Goldene Lampen, die an goldenen Ketten von der im Schatten liegenden Decke zwischen den zehn Fuß dicken und hohen, glänzenden Sandsteinsäulen hingen, warfen ihren Lichtschein über die unten versammelte Adelsgesellschaft von Tear. Die Hochlords und Ladies standen im Kreis unter der mächtigen Kuppel, der niedere Adel dahinter, Reihe um Reihe im Wald der Säulen, alle in feinsten Festtagsgewändern — Samt und Seide und Spitzen, Puffärmel und hochgestellte Krägen und Spitzhüte —, und alle murmelten nervös untereinander, so daß es wie der Lärm einer aufgescheuchten Gänseherde von der Decke widerhallte. Nur die Hochlords waren früher schon hierhergebeten worden, an diesen Ort, den man das Herz des Steins nannte, und das auch nur viermal im Jahr, wie Gesetz und Brauch es verlangten. Nun kamen sie, alle, die sich nicht gerade auf ihren Landgütern aufhielten, auf Wunsch ihres neuen Herrn, der die Gesetze änderte und mit alten Sitten brach.
Die dichtgedrängte Menschenmenge machte für Moiraine Platz, sobald die Leute sahen, wer sie war. So bewegten Egwene und sie sich wie in einer Schneise dieses Menschenwalds. Lans Abwesenheit irritierte Moiraine. Es sah ihm gar nicht ähnlich, zu verschwinden, wenn sie ihn vielleicht benötigte. Normalerweise bewachte er sie, als könne sie nicht selbst auf sich aufpassen. Wäre sie nicht in der Lage gewesen, das Band zwischen ihnen zu spüren und somit zu wissen, daß er sich nicht weit vom Stein entfernt aufhalten konnte, hätte sie angefangen, sich Sorgen zu machen.
Er kämpfte genauso hart gegen die Fäden, an denen ihn Nynaeve festbinden wollte, wie in der Fäule gegen Trollocs, aber so sehr er es auch abstreiten mochte: Diese junge Frau hatte ihn ebenso fest in der Hand wie sie selbst auf andere Weise. Er konnte genausogut versuchen, mit bloßen Händen Stahl zu zerreißen, wie diese Bande. Sie war nicht eigentlich eifersüchtig, aber Lan war schon zu viele Jahre lang ihr Schwertarm, ihr Schild und ihr Begleiter gewesen, um ihn jetzt so leicht aufzugeben. Ich habe in dieser Hinsicht alles Notwendige getan. Sie bekommt ihn, falls ich sterbe, aber nicht früher. Wo ist dieser Mann nur wieder? Was macht er?
Eine Dame in rotem spitzenbesetzten Kleid — sie hatte ein Pferdegesicht, kam aus dem Landadel und hieß Leitha — zog ihren weiten Rock ein bißchen zu unwillig aus dem Weg, und Moiraine sah sie an. Es war lediglich ein Blick, und sie verlangsamte ihre Schritte dabei keineswegs, aber die Frau schauderte und senkte ihren Blick. Moiraine nickte in sich hinein. Sie war bereit zu akzeptieren, daß diese Menschen die Aes Sedai haßten, aber sie würde keine offene Unhöflichkeit dulden, neben all den verborgenen Intrigen. Außerdem traten die anderen einen weiteren Schritt zurück, als sie sahen, daß Leitha nachgegeben hatte.
»Bist du sicher, daß er nichts von dem Grund erwähnt hat, aus dem er alle hier zusammenrief?« fragte sie leise. Bei diesem Durcheinandergerede konnte man auf drei Schritt Entfernung kein Wort mehr verstehen. Und diese Distanz hielten die Tairener nun von ihr. Sie hatte es nicht gern, belauscht zu werden.
»Nein, nichts«, antwortete Egwene genauso leise. Es klang so irritiert, wie sich Moiraine fühlte.
»Es hat Gerüchte gegeben.« »Gerüchte? Was für Gerüchte?« Das Mädchen konnte ihre Miene und ihre Stimme noch nicht so gut beherrschen. Deshalb war klar, daß sie die Geschichten noch nicht vernommen hatte, was alles an den Zwei Flüssen passiert sei. Aber es war besser, sich nicht darauf zu verlassen, daß auch Rand diese Gerüchte nicht kannte. »Ihr solltet ihn dazu bringen, daß er sich Euch öfters anvertraut. Er braucht einen Zuhörer. Es würde ihm helfen, mit jemandem über alles sprechen zu können, dem er vertraut.« Egwene sah sie von der Seite her an. Sie fühlte sich über solch primitive Methoden nun langsam erhaben. Nun, Moiraine hatte natürlich die Wahrheit gesagt. Der Junge brauchte einen Zuhörer, der seine Last ein wenig erleichterte, indem er eben lauschte und mitredete. Das könnte hilfreich sein.
»Er vertraut sich niemandem an, Moiraine. Er verbirgt seinen Schmerz und hofft, irgendwie mit allem fertigzuwerden, bevor es jemand merkt.« Ärger huschte über Egwenes Gesicht. »Dieser wollköpfige Maulesel!« Moiraine empfand einen Augenblick lang Sympathie. Man konnte von diesem Mädchen nicht erwarten, daß sie damit fertig wurde, wie Rand Arm in Arm mit Elayne spazierenging und sie in irgendwelchen Ecken küßte, wo sie sich ungesehen glaubten. Und Egwene wußte ja noch nicht einmal die Hälfte. Doch das Mitgefühl hielt nicht lange an. Es gab viel zuviel Wichtigeres zu tun, als einem Mädchen zu gestatten, sich selbst zu bedauern, weil sie etwas nicht bekommen konnte, das sowieso nicht für sie bestimmt war.
