Der glatte Kieselstein in Mats Mund brachte darin keine Feuchtigkeit mehr hervor. Seit mehreren Minuten war sein Mund vollständig ausgetrocknet. Er spuckte den Kiesel aus, hockte sich neben Rand und betrachtete die Nebelwand, die vielleicht dreißig Schritt vor ihnen emporquoll. Er hoffte, daß es drinnen kühler sein möge als hier draußen. Und ein wenig Wasser wäre auch nicht schlecht. Seine Lippen waren aufgesprungen. Er zog sich das Tuch vom Kopf und wischte sich das Gesicht damit ab, aber selbst der Schweiß fehlte, um es zu befeuchten. In seinem Körper konnte sich ja wohl auch nicht mehr viel Schweiß befinden. Ein Fleck zum Hinsetzen wäre schön. Seine Füße vermittelten ihm ein Gefühl, als habe er sie gegen heiße Würstchen eingetauscht, die nun in seinen Stiefeln steckten. Doch was das betraf, war sein ganzer Körper mittlerweile gut durchgebraten. Der Nebel erstreckte sich nach rechts und nach links mehr als eine Meile weit, und er ragte wie eine Klippe hoch über ihnen auf. Eine dichte Nebelklippe mitten in einem hitzeglühenden, unfruchtbaren Tal. Dort drinnen mußte es einfach Wasser geben.
Warum verdunstet der Nebel nicht? Das gefiel ihm gar nicht. Mit der Macht herumzuspielen, das hatte ihn hierhergebracht, und jetzt schien es, als würde er sie nicht mehr los. Licht, ich will nichts mehr von der Macht und den Aes Sedai wissen! Seng mich, ich habe die Nase voll! Er tat alles, um nicht daran denken zu müssen, daß er in diesen Nebel hineinmußte. Nur noch eine Minute. »Das war ganz eindeutig Egwenes Aielfreundin, die ich habe vorbeilaufen sehen«, krächzte er. Laufen! Und das in dieser Hitze! Wenn er nur daran dachte, schmerzten ihn die Füße gleich noch mehr. »Aviendha oder wie sie heißen mag.« »Wenn du meinst«, sagte Rand und blickte in den Nebel hinein. Es klang, als sei sein Mund mit Staub gefüllt. Sein Gesicht war sonnenverbrannt und auch im Kauern schwankte er ein wenig. »Aber was macht sie denn hier unten? Und noch dazu nackt?« Mat gab es auf. Rand hatte sie nicht gesehen. Er hatte kaum etwas anderes gesehen als den Nebel, seit sie losgegangen waren. Und dazu glaubte er Mat nicht, daß der sie gesehen habe. Wie eine Verrückte herunterrennen und einen weiten Bogen um sie beide machen. Wie es ihm schien, war auch sie auf diesen eigenartigen Nebel zugelaufen. Rand hatte es anscheinend auch nicht eiliger als er, dort hineinzugehen. Er fragte sich, ob er genauso schlecht aussehe wie Rand. Als er seine Wange mit einem Finger berührte, stöhnte er leicht auf. Das durfte Rands Zustand in etwa entsprechen.
»Sollen wir vielleicht die ganze Nacht über hier draußen bleiben? Dieses Tal ist ziemlich tief eingeschnitten. In ein paar Stunden wird es hier dunkel sein. Vielleicht ist es dann kühler, aber ich möchte nicht gern dem begegnen, was hier möglicherweise nachts herumläuft. Löwen oder ähnliches. Ich habe gehört, daß es in der Wüste Löwen gibt.« »Bist du sicher, daß du wirklich mitkommen willst, Mat?
Du hast gehört, was die Weisen Frauen sagten. Du könntest drinnen sterben oder wahnsinnig werden. Noch kannst du bis zur Nacht die Zelte wieder erreichen. Die Wasserflaschen und ein Beutel mit Wasser sind noch an Pips' Sattel.« Er verwünschte Rand, weil der ihn daran erinnern mußte. Am besten war es, gar nicht an Wasser zu denken. »Seng mich, nein, ich will nicht zurück. Ich muß weiter. Wie steht es denn mit dir? Reicht es dir nicht, der verfluchte Wiedergeborene Drache zu sein? Mußt du auch noch so ein verdammter Aiel-Clanhäuptling werden? Warum bist du eigentlich sonst hier?« »Ich mußte hierherkommen, Mat. Ich mußte.« Resignation schwang in seiner Stimme mit, und noch etwas anderes dazu: eine Andeutung von Ungeduld. Der Mann war tatsächlich verrückt. Er wollte das tun!
»Rand, vielleicht geben sie einfach diese Antwort jedem, der danach fragt. Dieses Schlangengezücht meine ich. Geh nach Rhuidean. Vielleicht müßten wir das gar nicht tun.« Er glaubte es selbst nicht, aber wenn man diesem Nebel gegenüberstand...
Rand drehte den Kopf herum und sah ihn an. Er sagte nichts. Schließlich aber öffnete er doch den Mund und brachte heraus: »Sie haben mir gegenüber niemals Rhuidean erwähnt, Mat.« »Ach, seng mich«, knurrte er. Auf die eine oder andere Art mußte er einen Weg zurück durch diese verdrehte Tür in Tear finden, diesen Ter'Angreal. Abwesend kramte er in seiner Manteltasche herum und zog die Goldmark aus Tar Valon hervor. Er ließ sie über seinen Handrücken rollen und steckte sie dann wieder weg. Diese Schlangenwesen mußten ihm noch ein paar Antworten geben, ob sie wollten oder nicht. Irgendwie.
