7 Spiel mit dem Feuer

Die Sonne hatte sich am nächsten Morgen kaum über den Horizont erhoben, da erschien Egwene am Eingang zu Rands Gemächern. Elayne folgte ihr schlurfend. Die Tochter-Erbin trug ein blaßblaues Seidenkleid mit langen Ärmeln. Es war der tairenischen Mode entsprechend schulterfrei, und nach langer Diskussion hatte sie es noch ein wenig heruntergezogen. Das Blau ihrer Augen wurde noch unterstrichen von einer Halskette aus Saphiren von der Farbe des Morgenhimmels und einer weiteren solchen Kette, die sie durch ihre rotgoldenen Locken gezogen hatte. Trotz der Wärme trug Egwene einen einfachen, dunkelroten Schal, beinahe so breit wie eine Stola, um die Schultern. Aviendha hatte ihr den gegeben, genauso wie die Saphire. Überraschenderweise besaß die Aielfrau einen ganzen Vorrat an Schmuck.

Obwohl sie ja um ihre Anwesenheit gewußt hatte, erschrak Egwene doch, als die Aiel-Wachen plötzlich geschmeidig aufsprangen. Elayne gab ein kurzes Keuchen von sich, aber dann musterte sie die Wachen würdevoll, wie sie das so gut beherrschte. Es schien aber auf diese sonnenverbrannten Männer keine Wirkung zu haben. Die sechs waren Shae'en M'taal, Steinhunde, und erschienen für Aiel geradezu entspannt. Das hieß, sie schienen gleichzeitig alles wahrzunehmen und bereit zu sein, in jeder Richtung losschlagen.

Egwene machte es Elayne nach und richtete sich gerade auf. Sie wünschte, sie könne das so gut wie die TochterErbin. Dann verkündete sie: »Ich... wir wollen nach den Wunden des Lord Drachen sehen.« Ihre Bemerkung war an sich dumm, falls sie etwas über die Heilkräfte der Aes Sedai wußten, aber das war eher unwahrscheinlich. Nur wenige Menschen wußten darüber Bescheid und die Aiel möglicherweise noch weniger als andere. Sie hatte gar nicht geplant, einen Grund für ihre Anwesenheit zu nennen. Es genügte schon, daß sie sie für Aes Sedai hielten. Aber als sich die Aiel mit einemmal beinahe aus dem schwarzen Marmorboden zu erheben schienen, hielt sie es doch für besser. Nicht, daß sie irgendwelche Anstalten machten, Elayne und sie aufzuhalten. Doch diese Männer waren alle so groß, hatten solch steinharte Gesichter und trugen diese Kurzspeere und Hornbögen, als wäre deren Gebrauch ihre zweite Natur... Wenn man von diesen grauen Augen so eindringlich gemustert wurde, erinnerte man sich nur zu schnell an die Geschichten über schwarzverschleierte, gnaden- und mitleidslose Aiel, an den Aielkrieg und Männer wie diese, die jedes gegen sie ausgesandte Heer bis hin zum letzten vernichteten und erst in ihre Wüste zurückgekehrt waren, nachdem sie das Heer der vereinigten Nationen während dreier blutgetränkter Tage und Nächte vor den Mauern Tar Valons zurückgeschlagen hatten. Beinahe hätte sie Saidar gesucht.

Gaul, der Anführer der Steinhunde, nickte. Er blickte voller Respekt auf Elayne und sie herab. Er war ein gutaussehender Mann, wenn er auch etwas rauh in der Schale wirkte, ein wenig älter als Nynaeve, mit Augen, so grün wie geschliffene Gemmen, und langen Wimpern, die so dunkel waren, daß sie wie ein schwarzer Kontrapunkt die Farbe seiner Augen zur Geltung brachten. »Sie schmerzen ihn möglicherweise noch. Er hat heute morgen ganz schlechte Laune.« Gaul grinste. Es war nur ein kurzes Aufblitzen weißer Zähne. Aber er hatte Verständnis für schlechte Launen, wenn man verwundet war und Schmerzen ausstehen mußte. »Er hat bereits eine Gruppe dieser Hochlords verjagt und einen davon sogar persönlich hinausgeworfen. Wie hieß er gleich wieder?« »Torean«, antwortete ein anderer, noch größerer Mann. Er hielt lässig seinen kurzen Bogen mit aufgelegtem Pfeil in der Hand. Der Blick aus seinen grauen Augen ruhte einen Moment lang auf den beiden Frauen und huschte dann zurück zu den Säulen des Vorraums und den dunklen Zwischenräumen, die er unter Beobachtung halten mußte.

»Torean«, bestätigte Gaul. »Ich glaubte schon, er werde bis zu diesen hübschen Schnitzereien hinüberrutschen... « Er deutete mit dem Speer auf die Gruppe strammstehender Verteidiger, die sich nicht vom Fleck rührte. »... aber drei Schritt davor war die Rutschpartie zu Ende. Ich habe einen schönen tairenischen Wandbehang mit Habichten aus Goldfäden an Mangin verloren.« Der größere Mann lächelte kurz und zufrieden.

Egwene riß die Augen auf, als sie sich vorstellte, wie Rand persönlich einen Hochlord auf den Flur beförderte. Er hatte nie zu Gewalt geneigt — ganz im Gegenteil! Inwieweit hatte er sich verändert? Sie war zu sehr mit Joiya und Amico beschäftigt gewesen und er zu sehr mit Moiraine oder Lan oder den Hochlords, als daß sie mehr als ein paar Worte im Vorübergehen gewechselt hätten. Und in diesen kurzen Gesprächen war es um die Heimat gegangen, wie wohl das Bel-Tein-Fest dieses Jahr ausgefallen sein mochte und wie es am Sonnentag würde. Alles nur hastig und nebenher. Inwieweit hatte er sich wohl verändert?

»Wir müssen zu ihm«, sagte Elayne mit leicht zitternder Stimme.

Gaul verbeugte sich und stellte einen Speer mit der Spitze nach unten auf den schwarzen Marmorboden. »Selbstverständlich, Aes Sedai.« So betrat Egwene Rands Gemächer mit einem unangenehmen Gefühl im Magen und Elaynes Gesicht sprach Bände, welche Überwindung sie diese wenigen Schritte kostete.

