Die Schatten der Morgendämmerung wurden kürzer und blasser, als Rand und Mat über den kahlen und immer noch morgendunklen Boden des Tals trabten und das von Nebel verhüllte Rhuidean hinter sich zurückließen. Die trockene Luft ließ die kommende Hitze bereits erahnen, doch die leichte Brise empfand Rand als angenehm kühl, da er kein Wams trug. Das würde aber nicht lange anhalten, denn bald würde wieder das gleißende Tageslicht über dem Land liegen. Sie gaben ihr Letztes, um dem zu entgehen, doch er glaubte nicht, daß sie es noch schaffen würden. Sie waren trotz allem zu langsam.
Mat trabte humpelnd voran. Ein dunkler Striemen zog sich über sein halbes Gesicht, und sein Wams stand offen. Das aufgebundene Hemd wurde durch noch mehr trocknendes Blut an seine Brust geklebt. Manchmal berührte er vorsichtig die starke Schwellung, die sich um seinen Hals zog. Sie war schon fast schwarz. Er grollte leise und stolperte oft. Immer wieder fing er sich mit diesem eigenartigen Speer mit schwarzem Schaft ab, und dann hielt er sich auch den schmerzenden Kopf. Dennoch beklagte er sich nicht, und das war ein schlechtes Zeichen. Bei kleinen Beschwerden beklagte sich Mat normalerweise ständig. Wenn er jetzt schwieg, bedeutete das: Er hatte wirklich Schmerzen.
Die alte, halb verheilte Wunde an Rands Seite vermittelte ihm ein Gefühl, als bohre jemand geradewegs hinein, und die Risse und Schnitte im Gesicht und am Kopf brannten, doch er schleppte sich weiter, gekrümmt wegen der schmerzenden Wunde. Er dachte kaum an die eigenen Schmerzen beim Laufen. Er war sich der Sonne nur zu bewußt, die hinter ihm aufstieg, und auch der Aiel, die am Abhang vor ihm warteten. Dort oben gab es Wasser und Schatten und Hilfe für Mat. Die aufgehende Sonne im Rücken und die Aiel vor sich. Die Morgendämmerung und die Aiel.
Er, Der Mit Der Morgendämmerung Kommt. Diese Aes Sedai, die er gesehen hatte — oder hatte er geträumt, sie zu sehen? —, bevor sie nach Rhuidean gingen, hatte gesprochen, als könne sie die Zukunft weissagen. Er wird Euch zusammenfügen. Er wird Euch zurückholen und Euch vernichten. Worte, die wie eine Prophezeiung klangen. Sie vernichten. Die Prophezeiung sagte aus, er werde die Welt erneut zerstören. Diese Idee erschreckte ihn zutiefst. Vielleicht konnte er wenigstens diesen Teil vermeiden, aber Krieg, Tod und Zerstörung begleiteten bereits jetzt seine Schritte. Tear war der erste Ort seit langer Zeit, an dem er kein Chaos hinterlassen hatte, keine sterbenden Menschen und brennenden Dörfer.
Er ertappte sich bei dem Wunsch, auf Jeade'ens Rücken zu klettern und so schnell davonzugaloppieren, wie ihn der Hengst nur tragen konnte. Es war nicht das erste Mal. Aber ich kann nicht entfliehen, dachte er. Ich muß es vollbringen, weil niemand sonst da ist, der das kann. Entweder schaffe ich es, oder der Dunkle König gewinnt. Ein schweres Los, aber das einzige überhaupt. Aber warum sollte ich denn die Aiel vernichten? Wie?
Dieser letzte Gedanke jagte ihm einen kalten Schauer den Rücken herunter. Es klang schon zu sehr danach, daß er alles akzeptierte, daß er sie wirklich vernichten werde. Er wollte den Aiel nichts antun. »Licht«, sagte er mit harter Stimme. »Ich will überhaupt niemanden vernichten.« Sein Mund war wieder staubtrocken.
Mat sah ihn schweigend an. Es war ein mißtrauischer Blick.
Ich bin noch nicht wahnsinnig, dachte Rand grimmig.
Oben am Hang rührten sich die Aiel in den drei Lagern. Es war eine einfache Tatsache, daß er sie brauchte. Deshalb hatte er sich diese Gedanken gemacht, damals, als ihm klar wurde, daß der Wiedergeborene Drache und Er, Der Mit Der Morgendämmerung Kommt, wahrscheinlich ein und derselbe waren. Er brauchte Menschen, denen er vertrauen konnte, Menschen, die ihm nicht nur aus Furcht folgten oder aus Machthunger. Menschen, die ihn nicht für ihre eigenen Zwecke mißbrauchen wollten. Er hatte getan, was verlangt wurde, und nun würde er sie benützen. Weil er dazu gezwungen war. Er war noch nicht wahnsinnig, oder glaubte zumindest nicht daran, aber viele würden so denken, bevor er alles vollbracht hatte.
Der volle, blendende Sonnenschein erreichte sie, bevor sie noch den Hang des Chaendar erklimmen konnten. Die Hitze traf sie wie ein Knüppel. Rand kletterte den Hang hoch, so schnell er konnte, durch Senken und über steile Stücke und zerklüftete Vorsprünge. Seine Kehle hatte den letzten Trunk schon vergessen, und die Sonne trocknete sein Hemd, kaum, daß es vom Schweiß naß war. Mat mußte nicht erst angefeuert werden. Oben gab es Wasser. Bair stand vor den niedrigen Zelten der Weisen Frauen, einen Wasserbehälter in den Händen, der vom Kondenswasser glänzte. Rand leckte sich über die aufgesprungenen Lippen. Er war sicher, die Tropfen glänzen zu sehen.
»Wo ist er? Was habt Ihr ihm getan?« Das Brüllen ließ Rand im Schritt innehalten. Dieser Mann mit dem feurigen Haar, Couladin, stand auf einem mächtigen Granitblock, der aus dem Hang herausragte. Andere Shaido hatten sich um dessen Fuß herum versammelt, und alle blickten Rand und Mat an. Ein paar hatten sich verschleiert.
»Von wem sprecht Ihr eigentlich?« rief Rand zurück. Seine Stimme krächzte, so trocken war seine Kehle.
Couladins Augen quollen vor Zorn heraus. »Muradin natürlich, Feuchtländer! Er ist zwei Tage vor Euch hineingegangen, aber Ihr seid zuerst wieder erschienen. Er konnte nicht versagen, wo Ihr überlebt! Ihr müßt ihn ermordet haben!« Rand glaubte, von den Zelten der Weisen Frauen her einen Schrei zu vernehmen, aber bevor er auch nur mit der Wimper zucken konnte, schnellte Couladin wie eine Schlange vor und warf einen Speer mit aller Wucht nach ihm. Zwei weitere von den Aiel am Fuß des Granitblocks folgten dem ersten. Instinktiv griff Rand nach Saidin und dem aus Flammen geschmiedeten Schwert. Die Klinge wirbelte in seinen Händen — er hatte sie nicht umsonst den Wirbelwind auf dem Berg getauft — und zerschnitt zwei Speerschäfte in der Luft. Mats blitzschnell zuschlagender schwarzer Speer lenkte den dritten gerade noch ab.
»Beweis!« heulte Couladin. »Sie haben Rhuidean bewaffnet betreten! Das ist verboten! Seht nur das Blut an ihnen! Sie haben Muradin ermordet!« Beim Sprechen noch schleuderte er einen weiteren Speer, und diesmal war es nur einer unter einem Dutzend.
Rand warf sich zur Seite und war sich bewußt, daß Mat gleichzeitig zur anderen Seite sprang. Doch bevor sie noch den Boden berührten, trafen alle Speere an dem Fleck aufeinander, an dem Rand zuvor gestanden hatte. Sie prallten aneinander ab. Er rollte wieder hoch und sah, daß alle Speere im steinigen Boden steckten. In einem makellosen Kreis umgaben sie seinen vorherigen Standort. Einen Augenblick lang war sogar Couladin so erschrocken, daß er kein Wort herausbrachte.
