2 Störungen im Muster

Der heiße Nachtwind wehte aufs Festland zu, nach Norden über das ausgedehnte Delta hinweg, das man die Finger des Drachen nannte, ein unübersehbares Gewirr von breiten und schmalen Flußarmen, von denen einige fast mit Schilf zugewachsen waren. Riesige schilfbewachsene Flächen verbanden Gruppen kleiner, niedriger Inseln miteinander, auf denen Bäume mit spinnenartigen Luftwurzeln wuchsen, die man nur hier finden konnte. Schließlich verengte sich das Delta zu seinem eigentlichen Ursprung, dem Strom des Erinin. Die ganze Breite des Flusses war mit den Lichtern der kleinen Boote übersät, die hier im Laternenschein fischten. Plötzlich und unerwartet schwankten Boote und Laternen wild umher, und einige ältere Männer murmelten etwas von bösen Dingen, die in der Nacht einhergingen. Die jungen Männer lachten, aber auch sie holten ihre Netze hastiger ein als zuvor, damit sie heimfahren und die Dunkelheit hinter sich lassen konnten. In den Legenden hieß es, das Böse könne eine Schwelle nicht überschreiten, wenn es nicht eingeladen werde. Doch das waren Legenden. Hier draußen in der Dunkelheit...

Der Salzgeruch war verflogen, als der Wind schließlich die große Stadt Tear erreichte, die direkt am Strom lag. Schenken und Läden mit Ziegeldächern lagen dort neben den Türmen von Schlössern, die im Mondschein schimmerten. Doch keiner der Paläste war auch nur annähernd so hoch wie der mächtige Klotz, beinahe schon ein Berg, der sich vom Herzen der Stadt bis zum Flußufer erstreckte: der Stein von Tear, die legendäre Festung, die älteste Feste der Menschheit, in den letzten Tagen der Zerstörung der Welt errichtet. Während Nationen und Reiche aufblühten und fielen, ersetzt wurden und wieder zerfielen, stand der Stein unverrückbar. An diesem Felsen waren dreitausend Jahre lang Speere und Schwerter und Herzen und ganze Armeen zerbrochen. Und durch alle Zeiten hindurch war er niemals einem Feind in die Hände gefallen. Bis jetzt.

In dieser schwülen Nacht waren die Straßen der Stadt, die Tavernen und Schenken beinahe leer, und die Menschen hielten sich lieber in den eigenen vier Wänden auf. Wer den Stein beherrschte, war Herr von Tear, Herr der Stadt und der Nation. So war es immer gewesen, und die Einwohner Tears hatten das auch immer hingenommen. Bei Tage würden sie ihrem neuen Herrn genauso begeistert zujubeln wie vorher dem alten. Bei Nacht drückten sie sich aneinander und zitterten trotz der Hitze, wenn der Wind wie tausend schreiende Klageweiber über die Dächer heulte. Eigenartige, ganz neue Hoffnungen tanzten durch ihre Köpfe, Hoffnungen, die Hunderte von Generationen lang niemand in Tear zu empfinden gewagt hatte, Hoffnungen, die mit Ängsten durchsetzt waren, so alt wie die Zerstörung der Welt.

Der Wind peitschte die lange, weiße Flagge, die über dem Stein im Mondschein schimmerte, als wolle er sie zerreißen. Über ihre ganze Länge zog sich eine wellenförmige Gestalt wie eine Schlange mit vier Beinen, mit einer goldenen Löwenmähne, mit roten und goldenen Schuppen, und sie schien auf dem Wind zu reiten. Das Banner aus der Prophezeiung, erhofft und gefürchtet. Das Banner des Drachen. Des Wiedergeborenen Drachen. Des Herolds der Rettung der Welt und des Herolds einer kommenden neuen Zerstörung. Als sei er über soviel Widerstand erzürnt, warf sich der Wind gegen die harten Wände des Steins. Doch die Flagge des Drachen flatterte ungerührt durch die Nacht und wartete auf größere Stürme.

In einem Zimmer, daß sich auf etwas mehr als halber Höhe am Südabfall des Steins befand, saß Perrin auf der Truhe am Fuß seines Himmelbetts und beobachtete die dunkelhaarige junge Frau, die im Raum auf und ab tigerte. In seinen goldenen Augen lag eine Spur von Erschöpfung. Gewöhnlich frotzelte Faile mit ihm herum und spottete ein wenig über seine langsame Art, aber heute abend hatte sie noch keine zehn Worte gesprochen, seit sie eingetreten war. Er roch die Rosenblütenblätter, die man nach dem Waschen in ihre Kleider gestreut hatte, und den Duft ihres Körpers. Und in einer Spur von Schweißgeruch witterte er Nervosität. Faile zeigte sonst fast nie Nerven. Er fragte sich, warum sie ihn nun so kribbelig machte. Das hatte nichts mit der Hitze der Nacht zu tun. Ihr enger Hosenrock gab beim Gehen leise raschelnde Geräusche von sich.

Er kratzte sich unruhig in seinem Zwei-Wochen-Bart. Der wurde noch krauser als sein Kopfhaar. Und warm war er außerdem. Zum hundertstenmal nahm er sich vor, ihn abzurasieren.

»Er steht dir«, sagte Faile und blieb dabei stehen.

Unsicher zuckte er die Achseln. Seine Schultern waren von den langen Arbeitsstunden an Esse und Amboß noch breiter geworden. Das geschah manchmal zwischen ihnen, daß sie zu wissen schien, woran er dachte. »Es juckt«, knurrte er und bereute es, nicht nachdrücklicher gesprochen zu haben. Es war sein Bart, und er konnte ihn abrasieren, wann er wollte.