Elayne und Nynaeve sollten sich mittlerweile auf dem Klipper befinden und waren somit aus dem Weg. Ein Teilergebnis ihrer Seereise könnte auch eine Bestätigung ihres Verdachts in bezug auf die Windsucherinnen sein. Das war aber natürlich nicht sehr wichtig. Im schlimmsten Fall hatten die beiden genug Gold, um ein Schiff zu kaufen und die Besatzung anzuheuern, was durchaus notwendig sein könnte, wenn man den Gerüchten aus Tanchico Glauben schenkte, und es sollte selbst dann noch genug übrig sein, um die Beamten in Tarabon zu kaufen. Thom Merrilins Zimmer stand leer, und ihre Spitzel hatten berichtet, er habe auf dem Weg aus dem Stein heraus etwas von Tanchico vor sich hin gemurmelt. Er würde dafür sorgen, daß sie eine gute Besatzung fänden und die richtigen Beamten bestechen konnten. Der angebliche Plan, Mazrim Taim für die Schwarzen Ajah einzuspannen, war sehr viel wahrscheinlicher als der andere. Ihre Botschaften an die Amyrlin sollten dem allerdings einen Riegel vorgeschoben haben. Die beiden jungen Frauen waren sehr wohl in der Lage, mit einer angeblichen und geheimnisvollen Gefahr in Tanchico fertigzuwerden, und sie hatte sie eine Zeitlang los und auch aus der Umgebung Rands entfernt. Sie bedauerte nur, daß Egwene sich geweigert hatte, mitzugehen. Tar Valon wäre für alle drei das Beste gewesen, aber Tanchico ging auch.
»Wenn wir schon von wollköpfigen Mauleseln sprechen: Habt Ihr immer noch vor, in die Wüste zu gehen?« »Jawohl«, erwiderte das Mädchen mit fester Stimme. Sie sollte besser in der Burg sein und sich weiter ausbilden lassen. Woran wohl Siuan denken mochte? Vielleicht wird sie eines ihrer Sprichwörter über Boote und Fische loslassen, wenn ich sie danach frage.
Nun, wenigstens war auch Egwene damit untergebracht und aus dem Weg, und das Aielmädchen würde schon auf sie aufpassen. Möglicherweise konnten die Weisen Frauen ihr tatsächlich etwas über das Träumen beibringen. Dieser Brief von ihnen war höchst erstaunlich gewesen, obwohl sie es sich nicht leisten konnte, viel von dem darin Enthaltenen zu beherzigen. Doch Egwenes Reise in die Wüste mochte sich auf lange Sicht als sehr nützlich herausstellen.
Der innerste Ring der Tairener machte Platz, und nun standen sie und Egwene in einem ausgesparten Raum direkt vor der großen, leeren Fläche unter der riesigen Kuppel. Hier zeigte sich die Nervosität der Adeligen besonders deutlich. Viele blickten wie schmollende Kinder auf ihre Füße hinunter, und andere starrten einfach ins Leere, bemühten sich, nicht wahrzunehmen, wo sie sich befanden. Hier hatte Callandor in der Luft geschwebt, bevor Rand das Schwert an sich nahm. Hier, unter dieser gleichen Kuppel, mehr als dreitausend Jahre lang von keiner Hand berührt und von keiner Hand berührbar, außer der des Wiedergeborenen Drachen. Die Tairener gaben nicht gern zu, daß dieses Herz des Steins überhaupt existierte.
»Arme Frau«, murmelte Egwene leise.
Moiraine folgte dem Blick des Mädchens. Hochlady Alteima, bereits von Kopf bis Fuß in leuchtendes Weiß gekleidet, wie es einer tairenischen Witwe zustand, auch wenn der Ehemann noch nicht den letzten Atemzug getan hatte, wirkte von all den Adeligen vielleicht noch am ehesten beherrscht und würdevoll. Sie war eine schlanke, außerordentlich hübsche Frau, was durch ihr trauriges Lächeln noch unterstrichen wurde, mit großen braunen Augen und schwarzem Haar, das ihr fast bis zur Taille reichte. Eine hochgewachsene Frau, obwohl Moiraine zugeben mußte, daß sie alle an ihrer eigenen Größe maß, mit ein wenig zu großem Busen. Nun ja, die Menschen in Cairhien waren allgemein schon nicht sehr groß, und selbst unter ihnen hatte sie als klein gegolten.
»Ja, eine arme Frau«, sagte sie, doch sie sagte das nicht aus Sympathie. Es war gut zu bemerken, daß Egwene noch nicht abgebrüht genug war, um in allen Fällen unter die Oberfläche der Dinge zu blicken. Man konnte sie auch jetzt schon keineswegs mehr so formen und beeinflussen, wie es nötig war. Sie war ihrem Alter bereits um Jahre voraus, brauchte aber dringend noch Führung, um sie auf ihre zukünftigen Aufgaben vorzubereiten.
Im Falle Alteimas hatte Thom danebengelegen. Vielleicht hatte er sie aber auch gar nicht durchschauen wollen; er zögerte oftmals eigenartig lang, etwas gegen eine Frau zu unternehmen. Hochlady Alteima war viel gefährlicher als ihr Mann oder ihr Liebhaber, die sie beide ohne deren Wissen manipuliert hatte. Vielleicht war sie sogar gefährlicher als jeder andere in Tear, ob Mann oder Frau. Sie würde bald genug andere finden, die sie wie Marionetten benutzen konnte. Das war Alteimas Art: sich im Hintergrund zu halten und die Fäden zu ziehen. Man mußte etwas gegen sie unternehmen.
Moiraine blickte die Reihe der Hochlords und Ladies entlang, bis ihr Blick auf Estanda fiel, die mit ihrer Kleidung — brokatbesetzte gelbe Seide, eine große Halskrause aus Elfenbeinspitzen und eine winzige, dazu passende Kappe — selbst hier auffiel. Die Schönheit ihres Gesichts wurde durch eine gewisse Strenge im Ausdruck herabgemildert, und die gelegentlichen Blicke, die sie Alteima zuwarf, waren eisenhart. Die Animosität der beiden ging weit über bloße Rivalität hinaus. Wären sie Männer gewesen, hätten sie schon vor Jahren gegenseitig ihr Blut im Duell vergossen. Wenn man diese Feindschaft noch ein wenig schürte, wäre Alteima zu beschäftigt, um Rand irgendwelche Schwierigkeiten bereiten zu können.