»Haltet ein!« schrie Bair, die in diesem erstarrten Augenblick heraneilte. Ihr langer, bauschiger Rock behinderte sie genausowenig wie ihr Alter. Trotz ihrer weißen Haare sprang sie wie ein junges Mädchen den Hang herab, und noch dazu wie ein sehr wütendes Mädchen. »Der Friede Rhuideans, Couladin!« Ihre dünne Stimme war wie eine Eisenrute. »Zweimal habt Ihr ihn nun zu brechen versucht. Noch einmal, und Ihr seid geächtet! Mein Wort darauf! Ihr und jeder andere, der seine Hand gegen einen anderen Menschen erhebt!« Sie kam schliddernd vor Rand zum Stehen und sah die Shaido an, den Wasserbehälter drohend erhoben, als wolle sie die anderen damit niederschlagen. »Laßt nur denjenigen eine Waffe erheben, der an meinen Worten zweifelt! Der das tut, wird dem Übereinkommen von Rhuidean gemäß allen Schattens beraubt, wird keine Festung, keinen Hort, kein Zelt mehr finden, das ihn beherbergt. Seine eigene Septime wird ihn wie ein wildes Tier jagen.« Einige der Shaido nahmen schnell die Schleier ab —einige —, aber Couladin ließ sich nicht abbringen. »Sie sind bewaffnet, Bair! Sie sind bewaffnet nach Rhuidean gegangen. Das ist...!« »Schweigt!« Bair hob ihre Faust gegen ihn. »Ihr wagt es, von Waffen zu sprechen? Ihr, der Ihr den Frieden Rhuideans brechen und töten wollt, ohne Euer Gesicht zuvor zu verschleiern? Sie haben keine Waffe mitgenommen, das kann ich selbst bezeugen.« Absichtlich wandte sie ihm den Rücken zu, aber der Blick, mit dem sie Rand und Mat betrachtete, war kaum sanfter als der, mit dem sie Couladin bedacht hatte. Sie verzog das Gesicht beim Anblick von Mats eigenartigem Speer mit einer Schwertklinge anstatt der Spitze und knurrte: »Hast du den in Rhuidean gefunden, Junge?« »Er wurde mir gegeben, alte Frau«, grollte Mat heiser zurück. »Ich habe dafür bezahlt, und ich werde ihn behalten.« Sie schniefte verächtlich. »Ihr seht beide aus, als hättet Ihr euch in Riedgras gewälzt. Was...? Nein, das könnt Ihr mir später erzählen.« Sie sah Rands durch die Macht erzeugtes Schwert an und schauderte. »Werdet das nur wieder los. Und zeigt ihnen die Zeichen, bevor dieser Narr Couladin wieder versucht, sie aufzuhetzen. Wenn er so in Rage ist, würde er ohne mit der Wimper zu zucken seinen ganzen Clan ächten lassen. Schnell!« Einen Moment lang sah er sie mit offenem Mund an. Zeichen? Dann erinnerte er sich an etwas, das ihm Rhuarc einmal gezeigt hatte, das Abzeichen eines Mannes, der Rhuidean überlebt hatte. Er ließ das Schwert verschwinden, band seine linke Manschette auf und schob den Ärmel bis zum Ellbogen hoch.
Um seinen Unterarm herum wand sich eine Gestalt wie die auf dem Drachenbanner, schlangenähnlich, mit goldener Mähne und roten und goldenen Schuppen. Er erwartete, sie dort zu sehen, doch es war immer noch ein Schock für ihn. Das Ding wirkte wie ein Teil seiner Haut, als habe sich diese nicht existierende Gestalt mit seiner Haut verbunden. Sein Arm fühlte sich genauso an wie vorher, und doch funkelten die Schuppen wie poliertes Metall im Sonnenschein. Es schien ihm, wenn er die goldene Mähne auf seinem Handgelenk berührte, könne er jedes einzelne Haar fühlen.
Kaum, daß der Ärmel hochgeschoben war, hielt er auch schon den Arm empor, damit Couladin und seine Leute ihn sehen konnten. Unter den Shaido machte sich Unruhe breit. Sie murmelten sich etwas zu, und Couladin knurrte wütend. Die Zahl der Menschen um den gewaltigen Granitblock herum nahm ständig zu. Immer mehr Shaido kamen von ihren Zelten herbeigelaufen. Rhuarc stand mit Heim und den Jindo ein wenig oberhalb am Hang. Sie beobachteten mißtrauisch die Shaido. Rand sahen sie dagegen erwartungsvoll an. Sein erhobener Arm änderte daran nichts. Lan stand ungefähr in der Mitte zwischen den beiden Gruppen, die Hand auf dem Knauf seines Schwerts und mit zornigem Gesichtsausdruck.
In dem Augenblick, als Rand klar wurde, daß die Aiel noch mehr erwarteten, erreichten ihn Egwene und die anderen drei Weisen Frauen, die so schnell wie möglich den Abhang heruntergesprungen waren. Die Aielfrauen schienen ganz aus dem Gleichgewicht gekommen zu sein, da man sie zu solcher Eile gezwungen hatte, und außerdem waren sie genauso wütend wie Bair. Amys richtete ihren zornigen Blick auf Couladin, während die blonde Melaine Rand anklagend musterte. Seana schien bereit, im nächsten Moment Felsbrocken zu verschlingen. Egwene hatte sich einen Schal um den Kopf und über die Schultern gelegt und starrte Mat und ihn so entgeistert an, als habe sie nicht erwartet, sie jemals wiederzusehen.
»Dummer Kerl«, knurrte Bair. »Alle Abzeichen natürlich.« Sie warf Mat den Wasserbehälter zu, packte Rands rechten Arm und schob auch diesen Ärmel hoch. Ein Spiegelbild des Geschöpfes von seinem linken Unterarm wurde auf diese Weise sichtbar. Ihr stockte zuerst der Atem, aber dann seufzte sie tief auf. Sie schien sich an der Grenze zwischen Erleichterung und Furcht zu befinden. Es war kein Irrtum möglich: Sie hatte auf dieses zweite Abzeichen gehofft, und doch jagte es ihr Angst ein. Amys und die anderen beiden Weisen Frauen seufzten auf die gleiche Weise. Es war etwas Seltsames, bei diesen Aiel Furcht zu entdecken.
Rand hätte beinahe gelacht, allerdings nicht vor Vergnügen. »Zweimal und zweimal wird er gezeichnet werden.« Das sagten die Prophezeiungen in bezug auf den Drachen. Ein Reiherbrandzeichen in jeder Handfläche und nun diese Abzeichen. Eines dieser eigenartigen Geschöpfe, die man in den Weissagungen ›Drachen‹ genannt hatte, stand angeblich für die ›verlorene Erinnerung‹. Rhuidean hatte dafür gesorgt, daß er sie wiederfand, die verlorene Geschichte der Ursprünge der Aiel. Und das andere stand für ›den Preis, den er zahlen muß‹. Wie schnell muß ich ihn zahlen? fragte er sich. Und wie viele müssen ihn mit mir bezahlen? Immer traf es auch andere, und wenn er sich noch so abmühte, den Preis allein zu bezahlen.
Von Furcht erfüllt oder nicht, jedenfalls zögerte Bair keinen Moment, bevor sie auch diesen zweiten Arm hochhielt und laut verkündete: »Seht nun, was noch niemals zuvor gesehen wurde. Ein Car'a'carn ist erwählt worden, ein Häuptling aller Häuptlinge. Geboren aus einer Tochter des Speers, ist er mit der Morgendämmerung aus Rhuidean zu uns gekommen, wie es geweissagt wurde, um die Aiel zu vereinen! Die Erfüllung der Weissagung hat begonnen!« Die Reaktionen der anderen Aiel entsprachen ganz und gar nicht denen, die sich Rand vorgestellt hatte. Couladin blickte noch haßerfüllter als zuvor zu ihm herunter, sprang dann von dem Felsblock und verschwand in den Zelten der Shaido. Die anderen zerstreuten sich langsam. Die meisten sahen Rand mit undefinierbarem Gesichtsausdruck an und schlenderten dann zu den Zelten zurück. Heim und die Krieger der Jindo-Septime zögerten kaum und taten es den übrigen nach. Augenblicke später war nur noch Rhuarc übrig, der besorgt dreinblickte. Lan ging hinüber zu dem Clanhäuptling. Seinem Gesichtsausdruck nach zu schließen, wäre es dem Behüter lieber gewesen, er hätte Rand überhaupt nicht erblickt. Rand war sich selbst nicht sicher, was er erwartet hatte, doch auf jeden Fall nicht gerade dies.