Sie musterte ihn mit schräg gehaltenem Kopf. Ihre auffallende Nase und die hohen Backenknochen erinnerten an den grimmigen Blick eines Raubvogels, doch ihre sanfte Stimme widersprach diesem Eindruck: »Es sieht gut an dir aus.« Perrin seufzte und zuckte noch mal die Achseln. Sie hatte ihn nicht darum gebeten, sich diesen Bart stehen zu lassen. Das würde sie auch nie tun. Und doch war ihm klar, daß er das Abrasieren wieder hinausschieben würde. Er fragte sich, wie sich sein Freund Mat in einer solchen Lage wohl verhielt. Vielleicht ins Hinterteil kneifen und einen Kuß geben und sie zum Lachen bringen, bis er sie herumbekam? Aber Perrin wußte, daß ihm Mats leichte Art bei den Mädchen einfach nicht gegeben war. Mat würde doch niemals unter einem Bart schwitzen, nur weil eine Frau der Meinung war, er sollte Haare im Gesicht tragen. Außer vielleicht, wenn die Frau eben Faile war. Perrin vermutete, daß ihr Vater es bitter bereute, daß er sie hatte gehen lassen, und das nicht nur, weil sie seine Tochter war. Er sei der größte Pelzhändler von Saldaea, behauptete sie, und Perrin war sich sicher, daß sie immer ihre Preisvorstellungen bei den Käufern durchsetzte.

»Etwas macht dir Kummer, Faile, und es ist bestimmt nicht mein Bart. Was ist los?« Ihr Gesicht nahm einen verschlossenen Ausdruck an. Sie blickte überallhin, nur nicht zu ihm. Statt dessen betrachtete sie verächtlich die Einrichtung des Zimmers.

Alles war von Schnitzereien bedeckt, von dem hohen Kleiderschrank und den oberschenkeldicken Bettpfosten bis hin zu der Polsterbank vor dem kalten Marmorkamin. Leoparden und Löwen, sich herabstürzende Habichte und andere Jagdszenen waren da zu sehen. Ein paar der geschnitzten Tiere hatten Augen aus Karneolen eingesetzt bekommen.

Er hatte sich bemüht, die Majhere davon zu überzeugen, daß er ein ganz einfaches Zimmer haben wolle, doch sie schien ihn nicht zu verstehen. Nicht, daß sie dumm oder begriffsstutzig gewesen wäre. Die Majhere befehligte eine Armee von Dienern, größer als die Anzahl der Verteidiger des Steins. Wer auch immer im Stein das Sagen hatte, wer die Festungsmauern hielt, dem half sie in allen Fragen des alltäglichen Lebens. Ohne sie funktionierte nichts. Doch sie betrachtete die Welt mit den Augen einer Frau aus Tear. Trotz seiner Kleidung mußte er eben mehr sein als der junge Bauer, der zu sein er vorgab. Gemeine wurden schließlich niemals im Stein untergebracht, es sei denn, sie gehörten zu den Verteidigern oder der Dienerschaft. Darüber hinaus gehörte er zu den Leuten um Rand, war ein Freund oder Anhänger, und in jedem Fall stand er dem Wiedergeborenen Drachen auf irgendeine Art nahe. Für die Majhere stellte ihn das zumindest auf eine Stufe mit einem der Lords vom Lande, wenn nicht sogar mit einem Hochlord. Sie war reichlich entsetzt gewesen, als er sich hier einquartierte. Er hatte hier nicht einmal ein eigenes Wohnzimmer. Wenn er auf einem noch einfacheren Quartier bestanden hätte, wäre sie wahrscheinlich in Ohnmacht gefallen, dachte er sich. Wenn es außer den Zimmern der Verteidiger und der Diener überhaupt noch ein einfacheres gab. Wenigstens war hier außer den Kerzenhaltern nichts vergoldet.

Faile war da aber ganz anderer Meinung. »Du solltest wirklich etwas Besseres haben. Das verdienst du schließlich. Du kannst deinen letzten Kupferpfennig darauf verwetten, daß Mat ein besseres Quartier hat.« »Mat mag eben auffallende Sachen und Glitzerkram«, sagte er schlicht.

»Du stellst dich einfach nicht auf die Hinterbeine!« Er gab keine Antwort. Es war auch nicht sein Zimmer, was sie so nervös machte, genausowenig wie sein Bart.

Nach einem Augenblick sagte sie: »Der Lord Drache scheint alles Interesse an dir verloren zu haben. Jetzt verbringt er seine ganze Zeit mit den Hochlords.« Das Jucken zwischen seinen Schulterblättern verstärkte sich. Jetzt wußte er, was an ihr nagte. Er bemühte sich, leichthin zu sprechen: »Der Lord Drache? Du sprichst schon wie jemand aus Tear. Er heißt Rand.« »Er ist dein Freund, Perrin Aybara, und nicht meiner. Falls ein Mann wie er überhaupt Freunde hat.« Sie atmete tief durch und fuhr in gemäßigterem Tonfall fort: »Ich habe daran gedacht, den Stein zu verlassen. Aus Tear abzureisen. Ich glaube nicht, daß Moiraine mich aufhalten würde. Die Berichte über... über Rand sind seit zwei Wochen überall herum. Sie kann nicht glauben, daß alles noch länger geheimzuhalten ist.« Es gelang ihm gerade noch, einen weiteren Seufzer zu unterdrücken. »Ich glaube auch nicht, daß sie dich aufhalten würde. Ich denke, sie sieht in dir nur eine zusätzliche Komplikation. Sie wird dir vielleicht noch Geld geben, damit du abreist.« Sie stützte die Arme auf die Hüften und blickte auf ihn herab. »Ist das alles, was du dazu zu sagen hast?« »Was soll ich denn sagen, damit du zufrieden bist? Daß ich dich hierbehalten möchte?« Der Ärger in seiner Stimme überraschte ihn selbst. Er ärgerte sich aber nicht über sie, sondern über sich selbst, weil er das nicht vorhergesehen hatte und nicht wußte, wie er damit fertigwerden konnte. Er wollte die Dinge lieber vorher gründlich durchdenken. Es war so leicht, Menschen weh zu tun, wenn man überhastet sprach oder handelte. Das war ihm nun passiert. Sie hatte ihre dunklen Augen vor Schreck aufgerissen. Er bemühte sich, die Wogen zu glätten. »Natürlich will ich, daß du hierbleibst, Faile, aber vielleicht solltest du wirklich abreisen. Ich weiß, du bist kein Feigling, aber der Wiedergeborene Drache, dann die Verlorenen...« Nicht, daß man irgendwo wirklich sicher wäre. Jedenfalls nicht lange und nicht gerade jetzt. Aber es gab durchaus sicherere Orte als den Stein. Wenigstens eine Zeitlang. Aber er war nicht so dumm, daß er ihr das geradeheraus sagte.