Ohne ein weiteres Wort erhob sich Rand und ging mit unsicheren Schritten auf die Nebelwand zu, die Augen stur geradeaus gerichtet. Mat eilte ihm hinterher. Seng mich. Seng mich, aber ich will nicht!
Rand schritt direkt in den dichten Nebel hinein, aber Mat zögerte erst einen Augenblick, bis er ihm folgte. Es konnte nur die Macht sein, die diesen Nebel hier festhielt. Die Ränder wallten wohl mächtig auf, doch er rührte sich weder vorwärts noch rückwärts. Die verfluchte Macht und kein Ausweg. Der erste Schritt hinein brachte herrliche Erleichterung: es war kühl und feucht. Er öffnete den Mund, um seine Zunge vom Nebel befeuchten zu lassen. Drei weitere Schritte, und er begann, sich Sorgen zu machen. Vor seiner Nasenspitze lag nur eintöniges Grau. Er konnte noch nicht einmal einen Schatten von Rand erkennen.
»Rand?« Es war, als stamme das Wort gar nicht aus seinem eigenen Mund; der Nebel schien es beinahe schon zu verschlucken, bevor es das eigene Ohr erreichte. Er war nicht mehr sicher, in welcher Richtung er weitergehen sollte, und sonst hatte er doch immer seinen Weg gefunden. Alles mögliche konnte sich da vor ihm befinden. Oder unter seinen Füßen. Er konnte nicht einmal die sehen; der Nebel verbarg alles unterhalb seiner Gürtellinie. Trotzdem schritt er nun etwas schneller voran. Und mit einemmal war er draußen und stand neben Rand in seltsam schattenloser Beleuchtung.
Der Nebel wölbte sich über ihnen wie eine riesige Kuppel und verbarg den Himmel. Die sich ständig verändernde Innenfläche des Nebels strahlte in grellem Hellblau. Rhuidean war keineswegs so groß wie Tear oder Caemlyn, aber die leeren Straßen gehörten zu den breitesten, die er je gesehen hatte. In ihrer Mitte verlief jeweils ein breiter Streifen blanken Erdbodens, als wären dort einst Bäume gewachsen. Auch große Brunnen mit Statuen standen hier und dort. An den Straßen entlang zogen sich riesige Gebäude, eigenartige Paläste aus Marmor und Kristall und geschliffenem Glas, die Hunderte von Fuß emporragten, entweder in Stufenform gebaut oder in einem Stück mit endlos scheinenden, senkrechten Wänden. Kein einziges kleines Gebäude war zu sehen, nichts, was auf eine einfache Taverne oder Schenke oder einen Stall schließen ließ. Nur enorme Paläste mit schimmernden, fünfzig Fuß dicken Säulen in Rot oder Weiß oder Blau, die Hunderte Schritt hoch, oder mit runden oder spiralförmig gebauten Türmen darauf, von denen einige in die glühenden Wolken über ihnen hineinstachen.
Trotz all ihrer Pracht war der Bau dieser Stadt niemals beendet worden. Viele der riesigen Gebäude endeten abrupt wie verlassene Rohbauten. In einigen der hohen und breiten Fenster glänzten bunte Glasbilder: ernste und majestätische Männer und Frauen, dreißig Fuß hoch und mehr, oder Sonnenaufgänge und dann wieder sternenübersäte Nachthimmel. Die meisten Fensteröffnungen allerdings waren leer. Unvollendet und schon lange verlassen. In keinem der Brunnen plätscherte Wasser. Schweigen lag über der Stadt, genauso wie jener erdrückende Nebeldom. Die Luft war kühler als außerhalb, jedoch genauso trocken. Der Staub auf den hellen, glatten Pflastersteinen knirschte unter seinen Stiefelsohlen.
Trotzdem trabte Mat hinüber zum nächsten Brunnen. Es konnte ja vielleicht doch sein... Er beugte sich über die hüfthohe, weiße Umrandung. Drei unbekleidete Frauen, alle doppelt so groß wie er, hielten mit ihren Steinköpfen einen eigenartigen Fisch mit breitem Maul hoch und spähten dabei hinunter in ein weites, staubiges Bassin, das genauso trocken war wie sein Mund.
»Natürlich«, sagte Rand hinter ihm. »Ich hätte gleich daran denken sollen.« Mat sah sich nach ihm um. »Woran hättest du denken sollen?« Rand blickte den Brunnen an und schüttelte sich in lautlosem Lachen. »Beherrsche dich bitte, Rand. Du bist doch nicht innerhalb einer Minute übergeschnappt. Also, woran hättest du nun denken sollen?« Ein hohles Gurgeln ließ Mats Blick zum Brunnen zurückhuschen. Mit einemmal strömte Wasser aus dem Fischmaul. Der Strahl war so dick wie sein Oberschenkel. Er kletterte in das Bassin und stellte sich mit zurückgelegtem Kopf und offenem Mund unter den Schwall. Kaltes, herrliches Wasser, kalt genug, um ihn zum Zittern zu bringen, und süßer als Wein. Es durchtränkte sein Haar, seinen Mantel, seine Hose. Er trank, bis er nicht mehr konnte, taumelte schließlich unter dem Strahl hervor und lehnte sich an ein steinernes Frauenbein.
Rand stand immer noch da und sah den Brunnen an. Sein Gesicht war rot, die Lippen aufgesprungen, und er lachte leise. »Kein Wasser, Mat. Sie sagten, wir könnten kein Wasser mitnehmen, aber sie sagten nichts von dem, was hier zu finden war.« »Rand. Willst du nichts trinken?« Rand fuhr zusammen, und dann stieg er in das mittlerweile knöcheltief gefüllte Bassin. Er platschte hinüber, wo Mat gestanden hatte, und trank genau wie der zuvor mit geschlossenen Augen und hochgerecktem Gesicht. So ließ er das Wasser über sich strömen.