»Seng mich!« knurrte Mat. Er schien erst jetzt zu bemerken, daß er den Wasserschlauch in seinen Händen hielt. Jetzt riß er den Stöpsel heraus und hielt den Schlauch hoch. Fast genauso viel lief ihm über das Gesicht wie in seinen Mund. Als er ihn schließlich senkte, sah er sich die Zeichen an Rands Armen noch einmal an und schüttelte den Kopf. Er wiederholte sein: »Seng mich!« und hielt Rand den schlaffen Wasserschlauch hin.
Rand blickte den Aiel konsterniert hinterher, aber andererseits war er mehr als glücklich, etwas trinken zu können. Beim ersten Schluck brannte seine Kehle noch, so trocken war sie.
»Was ist mit euch passiert?« wollte Egwene wissen. »Hat Muradin euch angegriffen?« »Es ist verboten, zu erzählen, was in Rhuidean geschieht«, sagte Bair in scharfem Ton.
»Muradin nicht«, sagte Rand. »Wo ist Moiraine? Ich hatte eigentlich erwartet, daß sie unter den ersten sei, die uns begrüßen.« Er rieb sich über das Gesicht. Schwärzliche Reste getrockneten Blutes fielen herunter. »Dieses eine Mal ist es mir gleich, ob sie mich zuerst fragt, bevor sie mich heilt.« »Mir geht's genauso«, sagte Mat heiser. Er schwankte, stützte sich auf seinen Speer und preßte seine Hand gegen die Stirn. »Bei mir dreht sich alles.« Egwene verzog das Gesicht. »Sie ist noch in Rhuidean, denke ich. Aber da ihr endlich herausgekommen seid, wird es wohl bei ihr auch nicht mehr lange dauern. Sie ist gleich nach euch beiden losgezogen. Und Aviendha auch. Ihr wart alle so lange weg.« »Moiraine ist nach Rhuidean gegangen?« fragte Rand ungläubig. »Und Aviendha? Wieso...?« Mit einem Schlag wurde ihm bewußt, was sie noch gesagt hatte. »Was meinst du mit ›so lange‹?« »Heute ist der siebte Tag«, sagte sie. »Der siebte Tag, seit ihr alle hinunter ins Tal gegangen seid.« Der Wasserschlauch fiel ihm aus den Händen. Seana schnappte ihn, bevor viel herausfließen und auf dem steinigen Hand versickern konnte, denn dieses Naß war hier in der Wüste schließlich von unschätzbarem Wert. Rand bemerkte es kaum. Sieben Tage. In sieben Tagen konnte alles mögliche geschehen sein. Sie können aufgeholt und herausbekommen haben, was ich vorhabe. Ich muß weiter, und zwar schnell. Ich muß einen Vorsprung vor ihnen wahren. Ich bin nicht von so weit hergekommen, um jetzt einen Fehlschlag zu erleiden.
Sie blickten ihn alle an, selbst Rhuarc und Mat, und auf allen Gesichtern stand die Sorge geschrieben. Und Vorsicht. Kein Wunder. Wer wußte schon, was er als nächstes vorhatte und wie es um seine geistige Gesundheit bestellt war? Nur Lan behielt seinen steinernfinsteren Gesichtsausdruck bei.
»Ich sagte dir doch, daß es Aviendha sei, Rand. Nackt wie ein neugeborenes Baby.« Mats Stimme klang schmerzerfüllt und rauh. Seine Beine wirkten auch nicht gerade, als könnten sie ihn noch lange aufrecht halten.
»Wie lange noch, bis Moiraine zurückkommt?« fragte Rand. Wenn sie zur gleichen Zeit hineingegangen war, sollte sie bald zurück sein.
»Wenn sie am zehnten Tag noch nicht zurück ist«, erwiderte Bair, »dann kommt sie auch nicht mehr. Niemand ist je nach mehr als zehn Tagen noch zurückgekehrt.« Also vielleicht noch drei Tage. Drei weitere Tage, und er hatte schon sieben verloren. Laß sie eben jetzt kommen. Ich werde nicht versagen! Er konnte kaum verhindern, daß er das Gesicht wütend und trotzig verzog. »Ihr könnt die Macht gebrauchen. Zumindest eine von Euch. Ich habe gesehen, wie Ihr Couladin herumgebeutelt habt. Werdet Ihr Mat mit Hilfe der Macht heilen?« Amys und Melaine tauschten einen Blick, der ihm ausgesprochen bedauernd vorkam.
»Unsere Wege sind anders verlaufen«, sagte Amys mit Schmerz in der Stimme. »Es gibt Weise Frauen, die fertigbringen, was Ihr wünscht, auf gewisse Weise jedenfalls, doch wir gehören nicht zu ihnen.« »Was meint Ihr damit?« fuhr er sie ärgerlich an. »Ihr könnt die Macht lenken wie die Aes Sedai. Warum könnt Ihr nicht genauso heilen? Ihr wolltet von Anfang an nicht, daß er nach Rhuidean geht. Wollt Ihr ihn jetzt deswegen sterben lassen?« »Ich werde es überleben«, sagte Mat, doch er hatte die Augen vor Schmerz fest zusammengepreßt.
Egwene legte eine Hand auf Rands Arm. »Nicht alle Aes Sedai sind gute Heiler«, sagte sie in beruhigendem Tonfall. »Die besten Heiler gehören alle zu den Gelben Ajah. Sheriam zum Beispiel, die Herrin der Novizinnen, kann nicht viel mehr heilen als höchstens eine Schramme oder einen kleinen Schnitt. Keine zwei Frauen haben genau die gleichen Talente oder Fertigkeiten.« Ihr Tonfall irritierte ihn. Er war kein quengelndes Kind, das man beruhigen mußte. Er sah die Weisen Frauen mit finsterer Miene an. Ob sie nun nicht konnten oder nicht wollten, jedenfalls würden Mat und er auf Moiraine warten müssen. Falls sie nicht in diesem Blendwerk des Bösen ums Leben gekommen war, durch diese Staubwesen vielleicht. Sie mußten sich mittlerweile aufgelöst haben; auch das in Tear hatte ein solches Ende gefunden. Das hätte sie nicht aufhalten können. Sie kann sich mit Hilfe der Macht ihren Weg bahnen. Sie weiß genau, was sie tut, und muß es nicht die ganze Zeit über mühsam selbst herausbekommen wie ich. Aber warum war sie noch nicht zurück? Warum war sie überhaupt hingegangen, und wieso hatte er sie nicht gesehen? Dumme Frage. Hundert Leute hätten sich in Rhuidear aufhalten können, ohne daß er sie sah. Zu viele Fragen und keine Antworten, bis sie zurückkam, wie er vermutete. Falls sie selbst die Antworten darauf kannte.
»Es gibt Kräuter und Tinkturen«, sagte Seana. »Kommt aus dem Sonnenschein heraus, und wir kümmern uns um Eure Verletzungen.« »Aus dem Sonnenschein«, murrte Rand. »Na ja.« Er benahm sich unmöglich, aber es war ihm gleich. Warum war Moiraine nach Rhuidean gegangen? Er traute ihr immer zu, ihn dorthin zu steuern, wo sie ihn haben wollte, zum Teufel noch mal. Wenn sie sich dort drinnen befand, konnte sie dann das beeinflußt haben, was er sah? Es auf irgendeine Art verändert haben? Wenn sie auch nur vermutete, was er vorhatte...
Er ging auf die Zelte der Jindo zu, denn Couladins Leute würden ihm wohl kaum einen Platz zum Ausruhen anbieten, aber Amys wies ihn zu der ebenen Fläche weiter oben, auf der die Zelte der Weisen Frauen standen. »Sie fühlen sich in Eurer Gegenwart im Moment sicher noch nicht sehr wohl«, sagte sie. Rhuarc, der neben ihr herging, nickte zustimmend.