Doch sie schien es nicht zu interessieren, wie er sich ausdrückte. »Bleiben? Licht, erleuchte mich! Alles wäre besser, als hier herumzuhocken wie angewurzelt, aber... « Sie kniete sich graziös vor ihn hin und legte ihm die Hände auf die Knie. »Perrin, es paßt mir nicht, wenn ich mich immer fragen muß, ob nicht im nächsten Moment einer der Verlorenen vor mir um die Ecke kommt oder wann der Wiedergeborene Drache uns alle umbringen wird. Schließlich hat er das damals bei der Zerstörung der Welt getan. Hat alle umgebracht, die ihm nahestanden.« »Rand ist nicht Lews Therin Brudermörder«, protestierte Perrin. »Ich meine, klar ist er der Wiedergeborene Drache, aber er ist nicht... er würde nicht...« Er ließ die Worte verklingen, weil er nicht wußte, was er noch sagen sollte. Rand war der wiedergeborene Lews Therin Telamon. Deshalb war er ja der Wiedergeborene Drache. Aber mußte das heißen, daß Rand zum gleichen Schicksal verdammt war? Nicht nur wahnsinnig zu werden — jeder Mann, der die Macht gebrauchte, mußte damit rechnen, und daß er hinterher lebendig verfaulte —, sondern auch noch jeden zu töten, dem etwas an ihm lag?

»Ich habe mit Bain und Chiad geredet, Perrin.« Das war keine Überraschung. Sie verbrachte sehr viel Zeit mit den Aielfrauen. Diese Freundschaft brachte ihr einige Probleme ein, aber sie schien eben die Aielfrauen ebenso gern zu haben, wie sie die adligen Damen des Steins verachtete. Doch nun konnte er keine Verbindung zu ihrem Gesprächsthema erkennen, und das sagte er ihr.

»Sie sagen, daß Moiraine manchmal fragt, wo du seist. Oder wo Mat sei. Merkst du nichts? Das würde sie doch nicht tun, wenn sie dich mit Hilfe der Macht überwachen könnte.« »Mich mit Hilfe der Macht überwachen?« brachte er mit schwacher Stimme heraus. Daran hatte er überhaupt noch nie gedacht.

»Das kann sie nicht. Komm mit mir, Perrin. Wir können schon zwanzig Meilen jenseits des Flusses sein, bevor sie uns vermißt.« »Ich kann nicht«, sagte er unglücklich. Er versuchte, sie mit einem Kuß abzulenken. Aber sie sprang auf und trat so schnell zurück, daß er beinahe aufs Gesicht gefallen wäre. Es hatte keinen Zweck, ihr zu folgen. Sie hatte die Arme abwehrend unter der Brust verschränkt.