Mat beobachtete ihn besorgt. Übergeschnappt war er nicht, noch nicht. Aber wie lang hätte Rand noch durstig mit ausgetrockneter Kehle, aber lachend dagestanden, wenn er ihn nicht angesprochen hätte? Mat ließ ihn stehen und kletterte hinaus. Etwas Wasser aus seinen durchtränkten Kleidern war ihm in die Stiefel gelaufen. Er ignorierte die Nässe und die Geräusche bei jedem Schritt; er war sich nicht sicher, ob er jemals wieder in seine Stiefel käme, wenn er sie einmal ausgezogen hatte. Seine Füße waren zu stark angeschwollen. Außerdem war es ein angenehmes Gefühl.
Er blickte sich in der Stadt um und fragte sich, was er eigentlich hier tat. Diese Leute, dieses Schlangenvolk, hatte behauptet, er würde sonst sterben, aber reichte es denn bereits, sich in Rhuidean aufzuhalten? Muß ich irgend etwas tun? Und was?
Die halbfertigen Paläste warfen in dem blaßblauen Lichtschein keinen Schatten auf die breiten Straßen. Zwischen seinen Schulterblättern juckte es. All diese leeren Fensteröffnungen, die ihn anstarrten, all diese zahnlückigen, unvollendeten Dächer. Dort drinnen konnte sich alles verbergen. An einem Ort wie diesem konnte es alles Mögliche geben... Alles verflucht Mögliche! Er wünschte sich wenigstens seine Stiefelmesser zurück. Aber diese Frauen, diese ›weisen‹ Frauen, hatten ihn angesehen, als wüßten sie, daß er sie heimlich behalten wollte. Und sie hatten die Macht benützt, eine, oder vielleicht auch alle vier. Es wäre nicht gut, Frauen zu hintergehen, die die Macht gebrauchen konnten. Seng mich, wenn ich die Aes Sedai los wäre, würde ich vom Leben nichts anderes mehr verlangen. Na ja, jedenfalls für eine Weile. Licht, ob sich wohl hier drinnen etwas versteckt?
»Zum Herzen muß es dort hinüber gehen, Mat.« Rand kletterte tropfnaß aus dem Brunnenbassin.
»Zum Herzen?« »Die Weisen Frauen sagten, ich müsse zum Herzen gehen. Sie haben bestimmt das Stadtzentrum gemeint.« Rand blickte zu dem Brunnen zurück, und plötzlich schrumpfte der Wasserstrahl zu einem bloßen Rinnsal und hörte dann ganz auf. »Es liegt ein ganzer Ozean von Trinkwasser dort unten begraben. Tief unten. So tief, daß ich es beinahe nicht gefunden hätte. Wenn ich es an die Oberfläche bringen könnte... Aber es muß ja nicht verschwendet werden. Wir können wieder trinken, wenn wir die Stadt verlassen.« Mat trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Narr! Wo, glaubst du, ist es hergekommen? Natürlich hat er die verdammte Macht benützt. Hast du vielleicht geglaubt, es hat einfach wieder zu fließen angefangen, und das nach so langer Zeit? »Stadtzentrum. Klar doch. Geh du voran.« Sie hielten sich in der Mitte der breiten Straße, immer am Rand des kahlen Streifens blanken Erdbodens. Sie kamen an weiteren ausgetrockneten Brunnen vorbei. Manche wiesen lediglich den Sockel auf, auf dem eigentlich eine Statue hätte stehen sollen. Nichts an dieser Stadt war zerstört, nur alles... unvollständig. Die Paläste ragten zu beiden Seiten wie Felswände auf. Es mußten sich eigentlich Sachen drinnen befinden. Vielleicht Möbel, falls sie nicht mittlerweile verrottet waren. Vielleicht auch Gold? Messer. Messer würden bei dieser trockenen Luft nicht rosten, gleich, wie lang sie dort lagen.
Es könnte ja sogar ein verflachter Myrddraal da drinnen stecken, ohne daß ich es weiß. Licht, warum mußte ich nur an sowas denken? Wenn er nur daran gedacht hätte, einen Bauernspieß mitzubringen, als er den Stein verließ. Vielleicht hätte er den Weisen Frauen vormachen können, es sei ein Wanderstock. Na ja, jetzt war es zu spät dafür. Ein Baum würde auch genügen, falls er einen Weg fände, einen kräftigen Ast abzubrechen und zurechtzuschnitzen. Schon wieder ›falls‹. Er fragte sich, ob diejenigen, die diese Stadt erbaut hatten, auch irgendwo Bäume angepflanzt haben mochten. Er hatte lange genug auf dem Hof seines Vaters gearbeitet, um guten Boden von schlechtem unterscheiden zu können, wenn er ihn sah. Diese langen Streifen offenen Erdbodens hier waren schlecht. Außer Unkraut würde hier nicht viel wachsen, und selbst dafür war der Boden kaum gut genug. Jetzt wuchs jedenfalls überhaupt nichts hier.