Vom Schrecken der vergangenen Nacht war nichts mehr zu entdecken, außer vielleicht der Abwesenheit von Spiegeln. Helle Flecken an der Wand zeigten, wo welche abgenommen worden waren. Der Raum wirkte trotzdem keineswegs ordentlich; überall lagen Bücher, auf jeder möglichen Fläche, manche davon geöffnet, als habe er sie beim Nachlesen einfach liegen lassen. Das Bett war auch noch nicht gemacht. An allen Fenstern hatte er die tiefroten Vorhänge weggezogen. Sie zeigten nach Westen und erlaubten den Blick auf die Schlagader Tears: den Fluß. Callandor glitzerte wie ein geschliffener Kristall von einem hohen, vergoldeten und überreich verzierten Ständer herunter. Egwene hielt ihn für das kitschigste und häßlichste Objekt, das je einen Raum hatte schmücken sollen, bis sie auf dem Kaminsims die silbernen Wölfe erblickte, die einen goldenen Hirsch rissen. Das war denn doch noch schlimmer. Eine leichte Brise vom Fluß her kühlte den Raum überraschend stark ab, wenn man es mit dem übrigen Stein verglich.

Rand lag in Hemdsärmeln auf einem Stuhl, hatte ein Bein über die Lehne gehängt und ein ledergebundenes Buch an sein Knie gestützt. Beim Geräusch ihrer Schritte klappte er das Buch zu und ließ es zu den anderen auf den mit Runen verzierten Teppich fallen. Er sprang kampfbereit auf. Doch der düstere Gesichtsausdruck hellte sich auf, sobald er sah, wer ihn besuchte.

Zum erstenmal, seit sie sich im Stein aufhielten, suchte Egwene in seinem Gesicht nach Veränderungen und fand sie auch.

Wie viele Monate war es her, seit sie ihn zum letztenmal vor den Erlebnissen im Stein gesehen hatte? Lange genug jedenfalls, um sein Gesicht härter erscheinen zu lassen. Die Offenheit, die einst in seinen Zügen gelegen hatte, war verblaßt. Er bewegte sich auch anders — ein bißchen wie Lan, ein bißchen wie die Aiel. Bei seiner Größe, dem rötlichen Haar und den je nach Beleuchtung einmal blau und dann wieder grau erscheinenden Augen wirkte er nur zu sehr wie ein Aielmann. Die Ähnlichkeit war beunruhigend. Doch hatte er sich auch innerlich verändert?

»Ich glaubte, jemand... anders käme«, murmelte er in die allgemeine Verlegenheit hinein. Das war wieder der Rand, wie sie ihn kannte, bis hin zu den geröteten Wangen, jedesmal, wenn er Elayne oder sie direkt anblickte. »Manche... manche Leute wollen Dinge, die ich ihnen nicht geben kann. Nicht geben werde.« Mit erschreckender Plötzlichkeit wandelte sich sein Gesichtsausdruck zu einer Maske des Mißtrauens und sein Tonfall verschärfte sich: »Was wollt ihr denn nun? Hat Moiraine euch geschickt? Sollt ihr mich dazu bringen, daß ich tue, was sie will?« »Sei kein Idiot«, entschlüpfte es Egwene, bevor sie sich unter Kontrolle hatte. »Ich will auf keinen Fall, daß du einen Krieg anfängst.« Elayne fügte bittend hinzu: »Wir sind gekommen, um... um dir zu helfen, wenn wir können.« Das war auch einer ihrer Gründe und der am leichtesten einsehbare. Dazu hatten sich beim Frühstück entschieden.

»Ihr kennt ihre Pläne bezüglich...«, fing er grob an, doch dann wechselte er mit einem Mal das Thema. »Mir helfen? Wie? Das sagt Moiraine auch immer.« Egwene faltete mit strengem Blick die Arme unter der Brust und packte fest ihren Schal, so wie Nynaeve das immer getan hatte, wenn sie vor der Ratsversammlung des Dorfes gesprochen hatte und sich unbedingt durchsetzen wollte, gleich, wie stur sie auch sein mochten. Jetzt war es zu spät, noch einmal von vorn zu beginnen. Es blieb ihr nur übrig, auf dem einmal eingeschlagenen Weg fortzufahren. »Ich habe dir doch gesagt, du sollst dich nicht wie ein Narr benehmen, Rand al'Thor! Die Leute aus Tear küssen dir ja vielleicht die Stiefel, aber ich erinnere mich nur zu gut daran, wie dir Nynaeve einmal das Hinterteil versohlt hast, als du dich von Mat hattest überreden lassen, einen Krug Apfelschnaps zu stehlen.« Elayne bemühte sich, ihr Gesicht nicht zu verziehen. Zuviel der Mühe. Egwene konnte deutlich sehen, wie sie sich das Lachen verbiß.

Rand bemerkte das natürlich nicht. Männern entging so etwas gewöhnlich. Er grinste Egwene an und hätte selbst beinahe laut losgelacht. »Da waren wir gerade dreizehn geworden. Sie hat uns hinter dem Stall deines Vaters schlafend gefunden, und uns taten die Köpfe so weh, daß wir ihre Rute kaum gespürt haben.« So war das aber Egwenes Erinnerungen nach nicht gewesen. »Im Gegensatz zu dem Tag, als du ihr diese Schüssel an den Kopf geworfen hast. Denkst du noch daran? Sie hatte dich mit Hundskrauttee beruhigt, nachdem du die ganze Woche liebeskrank herumgehangen hattest, und mit dem Geschmack auf der Zunge hast du ihre beste Schüssel genommen und nach ihr geworfen. Licht, hast du vielleicht gekreischt! Wann war das? Muß fast zwei Jahre her sein... « »Wir sind nicht hier, um über alte Zeiten zu klatschen«, sagte Egwene und rückte unangenehm berührt ihren Schal zurecht. Die Wolle war zwar nur dünn, aber dennoch zu heiß. Er erinnerte sich tatsächlich an die unmöglichsten Sachen.