Einen Moment lang fühlte sie Bedauern darüber, Thom weggeschickt zu haben. Sie vergeudete nicht gern ihre Zeit mit solch nebensächlichen Dingen. Aber er hatte zuviel Einfluß auf Rand. Der Junge mußte statt dessen ganz auf ihren Rat angewiesen sein. Ihren, und nur ihren. Das Licht wußte, wie schwierig er selbst ohne jede andere Einmischung noch war. Thom hatte den Jungen dazu gebracht, sich hier mehr oder weniger niederzulassen, um die Angelegenheiten Tears zu regeln. Aber er mußte weitergehen und größere Ziele anstreben. Doch das war ja jetzt geklärt. Das Problem, Thom Merrilin zur Vernunft zu bringen, konnte später gelöst werden. Rand war jetzt das eigentliche Problem. Was wollte er hier und jetzt verkünden?
»Wo steckt er? Er hat die erste Kunst der Könige gelernt, wie es scheint: die Leute warten zu lassen.« Es war ihr nicht klar, daß sie das laut ausgesprochen hatte, bis Egwene ihr einen überraschten Blick zuwarf. Sofort glättete sie ihre Gesichtszüge wieder. Rand würde schon noch kommen, und sie würde erfahren, was er vorhatte. So wie jeder andere hier. Sie hätte beinahe mit den Zähnen geknirscht. Dieser blinde Narr von einem Jungen. Rannte blindlings durch die Nacht, ohne auf Klippen zu achten, und dachte nie daran, daß er nicht nur sich selbst, sondern die ganze Welt in Gefahr brachte. Wenn sie ihn nur davon abhalten konnte, nach Hause zu eilen und sein Dorf zu retten. Er wollte das bestimmt tun, aber das konnte er sich im Moment einfach nicht leisten. Zuviel stand auf dem Spiel. Vielleicht hatte er es aber noch gar nicht erfahren. Man durfte ja hoffen.
Mat stand ihnen gegenüber, ungekämmt und mit hängenden Schultern, die Hände in den Taschen seiner hochkragigen grünen Jacke, wie immer halb aufgeknöpft, und die Stiefel ungeputzt. So bildete er einen scharfen Kontrast zu der gepflegten Eleganz seiner Umgebung. Er trat nervös von einem Fuß auf den anderen, als er bemerkte, daß sie ihn anblickte, und dann grinste er sie auf seine typische trotzige Art an. Na, wenigstens befand er sich hier, wo sie ihn sehen konnte. Es war ziemlich anstrengend, diesen jungen Mann unter Beobachtung zu halten. Er wich ihren Spitzeln mit Leichtigkeit aus, gab nie zu erkennen, daß er sich ihrer Anwesenheit bewußt sei, aber ihre Augen und Ohren im Stein berichteten, daß er immer aus ihrer Sicht verschwand, wenn sie sich ihm näherten.
»Ich glaube, er schläft sogar in dieser Jacke«, sagte Egwene mißbilligend. »Mit Absicht. Ich frage mich, wo Perrin bleibt.« Sie ging auf Zehenspitzen hoch und bemühte sich, über die Köpfe der Versammlung hinwegzublicken. »Ich kann ihn nicht sehen.« Mit gerunzelter Stirn überflog Moiraines Blick die Menge, aber sie konnte außer der vordersten Reihe nicht viel sehen. Lan könnte dort hinten zwischen den Säulen stehen und Obacht geben. Nein, sie würde sich jetzt nicht auffällig benehmen oder gar hochhüpfen, oder sich wie ein eifriges Kind auch noch auf die Zehenspitzen stellen. Bei Lan war allerdings ein ernstes Wort angebracht, das er so schnell nicht vergessen würde. Sobald sie ihn wieder in die Finger bekam. Da zog Nynaeve ihn in einer Richtung und die Ta'veren, oder zumindest Rand, anscheinend in einer anderen, und sie mußte sich fragen, wie fest das Band zwischen Lan und ihr tatsächlich noch war. Doch wenigstens war es nützlich, wenn er seine Zeit mit Rand verbrachte, denn das knüpfte einen weiteren Faden zu dem jungen Mann, an dem sie ziehen konnte.
»Vielleicht ist er bei Faile«, sagte Egwene. »Er ist bestimmt nicht weggelaufen, Moiraine. Perrin hat ein starkes Pflichtgefühl.« Beinahe soviel wie der Behüter, das wußte Moiraine, und deshalb hielt sie ihn nicht so unter ständiger Beobachtung wie Mat. »Faile hat versucht, ihn zur Abreise zu überreden, Mädchen.« Recht wahrscheinlich, daß er sich bei ihr befand; das war gewöhnlich der Fall. »Schau nicht so überrascht drein. Sie sprechen oft miteinander und streiten sogar an Orten, wo man sie gut hören kann.« »Ich bin nicht überrascht, daß Ihr das wißt«, sagte Egwene trocken, »sondern nur, weil Faile ihm dann ausreden wollte, was er als seine Pflicht hingenommen hat.« »Vielleicht glaubt sie nicht so daran wie er.« Auch Moiraine selbst hatte zu Beginn nicht glauben können, was sich da abspielte, hatte es einfach nicht gesehen. Drei Ta'veren, alle gleich alt, alle aus dem gleichen Dorf. Sie mußte blind gewesen sein, daß sie damals den Zusammenhang nicht erkannt hatte. Doch mit dem Wissen darum hatte sich alles schwieriger gestaltet. Es war, als wolle sie drei von Thoms bunten Bällen auf einmal mit einer Hand jonglieren, und das mit verbundenen Augen. Sie hatte gesehen, wie Thom das fertigbrachte, aber sie selbst wollte es doch lieber nicht versuchen. Es gab aber auch keinen Anhaltspunkt, wie die Verbindung der drei untereinander aussah und was sie eigentlich an Aufgaben zu erfüllen hatten. In den Prophezeiungen stand kein Wort von Begleitern.