Nachdem sie etwa eine Meile weit gelaufen waren, mündete die Straße plötzlich in einen Platz. Er maß wohl beinahe eine ganze Meile im Durchmesser und war von diesem Marmor- und Kristallpalästen eingerahmt. Überraschenderweise stand mitten auf diesem riesigen Platz ein Baum, gut hundert Fuß hoch, und er streckte seine dicken, dicht mit Laub bewachsenen Äste über staubige, weiße Pflastersteine. In seiner Nähe standen, in beinahe konzentrischen Kreisen angeordnet, durchsichtige, glitzernde Glassäulen. Sie waren fast so hoch wie der Baum und, gemessen an ihrer Länge, dünn wie Nadeln. Wenn ihm Zeit geblieben wäre, hätte er sich vielleicht gefragt, wie ein Baum hier ohne Sonnenlicht gedeihen konnte, aber er war zu sehr damit beschäftigt, sich in dem unbeschreiblichen Durcheinander auf dem Platz umzusehen.
Von jeder Straße aus, die Mat entdecken konnte, führte eine freie Gasse hin zu den Säulenringen, aber dazwischen standen wild verstreut Statuen, manche menschengroß, manche auch nur halb so groß, manche aus Stein, andere aus Kristall oder Metall. Alle machten irgendwie den Eindruck... Er wußte nicht, wie er es ausdrücken sollte. Da stand ein flacher Silberring, zehn Fuß im Durchmesser und dünn wie eine Messerklinge. Ein Kristallsockel, einen Schritt hoch, hätte dazu dienen können, eine der kleineren Statuen zu tragen. Eine glänzend schwarze Metallanze, schmal und genauso lang wie ein Wurfspeer, stand auf einem Ende, als habe sie dort Wurzeln geschlagen. Hunderte von Dingen standen dort herum, vielleicht Tausende, in jeder vorstellbaren Form, aus jedem möglichen Material. Der ganze riesige Platz war übersät davon, daß zwischen den einzelnen Gegenständen kaum einmal ein Dutzend Fuß freien Raums lagen.
Es war dieser unnatürlich aufrecht stehende schwarze Metallspeer, der ihm mit einemmal klar werden ließ, was all diese Gegenstände sein mußten: Ter'Angreal. Irgendwelche Gegenstände jedenfalls, die mit der Macht zu tun hatten. Wenigstens ein paar davon. Diese verdrehte Steintür in der Großen Sammlung im Stein war auch nicht umgefallen.
Er war drauf und dran, umzukehren und zurückzugehen, aber Rand ging weiter und beachtete kaum, was an seinem Weg lag. Einmal blieb Rand stehen und sah zwei Figuren an, die kaum einen Platz zwischen all den anderen Dingen verdient zu haben schienen. Die beiden Statuetten stellten einen Mann und eine Frau dar, von denen jedes in einer erhobenen Hand eine Glaskugel trug. Er bückte sich halbherzig, als wolle er sie berühren, richtete sich aber dann so schnell auf, daß Mat beinahe glaubte, er habe sich das Bücken nur eingebildet.
Nach einer Minute kam Mat hinterher. Er beeilte sich, um Rand wieder einzuholen. Je näher sie diesen schimmernden Säulenringen kamen, desto mehr verkrampfte er. All diese Dinge in ihrer Umgebung hatten mit der Macht zu tun, genau wie diese Säulen. Das wußte er einfach. Diese unmöglich hohen und dünnen Schäfte glitzerten in der bläulichen Beleuchtung und blendeten das Auge. Sie haben bloß gesagt, daß ich hierherkommen müsse. Also, jetzt bin ich hier. Sie haben nichts von der verfluchten Macht erwähnt.
Rand blieb so überraschend stehen, daß Mat sich drei Schritt näher als er bei den Säulen befand, bevor ihm das klar wurde. Dann sah Mat, daß Rand den Baum anstarrte. Den Baum. Mat ging wie magisch angezogen auf ihn zu. Kein Baum hatte solch dreifingrige Blätter. Keiner außer einem; einem legendären Baum.
»Avendesora«, sagte Rand leise. »Der Baum des Lebens. Hier steht er also.« Unter den weitgespreizten Zweigen hüpfte Mat hoch und versuchte, an eines dieser Blätter zu kommen, doch seine ausgestreckten Finger erreichten auch die am niedrigsten hängenden Blätter bei weitem nicht. Also ging er wenigstens weiter unter dieses grüne Dach und lehnte sich an den mächtigen Stamm. Einen Augenblick später ließ er sich hinabgleiten und setzte sich hin, gegen den Baum gelehnt. Die alten Geschichten hatten recht gehabt. Er empfand... Zufriedenheit. Frieden. Wohlbefinden. Selbst seine Füße schmerzten kaum noch.
Rand setzte sich mit untergeschlagenen Beinen in seine Nähe. »Ich kann die Legenden schon verstehen. Ghoetam, wie er vierzig Jahre lang unter Avendesora saß, um Weisheit zu erlangen. In diesem Moment kann ich das verstehen.« Mat ließ seinen Kopf an den Stamm sinken. »Ich weiß nicht, ob ich mich darauf verlassen würde, daß mir die Vögel etwas zu essen bringen. Irgendwann muß man schon mal aufstehen.« Aber eine Stunde oder so wäre nicht schlecht. Oder ein ganzer Tag. »Es ergibt sowieso keinen Sinn. Welche Art von Lebensmitteln könnten Vögel schon hierherbringen? Und was für Vögel?« »Vielleicht hat Rhuidean nicht immer so ausgesehen, Mat. Vielleicht... Ich weiß es nicht. Vielleicht befand sich damals Avendesora woanders.« »Woanders«, murmelte Mat. »Ich hätte nichts dagegen, woanders zu sein.« Aber... es ist ein... schönes Gefühl.
»Woanders?« Rand drehte sich um und betrachtete die glänzenden, dünnen und hohen Säulen, die ganz in ihrer Nähe schimmerten. »Die Pflicht ist schwerer als ein Berg«, seufzte er.