»Sag mir nicht, daß du vor ihr Angst hast. Ich weiß, daß sie eine Aes Sedai ist und daß sie euch alle wie die Puppen tanzen läßt. Vielleicht hat sie den... Rand... so am Wickel, daß er sich nicht von ihr lösen kann, und das Licht weiß, daß Egwene und Elayne und sogar Nynaeve gar nicht von ihr weg wollen, aber du kannst ihr Netz zerreißen, wenn du es versuchst.« »Das hat nichts mit Moiraine zu tun. Ich muß es einfach so machen. Ich... « Sie unterbrach ihn: »Wage es ja nicht, mir irgend etwas wie diesen haarsträubenden Unsinn aufzutischen, daß ein Mann einfach seine Pflicht tun müsse. Ich kenne Pflichtgefühl genau wie du, aber du hast hier keine Pflichten. Du bist vielleicht ta'veren, auch wenn ich nichts davon merke, aber er ist der Wiedergeborene Drache, und nicht du.« »Hörst du mir jetzt endlich zu!« brüllte er mit finsterem Gesicht, und sie fuhr zusammen. Er hatte sie noch nie angeschrien, jedenfalls nicht so. Sie hob das Kinn und straffte die Schultern, sagte aber nichts. Er fuhr fort: »Ich glaube, ich bin irgendwie ein Teil von Rands Schicksal. Mat genauso. Ich glaube, er kann nicht vollbringen, was er muß, wenn wir nicht genauso unseren Teil dazu beitragen. Das ist die Pflicht, von der ich geredet habe. Wie kann ich fortgehen, wenn das dazu führen könnte, daß Rand versagt?« »Könnte!« Etwas Forderndes lag in ihrem Tonfall, aber nur eine Andeutung. Er fragte sich, ob er es nicht fertigbringen könne, sie öfter mal anzuschreien. »Hat dir Moiraine das eingeredet, Perrin? Du solltest mittlerweile wissen, daß du bei einer Aes Sedai besonders genau hinhören mußt.« »Darauf bin ich von allein gekommen. Ich glaube, Ta'veren ziehen sich gegenseitig an. Oder vielleicht zieht Rand uns beide an, Mat und mich. Er ist angeblich der stärkste Ta'veren seit Artur Falkenflügel, vielleicht sogar seit der Zerstörung. Mat gibt nicht einmal zu, daß er ein Ta'veren ist, aber so sehr er auch auszubrechen versucht: am Ende wird er doch zu Rand zurück gezogen. Loial sagt, er habe noch nie von drei Ta'veren auf einmal gehört, und dann noch alle gleich alt und aus demselben Ort.« Faile rümpfte die Nase. »Loial weiß auch nicht alles. Er ist nicht gerade sehr alt für einen Ogier.« »Er ist über neunzig«, sagte Perrin entschuldigend, und sie lächelte ihn verkniffen an. Für einen Ogier bedeuteten neunzig Jahre nicht mehr als Perrins Alter für einen Menschen. Vielleicht betrachtete man ihn sogar als noch jünger. Er wußte nicht viel über die Ogier. Jedenfalls hatte Loial mehr Bücher gelesen, als Perrin je sich hätte vorstellen können. Manchmal glaubte er, Loial müsse wohl jedes Buch gelesen haben, daß jemals geschrieben worden war. »Und er weiß mehr als du oder ich. Er glaubt, daß ich wahrscheinlich recht habe. Moiraine ist der gleichen Meinung. Nein, ich habe sie nicht gefragt, aber warum paßt sie sonst so gut auf mich auf? Hast du geglaubt, sie wollte, daß ich ihr ein Küchenmesser schmiede?« Sie schwieg einen Augenblick lang, und als sie dann sprach, klang es verständnisvoll: »Armer Perrin. Ich habe Saldaea verlassen und bin auf Abenteuer ausgezogen, und jetzt, wo ich mich mitten in einem befinde, dem größten seit der Zerstörung der Welt, will ich plötzlich woandershin. Du willst einfach nur ein Schmied sein, und du wirst in die Legenden eingehen, ob du willst oder nicht.« Er sah zur Seite, aber ihr Duft ließ seinen Kopf noch immer schwirren. Er hielt es nicht für wahrscheinlich, daß man sich jemals Geschichten über ihn erzählen würde, jedenfalls nicht, solange sein Geheimnis nicht weit über die wenigen hinausdrang, die im Augenblick Bescheid wußten. Faile glaubte, alles über ihn zu wissen, und doch hatte sie keineswegs recht.

Ihm gegenüber an den Wand standen eine Axt und ein Hammer, beide einfach und schmucklos mit unterarmlangen Schäften. Die Axt hatte eine tückische Halbmondschneide und auf der anderen Seite einen dicken Dorn. Sie war für das Töten geschaffen. Mit dem Hammer konnte er Dinge herstellen, hatte er schon Dinge hergestellt damals in der Schmiede. Der Kopf des Hammers wog mehr als doppelt soviel wie die Axtklinge, aber trotzdem schien ihm die Axt viel schwerer, wenn er sie anhob. Mit der Axt hatte er... Er verzog schmerzhaft das Gesicht und wollte lieber nicht daran denken, was er mit ihr gemacht hatte. Sie hatte recht. Alles, was er wollte, war, als Schmied zu arbeiten, heimzukehren, seine Familie wiederzusehen und in der Schmiede zu schaffen. Doch dazu würde es niemals kommen, soviel wußte er.

Er stand auf, um den Hammer in die Hand zu nehmen, und dann setzte er sich wieder. Es lag etwas Beruhigendes darin, ihn zu halten. »Meister Luhhan sagt immer, man kann sich dem nicht entziehen, was getan werden muß.« Er fuhr schnell fort, weil er spürte, daß dies schon wieder nach dem klang, was sie haarsträubenden Unsinn genannt hatte:

»Er ist der Schmied zu Hause, und ich war sein Lehrling. Ich habe dir ja von ihm erzählt.« Zu seiner Überraschung nutzte sie die Gelegenheit nicht, ihn noch einmal wegen seiner angeblichen Pflichten aufzuziehen. Statt dessen sagte sie nichts, sah ihn nur an und wartete auf etwas. Einen Moment später dämmerte es ihm.

»Willst du also wirklich gehen?« fragte er.

Sie stand auf und strich sich den Hosenrock glatt. Sie schwieg noch immer und überlegte sich wohl ihre Antwort. »Ich weiß nicht«, sagte sie schließlich. »Das ist ein schöner Schlamassel, in den du mich gebracht hast.« »Ich? Was habe ich denn getan?« »Also wenn du das nicht weißt, werde ich es dir auch nicht sagen.« Er kratzte sich erneut am Bart und betrachtete den Hammer in seiner anderen Hand. Mat wüßte vielleicht genau, was sie eigentlich meinte. Oder auch der alte Thom Merrilin. Der weißhaarige Gaukler behauptete zwar, daß niemand die Frauen verstünde, aber wenn er aus dem winzigen Zimmer im Bauch des Steins hervorkam, saßen bald ein halbes Dutzend Mädchen um ihn herum, jung genug, um seine Enkelinnen zu sein, seufzten und lauschten, wie er auf seiner Harfe spielte und von großartigen Abenteuern und Liebesgeschichten erzählte. Faile war die einzige Frau, die Perrin haben wollte, aber manchmal fühlte er sich wie ein Fisch, der einen Vogel verstehen möchte.

Er wußte, sie wollte, daß er sie zu bleiben bat. Soviel wenigstens war ihm klar. Vielleicht würde sie es ihm sagen, vielleicht auch nicht, aber sie erwartete auf jeden Fall von ihm, daß er sie darum bat. Also schwieg er stur wie ein Hammel. Diesmal wollte er, daß sie sich zuerst äußerte.