Melaine sah Lan an. »Das hier ist nicht Eure Angelegenheit, Aan'allein. Ihr und Rhuarc nehmt Matrim mit und... « »Nein«, unterbrach Rand sie. »Ich will sie bei mir haben.« Zum Teil wollte er von dem Clanhäuptling bestimmte Antworten erhalten, und zum Teil war es reine Sturheit. Diese Weisen Frauen wollten ihn sämtlich an die Leine nehmen, genau wie Moiraine. Damit würde er sich nicht abfinden. Sie sahen sich gegenseitig an und nickten dann, als gewährten sie ihm eine Gnade. Wenn sie glaubten, er sei ein braver Junge, sobald sie ihm ein Bonbon gaben, dann täuschten sie sich aber. »Ich hätte gedacht, Ihr wärt bei Moiraine geblieben«, sagte er zu Lan, wobei er die Weisen Frauen und ihr Nicken mit Nichtbeachtung strafte.
Verlegenheit zuckte über das Gesicht des Behüters. »Die Weisen Frauen brachten es fertig, beinahe bis zum Sonnenuntergang zu verschweigen, daß sie weggegangen war«, sagte er verkniffen. »Dann haben sie mich davon... überzeugt, daß es keinen Sinn habe, ihr zu folgen. Sie sagten, selbst wenn ich hinterherginge, würde ich sie nicht finden, bevor sie sich auf den Rückweg machte, und dann brauche sie mich sowieso nicht mehr. Ich bin aber nicht ganz sicher, ob ich recht daran tat, ihrem Rat zu folgen.« »Dem Rat zu folgen«, schnaubte Melaine. Ihre goldenen und elfenbeinernen Armringe klapperten, als sie verärgert ihren Schal zurechtzog. »Das sieht einem Mann ähnlich, so angeblich vernünftig zu tun! Ihr wärt mit größter Wahrscheinlichkeit gestorben und hättet sie womöglich gleich mit umgebracht!« »Melaine und ich mußten ihn fast die halbe Nacht über festhalten, bevor er endlich auf uns hörte«, sagte Amys. Ihr leichtes Lächeln wirkte amüsiert und auch ein wenig sarkastisch.
Lans Gesicht war wie aus Gewitterwolken geschnitten.
Kein Wunder, wenn die Weisen Frauen die Macht benutzt hatten, um ihn zurückzuhalten. Was machte Moiraine bloß da drinnen?
»Rhuarc«, sagte Rand, »wie soll ich es anstellen, die Aiel zu einen? Sie wollen mich nicht einmal anschauen.« Er hob einen Moment seine bloßen Unterarme. Die Schuppen der Drachen glitzerten im grellen Sonnenschein. »Dies hier bedeutet, daß ich der bin, Der Mit Der Morgendämmerung Kommt, aber sobald ich die Dinger zeigte, sind praktisch alle einfach weggelaufen.« »Es ist eine Sache, zu wissen, daß eine Weissagung schließlich in Erfüllung gehen wird«, sagte der Clanhäuptling bedächtig, »aber eine ganz andere, wenn diese Erfüllung vor den eigenen Augen Gestalt annimmt. Es wurde vorhergesagt, daß Ihr aus den Clans wieder ein Volk machen werdet, aber wir haben genauso lange gegeneinander gekämpft wie gegen den Rest der Welt. Und für einige von uns gibt es da noch mehr Probleme.« Er wird Euch zusammenfügen und Euch vernichten. Rhuarc hatte auch das bestimmt schon gehört. Und auch die anderen Clanhäuptlinge und die Weisen Frauen, wenn sie ebenfalls diesen Wald aus leuchtenden Glassäulen betreten hatten. Falls Moiraine nicht eine ganz besondere Vision für ihn hervorgebracht hatte. »Sieht eigentlich jeder die gleichen Sachen zwischen diesen Säulen, Rhuarc?« »Nein!« fauchte Melaine. Ihre Augen glänzten wie grüner Stahl. »Seid ruhig oder schickt Aan'allein und Matrim weg. Auch Ihr müßt gehen, Egwene.« »Es ist nicht gestattet«, sagte Amys mit nur ein klein wenig sanfterer Stimme. »Man darf nicht über das sprechen, was in Rhuidean geschieht, außer mit denjenigen, die selbst dort waren.« Und noch ein bißchen sanfter: »Aber trotzdem sprechen nur wenige darüber und das nur selten.« »Ich werde ändern, was gestattet ist und was nicht« sagte Rand gelassen zu ihnen. »Gewöhnt Euch daran.« Er schnappte von Egwene eine leise Bemerkung auf, etwas wie ›man sollte ihm eins aufs Ohr geben‹, und er grinste sie an. »Egwene kann auch hierbleiben, da sie so nett darum gebeten hat.« Sie streckte ihm die Zunge heraus und wurde dann rot, als ihr bewußt wurde, wie sie sich benommen hatte.
»Veränderung«, sagte Rhuarc. »Du weißt, daß er Veränderungen mit sich bringt, Amys. Wir fühlen uns wie Kinder im Dunklen, weil wir uns immer fragen müssen, was sich ändern mag und wie sich diese Veränderungen zeigen. Da es aber sein muß, machen wir jetzt den Anfang. Keine zwei Clanhäuptlinge, mit denen ich darüber gesprochen habe, haben durch genau die gleichen Augen gesehen, Rand, oder die gleichen Dinge, bis auf die Wasserzeremonie und das Zusammentreffen, auf dem die Vereinbarung von Rhuidean beschlossen wurde. Ob es bei den Weisen Frauen dasselbe ist, weiß ich nicht, aber ich glaube schon. Ich glaube, es hat mit der Abstammung zu tun. Meiner Meinung nach habe ich alles mit den Augen meiner Vorfahren gesehen, und Ihr mit den Augen Eurer Vorfahren.« Amys und die anderen Weisen Frauen schmollten und schwiegen mürrisch. Mat und Egwene blickten gleich verwirrt drein. Nur Lan schien überhaupt nicht zuzuhören. Sein Blick war nach innen gerichtet. Zweifellos machte er sich Sorgen um Moiraine.
Rand hatte auch ein eigenartiges Gefühl bei Rhuarcs Worten. Durch die Augen seiner Vorfahren sehen. Er hatte wohl seit einiger Zeit gewußt, daß Tam al'Thor nicht sein richtiger Vater war, daß er als Neugeborenes am Abhang des Drachenberges gefunden worden war, gleich nach der letzten wichtigen Schlacht im Aielkrieg. Ein Neugeborenes neben seiner toten Mutter, einer Tochter des Speers. Er hatte sein Aielblut geltend gemacht, als er verlangte, nach Rhuidean gehen zu dürfen, aber erst jetzt eigentlich erfaßte er das Ganze so richtig. Seine Vorfahren. Aiel.
»Dann habt Ihr auch gesehen, wie man den Bau von Rhuidean gerade begann«, sagte er. »Und die beiden Aes Sedai. Ihr... habt gehört, was eine davon sagte.« Er wird Euch vernichten.
»Habe ich.« Rhuarc sah aus, als habe er sich damit abgefunden, wie ein Mann, der erfahren hatte, daß man ihm ein Bein abnehmen mußte. »Ich weiß.« Rand wechselte das Thema. »Was hat es mit dieser ›Wasserzeremonie‹ auf sich?« Der Clanhäuptling zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Habt Ihr das nicht erkannt? Aber, es stimmt, wieso solltet Ihr es erkennen? Ihr seid nicht mit unserer Geschichte aufgewachsen. Den ältesten Sagen nach hat uns vom Tag, an dem die Zerstörung der Welt begann, bis zum Tag, an dem wir das Dreifache Land betraten, nur ein Volk nie angegriffen. Ein Volk gab uns großzügig Wasser, wenn wir es benötigten. Wir brauchten lang, bis wir herausbekamen, wer sie waren. Das ist aber alles lange vorbei. Der Friedensschwur wurde gebrochen, die Baummörder haben uns ins Gesicht gespuckt.« »Cairhien«, sagte Rand. »Ihr sprecht von Cairhien und Avendoraldera, und von Laman, der diesen Baum fällte.« »Laman ist zur Strafe gestorben«, sagte Rhuarc mit gepreßter Stimme. »Die Meineidigen wurden bestraft.« Er sah Rand von der Seite her an. »Einige wie Couladin nehmen das als Beweis dafür, daß wir niemandem trauen können, der kein Aiel ist. Zum Teil haßt er Euch deswegen. Zum Teil. Er betrachtet Euer Gesicht und Euer Blut als Lügen. Oder zumindest behauptet er das.« Rand schüttelte den Kopf. Moiraine sprach manchmal darüber, wie komplex das Muster eines Zeitalters aufgebaut sei, vom Rad der Zeit aus den Fäden menschlicher Leben gewebt. Wenn die Vorfahren der Cairhienianer nicht vor dreitausend Jahren den Aiel Wasser überlassen hätten, hätte man Cairhien niemals erlaubt, die Seidenstraße durch die Wüste zu benützen und ihnen einen Avendesora-Schößling als äußeres Zeichen dafür überlassen. Ohne diesen Treueeid hätte König Laman keinen Baum vorgefunden, um ihn zu fällen. Dann wäre es nicht zum Aielkrieg gekommen, und er wäre nicht am Hang des Drachenberges geboren und in den Zwei Flüssen aufgezogen worden. An wie vielen Punkten in der Geschichte hatte eine einzige Entscheidung für das eine oder andere das Muster in den letzten Jahrtausenden beeinflußt? Tausendmal an tausend winzigen Nahtstellen, und jedesmal wurde das Muster in eine andere Form gezwungen. Er selbst war eine wandelnde Nahtstelle wie all die anderen, und vielleicht war es bei Mat und Perrin genauso. Was sie machten oder nicht machten, schickte ringförmige Wellen durch die Jahre voraus, durch die Zeitalter.