»Ich mag sie«, sagte Egwene. »Sie ist die richtige für ihn; gerade, was er braucht. Und sie empfindet sehr tiefe Gefühle für ihn.« »Ja, ich denke schon.« Falls Faile zu unbequem würde, mußte Moiraine sie sich vorknöpfen und ihr etwas von den Geheimnissen erzählen, die sie vor Perrin verbarg. Oder eines ihrer Augen und Ohren mußte Faile etwas davon andeuten. Dann würde sie sich beruhigen.
»Ihr sagt das so, als glaubtet Ihr nicht daran. Sie lieben sich, Moiraine. Könnt Ihr das nicht sehen? Könnt Ihr denn kein menschliches Gefühl erkennen, wenn Ihr so etwas seht?« Moiraine sah sie streng an, und das ließ Egwene gründlich zusammenfahren. Das Mädchen wußte so wenig und glaubte doch, soviel zu wissen. Moiraine wollte ihr das in strengstem Tonfall klarmachen, doch da hörte sie, wie die Tairener der Reihe nach überrascht und erschrocken nach Luft schnappten.
Hastig trat die Menge zurück, mehr als willig, wobei die vorderen die anderen dahinter grob zurückdrängten und so einen breiten Durchgang unter der Kuppel freimachten. Durch diese Lücke schritt nun Rand, den Blick geradeaus gerichtet. Er wirkte majestätisch in seinem roten, an den Ärmeln mit Goldstickereien verzierten Mantel. Im rechten Arm lag Callandor wie ein Szepter. Aber es war nicht nur er, der die Tairener zum Zurücktreten gebracht hatte. Hinter ihm schritten vielleicht hundert Aiel, Speere und gespannte Bögen mit aufgelegten Pfeilen in der Hand, die Schufa um den Kopf gewickelt und schwarz verschleiert, so daß nur die Augen sichtbar waren. Moiraine glaubte, an der Spitze Rhuarc zu erkennen, gleich hinter Rand, aber nur an seinen typischen Bewegungen. Sie waren jetzt anonym. Zum Töten bereit. Es war klar. Was immer Rand auch verkünden wollte: Er war bereit, jeden Widerstand im Keim zu ersticken, bevor er sich ausbreiten konnte.
Die Aiel blieben stehen, aber Rand schritt weiter, bis er genau unter der Mitte der Kuppel stand, sich umdrehte und die Versammlung musterte. Er schien überrascht und vielleicht auch etwas verärgert, als er Egwene entdeckte, doch Moiraine lächelte er auf eine Weise an, die in ihr die Wut hochsteigen ließ. Mat dagegen grinste er an, als seien sie beide wieder die frechen Jungen von einst, und Mat erwiderte das Grinsen auf gleiche Weise. Die Gesichter der Tairener waren bleich. Sie wußten nicht, wohin sie blicken sollten — auf Rand und Callandor oder auf die verschleierten Aiel. Der Tod stand mannigfaltig in ihrer Mitte.
»Hochlord Sunamon«, sagte Rand plötzlich und so laut, daß dieser untersetzte Bursche selbst zusammenzuckte, »hat mir einen Vertrag mit Mayene garantiert, der sich genau an die von mir gegebenen Vorlagen hält. Er hat versprochen, mit seinem Leben dafür geradezustehen.« Er lachte, als habe er einen Scherz gemacht, und die meisten der Adeligen lachten pflichtbewußt mit. Allerdings nicht Sunamon, der eindeutig unwohl aussah. »Sollte er versagen«, verkündete Rand, »hat er sich bereit erklärt, sich hängen zu lassen, und diesem Wunsch wird Folge geleistet.« Das Gelächter brach ab. Sunamons Gesicht färbte sich leicht grünlich. Egwene warf Moiraine einen beunruhigten Blick zu, doch Moiraine wartete einfach ab. Er hatte nicht sämtliche Adelige auf zehn Meilen Umkreis zusammengerufen, um ihnen von einem Vertrag zu erzählen oder einen fetten Narren zu bedrohen. Sie löste ihre Hände aus ihrem Rock, in den sie sie verkrampft hatte.
Rand drehte sich langsam im Halbkreis und musterte ernst die Gesichter. »Durch diesen Vertrag werden uns bald wieder Schiffe zur Verfügung stehen, die das Getreide aus Tear nach Westen befördern, um dort neue Märkte zu öffnen.« Ein zustimmendes Gemurmel machte sich breit, das aber gleich wieder abbrach. »Aber es wird noch mehr geschehen. Das Heer Tears wird ausrücken.« Jubel erhob sich und hallte von der Decke wider. Die Männer, selbst die Hochlords, hüpften vor Freude, schüttelten die Fäuste über den Köpfen und warfen ihre spitzen Samtkappen in die Luft. Die Frauen lächelten verzückt und küßten diejenigen, die in den Krieg ziehen durften, auf die Wangen. »Illian wird fallen!« schrie jemand, und Hunderte von Stimmen nahmen diesen Ruf auf. Es erklang wie Donner: »Illian wird fallen! Illian wird fallen! Illian wird fallen!« Moiraine sah, wie sich Egwenes Lippen bewegten, doch die Worte gingen im allgemeinen Jubel unter. Sie konnte sie aber leicht ablesen: »Nein, Rand. Bitte nicht. Mach das bitte nicht.« Auf der anderen Seite drüben machte Mat ein finsteres Gesicht und schwieg mißbilligend. Die beiden und sie selbst waren die einzigen, die Rands Ankündigung nicht freudig begrüßten, abgesehen natürlich von den wachsamen Aiel und Rand. Er lächelte verächtlich, doch seine Augen blieben kalt. Auf seinem Gesicht stand frischer Schweiß. Sein Blick traf sie, und sie wartete ab. Es würde noch mehr kommen und vermutlich nicht gerade Dinge, die sie erfreuten.
