahl«, beschwor ihn Cara, »liegt still. Bitte.« Sie löste seine in Niccis Kleid verkrallte Hand und presste sie mit festem Griff an ihren Körper. »Nicci wird sich um Euch kümmern. Bald geht es Euch wieder gut. Liegt einfach still und lasst sie tun, was sie tun muss, um Euch wieder gesund zu machen.«
Während Niccis blondes Haar ihr lose über die Schultern fiel, hatte Cara das ihre zu einem einzigen Zopf geflochten. Er wusste, dass sie zutiefst besorgt war, trotzdem vermochte er in Caras Körperhaltung nichts anderes zu sehen als ihre starke Anwesenheit und in ihren Gesichtszügen und den blauen Augen ihre Willenskraft. In diesem Augenblick, gefangen in panischer Angst, gab ihm diese Stärke, dieses Selbstvertrauen, ein Stück festen Boden unter den Füßen.
»Der Pfeil ist nicht am Rücken wieder ausgetreten«, erklärte Nicci an Cara gewandt, als sie ihre Hand wieder unter seinem Rücken hervorzog. »Allerdings handelt es sich um einen Armbrustbolzen. Würde er an seinem Rücken herausragen oder so tief sitzen, dass ein kleiner Stoß genügte, um ihn ganz durchzustoßen, könnten wir die mit Widerhaken versehene Spitze abbrechen und den Schaft einfach herausziehen.«
Sie verschwieg, was sie jetzt stattdessen würden tun müssen.
»Er blutet nicht mehr so stark«, bemerkte Cara. »Wenigstens haben wir die Blutung gestillt.«
»Äußerlich vielleicht«, vertraute ihr Nicci mit leiser Stimme an. »Aber sein Brustraum füllt sich noch immer mit Blut – es steht kurz davor, in seinen linken Lungenflügel einzudringen.«
Diesmal war es Cara, die ihre Hand in Niccis Kleid verkrallte. »Aber Ihr werdet doch etwas dagegen tun? Ihr müsst...«
Mit einem geknurrten »Selbstverständlich« befreite Nicci ihre Schulter aus ihrem Klammergriff. Richard ächzte vor Schmerzen. Die immer höher steigende Woge aus Panik schien über ihm zusammenzuschlagen.
Um ihn ruhig zu halten und ihm Trost zu spenden, legte Nicci ihm ihre andere Hand auf die Brust. »Cara«, sagte sie, »warum wartet Ihr nicht draußen, bei den anderen?«
»Kommt überhaupt nicht infrage. Am besten lasst Ihr Euch einfach nicht stören.«
Nicci sah ihr kurz abschätzend in die Augen, dann beugte sie sich vor und schloss ihre Finger erneut um den aus Richards Brust ragenden Bolzenschaft. Der Verletzte spürte das tastende Kribbeln der Magie, die dem Kanal des Pfeils bis in die Tiefen seines Körpers folgte, und erkannte das unverwechselbare Gefühl von Niccis Kraft, ganz so, wie er zuvor auch ihre unverwechselbare seidenweiche Stimme wieder erkannt hatte.
Jetzt war keine Zeit mehr hinauszuzögern, was er tun musste, so viel wusste er. Hatte sie erst einmal angefangen, konnte niemand mehr sagen, wie lange es dauern würde, bis er das Bewusstsein wiedererlangte ... wenn überhaupt.
Richard nahm seine ganze Kraft zusammen, ließ seine Hand vorschnellen und bekam ihr Kleid am Kragen zu fassen. Dann zog er sich bis dicht vor ihr Gesicht, zog sie zu sich herunter, damit sie ihn hören konnte. Das Einzige, was er hervorbrachte, war dieses eine Wort. »Kahlan«, hauchte er mit letzter Kraft. »Schon gut, Richard. Ist ja gut.« Sie strich sich das Haar aus dem Gesicht und legte ihm fürsorglich behutsam eine Hand auf die Stirn, während sie mit der anderen erneut den vermaledeiten Bolzenschaft umfasste. Verzweifelt mühte sich Richard, ein »Nein« hervorzustoßen, mühte sich, den beiden zu erklären, dass sie Kahlan suchen müssten, doch dann wurde das Kribbeln der Magie heftiger und ging über in einen lähmenden Schmerz. Er war bereits einmal von Nicci geheilt worden, daher wusste er, wie sich ihre Kraft anfühlte. Aber irgendwas war diesmal anders –gefährlich anders.
Cara stöhnte auf. »Was tut Ihr da!«
»Was ich tun muss, wenn ich ihn retten will. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.«
»Aber Ihr könnt doch nicht...«
»Wenn Ihr ihn lieber den wartenden Armen des Todes überlassen wollt, braucht Ihr es nur zu sagen. Andernfalls lasst mich tun, was ich tun muss, damit er uns erhalten bleibt.«
Einen kurzen Moment lang musterte Cara Niccis erhitztes Gesicht, dann schnaubte sie geräuschvoll und nickte. Richard versuchte, nach Niccis Handgelenk zu greifen, doch zuvor bekam Cara seines zu fassen und drückte es auf den Tisch zurück, sodass seine Finger nun auf dem Heft seines Schwertes und dem dort aus Golddraht gebildeten Wort WAHRHEIT lagen. Noch einmal hauchte er Kahlans Namen, doch diesmal drang kein Laut über seine Lippen. Cara, die Stirn fragend in Falten gelegt, beugte sich zu Nicci. »Habt Ihr verstanden, was er da gerade gesagt hat?«
»Ich weiß nicht, irgendein Name. Kahlan, glaube ich.«
Richard versuchte, »Ja« zu schreien, doch heraus kam nur ein heiseres Stöhnen. »Kahlan?«, fragte Cara. »Wer soll das denn sein?«
»Ich habe keine Ahnung«, murmelte Nicci, während sie ihre Konzentration wieder auf die anstehende Aufgabe richtete. »Offenbar ist er wegen des hohen Blutverlusts ins Delirium gefallen.«
Der Schmerz, der plötzlich durch seinen Körper jagte, nahm ihm endgültig jede Möglichkeit zu atmen. Wieder blitzte und donnerte es draußen krachend, und diesmal setzte kurz darauf ein gewaltiger Regenguss ein, der auf das Dach zu trommeln begann.
Ein einziges Mal noch vermochte Richard Kahlans Namen zu flüstern, dann ließ Nicci ihre Magie in einer wahren Flut in ihn hineinströmen.
Die Welt löste sich auf in ein unermessliches Nichts.