Er sah Mat an, der den Hang mit Hilfe seines Speers aufwärts humpelte, den Kopf gesenkt und die Augen vor Schmerz fast geschlossen. Der Schöpfer kann nicht nachgedacht haben, wenn er die Zukunft der Welt auf die Schultern dreier Bauernjungen legte. Ich kann sie nicht fallenlassen. Ich muß die Last tragen, was es mich auch kostet.
Als sie die niedrigen, wandlosen Zelte der Weisen Frauen erreichten, duckten sich die Frauen beim Hineingehen und murmelten etwas von Wasser und Schatten. Sie zerrten Mat beinahe hinein. Zum Beweis, wie sehr sein Kopf und sein Hals schmerzen mußten, gehorchte er, und das auch noch ohne Widerrede.
Rand wollte ihnen folgen, doch Lan legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Habt Ihr sie dort drinnen gesehen?« fragte der Behüter.
»Nein, Lan, tut mir leid. Ich habe sie nicht gesehen. Aber wenn irgend jemand, dann wird sie es sein, die wieder heil herauskommt.« Lan knurrte und nahm seine Hand weg. »Hütet Euch vor Couladin, Rand. Ich habe schon andere von der Sorte kennengelernt. In ihm brennt der Ehrgeiz. Er würde die ganze Welt opfern, um sein Ziel zu erreichen.« »Aan'allein sagt die Wahrheit«, sagte Rhuarc. »Die Drachen auf Euren Armen werden keine Rolle mehr spielen, wenn Ihr tot seid, bevor die Clanhäuptlinge davon erfahren. Ich werde dafür sorgen, daß ein paar von Heims Jindo immer in der Nähe sind, bis wir die Kaltfelsenfestung erreichen. Selbst dann noch wird Couladin versuchen, Euch Schwierigkeiten zu machen, und zumindest die Shaido werden ihm folgen. Vielleicht auch noch andere. Die Weissagung von Rhuidean behauptet, Ihr würdet von Menschen aufgezogen, die nicht vom Blute sind, aber Couladin ist wohl nicht der einzige, der Euch einfach als Feuchtländer ansieht.« »Ich werde mich bemühen, auch meinen Rücken im Auge zu behalten«, sagte Rand trocken. In den Sagen rief jeder, wenn einer eine Prophezeiung erfüllte: »Siehe!« oder ähnliches, und das war's auch schon. Natürlich erledigte man noch den Bösewicht. Im wirklichen Leben schien es so nicht zu funktionieren.
Als sie das Zelt betraten, saß Mat bereits auf einem roten Kissen mit goldenen Fransen und hatte Wams und Hemd abgelegt. Eine Frau in weißer Kapuzenrobe hatte gerade das letzte Blut von seinem Gesicht abgewaschen und begann, seinen Oberkörper zu reinigen. Amys hielt einen Steintiegel zwischen den Knien und mischte mit Hilfe eines Stößels Kräuter für irgendeine Salbe. Bair und Seana steckten die Köpfe zusammen und brauten mit anderen Kräutern einen Sud in einem Topf mit heißem Wasser.
Melaine schnitt Lan und Rhuarc eine Grimasse, und dann fixierte sie Rand mit ihren kühlen grünen Augen. »Macht Euren Oberkörper frei«, sagte sie kurz angebunden. »Die Schnitte an Eurem Kopf sehen nicht zu schlimm aus, aber laßt mich einmal sehen, weshalb Ihr euch so krümmt.« Sie schlug einen kleinen Messinggong, und eine weitere weiß gekleidete Frau kam geduckt unter der hinteren Zeltwand hervor, eine dampfende Silberschüssel in Händen und mit Handtüchern über dem Arm.
Rand setzte sich auf ein Kissen und richtete sich gerade auf. »Es ist nichts, worüber Ihr euch Gedanken machen müßt«, versicherte er ihr. Die zweite in Weiß gehüllte Frau kniete elegant neben ihm nieder. Sie widerstand seinen Bemühungen, das feuchte Tuch zu ergreifen, das sie über der Schüssel ausgewrungen hatte, und begann, sanft sein Gesicht zu waschen. Er fragte sich, wer sie wohl sei. Sie sah wie eine Aiel aus, handelte aber nicht wie eine. In ihren grauen Augen stand etwas wie entschlossene Demut.
»Es ist eine alte Verletzung«, sagte Egwene zu der Weisen Frau mit dem blonden Haar. »Moiraine hat es nie geschafft, sie vollständig zu heilen.« Der Blick, den sie Rand zuwarf, sagte ihm, die Höflichkeit hätte eigentlich von ihm verlangt, das zu erzählen. Den Blicken nach zu schließen, mit denen sich die Weisen Frauen ansahen, hatte sie bereits mehr als genug gesagt, dachte sich Rand. Eine Wunde, die von den Aes Sedai nicht geheilt werden konnte. Das war ihnen ein Rätsel. Moiraine schien überhaupt mehr von ihm zu wissen als er selbst, und er hatte es schon schwer genug, mit ihr auszukommen. Vielleicht war es leichter in bezug auf die weisen Frauen, wenn sie nicht soviel über ihn wußten und mehr raten mußten. Mat zuckte zusammen, als Amys damit begann, ihre Salbe auf die Schnitte an seinem Brustkorb aufzutragen. Wenn sie so wirkte, wie sie roch, dachte Rand, dann hatte er einen Grund, zusammenzuzucken. Bair hielt Mat einen silbernen Becher hin. »Trinkt, junger Mann. Timsinwurzel und Silberblatt werden Eure Kopfschmerzen lindern, wenn überhaupt etwas damit fertig wird.« Er zögerte nicht und kippte alles herunter. Ein Schaudern und ein verzogenes Gesicht waren die Folge. »Schmeckt wie die Innenseite meiner Stiefel.« Doch er verbeugte sich im Sitzen vor ihr. Es wirkte sogar höflich genug für tairenische Maßstäbe, außer, daß er kein Hemd anhatte und plötzlich losgrinste. »Ich danke Euch, Weise Frau. Und ich frage auch nicht, ob Ihr irgend etwas hineingetan habt, um ihm diesen... denkwürdigen... Geschmack zu verleihen.« Bairs und Seanas leises Lachen sagte nichts darüber aus, ob sie so etwas Gemeines getan hatten oder nicht, aber es schien, daß Mat wie gewöhnlich den richtigen Ton gefunden hatte, um bei den Frauen anzukommen. Selbst Melaine schenkte ihm ein kurzes Lächeln.
»Rhuarc«, sagte Rand, »wenn Couladin mir Schwierigkeiten bereiten möchte, muß ich früher als er handeln. Wie stelle ich es an, den anderen Clanhäuptlingen Bescheid zu sagen? Über mich. Und über die.« Er hielt kurz seine Arme mit den Drachen hoch. Die weiß gekleidete Frau an seiner Seite, die nun die lange Platzwunde in seinem Haar auswusch, vermied es offensichtlich, hinzuschauen.