Rand hob die linke Hand. Langsam breitete sich Stille aus. Die vorne standen, zischten die hinter ihnen Stehenden an, damit sie ruhig seien. Er wartete ab, bis völlige Stille herrschte. »Das Heer wird nach Norden marschieren, nach Cairhien. Hochlord Meilan wird das Kommando übernehmen, und seine Stellvertreter sind die Hochlords Gueyam, Aracome, Hearne, Maraconn und Simaan. Das Heer wird großzügig finanziert von Hochlord Torean, dem reichsten unter Euch, der es auch begleiten wird, um zu überwachen, daß sein Geld weise ausgegeben wird.« Diese Ankündigung hatte alle verstummen lassen. Totenstille herrschte im riesigen Saal. Keiner rührte sich, obwohl Torean Schwierigkeiten mit dem Stehen zu haben schien.
Moiraine verbeugte sich im Geist vor Rand und der Wahl, die er getroffen hatte. Diese sieben aus Tear fortzuschicken machte gerade jene sieben gefährlichsten Intriganten unschädlich, und keiner dieser Männer traute den anderen soweit, daß er sich mit ihnen verbünden würde. Thom Merrilin hatte ihm gute Ratschläge erteilt. Offensichtlich hatten ihre Spitzel einige der Zettel verpaßt, die er Rand gewöhnlich heimlich in die Tasche steckte. Aber ansonsten war das Ganze der reine Wahnsinn! Das konnte er doch nicht auf der anderen Seite des Ter'Angreal zur Antwort erhalten haben! Das war fast unmöglich!
Meilan war offensichtlich der gleichen Meinung, wenn auch nicht aus den gleichen Gründen. Er trat zaudernd vor — ein hagerer, harter Mann, doch so verängstigt, daß das Weiße seiner Augen deutlich hervortrat. »Mein Lord Drache... « Er hielt inne, schluckte und begann noch einmal mit etwas stärkerer Stimme: »Mein Lord Drache, wenn man sich in einen Bürgerkrieg einmischt, ist es, als trete man in ein Moorloch. Ein Dutzend verschiedener Parteien streitet sich um den Sonnenthron, die Bündnisse zwischen ihnen ändern sich ständig, und jeder betrügt andauernd jeden. Außerdem treiben sich in Cairhien überall Banditen und Räuber herum. Die verhungernden Bauern haben alles gegessen, was das Ackerland hergab. Ich habe zuverlässige Berichte darüber, daß sie schon Baumrinde und Blätter essen. Mein Lord Drache, der Ausdruck ›Sumpf‹ dafür ist noch viel zu... « Rand unterbrach ihn: »Ihr wollt Tears Einfluß nicht bis hin zu Brudermörders Dolch ausdehnen, Meilan? Das ist schon in Ordnung. Ich weiß bereits, wen ich auf den Sonnenthron setzen lassen werde. Ihr geht nicht als Eroberer hin, Meilan, sondern um Recht und Ordnung und den Frieden wieder herzustellen. Und um die Verhungernden zu retten. Wir haben bereits mehr Getreide in den Scheunen, als Tear überhaupt verkaufen könnte, und dieses Jahr werden die Bauern eine gute Ernte haben, wenn Ihr meinen Anweisungen gehorcht. Das Getreide wird mit Planwagen gleich hinter dem Heer nach Cairhien gebracht, und diese Bauern... Diese Bauern müssen keine Baumrinde mehr essen, Lord Meilan.« Der großgewachsene Hochlord öffnete noch einmal den Mund, und Rand schwang Callandor, bis die Spitze des Schwertes vor ihm auf dem Boden ruhte. »Ihr habt noch eine Frage, Meilan?« Meilan schüttelte den Kopf und trat so hastig zurück, als wolle er sich in der Menge verbergen.
»Ich wußte, er würde nicht so einfach einen Krieg vom Zaum brechen«, sagte Egwene energisch. »Ich wußte es.« »Glaubt Ihr, es wird bei dieser Aktion deswegen weniger Tote geben?« knurrte Moiraine. Was hatte der Junge vor? Nun, wenigstens wollte er nicht wegrennen, um sein Dorf zu retten, während die Verlorenen mit dem Rest der Welt tun konnten, was ihnen beliebte. »Die Leichenhaufen werden genauso hoch sein, Kind. Ihr werdet keinen Unterschied zu einem echten Krieg bemerken.« Statt dessen Illian und Sammael anzugreifen hätte wenigstens Zeit eingebracht, auch wenn der Krieg auf ein Unentschieden hinausgelaufen wäre. Zeit, um den Gebrauch seiner Macht zu erlernen, vielleicht schon einen seiner wichtigsten Feinde zu besiegen und den übrigen Respekt beizubringen. Aber so? Was konnte er damit bezwecken? Friede für das Land, in dem sie geboren war, und Nahrung für die Hungernden Cairhiens? Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte sie dem Beifall geklatscht. Jetzt allerdings war es wohl sehr menschlich, aber völlig sinnlos. Nutzloses Blutvergießen, statt einen Feind in die Schranken zu weisen, der ihn bei der geringsten Gelegenheit vernichten würde. Warum? Lanfear. Was hatte ihm Lanfear gesagt? Was hatte sie getan? Die sich daraus ergebenden Möglichkeiten ließen Moiraine schaudern. Rand mußte genauer überwacht werden als jemals zuvor. Sie würde ihm nicht erlauben, zum Schatten überzulaufen.