Er grinste, als habe er ihre Gedanken erraten, und fuhr erheblich besser gelaunt fort: »Ihr seid hier, um mir zu helfen, sagt ihr? Womit? Ich nehme nicht an, daß ihr wißt, wie man einen Hochlord dazu bringt, sein Wort zu halten, sobald man ihm nicht mehr über die Schulter schaut. Oder wie man unerwünschte Träume abbricht. Ich könnte nun wirklich Hilfe gebrauchen bei... « Sein Blick wanderte zu Elayne und dann zurück zu ihr. Er wechselte abrupt wieder das Thema. »Wie ist das mit der Alten Sprache? Habt ihr die in der Weißen Burg gelernt?« Er wartete nicht auf ihre Antwort, sondern kramte statt dessen zwischen den auf dem Teppich verstreuten Büchern herum. Auf den Stühlen und den zerknüllten Bettüchern lagen noch mehr. »Ich habe hier ein Exemplar... irgendwo... von...« »Rand.« Egwene wiederholte es noch einmal lauter: »Rand, ich kann die Alte Sprache nicht lesen.« Sie warf Elayne einen Blick zu, der sie warnen sollte, ihre Kenntnisse nicht preiszugeben. Sie waren nicht gekommen, um für ihn die Prophezeiungen des Drachen zu übersetzen. Die Saphire im Haar der Tochter-Erbin schwangen hin und her, als sie zustimmend nickte. »Wir mußten andere Sachen lernen.« Er richtete sich seufzend auf. »Es wäre auch zuviel des Guten gewesen.« Einen Moment lang schien er noch etwas sagen zu wollen, doch dann blickte er nur auf seine Stiefel herunter. Egwene fragte sich, wie er es fertiggebracht hatte, diese arroganten Hochlords hinauszuwerfen, wenn Elayne und sie ihn bereits aus dem Gleichgewicht brachten.

»Wir sind gekommen, um dir bei der Beherrschung der Macht zu helfen«, sagte sie zu ihm. Man hielt wohl allgemein Moiraines Behauptung für wahr, daß eine Frau einem Mann das Lenken der Macht genausowenig beibringen konnte wie das Kinderkriegen, doch Egwene war sich da nicht so sicher. Sie hatte einmal etwas gespürt, was aus Saidin gewoben war. Oder richtiger, sie hatte nichts gefühlt, wo etwas hätte sein sollen. Ihre eigenen Machtströme waren abgeblockt gewesen wie von einem Damm, der das Wasser zurückhält. Aber sie hatte sowohl in der Burg wie auch außerhalb vieles gelernt, und sicher war irgend etwas dabei, was sie ihm vermitteln konnte, eine Anleitung, die sie ihm geben konnte.

»Falls uns das möglich ist«, fügte Elayne hinzu.

Mißtrauen flackerte wieder über sein Gesicht. Es war nervtötend, wie schnell seine Launen wechselten. »Da sind meine Chancen ja noch besser, ein Buch in der Alten Sprache zu lesen, als... Seid ihr sicher, nicht in Moiraines Auftrag zu handeln? Hat sie euch hergeschickt? Glaubt, sie kann mich auf einem Umweg herumkriegen, ja? Eine so geschickt gesponnene Intrige der Aes Sedai, daß ich nichts merke, bis ich schon mittendrin stecke?« Er knurrte empört und hob eine dunkelgrüne Jacke vom Boden hinter einem der Stühle auf. Hastig zog er ihn an. »Ich habe zugestimmt, heute morgen noch ein paar weitere Hochlords zu empfangen. Wenn ich sie nicht ständig im Auge behalte, finden sie irgendeinen Weg, sich um meine Anordnungen herumzudrücken. Sie werden noch einiges zu lernen haben. Ich herrsche jetzt in Tear. Der Wiedergeborene Drache. Das muß ich ihnen noch beibringen. Jetzt müßt ihr mich entschuldigen.« Egwene hätte ihn am liebsten geschüttelt. Er herrschte in Tear? Nun ja, vielleicht war dem so, aber sie erinnerte sich noch an den Jungen mit einem Lamm, das er unter den Mantel gesteckt hatte, und wie stolz er darauf gewesen war, daß er den Wolf vertrieben hatte, der es reißen wollte. Er war Schafhirte und kein König, und selbst wenn er ein Recht auf ein gewisses Auftreten hatte, stand ihm das ganz und gar nicht zu Gesicht.

Sie war drauf und dran, ihm das zu sagen, als Elayne zornig herausplatzte: »Niemand hat uns geschickt. Niemand! Wir sind gekommen, weil... weil uns etwas an dir liegt. Vielleicht klappt es nicht, aber du kannst es wenigstens versuchen. Wenn uns... soviel daran liegt, es zu probieren, dann kannst du dir wenigstens Mühe geben. Ist dir das so unwichtig, daß du keine Stunde dafür erübrigen kannst? Für dein eigenes Leben?« Er hörte damit auf, seine Jacke zuzuknöpfen, und blickte die Tochter-Erbin einen Augenblick lang so intensiv an, daß Egwene sich schon vergessen wähnte. Dann riß er sich unter leichtem Zittern von Elayne los. Er sah Egwene an, trat von einem Fuß auf den anderen und senkte die Augen.

»Ich werde es versuchen«, sagte er kleinlaut. »Es wird nicht helfen, aber trotzdem... Was soll ich tun?« Egwene atmete tief durch. Sie hatte nicht geglaubt, daß es so leicht würde, ihn zu überreden. Wenn er nicht wollte, war er immer wie ein Felsblock gewesen, der halb im Schlamm versunken war. Und das war viel zu oft der Fall gewesen.

»Sieh mich an«, sagte sie, wobei sie Saidar anzapfte. Sie ließ sich so vollständig von der Macht erfüllen, wie noch nie zuvor, sog jeden Tropfen des Stroms in sich auf, den sie überhaupt halten konnte. Es war, als durchdringe das Licht jedes Teilchen ihres Ichs, als fülle es jede Ritze in ihrem Inneren. Das Leben sprühte in ihr wie ein Feuerwerk. Noch nie zuvor hatte sie sich so der Macht hingegeben. Sie erschrak, als ihr klar wurde, daß sie nicht einmal bebte; wie sollte sie soviel zärtliche Süße auf einmal ertragen. Sie wollte sich dem ganz hingeben, tanzen und singen, sich niederlegen und die Macht einfach durch sich hindurchbranden lassen. Sie zwang sich zum Sprechen: »Was siehst du? Was fühlst du? Sieh mich an, Rand!« Er hob langsam den Kopf. Die Stirn hatte er gerunzelt. »Ich sehe dich. Was erwartest du, das ich sehen soll? Berührst du die Wahre Quelle? Egwene, Moiraine hat hundertmal in meiner Gegenwart die Macht benützt, und ich habe niemals etwas gesehen außer der Wirkungen ihrer Tätigkeit. Das geht so nicht. Selbst ich weiß wenigstens soviel.« »Ich bin stärker als Moiraine«, erklärte sie ihm selbstbewußt. »Sie läge wimmernd auf dem Boden oder wäre bereits bewußtlos, wenn sie soviel Macht in sich hielte wie ich jetzt.« Das stimmte, auch wenn sie noch nie zuvor die Fähigkeiten der Aes Sedai so eindeutig einzuschätzen versucht hatte.