Draußen in der Dunkelheit krähte ein Hahn.

Faile schauderte und schloß die Arme um ihren Oberkörper. »Meine Amme hat immer gesagt, das hieße, ein Tod stünde kurz bevor. Nicht, daß ich das glaube, klar?« Er öffnete den Mund, um ihr zuzustimmen, daß so etwas idiotisch sei, obgleich ihm selbst ein kalter Schauder den Rücken hinunterlief, doch da riß ihm ein Knirschen und ein dumpfer Aufschlag den Kopf herum. Die Axt war zu Boden gefallen. Er hatte gerade noch Zeit, die Stirn zu runzeln und sich zu fragen, wie sie herunterfallen könne, da bewegte sie sich erneut, ohne daß eine Hand sie berührt hätte, und flog plötzlich direkt auf ihn zu.

Ohne zu überlegen schwang er den Hammer. Metall kreischte auf Metall. Faile schrie auf. Die Axt flog durch das Zimmer, prallte von der gegenüberliegenden Wand zurück und schoß — Schneide nach vorn — erneut auf ihn zu. Er hatte das Gefühl, daß ihm jedes Haar an seinem Körper zu Berge stand. Als die Axt an ihr vorbeizischte, sprang Faile vor und packte den Schaft mit beiden Händen. Die Axt drehte sich in ihrem Griff herum und hieb nach ihrem Gesicht mit den weit aufgerissenen Augen. Gerade noch rechtzeitig sprang Perrin auf, ließ den Hammer fallen, um die Axt zu ergreifen, und schaffte es gerade noch, die halbmondförmige Klinge festzuhalten. Er glaubte, sterben zu müssen, wenn diese Axt — seine Axt — ihr etwas zuleide täte. Er riß sie so heftig von ihr weg, daß der dicke Dorn ihn beinahe an der Brust verletzte. Er hätte das gern in Kauf genommen, um sie vor einer Verletzung zu bewahren, aber mit flauem Gefühl im Magen mußte er sich eingestehen, daß vielleicht alles nichts mehr helfen würde.

Die Waffe wand sich in seinem Griff wie ein lebendiges und noch dazu ein bösartiges Wesen. Es hatte es auf Perrin abgesehen; das war ihm so klar, als hätte es die Axt ihm zugerufen. Aber sie kämpfte durchaus raffiniert. Als er sie von Faile wegriß, nutzte sie seine eigene Bewegung, um ihn wieder anzugreifen. Als er sie von sich wegdrückte, versuchte sie, Faile zu erreichen, als wisse sie, daß dann sein Druck nachlassen würde. Gleich, wie fest er den Schaft zu halten versuchte, wand sie sich doch in seinem Griff herum und bedrohte ihn entweder mit dem Dorn oder der gekrümmten Schneide. Seine Hände schmerzten bereits vor Anstrengung. Seine Muskeln verkrampften sich. Schweiß rann ihm über das Gesicht. Er wußte nicht, wie lange es noch dauern würde, bis die Axt sich von ihm losriß. Das war alles blanker Wahnsinn, reiner Wahnsinn, und er hatte keine Zeit zu überlegen.

»Raus!« knurrte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Raus aus dem Zimmer, Faile!« Ihr Gesicht war totenblaß, aber sie schüttelte den Kopf und griff wieder nach der Axt. »Nein! Ich werde dich nicht im Stich lassen!« »Dann wird sie uns beide umbringen!« Wieder schüttelte sie den Kopf.

Er grollte tief in seiner Kehle und ließ mit einer Hand los. Sein Arm bebte, als er das Ding mit einer Hand festzuhalten versuchte, und der sich drehende Schaft brannte auf seiner Handfläche. Mit der freien Hand stieß er Faile weg. Sie schrie leicht auf, als er sie zur Tür drängte.

Er beachtete ihre Schreie nicht und auch nicht ihre auf ihn eintrommelnden Fäuste und preßte sie schließlich mit der Schulter gegen die Wand. Dann endlich gelang es ihm, die Tür zu öffnen und sie in den Flur zu stoßen.

Er knallte die Tür hinter ihr zu und stemmte sich mit dem Rücken dagegen. Mit Mühe konnte er den Riegel vorschieben, und dann packte er die Axt wieder mit beiden Händen. Die schwere, schimmernde, messerscharfe Klinge zitterte nur wenige Handbreit von seinem Gesicht entfernt. Mühsam schob er sie auf eine Armlänge Entfernung von sich weg. Failes gedämpfte Schreie drangen durch die dicke Tür, und er fühlte förmlich, wie sie von außen dagegenschlug, doch das alles geschah nur am Rande seines Bewußtseins. Seine gelben Augen schienen zu leuchten, als reflektierten sie jedes bißchen Licht im Zimmer.

»Nur noch ich und du«, fauchte er die Axt an. »Blut und Asche, wie ich dich hasse!« In seinem Innern war etwas nahe daran, hysterisch zu lachen. Rand ist derjenige, von dem man annimmt, daß er verrückt wird, und nun stehe ich hier und spreche mit einer Axt! Rand! Seng dich!

Er fletschte vor Anstrengung die Zähne und zwang die Axt einen ganzen Schritt weit von der Tür weg. Die Waffe vibrierte, kämpfte darum, seine Haut zu erreichen; er konnte ihren Blutdurst beinahe schmecken. Mit einem Aufbrüllen riß er plötzlich die gekrümmte Schneide auf sich zu und warf sich gleichzeitig zurück. Wäre die Axt wirklich ein lebendiges Wesen, dann hätte er nun bestimmt einen Triumphschrei gehört, als sie auf seinen Kopf zuschoß. Im letzten Moment schwang er sich herum. Mit einem dumpfen Schlag grub sich die Klinge ins Holz der Tür.