»Ach, ja«, sagte Rand, als erinnere er sich gerade an etwas. »Soldaten verstehen nicht viel davon, hungrige Mäuler zu stopfen, oder? Dafür braucht man, glaube ich, das gute Herz einer Frau. Lady Alteima, ich hasse es ja, Euch in Eurer Trauer zu stören, aber würdet Ihr bitte dafür sorgen, daß unter den Armen Cairhiens die Lebensmittel verteilt werden? Ihr habt eine ganze Nation zu ernähren!« Und könnt an Macht gewinnen, dachte Moiraine. Das war sein erster Ausrutscher. Abgesehen davon natürlich, daß er das Heer anstatt nach Illian nach Cairhien schickte. Alteima würde garantiert bei ihrer Rückkehr nach Tear an Macht Meilan oder Gueyam etwa gleichkommen und sich für neue Intrigen rüsten. Falls er nicht aufpaßte, würde sie auch noch Rand hinterrücks ermorden lassen. Nun, vielleicht konnte man in Cairhien irgendwo einen Unfall arrangieren.
Alteima knickste graziös und breitete dabei ihren weißen Rock zu voller Größe aus. Sie zeigte nur sehr wenig Überraschung. »Wie mein Lord Drache befiehlt, so gehorche ich. Es freut mich außerordentlich, dem Lord Drachen dienen zu können.« »Ich war sicher, daß es Euch Freude bereiten würde«, sagte Rand trocken. »Doch so sehr Ihr euren Mann auch liebt — Ihr werdet ihn wohl kaum nach Cairhien mitnehmen wollen. Für einen kranken Mann wird das einfach zu anstrengend. Ich habe mir die Freiheit genommen, ihn in die Gemächer von Hochlady Estanda bringen zu lassen. Sie wird ihn pflegen, während Ihr abwesend seid, und wenn er gesund ist, schickt sie ihn zu Euch nach Cairhien.« Estanda lächelte angespannt, doch triumphierend. Alteimas Pupillen rollten, und sie brach auf der Stelle zusammen.
Moiraine schüttelte leicht den Kopf. Er war wirklich härter als früher. Gefährlicher. Egwene wollte auf die zusammengebrochene Frau zugehen, doch Moiraine legte ihr eine Hand auf den Arm und hielt sie zurück. »Ich glaube, sie wurde nur von ihren Gefühlen überwältigt. So etwas kann ich erkennen. Die Damen kümmern sich schon um sie.« Mehrere der Ladies umstanden Alteima, tätschelten ihre Hände und hielten ihr Riechsalzfläschchen unter die Nase. Sie hustete und öffnete die Augen. Als sie sah, daß Estanda über ihr stand, wäre sie beinahe erneut in Ohnmacht gefallen.
»Rand hat gerade etwas sehr Kluges getan, glaube ich«, sagte Egwene mit tonloser Stimme. »Und etwas sehr Grausames. Er sollte sich wirklich schämen.« Rand wirkte auch beinahe so, wie er dastand und dem Fußboden vor seinen Stiefeln Grimassen schnitt. Vielleicht war er doch noch nicht so hart, wie er sein wollte. »Verdientermaßen«, stellte Moiraine fest. Das Mädchen zeigte gute Anlagen. Sie nahm doch schon manches wahr, auch wenn sie es noch nicht verstand. Doch sie mußte erst lernen, ihre Gefühle unter Kontrolle zu bringen, nicht nur das zu sehen, was sie gern tun würde, sondern vor allem das, was getan werden mußte. »Hoffen wir, daß er für heute alle seine Schlauheiten verbraucht hat.« Sehr wenige in dem großen Saal verstanden genau, was geschehen war, nur, daß die Ohnmacht Lady Alteimas den Lord Drachen etwas verstört hatte. Ein paar ließen von hinten Rufe ertönen: »Cairhien wird fallen!«, aber sie verstummten ebenso schnell wieder.
»Wenn Ihr uns führt, mein Lord Drache, dann erobern wir die ganze Welt!« rief ein junger Mann mit verschwollenem Gesicht, der Torean ein wenig stützte: Estean, Toreans ältester Sohn. Die Ähnlichkeit war klar zu erkennen. Nur führte der Vater immer noch Selbstgespräche.
Rand riß den Kopf hoch und wirkte aufgeschreckt. Oder vielleicht auch wütend. »Ich werde nicht mit Euch kommen. Ich... gehe eine Zeitlang fort.« Das rief erneut Schweigen hervor. Jeder Blick war auf ihn gerichtet, doch seine Aufmerksamkeit galt allein Callandor. Die Menge zuckte zurück, als er die Kristallklinge vor sein Gesicht hob. Schweißtropfen rollten ihm über die Stirn, viel mehr Schweiß als zuvor. »Der Stein bewahrte Callandor auf, bevor ich kam. Der Stein wird es wieder aufbewahren, bis ich zurück bin.« Plötzlich flammte das glasklare Schwert in seinen Händen auf. Er riß es mit dem Knauf nach oben hoch über Kopfhöhe und rammte es dann mit aller Gewalt hinunter, tief in den Steinboden hinein. Blaue Blitze zuckten zur Kuppel hoch über ihm auf. Der Stein grollte vernehmlich und bebte. Der Boden wölbte sich auf, und schreiende Menschen taumelten umher.
Moiraine schob die gestürzte Egwene von sich herunter, während der Saal immer noch von Nachbeben erschüttert wurde, und rappelte sich hoch. Was hatte er nur wieder angestellt? Und warum? Weggehen? Das war der schlimmste ihrer Alpträume.
Die Aiel standen bereits wieder sicher auf den Beinen. Alle anderen jedoch lagen am Boden oder stützten sich halb aufgerichtet auf Knie und Ellbogen. Außer Rand. Der hatte ein Knie auf den Boden gestützt und hielt mit beiden Händen den Griff Callandors umfaßt. Er hatte die Klinge zur Hälfte in den Steinboden getrieben. Das Schwert war wieder kristallklar. Auf seinem Gesicht glänzte der Schweiß. Er löste seine Hände vom Schwertgriff — einen Finger nach dem anderen —, hielt sie aber noch wie zum Schutz um den Knauf, den er nun nicht mehr berührte. Einen Augenblick lang glaubte Moiraine, er wolle wieder zupacken, doch statt dessen stand er mühsam auf. Er mußte sich dazu zwingen; soviel konnte sie erkennen.