Diese Macht durchpulste sie stärker als das Herzblut und verlangte danach, benutzt zu werden. Mit soviel Macht konnte sie Dinge tun, von denen Moiraine noch nicht einmal zu träumen in der Lage war. Die Wunde an Rands Seite, die Moiraine nie ganz heilen konnte. Sie wußte noch nicht, wie man Wunden heilte. Es war um vieles komplizierter als alles, was sie bisher unternommen hatte. Doch sie hatte Nynaeve beim Heilen zugesehen, und bei einem solchen Machtstrom in ihrem Innern konnte sie doch vielleicht herausfinden, wie man das anstellte. Nicht gleich selbst tun natürlich — nur herausfinden...

Vorsichtig sandte sie haarfeine Rinnsale der Elemente Luft, Wasser und Geist aus, die man zum Heilen benötigte, und fühlte damit nach seiner Wunde. Eine Berührung, und sie fuhr zurück, schauderte, riß ihr Machtgewebe fort, und ihr Magen revoltierte, als wolle sie sich endlos übergeben. Es schien, als ob alle Dunkelheit der Welt dort in Rands Körper ruhe, als lauere alles Böse der Welt in dieser nur mit einer dünnen Hautschicht bedeckten Wunde. Etwas wie das hier würde die heilenden Rinnsale der Macht in sich aufsaugen wie trockener Sand den Wassertropfen. Wie konnte er diesen Schmerz ertragen? Wieso weinte er nicht ständig?

Vom ersten Gedanken daran bis jetzt war kaum ein Augenblick vergangen. Erschüttert und in dem verzweifelten Versuch, ihre Gefühle zu verbergen, fuhr sie ohne Unterbrechung fort: »Du bist genauso stark wie ich. Das weiß ich — es muß so sein. Fühle, Rand! Was fühlst du?« Licht, was könnte diese Wunde heilen? Kann sie überhaupt geheilt werden?

»Ich fühle überhaupt nichts«, sagte er und trat von einem Fuß auf den anderen. »Gänsehaut. Und das ist kein Wunder. Es ist ja nicht so, daß ich dir nicht trauen würde, Egwene. Aber ich kann mir nicht helfen: Ich bin immer kribbelig, wenn eine Frau in meiner Umgebung die Macht benützt. Tut mir leid.« Sie machte sich nicht die Mühe, ihm den Unterschied zwischen dem Gebrauch der Macht und ihrer bloßen Berührung klarzumachen. Er wußte so vieles nicht, selbst wenn man es mit ihren eigenen mageren Kenntnissen verglich. Er war wie ein blinder Mann, der einen Webstuhl nach dem Gefühl allein bedienen wollte, ohne zu wissen, welche Farbe die Fäden hatten oder wie Fäden und Webstuhl überhaupt aussahen.

Mit Mühe ließ sie Saidar wieder fahren. Es kostete sie wirklich Mühe. Ein Teil von ihr wollte des Verlustes wegen weinen. »Jetzt berühre ich die Quelle nicht mehr, Rand.« Sie trat näher an ihn heran und blickte zu ihm auf. »Hast du immer noch eine Gänsehaut?« »Nein. Aber das ist nur, weil du es mir gesagt hast.« Er zuckte plötzlich die Achseln. »Siehst du? Ich habe daran denken müssen, und schon ist sie wieder da.« Egwene lächelte triumphierend. Sie mußte sich gar nicht erst zu Elayne umdrehen, um zu bestätigen, was sie bereits gespürt hatte, worauf sie sich vorher schon für diesen Fall geeinigt hatten. »Du kannst es fühlen, wenn eine Frau die Quelle berührt, Rand. Elayne tut das nämlich gerade.« Er schielte die Tochter-Erbin an. »Es spielt keine Rolle, was du siehst oder nicht siehst. Du hast es gespürt. Soviel wissen wir jetzt. Sehen wir weiter, was wir sonst noch herausfinden. Rand, berühre die Quelle. Berühre Saidin.« Die Worte klangen heiser aus ihrem Mund. Auch darauf hatten sie und Elayne sich vorher geeinigt. Er war Rand und kein Ungeheuer aus irgendeiner Sage, und sie waren sich einig gewesen. Trotzdem, einen Mann darum zu bitten... Es war ein Wunder, daß sie diese Worte überhaupt herausgebracht hatte. »Siehst du irgend etwas?« fragte sie Elayne. »Oder spürst du etwas?« Rand blickte immer noch von einer zur anderen, und dazwischen wurde er rot und blickte zu Boden. Warum war er derart aus dem Gleichgewicht? Die Tochter-Erbin musterte ihn eindringlich und schüttelte den Kopf. »Nein. Er steht einfach nur so da, soweit ich das beurteilen kann. Bist du sicher, daß er überhaupt etwas tut?« »Er ist vielleicht stur, aber nicht blöd. Jedenfalls stellt er sich die meiste Zeit über nicht unbedingt dumm an.« »Na ja, stur oder dumm oder sonst was, jedenfalls spüre ich absolut nichts.« Egwene runzelte die Stirn. »Du sagtest doch, du würdest tun, was wir verlangen, Rand. Wie ist das jetzt? Wenn du etwas gespürt hast, sollten wir das eigentlich auch, und ich...« Sie brach mit einem kaum unterdrückten Schmerzensschrei ab. Irgend etwas hatte sie gewaltig in ihr Hinterteil gezwickt. Rands Lippen zuckten. Er kämpfte gegen ein breites Grinsen an. »Das«, sagte sie ihm kurz angebunden, »war nicht sehr nett von dir.« Er bemühte sich, eine Unschuldsmiene aufzusetzen, aber das Grinsen ließ sich nicht ganz unterdrücken. »Du sagtest, du wolltest etwas spüren, und ich dachte doch nur... « Sein plötzliches Aufbrüllen ließ Egwene zusammenfahren. Er hielt sich mit der Hand die linke Hinterbacke und hüpfte auf einem Bein vor Schmerz im Kreis herum. »Blut und Asche, Egwene! Das war nicht notwendig...« Er knurrte Unverständliches in sich hinein. Egwene war ganz froh, daß sie seine Flüche nicht verstehen konnte.

Sie nahm die Gelegenheit wahr und fächelte sich mit dem Ende ihres Schals ein wenig Luft zu und lächelte Elayne leicht an, worauf diese das Lächeln erwiderte. Das Glühen um die Tochter-Erbin herum verblaßte. Beide hätten fast losgekichert, als sie sich verstohlen die Hände rieben. Das sollte wohl reichen. Hundert zu eins für sie, schätzte Egwene.