Das war Teil eines Sprichworts, das er in den Grenzlanden aufgeschnappt hatte. »Der Tod ist leichter als eine Feder, die Pflicht schwerer als ein Berg.« Für Mat klang das lediglich dumm, aber Rand stand tatsächlich auf.
Zögernd tat Mat es ihm nach. »Was glaubst du, werden wir dort drinnen finden?« »Ich glaube, von hier an muß ich allein weitergehen«, sagte Rand bedächtig.
»Was meinst du damit?« wollte Mat wissen. »Ich bin so weit mitgekommen, oder? Ich werde doch jetzt nicht kneifen.« Und wie gern würde ich das!
»Das ist es nicht, Mat. Wenn du dort hineingehst, kommst du entweder als Clanhäuptling heraus, oder du bist tot. Oder auch wahnsinnig. Ich glaube nicht, daß es einen anderen Ausweg gibt. Höchstens, falls die Weisen Frauen auch hineingehen.« Mat zögerte. Sterben und wieder leben. Das hatten sie gesagt. Er hatte nicht die Absicht, Clanhäuptling bei den Aiel zu werden. Wenn er es versuchte, würden ihm die Aiel wahrscheinlich ein paar Speere in den Bauch stecken. »Überlassen wir es dem Glück«, sagte er und zog wieder die Goldmark aus Tar Valon aus seiner Manteltasche. »Wird wohl langsam mein Glücksbringer. Flamme, dann gehe ich mit dir hinein. Kopf, und ich bleibe draußen.« Er warf die Goldmünze schnell hoch, bevor Rand etwas einwenden konnte.
Irgendwie schaffte er es nicht, die Münze aufzufangen. Sie fiel von seinen Fingerspitzen auf das Pflaster hinunter, überschlug sich zweimal... Und dann landete sie genau auf der Kante.
Er blickte Rand anklagend an. »Machst du so was absichtlich? Kannst du dich nicht beherrschen?« »Nein.« Die Münze kippte um und zeigte das alterslose Gesicht einer Frau, das von Sternen umgeben war. »Es sieht so aus, als müßtest du hier draußen bleiben, Mat.« »Hast du gerade...?« Er wünschte sich, daß Rand in seiner Gegenwart die Macht nicht benützte. »Ach, seng mich, wenn du willst, daß ich draußen bleibe, dann bleibe ich eben hier.« Er schnappte sich die Münze und steckte sie in die Tasche zurück. »Hör mal, du gehst jetzt hinein, tust, was immer du tun mußt, und kommst wieder heraus. Ich will hier wieder weg, und ich werde nicht ewig herumstehen und Däumchen drehen, während ich auf dich warte. Und du brauchst gar nicht zu glauben, daß ich hinterherkomme; also gib gefälligst auf dich acht.« »Das erwarte ich auch gar nicht von dir, Mat«, sagte Rand.
Mat sah ihn mißtrauisch an. Warum grinste er so? »Solange es klar ist, daß ich nicht hinterherkomme. Ach, geh schon los und laß dich zu einem verdammten Aielhäuptling machen. Du siehst schließlich so aus.« »Geh dort nicht hinein, Mat. Was auch geschieht, geh nicht hinein.« Er wartete, bis Mat genickt hatte, und dann wandte er sich ab.
Mat stand da und beobachtete, wie er zwischen die glitzernden Säulen schritt. In diesem sich ständig ändernden Gleißen verschwand er beinahe augenblicklich. Eine optische Täuschung, sagte sich Mat. Das war alles. Eine verfluchte optische Täuschung.
Er begann, um das ganze Areal herumzugehen, wobei er allerdings auf Abstand hielt, um noch einen Blick auf Rand zu erhaschen. »Paß gefälligst auf, was du, verdammt noch mal, tust!« schrie er. »Wenn du mich in der Wüste mit Moiraine und den verfluchten Aiel alleinläßt, werde ich dich erwürgen, ob du nun der Wiedergeborene Drache bist oder nicht!« Etwas später fügte er hinzu: »Ich komme dir nicht nach, wenn du in Schwierigkeiten gerätst! Verstehst du?« Keine Antwort. Wenn er in einer Stunde nicht heraus ist... »Er spinnt, daß er da hineingeht«, knurrte er. »Also, ich werde nicht derjenige sein, der ihm die Kastanien aus dem Feuer holt. Er kann schließlich die Macht benützen. Wenn er schon den Kopf in ein Hornissennest steckt, kann er auch, verdammt noch mal, mit der Macht wieder herauskommen.« Ich werde ihm eine Stunde geben. Und dann würde er gehen, ob Rand zurück nun war oder nicht. Sich einfach umdrehen und gehen. Einfach so. So würde er es machen. Sicher.
So, wie diese dünnen Glassäulen das bläuliche Licht brachen und reflektierten, reichte es schon, angestrengt hinzusehen, und er bekam Kopfschmerzen. Er wandte sich ab und ging denselben Weg zurück. Nervös betrachtete er die Ter'Angreal — oder was sie auch sonst sein mochten —auf dem Platz. Was machte er eigentlich hier? Warum sollte er hierherkommen?
Unvermittelt blieb er stehen und betrachtete eines dieser fremdartigen Objekte genauer. Es war ein hoher Türrahmen aus glänzendem Sandstein, der auf irgendeine Art verdreht wirkte, so, als gleite sein Blick immer daran ab. Langsam ging er hin, zwischen glitzernden Kristallsäulen hindurch, die genauso hoch waren wie er groß, vorbei an niedrigen goldenen Ständern, auf denen anscheinend Glasscheiben lagen, bemerkte das alles kaum und blickte starr den Türrahmen an.