»Seht es an, während ich weg bin.« Seine Stimme klang erleichtert und eher wieder so, wie zu der Zeit, als sie ihn in seinem Dorf aufgestöbert hatte, doch genauso entschlossen wie vorher. »Seht es an und denkt an mich. Denkt daran, daß ich wiederkehren werde, um es in Besitz zu nehmen. Wenn irgend jemand meinen Platz einnehmen will, braucht er es nur herauszuziehen.« Er streckte den Zeigefinger mahnend aus und grinste dabei spitzbübisch. »Aber denkt auch daran, welchen Preis Ihr für ein Versagen zahlen müßt.« Er wandte sich um und marschierte aus dem Saal, dicht gefolgt von den Aiel. Die Tairener starrten das aus dem Boden ragende Schwert an und standen um einiges langsamer wieder auf. Die meisten wirkten verängstigt, als wollten sie weglaufen und trauten sich doch nicht.
»Dieser Mann!« grollte Egwene, die sich den Staub von ihrem grünen Leinenkleid klopfte. »Ist er wahnsinnig?« Sie schlug sich eine Hand vor den Mund. »O Moiraine, er wird doch nicht wirklich wahnsinnig werden? Oder? Noch nicht, ja?« »Das Licht gebe, daß er nicht wahnsinnig wird«, murmelte Moiraine. Sie konnte ihren Blick nicht von dem Schwert losreißen, genausowenig wie die Tairener. Das Licht sollte den Jungen holen. Warum konnte er nicht der liebenswerte junge Bursche bleiben, den sie in Emondsfeld vorgefunden hatte? Sie zwang sich, Rand zu folgen. »Aber ich werde es herausfinden.« Sie mußte beinahe laufen, um die Prozession in einem breiten Gang mit Wandbehängen einzuholen Die Aiel hatten ihre Schleier nunmehr abgestreift, konnten sie aber jederzeit wieder hochziehen, falls notwendig. Sie machten ihr bereitwillig Platz, ohne den Schritt zu verlangsamen. Sie blickten sie und Egwene aufmerksam an. Ihre harten Gesichter waren ausdruckslos, doch die Augen wachsam. Das waren die Aiel immer, wenn sich Aes Sedai in der Nähe befanden.
Sie verstand nicht, wieso die Aiel ihr gegenüber mißtrauisch waren und doch seelenruhig hinter Rand hermarschierten. Es war schwierig, mehr als nur kleine Bruchstücke über sie und ihre Kultur zu erfahren. Sie beantworteten ihre Fragen zwar ehrlich, aber nur in bezug auf Dinge, für die sie sich gar nicht interessierte. Ihre Spitzel, ihr ganzes Netz von Augen und Ohren erfuhr nichts von den Aiel und probierte es auch mittlerweile nicht mehr. Nicht mehr, seit eine Frau gefesselt und geknebelt an den Füßen an einer Zinne aufgehängt worden war und mit wilden Augen vierhundert Fuß senkrecht nach unten gestarrt hatte, und nicht mehr, seit ein Mann spurlos verschwunden war. Er war einfach weg. Die Frau weigerte sich seither, höher als bis zum Erdgeschoß hinaufzugehen. Sie hatte alle ihre Spitzel ständig durch ihre Anwesenheit nervös gemacht, bis Moiraine sie aufs Land geschickt hatte.
Auch Rand ging keineswegs langsamer, als sie und Egwene ihn eingeholt hatten. Auch sein Blick schien wachsam und mißtrauisch, aber auf andere Art, und dazu kam ein Schimmer unterdrückten Ärgers. »Ich glaubte, du wärst weg«, sagte er zu Egwene. »Ich dachte, du wärst mit Elayne und Nynaeve gegangen. Das hättest du tun sollen. Selbst Tanchico ist... Warum bist du hiergeblieben?« »Ich bleibe nicht mehr lange«, sagte Egwene. »Ich gehe mit Aviendha nach Rhuidean in die Aiel-Wüste, um bei den Weisen Frauen zu lernen.« Er geriet beinahe ins Stolpern, als das Mädchen die Aiel-Wüste erwähnte, sah sie unsicher an und schritt dann weiter. Er schien wieder beherrscht, vielleicht zu sehr sogar, wie ein kochender Teekessel, dessen Deckel man zugebunden und dessen Öffnung man verstopft hat. »Erinnerst du dich noch an die Schwimmerei im Wasserwald?« fragte er leise. »Ich habe mich einfach auf dem Rücken treiben lassen und geglaubt, das Schwerste, was mir im Leben bevorstünde, wäre, einen Acker umzupflügen oder vielleicht die Schafe zu scheren. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang ohne Pause, bis alle Schurwolle zu Ballen verschnürt daliegt.« »Spinnen«, sagte Egwene. »Das haßte ich noch mehr, als Fußböden zu schrubben. Wenn man die Fäden drehen muß, zerreißt es einem fast die Fingerspitzen.« »Warum habt Ihr das getan?« fragte Moiraine, bevor sie mit ihren Erinnerungen an die Kindheit weiterfahren konnten. Er sah sie von der Seite her an und lächelte so spöttisch wie sonst nur Mat. »Hätte ich sie wirklich aufhängen lassen sollen, weil sie versuchte, einen Mann zu ermorden, der wiederum gegen mich Mordpläne ausheckte? Wäre das gerechter gewesen als meine Handlungsweise?« Das Grinsen verschwand von seinem Gesicht. »Gibt es irgendeine Gerechtigkeit bei dem, was ich tue? Sunamon wird hängen, wenn er versagt. Weil ich es so entschieden habe. Er verdient es, so wie er versucht hat, die Lage für sich auszunützen, ohne darauf zu achten, ob seine eigenen Bauern verhungern, aber dafür kommt er nicht an den Galgen. Er wird hängen, weil ich es bestimmte. Meinetwegen.« Egwene legte eine Hand auf seinen Arm, aber Moiraine gestattete ihm kein Ablenkungsmanöver. »Ihr wißt, daß ich etwas anderes gemeint habe.« Er nickte. Diesmal wirkte sein erstarrtes Lächeln beängstigend. »Callandor. Mit ihm in der Hand kann ich alles vollbringen. Alles. Ich weiß das. Aber nun ist es, als sei ich ein schweres Gewicht auf den Schultern losgeworden. Das versteht Ihr nicht, oder?« Sie verstand es tatsächlich nicht, aber es ärgerte sie, daß er das bemerkte. So hielt sie den Mund und er fuhr fort: »Vielleicht hilft es, wenn ich Euch etwas aus den Prophezeiungen dazu sage:
Mitten ins Herz stößt er sein Schwert, ins Herz hinein, und ihre Herzen bindet er. Wer zieht es hervor, wer folgt ihm nach? Wessen Hand greift nach der hehren Klinge?