Sie wandte sich Rand zu und machte ein strenges Gesicht. »So etwas hätte ich vielleicht von Mat erwartet. Ich dachte, wenigstens du wärst inzwischen erwachsen geworden. Wir sind gekommen, um dir zu helfen, wenn es möglich ist. Versuche bitte, mit uns zusammenzuarbeiten. Mache irgend etwas mit Hilfe der Macht, aber nicht wieder etwas Kindisches wie vorhin. Vielleicht sind wir in der Lage, dann etwas zu spüren.« Zusammengekrümmt funkelte er sie an. »Tu was«, knurrte er. »Ihr hattet kein Recht... ich werde tagelang hinken... Ihr wollt, daß ich etwas mit der Macht anfange?« Plötzlich schwebte sie nach oben und Elayne mit ihr. Sie starrten sich mit weit aufgerissenen Augen an, als sie einen Schritt über dem Teppich schwebten. Nichts hielt sie dort, jedenfalls kein Strom, den Egwene fühlen oder sehen konnte. Nichts. Ihr Mund verzog sich ärgerlich. Er hatte kein Recht, so etwas zu tun. Nicht das geringste Recht, und es war Zeit, ihm das klarzumachen. Die gleiche Art von Abschirmung des Elements Geist wie bei Joiya sollte auch bei ihm wirken, ihn von der Quelle abschneiden. Die Aes Sedai benützten das bei den wenigen Männern, die sie aufgespürt hatten, weil sie mit der Einen Macht arbeiten konnten.

Sie öffnete sich Saidar, und ihre Stimmung sank auf den Nullpunkt. Saidar war schon da und seine Wärme und das Licht spürbar, doch zwischen ihr und der Wahren Quelle stand irgend etwas, ein Nichts, wie die Abwesenheit eines Trägerelements, das sie wie eine Steinmauer von der Quelle abschnitt. Es war ein hohles Gefühl in ihrem Innern, und schnell stieg Panik in ihr auf. Ein Mann gebrauchte die Macht, und sie war in seinem Strom gefangen. Natürlich war es Rand, aber so hilflos hier zu hängen und nur daran denken zu können, daß ein Mann die Macht benützte, und an das befleckte Saidin... Sie wollte ihn anschreien und brachte doch nur ein Krächzen zustande.

»Du willst, daß ich etwas mit Hilfe der Macht tue?« grollte Rand. Zwei kleine Tischchen streckten mühevoll und unter lautem Knarren die Beine und dann begannen sie, mit steifen Bewegungen einen Tanz aufzuführen, die Parodie eines Tanzes. Blattgold blätterte dabei von ihnen ab. »Gefällt euch das?« Feuer flammte im Kamin auf. Die Flammen erfüllten den Innenraum ganz und gar und brannten auf kahlem Stein ohne Holz und ohne Asche. »Oder das?« Der goldene Hirsch und die Wölfe auf dem Kaminsims wurden weich und fielen in sich zusammen. Dünne Rinnsale aus Gold und Silber flossen aus der zusammenfallenden Masse, in feinen, sich schlängelnden Linien, verwebten sich zu einem schmalen Streifen metallischen Stoffs. Das glitzernde Gewebe schwebte in der Luft und wuchs. Nur das hintere Ende hing noch an der schmelzenden Statue auf dem Kaminsims, wie der Faden an einem Wollknäuel, aus dem ein Kleidungsstück gestrickt wurde. »Tu etwas, Rand«, sagte Rand ironisch. »Tu etwas! Hast du eine Ahnung, wie das ist, Saidin zu berühren, zu halten? Ja? Ich kann spüren, wie dahinter der Wahnsinn auf mich wartet. In mich einsickert!« Mit einem Schlag brannten die tanzenden Tischchen wie Fackeln, tanzten aber weiter. Bücher wirbelten durch die Luft; ihre Seiten wurden von unsichtbarer Hand durchgeblättert. Das Oberbett explodierte, und es schneite Federn im ganzen Raum. Als Federn auf die brennenden Tische fielen, füllte sich die Luft mit beißendem, rußigem Gestank.

Einen Augenblick lang sah Rand mit wilden Blicken die brennenden Tische an. Dann verschwand das, was Egwene und Elayne festgehalten hatte, und auch die Abschirmung war weg. Ihre Füße schlugen im gleichen Moment auf dem Boden auf, in dem die Flammen erstarben, als würden sie in das Holz zurückgesaugt, das sie genährt hatte. Auch die Flammen im Kamin verschwanden, und die Bücher fielen zu einem noch schlimmeren Durcheinander als zuvor auf den Boden zurück. Und auch das aus Gold und Silber gewebte Tuch fiel herab. Es hingen noch lose Fäden aus halbgeschmolzenem Metall daran, die nun aber fest und kalt waren. Nur drei größere Klumpen, zwei aus Gold und einer aus Silber, waren kalt und völlig verformt auf dem Sims zurückgeblieben.

Egwene war bei der unsanften Landung taumelnd mit Elayne zusammengeprallt. Sie hielten sich aneinander fest, damit sie nicht umfielen, aber Egwene spürte, wie die andere blitzschnell das gleiche tat wie sie selbst, nämlich nach Saidar greifen. Augenblicke später stand ihre Abschirmung um Rand herum für den Fall, daß er noch einmal die Macht benützte, doch er stand nur wie betäubt da und starrte die verkohlten Tischchen und die herumfliegenden Federn an, die wie Schneeflocken auf seine Jacke landeten.

Er schien jetzt keine Gefahr mehr darzustellen, aber der Raum war ein einziges Durcheinander. Sie verwebte winzige Rinnsale des Elements Luft, um alle Federn zusammenzuholen, auch die auf dem Teppich liegenden. Dann dachte sie an die auf seinem Mantel und holte auch sie herbei. Den Rest mußte die Majhere herrichten lassen, oder er mußte eben selbst zupacken.

Rand zuckte zusammen, als die Federn an ihm vorbeischwebten und auf den Fetzen des Oberbettes landeten. Der Gestank wurde davon allerdings auch nicht besser. Verbrannte Federn und verbranntes Holz... Aber wenigstens machte der Raum nun einen etwas ordentlicheren Eindruck, und die schwache Brise, die durch die geöffneten Fenster drang, würde auch den Gestank schnell verfliegen lassen.