Es war der gleiche. Der gleiche mattglänzende Sandsteinrahmen, die gleiche Größe, die gleichen verschwommenen Kanten, die den Augen weh taten. An den Senkrechten befanden sich jeweils drei Reihen von Dreiecken mit den Spitzen nach unten. Waren die auch auf jenem Ter'Angreal in Tear gewesen? Er konnte sich nicht daran erinnern. Beim letztenmal hatte er nicht versucht, sich irgendwelche Einzelheiten einzuprägen. Es war aber der gleiche, bestimmt. Vielleicht konnte er den anderen kein zweites Mal benützen, aber den hier... ? Eine neue Chance, zu den Schlangenmenschen zu kommen und sie dazu zu bringen, ihm noch ein paar weitere Fragen zu beantworten.
Er blinzelte mühsam in das Glitzern hinein, und dann blickte er zu den Säulen zurück. Er hatte Rand eine Stunde gegeben. In einer Stunde konnte er mit Leichtigkeit da drinnen gewesen und wieder zurück sein. Vielleicht würde es bei ihm auch gar nicht funktionieren, da er ja den Zwilling dazu benützt hatte. Das sind wirklich die gleichen. Andererseits, es könnte ja doch klappen. Es bedeutete eben nur, daß er es wieder mit der Macht zu tun bekäme.
»Licht«, grollte er. »Ter'Angreal. Portalsteine. Rhuidean. Was kann da einmal mehr schon noch schaden?« Er trat durch die Türöffnung. Durch eine Mauer blendend weißen Lichts. Durch ein so gewaltiges Dröhnen, daß jeder Laut davon erstickt wurde.
Blinzelnd sah er sich um und verbiß sich gerade noch den rüdesten Fluch, den er kannte. Wo er sich hier auch befinden mochte, jedenfalls war es nicht der Ort, an dem er damals gewesen war.
Die verdrehte Tür stand in der Mitte eines großen Saals, der die Form eines Sterns zu haben schien, soweit er das trotz der vielen dicken Säulen feststellen konnte, von denen jede acht tiefe Rillen aufwies. Die scharfen Kanten dieser Rillen waren gelb und glühten leicht. Ansonsten waren die Säulen glänzend schwarz und erhoben sich aus einem matt weißen Fußboden bis hinein in die verschwommene Dämmerung hoch über ihm, wo selbst die gelben Streifen der Kanten verblaßten. Die Säulen und der Fußboden sahen aus, als seien sie aus Glas gefertigt, aber als er sich bückte und mit der Hand über den Fußboden strich, fühlte er sich wie Stein an. Staubiger Stein. Er wischte sich die Hand am Mantel ab. Die Luft roch muffig, und seine Fußspuren waren das einzige, was sich im Staub abzeichnete. Hier war sehr lange Zeit über niemand gewesen.
Enttäuscht wandte er sich wieder dem Ter'Angreal zu.
»Eine sehr lange Zeit.« Mat wirbelte herum und griff unwillkürlich an seinen Ärmel, um ein Messer zu ziehen, das weit weg an einem Berghang lag. Der Mann, der nun zwischen den Säulen stand, sah nicht aus wie einer aus diesem Schlangenvolk. Mat bedauerte bei seinem Anblick, daß er selbst die letzten Messer den Weisen Frauen geopfert hatte.
Der Bursche war groß, noch größer als die Aiel, und sehnig, doch seine Schultern waren zu breit für die schmale Taille, und die Haut war so weiß wie das feinste Papier. Er hatte sich helle, mit Silbernieten verzierte Lederstreifen über die bloße Brust und die Arme geschnallt, und ein schwarzer Kilt hing ihm bis über die Knie. Seine Augen waren zu groß und beinahe farblos. Sie saßen tief eingebettet in einem schmalen Gesicht. Das kurzgeschnittene, blaßrötliche Haar stand wie eine Bürste hoch, und seine eng anliegenden Ohren liefen oben in einer angedeuteten Spitze aus. Er beugte sich ein wenig vor, atmete tief ein und öffnete den Mund, um noch mehr Luft einatmen zu können. Scharfe weiße Zähne blitzten Mat an.
Der ganze Eindruck, den Mat von ihm hatte, war der eines Fuchses, der ein Huhn in die Enge getrieben hat.
»Eine sehr lange Zeit«, sagte er und richtete sich auf. Seine Stimme klang rauh, beinahe wie ein Grollen. »Haltet Ihr euch an die Verträge und Absprachen? Tragt Ihr Eisen oder Musikinstrumente oder Geräte bei Euch, mit denen man Licht machen kann?« »Ich habe nichts von alledem bei mir«, sagte Mat bedächtig. Es war wohl nicht der gleiche Ort, aber der Bursche stellte die gleichen Fragen. Und er verhielt sich genauso wie der andere damals, als wittere er etwas in ihm. Kramt in meinen verdammten Erinnerungen herum, oder? Na ja, soll er mal. Vielleicht löst er manches, so daß ich mich dann auch wieder daran erinnern kann. Er fragte sich, ob er selbst wieder die Alte Sprache gebrauche. Es war unangenehm, nicht einmal sagen zu können, welche Sprache man selber benützte. »Wenn Ihr mich an einen Ort bringen könnt, an dem man mir einige Fragen beantwortet, dann geht voran. Wenn nicht, gehe ich eben wieder und entschuldige mich, Euch belästigt zu haben.« »Nein!« Diese großen farblosen Augen blinzelten erregt. »Ihr dürft nicht gehen. Kommt. Ich bringe Euch dorthin, wo Ihr findet, was Ihr sucht. Kommt.« Er bewegte sich rückwärts, um den Weg freizugeben, und fuchtelte mit beiden Händen. »Kommt.« Mat sah noch einmal den Ter'Angreal an und folgte ihm dann. Er wünschte, der Mann hätte ihn nicht so eigenartig angegrinst. Vielleicht sollte es nur beruhigend wirken, aber diese Zähne... Mat entschloß sich, niemals wieder alle seine Messer herzugeben, weder den Weisen Frauen noch der Amyrlin selbst.