Er spürte deutlich, wie alles Leben — anders konnte er es nicht bezeichnen — aus der festsitzenden Waffe wich. Langsam nahm er die Hände weg. Die Axt blieb, wo sie war. Sie bestand nur noch aus Holz und Stahl. Die Tür schien ihm nun ein guter Platz, sie vorerst stecken zu lassen. Er wischte sich mit einer zitternden Hand den Schweiß von der Stirn. Wahnsinn. Wo immer sich Rand befindet, ist der Wahnsinn nicht weit.

Plötzlich wurde ihm bewußt, daß er Failes Schreie und an die Tür trommelnden Fäuste nicht mehr hörte. Er schob den Riegel zurück und zog schnell die Tür auf. An der Außenseite stand eine schimmernde Stahlschneide hervor. Sie glänzte im Schein der in weiten Abständen an den Wänden des mit Gobelins geschmückten Ganges befestigten Lampen. Faile stand da, mit erhobenen Fäusten, als sei sie im Stehen erstarrt. Mit weit aufgerissenen, staunenden Augen berührte sie ihre Nasenspitze. »Ein Stückchen weiter«, sagte sie mit schwacher Stimme, »und... « Mit einemmal warf sie sich auf ihn, umarmte ihn ungestüm, und es regnete Küsse auf seinen Hals und Bart. Genauso schnell ging sie jedoch wieder auf Abstand und strich ihm mit den Händen über Brust und Arme. »Bist du verletzt? Tut dir was weh? Hat sie...?« »Mir geht's gut«, sagte er. »Aber was ist mit dir? Ich wollte dir keine Angst einjagen.« Sie spähte zu ihm hoch. »Wirklich? Du bist kein bißchen verletzt?« »Vollkommen unverletzt. Ich...« Eine beherzte Ohrfeige ließ seinen Kopf dröhnen wie einen Amboß.

»Du großer, haariger Ochse! Ich habe geglaubt, du wärst tot! Ich fürchtete, daß sie dich umgebracht hat! Ich dachte... « Sie brach ab, als er ihren zweiten Schlag gerade noch abfing.

»Tu das bitte nie wieder«, sagte er ruhig. Ihr Handabdruck brannte auf seiner Wange, und er hatte das Gefühl, sein Kiefer würde wohl den Rest der Nacht über schmerzen.

Er hatte ihr Handgelenk so zart ergriffen, wie einen ängstlichen Vogel, doch so sehr sie sich auch mühte, ihre Hand aus seinem Griff zu winden: seine Hand rührte sich nicht vom Fleck. Wenn er daran dachte, wie er in der Schmiede den ganzen Tag einen Hammer schwang, dann kostete es ihn überhaupt keine Mühe, sie festzuhalten, nicht einmal nach seinem Kampf gegen die Axt. Plötzlich schien sie aufzugeben und sah ihm in die Augen. Weder die dunklen, noch die goldenen Augen blinzelten. »Ich hätte dir helfen können. Du hattest kein Recht... « »Ich hatte jedes Recht dazu«, sagte er mit fester Stimme. »Du hättest mir nicht helfen können. Wärst du geblieben, wären wir beide jetzt tot. Ich hätte nicht kämpfen —jedenfalls nicht so, wie es sein mußte — und dich gleichzeitig beschützen können.« Sie öffnete den Mund, aber er erhob die Stimme und fuhr fort: »Ich weiß, daß du das haßt. Ich werde mich auch nach besten Kräften bemühen, dich nicht wie eine Porzellanpuppe zu behandeln, aber wenn du von mir verlangst, daß ich zuschaue, wie du stirbst, werde ich dich vorher verschnüren wie ein Lamm, das zum Markt gebracht wird, und dann schicke ich dich zu Frau Luhhan. Sie wird solchen Unsinn gar nicht erst aufkommen lassen.« Während er mit der Zunge vorsichtig gegen einen Zahn drückte, um festzustellen, ob er lose saß, wünschte er sich beinahe, zuschauen zu können, wie Faile sich gegen Alsbet Luhhan durchzusetzen versuchte. Die Frau des Schmieds wurde mit ihrem Mann genauso leicht fertig wie mit ihrem Haushalt. Selbst Nynaeve hatte ihre spitze Zunge in der Nähe von Frau Luhhan im Zaum gehalten. Der Zahn wackelte nicht, stellte er fest.

Faile lachte plötzlich. Es war ein tiefes, kehliges Lachen. »Das bringst du tatsächlich fertig, ja? Aber glaube nicht, daß du mit dem Dunklen König genauso leicht fertig würdest.« Perrin war so überrascht über ihre Äußerung, daß er ihr Handgelenk losließ. Er sah eigentlich keinen großen Unterschied zwischen dem, was er vorher gesagt hatte, und dem gerade eben, aber das erste hatte sie hochgehen lassen, während sie das letztere... gutmütig hinnahm. Er war auch nicht ganz sicher, wie sauer sie vielleicht noch reagieren mochte. Schließlich trug sie immer versteckte Messer mit sich herum, und sie wußte sehr gut damit umzugehen.

Sie rieb sich betont das Handgelenk und knurrte leise etwas. Er verstand die Worte ›haariger Ochse‹ und beschloß, daß er jede noch so kleinen Bartstoppel abrasieren würde. Ganz bestimmt.