»Die Majhere wird mir nun wohl kein neues Oberbett mehr bringen«, meinte er unter gezwungenem Lachen. »Jeden Tag ein neues dürfte über dem liegen, was sie genehmigt...« Er vermied es, sie oder Elayne direkt anzuschauen. »Es tut mir leid. Ich wollte nicht... Manchmal geht es mit mir durch. Manchmal ist nichts da, wenn ich danach greife, und dann wieder geschehen Dinge, die ich... Tut mir leid. Vielleicht solltet ihr besser gehen. Das scheine ich auch recht oft zu sagen, nicht wahr?« Er errötete wieder und räusperte sich. »Ich berühre die Quelle jetzt nicht, aber trotzdem ist es wohl besser, wenn ihr geht.« »Wir sind hier noch nicht fertig«, sagte Egwene sanft. Sanfter, als es ihren Gefühlen entsprach. Am liebsten hätte sie ihm rechts und links eine heruntergehauen. Was für eine Idee, sie und Elayne einfach schweben zu lassen und noch dazu abzuschirmen! Aber er war mit den Nerven völlig am Ende. Woher das rührte, wußte sie nicht, und sie wollte es jetzt und hier auch gar nicht wissen. So viele hatten über ihre Stärke gestaunt. Jede hatte behauptet, sie und Elayne gehörten zu den stärksten Aes Sedai seit über tausend Jahren, seien vielleicht sogar die stärksten! Sie hatte angenommen, daß sie genauso stark seien wie er. Oder wenigstens nahezu genauso stark. Und doch war sie gerade auf unsanfte Weise eines Besseren belehrt worden. Vielleicht konnte Nynaeve dem nahekommen, wenn sie wütend genug war, aber Egwene war klar, daß sie selbst, was er gerade geschafft hatte, niemals fertigbringen würde, nämlich ihre Ströme in viele kleine aufzuspalten und eine Unmenge verschiedener Dinge auf einmal zu tun. Schon allein zwei Ströme auf einmal zu jonglieren war mehr als doppelt so schwer wie bei einem der gleichen Stärke, und bei drei Strömen gleichzeitig potenzierte sich der notwendige Aufwand. Er mußte mindestens ein Dutzend verwoben haben. Und dabei wirkte er nicht einmal müde, obwohl dieser Aufwand an Macht ungeheure Kraft kostete. Sie fürchtete, er könne sowohl sie wie auch Elayne wie die kleinen Kätzchen herumreichen. Hoffentlich nicht wie Kätzchen, die er ertränken wollte, falls er dem Wahnsinn verfiel.

Aber sie wollte und konnte jetzt nicht einfach so gehen. Das würde ein Aufgeben bedeuten, und so etwas lag ihr fern. Sie wollte tun, was sie sich in den Kopf gesetzt hatte — alles —, und er würde sie nicht kurz vor dem Ziel davonjagen. Weder er noch irgend etwas anderes.

Elaynes blaue Augen blickten ebenso entschlossen drein, und in dem Augenblick, als Egwene mit Sprechen aufhörte, fuhr sie an ihrer Stelle mit noch festerer Stimme fort: »Und wir werden nicht eher gehen, bis wir fertig sind. Du hast gesagt, du wolltest es versuchen. Also mußt du dein Bestes geben, klar?« »Habe ich das wirklich versprochen?« murmelte er nach einer Weile. »Nun, wenigstens könnten wir uns dabei hinsetzen.« Er sah die verkohlten Tischchen oder das auf dem Boden liegende metallische Tuch nicht an, und führte sie statt dessen leicht hinkend zu hochlehnigen Stühlen an den Fenstern hinüber. Sie mußten erst Bücher von den rotseidenen Kissen nehmen, bevor sie sich setzen konnten. Auf Egwenes Stuhl hatte Band zwölf der Schätze des Steins von Tear gelegen, ein staubiges, in Holz gebundenes Buch mit dem Titel Reisen in der Aiel-Wüste, mit verschiedenen Studien der wilden Einwohner dieses Gebiets, und ein dicker, abgegriffener Lederband: Die Politik Tears bezüglich des Territoriums von Mayene, 500 bis 750 NÄ. Elayne mußte einen noch größeren Stapel wegräumen, aber Rand beeilte sich, ihr alles abzunehmen und zusammen mit denen, die auf seinem Stuhl gelegen hatten, auf den Boden zu legen, wo der ganze Stapel prompt umfiel. Egwene legte ihre ordentlich daneben.

»Was wollt ihr mich jetzt machen lassen?« Er saß auf der Stuhlkante und hatte die Hände auf die Knie gelegt. »Ich verspreche euch, daß ich diesmal nur das tue, was ihr wollt.« Egwene biß sich auf die Zunge, um nicht herauszuplatzen, daß es für dieses Versprechen ein bißchen zu spät sei. Vielleicht hatte sie sich zuvor nicht klar genug ausgedrückt, aber das war keine Entschuldigung. Nun, darauf konnte sie ja ein andermal zurückkommen. Ihr wurde bewußt, daß sie in ihm wieder nur Rand sah. Er saß schuldbewußt da, als habe er gerade Schlamm auf ihr bestes Kleid gespritzt und fürchte, sie würde ihm nicht glauben, daß es aus Zufall geschehen war. Aber sie hatte Saidar inzwischen nicht losgelassen, genau wie Elayne. Besser war besser. »Diesmal«, sagte sie, »wollen wir lediglich, daß du erzählst. Wie berührst du die Quelle? Berichte einfach. Aber langsam, Schritt für Schritt.« »Mehr ein Ringkampf als eine Berührung.« Er grollte ein wenig. »Schritt für Schritt? Na ja, zuerst stelle ich mir eine Flamme vor und dann schiebe ich alles da hinein: Haß, Furcht und Nervosität. Alles. Wenn alles von der Flamme verschlungen ist, ist in meinem Kopf eine Leere, ein Nichts. Ich befinde mich im Zentrum, aber ich bin gleichzeitig auch ein Teil dessen, worauf ich mich konzentriere.« »Das klingt vertraut«, sagte Egwene. »Ich habe gehört, wie dein Vater von einer Konzentrationsübung sprach, die er verwendet, um jedesmal die Wettbewerbe im Bogenschießen zu gewinnen. Was er die Flamme und das Nichts nennt.« Rand nickte — ein wenig traurig, wie es schien. Sie glaubte, daß er seine Heimat und seinen Vater sehr vermißte. »Tam hat es mir zuerst beigebracht. Und Lan benützt es genauso bei dem Schwert. Selene — die habe ich mal kennengelernt — nannte es das Einssein. Eine Menge Leute scheinen es zu kennen, wenn sie auch verschiedene Ausdrücke dafür verwenden. Aber ich habe selbst herausgefunden, daß ich Saidin berühren konnte, wenn ich mich im Nichts befand. Es war wie ein Licht gerade jenseits meines Gesichtsfeldes mitten in der Leere. Es gibt da nichts außer mir und dem Licht. Gefühle, selbst Gedanken, befinden sich außerhalb. Früher mußte ich mir eines nach dem anderen erringen, doch nun kommt es wie von selbst in einem Augenblick. Jedenfalls das meiste. Meistens.« »Leere«, sagte Elayne schaudernd. »Kein Gefühl. Das klingt nicht so wie das, was wir tun.« »Doch, es ist ähnlich«, beharrte Egwene eifrig. »Rand, wir stellen es nur ein wenig anders an, aber im Prinzip kommt es aufs gleiche hinaus. Ich stelle mir vor, eine Blume zu sein, eine Rosenknospe, und zwar so lange, bis ich die Rosenknospe bin. Das ist auch ein wenig wie dein Nichts. Die Rosenknospe öffnet sich unter dem Licht Saidars, und ich lasse mich davon erfüllen. Durch diese Selbstaufgabe aber beherrsche ich es. Das war am schwersten zu lernen: wie man Saidar beherrscht, indem man sich ihm hingibt, aber mittlerweile kommt es mir so natürlich vor, daß ich nicht einmal mehr darüber nachdenke. Das ist der Schlüssel, Rand. Da bin ich sicher. Du mußt lernen, dich hinzugeben... « Er schüttelte lebhaft den Kopf.