»Es gibt da keine festgelegten Formalitäten«, sagte Rhuarc. »Wie könnte das auch sein bei einem Ereignis, das es nur einmal geben kann? Wenn man ein Treffen der Clanhäuptlinge abhalten muß, gibt es dafür Orte, an denen so etwas wie der Friede Rhuideans gilt. Der nächstgelegene an der Kaltfelsenfestung und auch der nächstgelegene bei Rhuidean ist Alcair Dal. Dort solltet Ihr Eure Beweise den Clan- und Septimen-Häuptlingen vorlegen.« »Al'cair Dal?« sagte Mat und betonte es dabei ein wenig anders. »Die Goldene Schüssel?« Rhuarc nickte. »Eine runde Schlucht, wenn auch nichts Goldenes daran ist. An einem Ende gibt es einen Vorsprung, und ein Mann, der darauf steht, muß gar nicht laut sprechen, um überall in der Schlucht gehört zu werden.« Rand sah finster auf die Drachen an seinen Unterarmen herab. Er war nicht der einzige, der auf irgendeine Art in Rhuidean gezeichnet worden war. Mat sagte mittlerweile nichts mehr in der Alten Sprache, ohne zu wissen, was er sprach. Seit Rhuidean verstand er alles, obwohl er das gar nicht zu begreifen schien. Egwene beobachtete Mat nachdenklich. Sie hatte zuviel Zeit bei den Aes Sedai verbracht.
»Rhuarc, könnt Ihr den anderen Clanhäuptlingen Botschaften übermitteln?« fragte er. »Wie lange wird es dauern, um sie alle nach Alcair Dal zu bitten? Was muß ich tun, damit sie auch bestimmt alle kommen?« »Boten werden Wochen brauchen, und weitere Wochen werden vergehen, bis alle da sind.« Rhuarcs Geste umfaßte alle vier Weisen Frauen. »Sie dagegen können jeden Clanhäuptling, jeden Septimen-Häuptling, im Traum in einer einzigen Nacht erreichen. Und auch jede Weise Frau, damit sie sichergehen, daß keiner der Männer es nur einfach für einen Traum hält.« »Ich freue mich über dein Vertrauen, daß wir Berge versetzen können, Schatten meines Herzens«, sagte Amys trocken und setzte sich mit ihrer Salbe in der Hand neben Rand. »Aber Vertrauen reicht nicht. Wir würden mehrere Nächte brauchen, um zu tun, was du vorschlägst, und wir hätten nicht viel Ruhe dabei.« Rand nahm ihre Hand, als sie die scharf riechende Salbe auf seine Wange auftragen wollte. »Werdet Ihr es tun?« »Habt Ihr es so eilig, uns zu vernichten?« wollte sie wissen, und dann biß sie sich ärgerlich auf die Unterlippe, als die in Weiß gehüllte Frau an Rands anderer Seite zusammenfuhr. Melaine klatschte zweimal in die Hände. »Verlaßt uns«, sagte sie in scharfem Ton, und die Frauen in Weiß verbeugten sich und schoben sich mit ihren Schüsseln und Tüchern rückwärts aus dem Zelt.
»Ihr treibt mich an wie mit einem Nadelstock«, beschwerte sich Amys bitterlich bei Rand. »Was man ihnen auch befiehlt, diese Frauen werden nun über etwas klatschen, was sie nicht wissen dürften.« Sie entzog ihre Hand seinem Griff und begann, die Salbe etwas vehementer aufzutragen, als vielleicht notwendig war. Sie brannte noch schlimmer als sie roch.
»Ich will Euch nicht antreiben«, sagte Rand, »aber die Zeit wird zu knapp. Die Verlorenen sind in Freiheit, Amys, und wenn sie herausfinden, wo ich mich befinde oder was ich vorhabe... « Die Aielfrauen schienen nicht überrascht. Hatten sie es bereits gewußt? »Neun von ihnen sind noch am Leben. Zu viele, und diejenigen, die mich nicht töten wollen, glauben, mich statt dessen benutzen zu können. Ich habe einfach keine Zeit. Wenn ich eine Möglichkeit hätte, die Clanhäuptlinge jetzt in diesem Augenblick hierher zu bringen und ihre Anerkennung zu gewinnen, dann würde ich sie nutzen.« »Was habt Ihr denn vor?« Amys Stimme klang genauso steinern wie ihre Gesicht wirkte.
»Werdet Ihr die Häuptlinge auffordern — bitten —, nach Alcair Dal zu kommen?« Einen ausgedehnten Augenblick lang trafen sich ihre Blicke. Als sie schließlich nickte, war es widerwillig.
Widerwillig oder nicht, jedenfalls ließ seine innere Anspannung etwas nach. Es gab keine Möglichkeit, sieben verlorene Tage wieder zurückzugewinnen, aber vielleicht konnte er es vermeiden, noch mehr Zeit zu verlieren. Allerdings hielt ihn Moiraine hier fest, die sich immer noch mit Aviendha zusammen in Rhuidean befand. Er konnte sie nicht so einfach im Stich lassen.
»Ihr habt meine Mutter gekannt«, sagte er. Egwene beugte sich vor, genauso neugierig wie er, und Mat schüttelte den Kopf.
Amys Hand auf seinem Gesicht hielt inne. »Ich kannte sie.« »Erzählt mir von ihr. Bitte.« Sie wandte ihre Aufmerksamkeit dem Schnitt über seinem Ohr zu. Wenn eine finstere Miene heilen könnte, hätte er ihre Salbe nicht mehr gebraucht. Schließlich sagte sie: »Shaiels Geschichte, soweit ich sie kenne, beginnt, als ich noch eine Far Dareis Mai war, mehr als ein Jahr bevor ich den Speer aufgab. Eine Anzahl von uns war gemeinsam fast bis zur Drachenmauer vorgestoßen. Eines Tages trafen wir eine Frau, eine goldhaarige junge Feuchtländerin, in Seide gekleidet, mit Packpferden und einer schönen Stute, auf der sie ritt. Einen Mann hätten wir natürlich getötet, aber sie hatte keine Waffe bis auf ein einfaches Messer am Gürtel. Ein paar wollten sie nackt zur Drachenmauer zurückschicken...« Egwene riß die Augen auf. Sie war immer wieder überrascht davon, wie hart die Aiel sein konnten. Amys fuhr jedoch ohne Pause fort: »... doch sie schien entschlossen, nach irgend etwas zu suchen. Neugierig folgten wir ihr Tag um Tag, ohne uns ihr zu erkennen zu geben. Ihre Pferde gingen ein, ihre Lebensmittel waren verbraucht, auch ihr Wasser, aber sie kehrte nicht um. Sie stolperte zu Fuß weiter, bis sie schließlich stürzte und nicht mehr aufkam. Wir beschlossen, ihr Wasser zu geben und sie nach ihrer Geschichte zu fragen. Sie war dem Tod nahe und es dauerte einen ganzen Tag, bis sie sprechen konnte.« »Sie hieß Shaiel?« fragte Rand, als sie zögerte. »Woher kam sie? Warum kam sie dorthin?« »Shaiel«, sagte Bair, »war der Name, den sie später selbst annahm. Sie nannte nie einen anderen, solange ich sie kannte. In der Alten Sprache bedeutet das: eine Frau, die einem Ziel verschworen ist.« Mat nickte zustimmend und schien dabei gar nicht zu bemerken, was er tat. Lan beobachtete ihn nachdenklich über einen silbernen Becher mit Wasser hinweg. »Da war eine Bitterkeit an Shaiel, jedenfalls zu Anfang«, schloß sie.