Die große fünfeckige Tür wirkte eher wie ein Tunneleingang, denn der Korridor dahinter hatte genau die gleiche Größe und Form. Sanft glühende gelbe Streifen zogen sich an den Kanten von Fußboden und Decke entlang. Er schien überhaupt nicht aufhören zu wollen. Von Zeit zu Zeit kamen sie an weiteren großen, fünfeckigen Türen vorbei. Der Mann im Kilt drehte sich nicht um, bis sie ein ganzes Stück weit durch den Gang geschritten waren, dann aber blickte er nervös immer wieder über seine Schulter zurück, als wolle er sich vergewissern, daß Mat noch da sei. Die Luft roch nicht mehr muffig, aber es lag etwas Unangenehmes darin, etwas Vertrautes, das er aber nicht genau definieren konnte.
Im Vorübergehen blickte Mat durch die erste Tür und seufzte. Jenseits von sternförmigen schwarzen Säulen stand ein verdrehter Sandsteintürrahmen auf mattem, glasigem, weißem Fußboden, und im Staub zeichneten sich die Spuren eines Stiefelpaares ab, die vom Ter'Angreal her zur Tür führten, wo ein zweites Paar Abdrücke bloßer Füße sich vor sie schob. Er blickte sich nach hinten um. Statt etwa fünfzig Schritt hinter ihm an einer gleichartigen Tür zu enden, zog sich der Korridor endlos hin in einem Spiegelbild dessen, was vor ihm lag. Sein Führer lächelte ihn mit spitzen Zähnen an. Der Bursche wirkte hungrig.
Er wußte, daß er ähnliches hatte erwarten müssen, wenn er aus dem schloß, was er in Tear auf der anderen Seite der Tür gesehen hatte. Diese Türme, die einmal hier waren und dann wieder an einem Ort, wo sie sich eigentlich nicht befinden durften... Was Türmen recht war, konnte diesen Räumen ja nur billig sein. Ich hätte draußen bleiben und auf Rand warten sollen, jawohl. Ich hätte schon soviel anders machen sollen. Wenigstens würde es ihm nicht schwerfallen, den Ter'Angreal wiederzufinden, falls es bei allen Türen immer das gleiche war.
Er spähte durch die nächste Tür und sah schwarze Säulen, den steinernen Ter'Angreal und seine sowie seines Führers Fußspuren im Staub. Als sich der Mann mit dem schmalen Gesicht wieder nach ihm umdrehte, lächelte ihn Mat mit gebleckten Zähnen an. »Glaubt niemals, daß Ihr ein Baby in Eurer Schlinge gefangen habt. Wenn Ihr versucht, mich hereinzulegen, benütze ich Eure Haut als Satteldecke.« Der Bursche fuhr zusammen. Seine blassen Augen weiteten sich, doch dann zuckte er die Achseln und zog die Riemen auf seiner Brust zurecht. Sein spöttisches Grinsen schien die Geste noch unterstreichen zu wollen. Plötzlich fragte sich Mat, was das eigentlich für blasses Leder sein mochte. Doch sicherlich nicht... O Licht, ich glaube, das ist es. Er hielt sich gerade noch davon ab, schwerfällig zu schlucken, aber nur gerade eben. »Geht weiter, Ihr Sohn eines Ziegenbocks. Eure Haut ist keine Silbernieten wert. Bringt mich dorthin, wo ich meine Antworten erhalte.« Knurrend und steif schritt der Mann weiter. Mat war es gleich, ob er den Burschen beleidigt hatte. Aber er wünschte sich wenigstens ein Messer herbei. Ich soll gesengt sein, wenn ich einen fuchsgesichtigen Ziegenabkömmling aus meiner Haut Riemen machen lasse! Er konnte nicht feststellen, wie lang sie so weitergingen. Der Korridor änderte sich nie. Die glühenden gelben Streifen schienen ihnen den Weg in die Unendlichkeit zu weisen. Hinter jeder Tür sah er den gleichen Saal mit Ter'Angreal, Fußspuren und allem. Durch diese Gleichförmigkeit verlor er jedes Zeitgefühl. Nach einer Weile machte er sich Sorgen, wie lange er schon hier drinnen sei. Doch sicher nicht länger als die Stunde, die er sich vorgenommen hatte, oder? Seine Kleider waren nur noch feucht und auch in seinen Stiefeln stand kein Wasser mehr. Er schritt weiter, betrachtete den Rücken seines Führers, und schritt weiter.
Plötzlich befanden sie sich am Ende des Korridors vor einer weiteren Tür. Mat blinzelte erstaunt. Er hätte wetten können, daß sich der Korridor noch einen Augenblick zuvor bis in dämmrige Ferne erstreckt hatte. Aber er hatte natürlich mehr auf den Burschen mit den scharfen Zähnen achtgegeben, als auf ihren Weg. Er blickte zurück und fluchte. Dort erstreckte sich der Gang so weit, daß die glühenden gelben Streifen schließlich zu einem Punkt verschmolzen. Und über die ganze Länge war keine einzige Öffnung zu erkennen.
Als er sich wieder umdrehte, stand er ganz allein vor der großen fünfeckigen Tür. Seng mich, so was sollten sie bleiben lassen. Er atmete tief ein und schritt hindurch.