Laut sagte sie: »Diese Axt. Das war er, nicht wahr? Der Wiedergeborene Drache, der versucht hat, uns zu töten.« »Es muß Rand gewesen sein.« Er betonte den Namen. Er wollte von Rand als nichts anderem denken. Er zog es auch vor, sich an den Rand zu erinnern, mit dem zusammen er in Emondsfeld aufgewachsen war. »Aber er hat nicht versucht, uns zu töten. Er nicht.« Sie lächelte ihn krampfhaft an. Es war schon beinahe eine Grimasse. »Wenn er es vorhin nicht bewußt versucht hat, dann hoffe ich, er wird es niemals tun.« »Ich weiß nicht, was er angestellt hat. Aber ich habe vor, ihm zu sagen, daß er damit aufhören soll, und zwar sofort.« »Ich weiß nicht, warum ich mir Gedanken um einen Mann mache, der so sehr um die eigene Sicherheit besorgt ist«, murmelte sie.

Er sah sie mit gerunzelter Stirn fragend an, da ihm nicht klar war, wie sie das gemeint hatte, doch sie schob nur einfach ihren Arm unter seinen. Er wunderte sich noch immer, als sie durch den Stein schritten. Er ließ die Axt, wo sie war. In der Tür steckend würde sie niemandem etwas antun.

Die langstielige Pfeife in den Mundwinkel geklemmt, öffnete Mat seine Jacke ein bißchen weiter und versuchte, sich auf die Karten, die verdeckt vor ihm lagen, und die auf den Tisch geworfenen Münzen zu konzentrieren. Er hatte sich die leuchtend rote Jacke im für Andor typischen Schnitt anfertigen lassen, aus bester Wolle, mit goldenen Stickereien an Manschetten und Kragen, aber jeden Tag wurde er aufs neue daran erinnert, daß Tear eben doch viel weiter südlich lag als Andor. Der Schweiß lief ihm über das Gesicht, und das Hemd klebte an seinem Rücken.

Keiner seiner Mitspieler am Tisch schien die Hitze überhaupt zu bemerken, obwohl ihre Jacken noch dicker schienen als seine mit ihren weiten Puffärmeln, dem Futter und den Verzierungen aus Seide, Brokat und Satin. Zwei Männer in roter und goldener Livree sorgten dafür, daß die silbernen Becher der Spieler immer mit Wein gefüllt waren, und boten ihnen dazwischen glänzende Silberschalen mit Oliven, Käse und Nüssen an. Auch die Diener waren von der Hitze unbeeindruckt. Nur manchmal gähnte einer von ihnen hinter vorgehaltener Hand, wenn er glaubte, daß gerade niemand hersah. Die Nacht war nicht mehr jung.

Mat ließ seine Karten liegen, wie sie waren, ohne nochmals nachzusehen. Sie konnten sich wohl kaum geändert haben. Drei Könige, die höchsten Karten bei drei von fünf Farben waren schon gut genug, um zu gewinnen.

Er hätte sich beim Würfelspiel wohler gefühlt. An den Orten, wo er gewöhnlich spielte, fand man nur selten Karten vor. Statt dessen wechselte Silber die Besitzer bei fünfzig verschiedenen Würfelspielen. Doch diese jungen Lordchen aus Tear trugen lieber Lumpen, als daß sie würfelten. Bauern spielen mit Würfeln, meinten sie, aber sie sagten das lieber nicht in seiner Hörweite. Sie fürchteten nicht seinen Zorn, wohl aber diejenigen, die sie als seine Freunde betrachteten. So spielten sie dieses Spiel, das sie Hacken nannten, Stunde um Stunde, Abend auf Abend. Sie benützten handgemalte Karten dazu. Ein Mann in der Stadt fertigte sie an, und diese Burschen hier und andere von ihrer Sorte hatten ihn reich gemacht. Nur Frauen oder Pferde konnten sie von diesem Spiel weglocken, und das auch nur für kurze Zeit.

Trotzdem hatte er das Spiel schnell genug erlernt, und wenn sein Glück auch nicht so ausgeprägt war wie beim Würfeln, war es doch nicht schlecht. Neben seinen Karten lag ein fetter Geldbeutel, und ein noch dickerer steckte in seiner Tasche. Damals in Emondsfeld hätte er sich damit für reich gehalten, und es hätte wohl auch genügt, um den Rest seines Lebens im Luxus zu verbringen. Doch seine Auffassung von Luxus hatte sich seit der Abreise von den Zwei Flüssen wesentlich geändert. Die jungen Lords ließen ihre Münzen achtlos als funkelnde Häufchen herumliegen, doch er änderte seine alte Gewohnheit nicht. In den Tavernen und Schenken war es manchmal notwendig, sehr schnell zu verschwinden. Besonders dann, wenn sein Glück am ausgeprägtesten war.

Wenn er genug hatte, um den Lebenswandel zu führen, den er im Sinn hatte, würde er den Stein genauso schnell verlassen — bevor Moiraine etwas davon ahnte. Er wäre jetzt schon mehrere Tagesreisen entfernt, wenn es nach ihm ginge. Aber hier gab es eben einiges an Gold zu gewinnen. Eine Nacht an diesem Tisch konnte ihm mehr einbringen als eine Woche beim Würfeln in den Tavernen. Wenn er Glück hatte.

Er runzelte ein wenig die Stirn und zog besorgt an seiner Pfeife, um den Eindruck zu erwecken, seine Karten seien doch vielleicht nicht gut genug. Auch zwei der jungen Lords hatten Pfeifen zwischen den Zähnen, doch ihre waren mit Silber eingelegt und mit Bernsteinstückchen verziert. In der heißen, unbewegten Luft roch es durch ihren parfümierten Tabak wie ein Feuer im Boudoir einer Lady. Nicht, daß Mat jemals im Boudoir einer Lady gewesen wäre. Eine Krankheit, die ihn beinahe umgebracht hätte, hatte Lücken in seinem Gedächtnis hinterlassen, so groß wie Scheunentore, aber er war sicher, daß er sich an so etwas hätte erinnern können. Nicht einmal der Dunkle König wäre so gemein, mich das vergessen zu lassen.