Seht Ihr? Es steht alles in den Prophezeiungen.« »Ihr vergeßt etwas«, sagte sie ihm eindringlich. »Ihr habt Callandor zu Euch genommen, um die Prophezeiungen zu erfüllen. Die Abschirmung, die das Schwert dreitausend Jahre lang umgab und auf Euch wartete, ist weg. Es ist nicht mehr das Unberührbare Schwert. Ich könnte es selbst mit Hilfe der Macht befreien. Was noch schlimmer ist —einer der Verlorenen könnte das gleiche vollbringen. Was, wenn Lanfear wiederkehrt? Sie könnte Callandor genausowenig benützen wie ich, aber sie könnte es an sich nehmen.« Er reagierte nicht auf den Namen. Weil er sie nicht fürchtete — dann wäre er ein Narr — oder aus einem anderen Grund? »Falls Sammael oder Rahvin oder irgendein anderer männlicher Verlorener Callandor in die Hand bekommt, kann er es genauso benützen wie Ihr. Stellt Euch vor, was geschieht, wenn die Macht, die Ihr so einfach aufgebt, gegen Euch selbst angewandt wird! Stellt Euch diese Macht in den Händen des Schattens vor!« »Ich hoffe beinahe, daß sie es versuchen werden.« In seinen Augen glühte es bedrohlich; Gewitterwolken schienen in ihm aufzuziehen. »Es wartet eine Überraschung auf jeden, der versucht, Callandor mit Hilfe der Macht aus dem Stein zu ziehen, Moiraine. Denkt nicht erst daran, es zur Sicherheit in die Burg zu bringen. Ich kann keine Falle aufbauen, die den einen entwischen läßt und den anderen nicht. Die Macht löst die Falle aus und spannt sie später wieder. Ich gebe ja Callandor keineswegs für immer auf. Nur bis ich...« Er atmete tief durch. »Callandor bleibt hier, bis ich zurückkehre und es mir wieder hole. Dadurch, daß es sich hier befindet und sie daran erinnert, wer ich bin und was ich bin, stellt es sicher, daß ich ohne Heer wiederkommen kann. Eine Art von Zufluchtsort mit Leuten wie Alteima und Sunamon, um mich zu Hause willkommen zu heißen. Falls Alteima die Gerechtigkeit überlebt, die ihr Mann und Estanda walten lassen werden, und falls Sunamon die meine überlebt. Licht, was für ein ekelhaftes Durcheinander.« Konnte oder wollte er die Falle nicht zwischen Freund und Feind unterscheiden lassen? Sie war entschlossen, seine Fähigkeiten nicht mehr zu unterschätzen. Callandor gehörte in die Burg, wenn er das Schwert nicht so benützen wollte, wie es sein sollte, und zwar so lange, bis er es brauchte. »Nur bis... « Was? Er hätte beinahe etwas anderes gesagt, als ›bis ich zurückkehre‹. Aber was?
»Und wo geht Ihr hin? Oder wollt Ihr das geheimhalten?« Sie schwor sich insgeheim, ihn nicht mehr entkommen zu lassen, ihn irgendwie umzustimmen, falls er zu den Zwei Flüssen wollte, doch dann überraschte er sie.
»Kein Geheimnis, Moiraine. Weder vor Euch, noch vor Egwene.« Er blickte Egwene an und sagte nur ein Wort: »Rhuidean.« Das Mädchen riß die Augen auf und schien derartig überrascht, als höre sie den Namen zum erstenmal. Doch was das betraf, war Moiraine kaum weniger überrascht. Unter den Aiel machte sich Gemurmel breit, aber als sie zurückblickte, schritten sie mit steinernen Gesichtern weiter. Sie hätte sie am liebsten weggeschickt, aber ihren Befehlen gehorchten sie nicht und sie wollte Rand nicht darum bitten. Es würde ihr nicht helfen, ihn um einen Gefallen zu bitten, vor allem, weil es gut sein konnte, daß er ablehnte.
»Ihr seid doch kein Clanhäuptling bei den Aiel, Rand«, sagte sie mit fester Stimme, »und müßt auch keiner werden. Euer Kampf findet auf dieser Seite der Drachenmauer statt. Außer... Ist das eine der Antworten, die Ihr im Ter'Angreal erhalten habt? Cairhien und Callandor und Rhuidean? Ich sagte Euch doch, daß diese Antworten möglicherweise verschlüsselt sind. Sie mißzuverstehen könnte fatale Folgen haben. Nicht nur für Euch.« »Ihr müßt mir eben vertrauen, Moiraine. Ich habe Euch so oft vertrauen müssen.« Sein Gesicht hätte ohne weiteres das eines Aiel sein können, so wenig Regung zeigte es.
»So werde ich Euch für den Augenblick vertrauen. Wartet aber nicht damit, meinen Rat zu suchen, bis es zu spät ist.« Ich werde Euch nicht dem Schatten überlassen. Ich habe schon zu lange daran gearbeitet, um das zu gestatten. Was auch sein muß, ich werde es unternehmen.