»Das entspricht überhaupt nicht dem, was ich tue«, protestierte er. »Mich von ihm erfüllen lassen? Ich muß hinausgreifen und Saidin packen. Manchmal befindet sich gar nichts dort, wenn ich danach zu greifen versuche, nichts, was ich berühren könnte, aber wenn ich nicht von allein danach griffe, würde ich für alle Ewigkeit dastehen, und nichts würde geschehen. Es erfüllt mich schon, wenn ich es einmal im Griff habe, aber mich dem hingeben?« Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Egwene, wenn ich mich dem hingäbe, auch nur eine Minute lang, würde mich Saidin verschlingen. Es ist wie ein Strom aus geschmolzenem Metall, ein Feuermeer, alles Licht der Sonne, auf einen Fleck konzentriert. Ich muß darum kämpfen, daß es tut, was ich will, und dagegen ankämpfen, von ihm verschlungen zu werden.« Er seufzte. »Ich weiß aber sehr wohl, was du damit meinst, von Leben erfüllt zu sein, auch wenn mir die Verderbnis den Magen umdreht. Die Farben sind klarer, die Gerüche. Alles ist irgendwie wirklicher. Ich will es nicht wieder loslassen, wenn ich es einmal ergriffen habe, selbst wenn es mich zu verschlingen droht. Aber was den Rest betrifft... Sieh den Tatsachen ins Auge, Egwene. Die Burg hat recht in dieser Beziehung. Akzeptiere es als die Wahrheit, denn das ist es auch.« Sie schüttelte den Kopf. »Das glaube ich erst, wenn es mir bewiesen wird.« Es klang nicht so sicher und selbstbewußt wie zuvor und wie es klingen sollte. Was er gesagt hatte, war wie ein verzerrtes Spiegelbild ihrer eigenen Erfahrungen. Die Ähnlichkeiten betonten gleichzeitig die Unterschiede. Aber es gab Ähnlichkeiten. Sie würde nicht aufgeben. »Kannst du die Ströme auseinanderhalten? Luft, Wasser, Geist, Erde und Feuer?« »Manchmal«, sagte er bedächtig. »Gewöhnlich aber nicht. Ich nehme mir einfach, was ich brauche. Ich greife oft blind danach. Es ist schon seltsam. Manchmal muß ich etwas tun und schaffe es auch, aber ich weiß erst hinterher, was ich eigentlich gemacht habe und wie. Es ist, als erinnere ich mich an etwas, was ich schon vergessen hatte. Doch ich kann mich später dann daran erinnern, wie ich es anstellen muß. Meistens jedenfalls.« »Aber du erinnerst dich daran, ja?« beharrte sie. »Wie hast du diese Tischchen entzündet?« Sie hätte ihn auch gern gefragt, wie er sie zum Tanzen gebracht hatte. Sie glaubte, eine Möglichkeit zu kennen mit Hilfe von Luft und Wasser. Aber sie wollte lieber doch mit etwas Einfachem beginnen; eine Kerze anzünden und wieder auslöschen gehörte zu den ersten Dingen, die jede Novizin beherrschte.

Rands Gesicht wirkte schmerzerfüllt. »Ich weiß nicht.« Es klang verlegen. »Wenn ich Feuer brauche, für eine Lampe oder einen Kamin, dann mache ich es einfach, aber wie weiß ich nicht. Ich muß gar nicht erst nachdenken, wenn es um Feuer geht.« Das ergab beinahe einen Sinn. Von den Fünf Mächten waren Feuer und Erde bei den Männern am stärksten ausgeprägt gewesen während des Zeitalters der Legenden, Luft und Wasser dagegen bei den Frauen. Beim Element Geist hatte es sich die Waage gehalten. Egwene mußte auch kaum noch nachdenken, wenn sie Luft oder Wasser verwenden wollte, sobald sie eine Sache einmal erlernt hatte. Doch das half ihnen nun auch nicht weiter.

Diesmal war es Elayne, die nicht nachgab. »Weißt du, wie du sie wieder gelöscht hast? Du schienst nachzudenken, bevor sie ausgingen.« »Daran erinnere ich mich, denn ich glaube nicht, daß ich so etwas zuvor schon einmal getan habe. Ich habe die Hitze der Tische genommen und auf die Steine des Kamins geleitet. Bei einem Kamin macht sich diese Hitze kaum überhaupt bemerkbar.« Elayne schnappte nach Luft und hielt sich unbewußt einen Moment lang den linken Arm. Egwene verzog verständnisvoll den Mund. Sie erinnerte sich daran, wie dieser Arm von Brandblasen übersät gewesen war, als die Tochter-Erbin das gleiche versucht hatte, was Rand gerade beschrieben hatte, das aber nur mit der Lampe in ihrem Zimmer. Sheriam hatte gedroht, sie werde die Blasen auf natürliche Art heilen lassen, aber sie hatte die Drohung dann nicht wahrgemacht. Das war eine der Warnungen, die man den Novizinnen zukommen ließ: Nimm niemals Hitze in dich auf! Man konnte eine Flamme mit Hilfe von Luft oder Wasser löschen, aber Feuer zu benützen, um die Hitze wegzuziehen, führte bei einer Flamme jeder beliebigen Größe immer zu einem Unfall. Das habe nichts mit der eigenen Stärke zu tun, hatte Sheriam gesagt. Man könne einmal aufgenommene Hitze nicht mehr loswerden — auch nicht die stärkste Aes Sedai, die jemals von der Weißen Burg hervorgebracht worden war. Es hatte sogar schon Frauen gegeben, die sich auf diese Weise selbst verbrannten, die in Flammen aufgegangen waren. Egwene atmete tief, aber unruhig ein.