Amys kauerte neben Rand und nickte. »Sie sprach von einem zurückgelassenen Kind, einem Sohn, den sie liebte. Einem Mann, den sie nicht liebte. Wo das war, sagte sie nicht. Ich glaube nicht, daß sie es sich selbst jemals vergab, ihr Kind im Stich gelassen zu haben. Sie erzählte nur wenig über das hinaus, was sie sagen mußte. Wir waren es, nach denen sie gesucht hatte — die Töchter des Speers. Eine Aes Sedai namens Gitara Moroso, die über die Gabe der Weissagung verfügte, hatte ihr gesagt, daß ihr Land und ihr Volk, vielleicht die ganze Welt, dem Verderben preisgegeben sei, wenn sie nicht wegzog, um unter den Töchtern des Speers zu leben. Sie durfte niemandem davon erzählen. Sie mußte selbst eine Tochter des Speers werden und sie konnte nicht in ihr eigenes Land zurückkehren, bis die Töchter des Speers Tar Valon erreichten.« Sie schüttelte staunend den Kopf. »Ihr müßt verstehen, wie das für uns damals klang. Die Töchter des Speers erreichen Tar Valon? Kein Aiel hatte mehr die Drachenmauer überquert, seit den Tagen, als wir das Dreifache Land betraten. Es würde noch vier Jahre dauern, bis Lamans Verbrechen uns in die Feuchtländer brachte. Und ganz sicher war noch niemand zur Tochter des Speers geworden, die nicht von uns Aiel abstammte. Einige von uns glaubten, die Sonne habe sie zum Wahnsinn getrieben. Aber sie hatte einen eisernen Willen, und irgendwie brachte sie uns dazu, ihr einen Versuch zu gestatten.« Gitara Moroso. Eine Aes Sedai mit der Gabe der Weissagung. Irgendwo hatte er diesen Namen schon einmal gehört, aber wo? Und er hatte einen Bruder. Einen Halbbruder. Er hatte sich schon immer gefragt, wie es wohl sei, einen Bruder oder eine Schwester zu haben. Wer war es und wo lebte er? Doch Amys fuhr fort:
»Beinahe jedes Mädchen träumt davon, zur Tochter des Speers zu werden. Sie lernen wenigstens die Anfänge des Bogenschießens und wie man mit einem Speer umgeht, oder auch, wie man mit Händen und Füßen kämpft. Trotzdem erkennen diejenigen schließlich, die den endgültigen Schritt tun und sich dem Speer antrauen lassen, daß sie überhaupt nichts wissen und können. Für Shaiel war das noch schwieriger. Mit dem Bogen konnte sie gut umgehen, doch sie war niemals auch nur eine Meile weit gelaufen oder hätte sich von dem ernährt, was sie in der Natur vorfand. Ein zehnjähriges Mädchen hätte sie übertreffen können, und sie wußte noch nicht einmal, welche Pflanzen einem zeigen, daß sich in der Nähe Wasser befindet. Und doch hielt sie durch. Nach einem Jahr hatte sie ihren Eid auf den Speer abgelegt und war eine der Töchter. Sie wurde von der Chumai-Septime der Taardad adoptiert.« Und schließlich war sie mit den Töchtern nach Tar Valon gezogen, nur um am Hang des Drachenberges zu sterben. Eine halbe Antwort, die neue Fragen hervorbrachte. Wenn er nur ihr Gesicht hätte sehen können.
»Ihr habt etwas von ihr in Euren Gesichtszügen«, sagte Seana, als könne sie seine Gedanken lesen. Sie hatte sich mit übergeschlagenen Beinen hingesetzt und hielt einen kleinen silbernen Becher mit Wein in der Hand. »Und weniger von Janduin.« »Janduin? Mein Vater?« »Ja«, sagte Seana. »Er war Clanhäuptling der Taardad zu jener Zeit, der jüngste seit Menschengedenken. Aber er hatte etwas an sich, eine Ausstrahlung von Macht... Die Menschen hörten auf ihn und folgten ihm, selbst die anderer Clans. Er beendete die Blutfehde der Taardad und der Nakai nach zweihundert Jahren und brachte nicht nur mit den Nakai ein Bündnis zustande, sondern auch mit den Reyn, und die Reyn standen kurz davor, ebenfalls eine Blutfehde mit den Taardad auszutragen. Er hätte beinahe auch die Fehde zwischen den Shaarad und den Goshien beendet. Wahrscheinlich wäre es ihm gelungen, wenn Laman nicht den Baum gefällt hätte. So jung er noch war, führte doch gerade er die Taardad und die Nakai, die Reyn und die Shaarad in die Feuchtländer, damit Laman den Blutpreis bezahlte.« War. Also war auch er jetzt tot. Egwenes Gesicht zeigte Mitgefühl. Rand beachtete es nicht; er wollte kein Mitgefühl. Wie konnte er diesen Verlust auch empfinden, da er diese Menschen niemals gekannt hatte? Und trotzdem empfand er Trauer. »Wie ist Janduin gestorben?« Die Weisen Frauen tauschten zögernde Blicke. Dann endlich sagte Amys: »Es war zu Beginn des dritten Jahres der Suche nach Laman, als Shaiel schwanger wurde. Das Gesetz verlangt, daß sie in einem solchen Fall ins Dreifache Land zurückkehrt. Es ist einer Tochter verboten, den Speer zu tragen, solange sie schwanger ist. Aber Janduin konnte ihr nichts abschlagen. Hätte sie von ihm den Mond an einem Halsband verlangt, hätte er versucht, ihn ihr zu beschaffen. Also blieb sie, und im letzten Kampf vor Tar Valon wurde sie vermißt, und ihr Kind war so ebenfalls verloren. Janduin konnte sich nicht verzeihen, daß er sie nicht gezwungen hatte, dem Gesetz zu gehorchen.« »Er ist als Häuptling zurückgetreten«, sagte Bair. »Das hatte zuvor noch niemand getan. Man sagte ihm, es könne nicht angehen, aber er ging einfach weg. Nach Norden wanderte er mit den jungen Männern, um in der Fäule Trollocs und Myrddraal zu jagen. Das ist etwas, das wilde junge Männer manchmal unternehmen und auch Töchter des Speers, die weniger Grips haben als eine Ziege. Diejenigen, die zurückkehrten, behaupteten aber, er sei von einem Mann getötet worden. Sie sagten, Janduin habe behauptet, der Mann sehe aus wie Shaiel, und so erhob er seine Waffe nicht gegen ihn und ließ sich von ihm durchbohren.« Also tot. Beide. Er würde seine Liebe zu Tam niemals aufgeben und nicht aufhören, an ihn als seinen Vater zu denken, aber er wünschte sich doch, wenigstens einmal Janduin und Shaiel gesehen zu haben.
Egwene versuchte natürlich, ihn zu trösten, so wie das Frauen halt machten. Es hatte keinen Sinn, ihr verständlich machen zu wollen, daß er niemals besessen hatte, was er verloren hatte. Wenn er sich an Eltern erinnerte, dann an Tam al'Thors ruhiges Lachen und etwas verschwommener an Kari al'Thors sanfte Hände. Das dürfte wohl jedem Mann ausreichen. Egwene schien deshalb enttäuscht, sogar ein wenig fassungslos, und die Weisen Frauen teilten ihre Gefühle offensichtlich in gewissem Maße. Bair runzelte mißbilligend die Stirn, und Melaine rückte steif und bedrohlich ihren Schal zurecht. Frauen verstanden so etwas einfach nicht. Rhuarc und Mat und Lan verstanden es dagegen und ließen ihn in Ruhe, wie er es wünschte.
Aus einem unerfindlichen Grund hatte er keinen Appetit, als Melaine Essen bringen ließ. Also ging er hinüber zur Zeltwand und legte sich hin. Eines der Kissen klemmte er unter seinen Ellbogen, damit er sich aufstützen und den Abhang und die in Nebel gehüllte Stadt beobachten konnte. Die Sonne durchglühte das Tal und die Berge der unmittelbaren Umgebung, verbrannte die Schatten. Die Luft, die ins Zelt hineinzog, schien aus einer Esse zu stammen.
Nach einer Weile kam Mat herüber. Er trug ein neues, sauberes Hemd. Er setzte sich wortlos neben Rand und spähte ins Tal hinab, den seltsamen Speer über die Knie gelegt. Von Zeit zu Zeit fühlte er nach den eingeschnitzten Kursiv-Schriftzeichen am schwarzen Schaft. »Wie geht es deinem Kopf?« fragte Rand, und Mat fuhr zusammen.