Er befand sich erneut in einem sternförmigen Saal mit weißem Fußboden und Säulen, der allerdings nicht so groß war wie jener andere — oder jene anderen. Es war ein Stern mit acht Ecken. In jeder Spitze stand ein glasigschwarzes Podest, als habe man jeweils ein Stück Materials aus einer der Säulen herausgeschnitten und hingestellt. Glühende gelbe Streifen zogen sich an allen Kanten und sogar an den Podesten hoch. Hier war der unangenehme Geruch stärker, und jetzt erkannte er ihn auch. Es war ein Gestank wie in der Höhle eines Raubtiers. Das nahm er aber nur am Rande wahr, denn als er sich umsah, war der Saal bis auf ihn leer.
Er drehte sich langsam im Kreis und runzelte die Stirn.
Sicher sollte dort oben jemand sitzen, der ihm seine Fragen beantworten konnte. Irgendwie war er hereingelegt worden. Wenn er schon hier war, wollte er auch Antworten erhalten.
Mit einemmal wirbelte er herum und suchte die glatten, grauen Wände ab. Die Tür war verschwunden, und es führte kein Weg mehr hinaus.
Doch bevor er sich ein zweites Mal umdrehen konnte, stand plötzlich auf jedem Podest jemand, Gestalten wie sein Führer, aber anders gekleidet. Vier davon waren Männer, die anderen Frauen. Ihre Bürstenhaare zogen sich über den mittleren Kopfbereich wie ein Kamm und fielen hinten lang auf ihren Rücken hinunter. Alle trugen lange, weiße Röcke, die ihre Füße verbargen. Die Frauen hatten weiße, lose Blusen an mit hohen Spitzen-Stehkrägen und Rüschen an den Handgelenken. Die Männer trugen sogar noch mehr Riemen als sein Führer, noch breiter und mit Goldnieten verziert. Von jedem Riemen hing auf der Brust des Trägers ein Paar Messer mit blanker Klinge herunter. Der Farbe nach hielt Mat sie für Bronzemesser, aber trotzdem hätte er alles Gold in seinem Besitz für nur eines davon hergegeben.
»Sprecht«, sagte eine der Frauen mit dieser grollenden Stimme. »Beim uralten Pakt werden hier Vereinbarungen getroffen. Was benötigt Ihr? Sprecht.« Mat zögerte. Das hatten die Schlangenmenschen nicht gesagt. Sie starrten ihn alle an wie Füchse, die ihr Abendessen mustern. »Wer ist die Tochter der Neun Monde und warum muß ich sie heiraten?« Er hoffte, sie würden das als eine einzige Frage betrachten.
Niemand antwortete ihm. Keiner sagte überhaupt ein Wort. Sie starrten ihn nur weiter mit diesen großen, farblosen Augen an.
»Ich erwarte eine Antwort von Euch«, sagte er. Schweigen. »Seng Eure Knochen zu Asche, antwortet mir! Wer ist die Tochter der Neun Monde und warum muß ich sie heiraten? Wie kann ich sterben und doch wieder leben? Was bedeutet es, daß ich die Hälfte des Lichts der Welt aufgeben muß? Das sind meine drei Fragen? Sagt doch irgendwas!« Totenstille. Er hörte seine eigenen Atemzüge und, wie das Blut in seinen Ohren pochte.
»Ich habe nicht die Absicht, zu heiraten. Und ich habe auch nicht die Absicht, zu sterben, ob man nun von mir erwartet, daß ich wieder zum Leben erwache oder nicht. Ich renne herum mit Löchern im Gedächtnis, Löchern in meinem ganzen Leben, und Ihr starrt mich nur wie einen Idioten an. Wenn es nach mir ginge, würden diese Löcher gefüllt, aber wenigstens könnten die Antworten auf meine Fragen helfen, ein paar Löcher in meiner Zukunft zu stopfen. Ihr müßt antworten...!« »Gemacht«, grollte einer der Männer, und Mat riß die Augen auf.
Gemacht? Was sollte das nun wieder heißen? Was meinte er damit? »Seng Eure Augen«, knurrte er. »Seng Eure Seelen! Ihr seid genauso schlimm wie Aes Sedai. Aber ich suche einen Weg, um die Aes Sedai und die Macht loszuwerden, und ich will von hier weg und zurück nach Rhuidean, wenn Ihr mir keine Antworten geben könnt. Dann öffnet eben eine Tür und laßt mich... « »Gemacht«, sagte ein anderer Mann und eine der Frauen sprach ihm nach: »Gemacht.« Mat musterte die Wände, aber keine Tür tauchte auf. So drehte er sich wieder um, bis er alle sehen konnte, die dort auf den Podesten standen und ihn anblickten, und funkelte sie an. »Gemacht? Was ist gemacht? Ich sehe keine Tür. Ihr verlogenen Ziegenabkömm... « »Narr«, sagte eine der Frauen in einer Art flüsternden Grollens, und andere wiederholten es: »Narr. Narr. Narr.« »Schlau, sich zu verabschieden, wann man keinen Preis bezahlen, keine Bedingungen erfüllen will.« »Aber ein Narr, der nicht zuerst einmal den Preis festlegt.« »Wir werden den Preis bestimmen.« Sie sprachen so schnell, daß er nicht wußte, wer gerade gesprochen hatte. »Was verlangt wurde, wird gegeben werden.« »Der Preis wird bezahlt.« »Seng Euch!« schrie er, »wovon redet Ihr eigent... « Absolute Dunkelheit umgab ihn. Irgend etwas legte sich um seinen Hals. Er bekam keine Luft. Luft. Er konnte nicht...