»Was ist los?« fragte Rand.

»Ich glaube, du hast mir gerade bewiesen, daß es wirklich einen Unterschied gibt.« Sie seufzte.

»Oh. Heißt das, du bist bereit, aufzugeben?« »Nein!« Sie bemühte sich, ein wenig sanfter weiterzusprechen. Sie war nicht böse auf ihn. Genau. Sie wußte überhaupt nicht, auf wen sie eigentlich wütend war. »Vielleicht hatten meine Lehrerinnen recht, aber vielleicht gibt es eben doch einen Weg. Irgendeinen. Nur fällt mir gerade keiner ein.« »Du hast es jedenfalls versucht«, sagte er einfach. »Dafür danke ich dir. Es ist nicht dein Fehler, wenn es nicht geht.« »Es muß einen Weg geben«, murmelte Egwene, und Elayne sagte beruhigend: »Wir werden einen finden. Bestimmt.« »Natürlich wird euch das gelingen«, sagte er mit gekünsteltem Optimismus. »Aber heute nicht.« Er zögerte. »Ich schätze, ihr werdet nun gehen?« Das klang zur Hälfte bedauernd und zur Hälfte froh. »Ich muß den Hochlords heute morgen noch einiges in bezug auf Steuern mitteilen. Sie scheinen der Meinung zu sein, sie könnten einem Bauern in einem schlechten Jahr genausoviel abnehmen wie in einem guten, ohne daß er dadurch zum Bettler wird. Und ich denke, ihr müßt diese Schattenfreunde wieder verhören.« Er runzelte die Stirn.

Er hatte wohl nichts gesagt, aber Egwene war sicher, daß er sie am liebsten so weit wie möglich von den Schwarzen Ajah ferngehalten hätte. Sie war ein wenig überrascht, daß er sie noch immer nicht gebeten hatte, zur Weißen Burg zurückzukehren. Vielleicht ahnte er, daß in diesem Fall sie und Nynaeve ihm ganz gewaltig den Kopf gewaschen hätten.

»Machen wir«, sagte sie mit fester Stimme. »Aber nicht sofort. Rand...« Die Zeit war gekommen, den zweiten Grund für ihre Anwesenheit ins Spiel zu bringen, aber das war noch schwieriger, als sie geglaubt hatte. Es würde ihm weh tun, davon überzeugte sie ein Blick in diese traurigen, mißtrauischen Augen. Aber es mußte sein. Sie zog den Schal etwas fester zusammen, so daß er sie von den Schultern bis zur Hüfte einhüllte. »Rand, ich kann dich nicht heiraten.« »Ich weiß«, sagte er.

Sie blinzelte überrascht. Er nahm es wohl nicht so schwer, wie sie erwartet hatte. Sie sagte sich, das sei doch gut. »Ich will dir nicht weh tun — wirklich nicht — aber ich will dich nicht heiraten.« »Das verstehe ich, Egwene. Ich weiß, was ich bin. Keine Frau würde... « »Du wollköpfiger Idiot!« schimpfte sie. »Das hat nichts damit zu tun, daß du die Macht benützen kannst! Ich liebe dich einfach nicht! Jedenfalls nicht so, daß ich dich heiraten möchte.« Rand fiel die Kinnlade herunter. »Du... du liebst mich nicht?« Es klang so überrascht, wie er aussah. Und auch verletzt.

»Versuche das bitte zu verstehen«, sagte sie in sanfterem Tonfall. »Die Menschen ändern sich, Rand. Gefühle ändern sich. Wenn Menschen voneinander getrennt sind, leben sie sich manchmal auseinander. Ich liebe dich wie einen Bruder, vielleicht auch etwas mehr, aber heiraten würde ich dich nicht. Kannst du das verstehen?« Er brachte ein bedauerndes Grinsen zuwege. »Ich bin wirklich ein Narr. Ich habe einfach nicht glauben können, daß du dich auch geändert hast. Egwene, ich will dich auch nicht heiraten. Ich wollte mich nicht ändern und habe mich auch nicht bemüht, aber es ist eben so gekommen. Wenn du wüßtest, wieviel mir das bedeutet! Dir nichts vormachen zu müssen. Keine Angst haben zu müssen, dir weh zu tun. Das wollte ich doch nie, Egwene. Ich wollte dir einfach nicht weh tun.« Sie hätte beinahe gelächelt. Er überspielte es so tapfer, daß er beinahe überzeugend gewirkt hätte. »Ich bin froh, daß du es so ruhig hinnimmst«, sagte sie ihm mit weicher Stimme. »Ich wollte dir auch nicht weh tun. Und nun muß ich wirklich gehen.« Sie erhob sich von ihrem Stuhl und gab ihm einen flüchtigen Kuß auf die Wange. »Du findest bestimmt eine andere.« »Sicher«, sagte er und stand ebenfalls auf. Die Lüge schwang deutlich in seiner Stimme mit.

»Warts nur ab!« Sie schlüpfte zufrieden hinaus und eilte durch den Vorraum. Sie ließ Saidar los, während sie den Schal von den Schultern rutschen ließ. Das Ding war unwahrscheinlich heiß.

Er war bereit, Elayne wie ein verirrter Welpe in den Schoß zu fallen, wenn sie ihn so behandelte, wie sie es besprochen hatten. Sie glaubte, daß Elayne gut mit ihm umgehen werde, jetzt wie später. Jedenfalls solange, wie ihnen noch Zeit blieb. Es mußte aber etwas geschehen, damit er seine Gaben besser unter Kontrolle bekam. Sie war gewillt, zuzugeben, daß es stimmte, was man ihr beigebracht hatte: Keine Frau konnte ihn lehren, damit umzugehen — Fische und Vögel... Aber das bedeutete noch lange kein Aufgeben. Es mußte etwas geschehen, also mußte sie einen Weg finden. Diese schreckliche Wunde und der drohende Wahnsinn waren Probleme für später, aber eines Tages mußten auch sie gelöst werden. Irgendwie. Jeder sagte, die Männer von den Zwei Flüssen seien stur, aber da kannten sie die Frauen von den Zwei Flüssen schlecht.

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