»Er... er tut nicht mehr weh.« Seine Finger zuckten ertappt von den Schriftzeichen weg. Nun faltete er ganz bewußt die Hände im Schoß. »Jedenfalls nicht mehr so sehr. Was sie da auch zusammengebraut haben, es hat gewirkt.« Er schwieg wieder, und Rand ließ ihn in Ruhe. Er wollte auch nicht sprechen. Er konnte beinahe greifbar spüren, wie die Zeit verrann. Sandkörnchen in einer Sanduhr fielen eines nach dem anderen ganz langsam herunter. Aber alles schien gleichzeitig zu beben. Der Sand konnte jeden Moment zu einem wilden Strom werden. Närrisch. Er ließ sich lediglich von der flimmernden Hitze über den blanken Felsen des Abhanges beeinflussen. Die Clanhäuptlinge konnten Alcair Dal auch keinen Tag früher erreichen, wenn jetzt in diesem Augenblick Moiraine vor ihm erschien. Sie stellten sowieso nur einen Teil des Ganzen dar und vielleicht sogar den unwichtigsten. Eine Weile später bemerkte er, daß Lan entspannt auf dem gleichen Granitblock hockte, den Couladin benützt hatte. Dem Behüter schien die Sonne nichts auszumachen. Auch er beobachtete das Tal. Noch ein Mann, der keine Lust zum Sprechen hatte.
Rand aß auch nichts zu Mittag, obwohl sich Egwene und die anderen darin abwechselten, ihn zum Essen überreden zu wollen. Sie ertrugen es noch relativ gelassen, doch als er vorschlug, nach Rhuidean zurückzukehren und sich nach Moiraine umzuschauen und natürlich auch nach Aviendha, da explodierte Melaine.
»Ihr närrischer Mann! Kein Mann kann zweimal nach Rhuidean gehen! Selbst Ihr kämt nicht mehr lebend zurück. Ach, verhungert doch, wenn Ihr wollt!« Sie warf ihm ein halbes Rundbrot an den Kopf. Mat schnappte es sich aber aus der Luft und begann seelenruhig, es aufzuessen.
»Warum wollt Ihr denn unbedingt, daß ich am Leben bleibe?« fragte Rand. »Ihr wißt doch, was diese Aes Sedai vor Rhuidean gesagt hat. Ich werde Euch vernichten.
Warum tut Ihr euch nicht mit Couladin zusammen und bringt mich um?« Mat erstickte beinahe an seinem Brot, und Egwene stützte empört die Hände in die Hüften, bereit, ihm einen Vortrag zu halten. Doch Rand konzentrierte sich ganz auf Melaine. Statt zu antworten, funkelte sie ihn nur an und verließ das Zelt.
Es war Bair, die schließlich darauf antwortete: »Jeder glaubt, die Weissagung von Rhuidean zu kennen, aber was sie kennen, ist in Wirklichkeit nur das, was ihnen die Weisen Frauen und die Clanhäuptlinge generationenlang erzählt haben. Keine Lügen, aber auch nicht die ganze Wahrheit. Die Wahrheit könnte auch den stärksten Mann zerbrechen.« »Und was ist die ganze Wahrheit?« beharrte Rand.
Sie blickte erst Mat an und sagte dann: »In diesem Fall ist die ganze Wahrheit, die bisher nur den Weisen Frauen und den Clanhäuptlingen bekannt war, daß Ihr unser Untergang seid. Unser Untergang und unsere Rettung. Ohne Euch wird keiner unserer Leute die Letzte Schlacht überleben. Vielleicht noch nicht einmal bis zur Letzten Schlacht. Das wurde geweissagt und es ist die Wahrheit. Mit Euch zusammen:... ›Er wird das Blut derer vergießen, die sich Aiel nennen, als sei es Wasser, das im Sand versickert, und er wird sie zerbrechen wie trockenes Reisig, und doch wird er den Rest des Restes retten, und sie werden überleben.‹ Eine harte Zukunft, aber dies war ja auch nie ein sanftes Land.« Sie erwiderte seinen Blick, ohne die Augen zu senken. Ein hartes Land und eine harte Frau.
Er wälzte sich wieder herum und beobachtete weiter das Tal. Die anderen gingen, bis auf Mat.
Am späten Nachmittag machte er schließlich eine kleine Gestalt aus, die erschöpft aus dem Tal hochkletterte. Aviendha. Mat hatte recht gehabt; sie war wirklich nackt wie ein Neugeborenes. Und obwohl sie eine Aiel war, zeigte die Sonne doch ihre Wirkung bei ihr: Nur ihre Hände und das Gesicht waren braungebrannt, während der Rest ihres Körpers entschieden rot aussah. Er war froh, sie zu sehen. Sie mochte ihn wohl nicht, aber nur, weil sie glaubte, er habe Elayne schlecht behandelt. Der einfachste aller Gründe. Nicht der Prophezeiung ihres Untergangs wegen, nicht wegen der Drachen an seinen Armen oder weil er der Wiedergeborene Drache war. Nein, aus einem ganz menschlichen Grund. Er freute sich schon beinahe auf ihren kühlen, herausfordernden Blick.
Als sie ihn sah, erstarrte sie und es lag nichts Kühles in ihren blaugrünen Augen. Bei diesem Blick erschien ihm die Sonne auf einmal kalt. Er hätte eigentlich auf der Stelle zu Asche verbrennen sollen.
»Äh... Rand?« sagte Mat leise. »Ich glaube nicht, daß ich ihr den Rücken zukehren würde, wenn ich du wäre.« Ein müdes Aufseufzen entrang sich ihm. Natürlich, wenn sie innerhalb dieser Glassäulen gewesen war, dann wußte sie Bescheid. Bair, Melaine und die anderen, sie hatten sich über die Jahre hinweg daran gewöhnt. Für Aviendha jedoch war das wie eine frische Wunde, auf der sich noch kein Grind gebildet hatte. Kein Wunder, wenn sie mich jetzt haßt.
Die Weisen Frauen eilten hinaus zu Aviendha und brachten sie schnell in ein anderes Zelt. Als Rand sie das nächstemal sah, trug sie einen bauschigen braunen Rock und eine lose hängende weiße Bluse und hatte sich einen Schal über die Oberarme gelegt. Sie schien nicht sehr glücklich in dieser Kleidung. Sie sah, daß er sie beobachtete, und die Wut auf ihrer Miene, diese blanke, animalische Wut, reichte, daß er sich abwandte.
Als Moiraine schließlich auftauchte, reichten die Schatten bereits bis an die gegenüberliegenden Berge heran. Sie stürzte und taumelte wieder hoch beim Klettern und sie hatte den gleichen Sonnenbrand wie Aviendha. Er war überrascht, daß auch sie nichts anhatte. Die Frauen mußten wohl alle verrückt sein.
Lan sprang von dem Felsblock herunter und rannte zu ihr hin. Er nahm sie auf die Arme und lief den Hang noch schneller hoch, als er hinuntergesprungen war, wobei er abwechselnd fluchte und nach den Weisen Frauen rief. Moiraines Kopf rollte widerstandslos an seiner Schulter hin und her. Die Weisen Frauen kamen ihnen entgegen und nahmen sie ihm ab. Melaine vertrat Lan den Weg, als er ihnen ins Zelt hinein folgen wollte. So marschierte er dann eben nervös vor dem Zelt auf und ab und schlug sich gelegentlich mit der Faust auf die andere Handfläche.
Rand ließ sich auf den Rücken sinken und blickte hoch zu dem niedrigen Zeltdach. Drei Tage eingespart. Er hätte eigentlich glücklich darüber sein sollen, daß Moiraine und Aviendha zurück und in Sicherheit waren, aber seine eigentliche Erleichterung galt den eingesparten Tagen. Die Zeit bedeutete alles. Er mußte in der Lage sein, selbst zu bestimmen, wann und gegen wen er kämpfte. Vielleicht war das jetzt doch noch möglich.
»Was hast du jetzt vor?« fragte Mat.
»Etwas, das dir gefallen sollte. Ich werde wieder einmal die Vorschriften umgehen.« »Ich habe doch nur gemeint, ob du dir jetzt etwas zum Essen holst. Ich für meinen Teil habe Hunger.« Unwillkürlich mußte Rand lachen. Etwas zu essen? Es war ihm gleich, und wenn er überhaupt nie mehr etwas aß. Mat sah ihn an, als sei er verrückt geworden, und das ließ ihn nur noch mehr lachen. Nicht verrückt. Zum erstenmal würde jemand erfahren, was es wirklich bedeutete, daß er der Wiedergeborene Drache war. Er würde sämtliche Vorschriften auf eine Art brechen, mit der mit Sicherheit niemand rechnete.