»Schiff der Meerleute hat heute angelegt«, murmelte Reimon über seinen Pfeifenstiel hinweg. Der Bart des breitschultrigen jungen Lords war eingeölt und ganz spitz zurechtgestutzt. Das war unter den jüngeren Adligen gerade große Mode, und Reimon war neuen Moderichtungen gegenüber genauso empfänglich wie für Frauen. Und das betrieb er dann kaum weniger gründlich als das Kartenspiel. Er warf eine Silberkrone auf den Haufen in der Mitte der Tischplatte, um eine weitere Karte zu kaufen. »Eine Brigg. Die schnellsten Schiffe, die es gibt, sagt man. Fahren schneller als der Wind, sagt man. Das würde ich gern erleben. Seng meine Seele, es würde mir Spaß machen.« Er sah die Karte gar nicht an, die er bekam. Das tat er nie, bis er alle fünf zusammenhatte.

Der mollige Mann mit den rosa Wangen zwischen Reimon und Mat schmunzelte amüsiert. »Du willst das Schiff sehen, Reimon? Du meinst doch sicher damit eher die Mädchen, oder? Die Frauen. Exotische Meervolk-Schönheiten mit ihren Ringen und Halsketten und dem beschwingten Gang, eh?« Er legte eine Krone auf und nahm seine Karte entgegen. Als er sie betrachtete, verzog er grimmig sein Gesicht. Das hatte aber nichts zu bedeuten; Edorions Blätter waren immer niedrig und paßten nicht zusammen. Trotzdem gewann er öfter, als daß er verlor. »Na ja, vielleicht habe ich bei den Meermädchen auch mehr Glück.« Der Bankhalter, ein großer, schlanker Mann mit einem noch spitzeren Bart als Reimon, der an Mats anderer Seite saß, legte sich einen Finger auf die Nase. »Glaubst du, daß du bei denen Glück haben wirst, Edorion? So, wie die sich von allen anderen fernhalten, brauchst du schon Glück, um wenigstens ihr Parfum riechen zu können.« Er wedelte mit der Hand und tat so, als atme er genüßlich den Duft ihres Parfums ein; die anderen jungen Adligen lachten nur, selbst Edorion.

Ein Junge mit wenig ansprechendem Gesicht namens Estean lachte am lautesten von allen und fuhr mit einer Hand durch sein dünnes Haar, das ihm immer wieder in die Stirn fiel. Hätte man seine feine gelbe Jacke durch eine aus grober Wolle ersetzt, dann hätte er sehr wohl ein Bauer sein können und nicht der Sohn eines Hochlords mit den reichsten Gütern von ganz Tear. Doch so war er bereits selbst der reichste Mann an diesem Spieltisch. Er hatte außerdem mehr Wein getrunken als jeder andere.

Er beugte sich schwankend über den Mann neben ihm, einen eingebildeten Kerl namens Baran, der immer auf alle anderen herunterzuschauen schien, und piekste den Bankhalter mit einem zitternden Finger in die Seite. Baran lehnte sich zurück und verzog angewidert seinen Mund um den Pfeifenstiel herum, als fürchte er, daß Estean sich über ihm übergeben werde.

»Das ist gut, Carlomin«, gurgelte Estean. »Das denkst du doch auch, was, Baran? Edorion kriegt nicht mal ihr Parfum mit. Wenn er sein Glück versuchen will... ein Spielchen wagen... dann soll er sich mal an diese Aielschlampen heranmachen wie Mat hier. All diese Speere und Messer. Seng meine Seele. Als ob man einen Löwen zum Tanz auffordert.« Es wurde totenstill am Tisch. Estean war der einzige, der über seinen Scherz lachte. Dann blinzelte er und fuhr sich wieder mit den Fingern durch das fettige Haar. »Was ist los? Habe ich was gesagt? Oh! O ja. Die!« Mat konnte sich gerade noch zurückhalten, bevor sich seine Miene zu sehr verfinsterte. Dieser Narr mußte das Gespräch auf die Aiel bringen. Das einzige noch schlimmere Gesprächsthema wären die Aes Sedai gewesen.

Da war es ihnen noch lieber, wenn Aiel durch die Gänge schritten und auf jeden Tairener herunterblickten, der ihnen nicht rechtzeitig auswich, als auch nur eine einzige Aes Sedai hierzuhaben. Und die Männer glaubten, daß sie zumindest vier davon mitgebracht hätten. Er zog eine andoranische Silberkrone aus dem Geldbeutel und schob sie zu dem Haufen hin. Carlomin rückte bedächtig eine neue Karte heraus.

Mat hob sie vorsichtig mit einem Daumennagel an und zwang sich dazu, nicht einmal mit der Wimper zu zucken. Der Herr der Pokale, ein Hochlord von Tear. Die Könige in einem Spiel richteten sich nach dem Land, in dem die Karten hergestellt worden waren, und der Herrscher in einem Land war immer Herr der Pokale, die höchste Karte also. Diese Karten hier waren alt. Er hatte bereits neue gesehen mit Rands Gesicht oder etwas Ähnlichem auf dem Herrn der Pokale und sogar mit der Drachenflagge darauf. Rand als Herrscher von Tear, das erschien ihm immer noch so lächerlich, daß er in Versuchung war, sich zu kneifen, um aufzuwachen. Rand war Schafhirte, ein prima Bursche, mit dem man sich prächtig amüsieren konnte, wenn er nicht gerade zu ernsthaft und pflichtbewußt tat. Rand nun als Wiedergeborenen Drachen ansehen zu müssen, das machte ihn zum kompletten Idioten, wenn er hier hockenblieb, wo Moiraine ihn in der Hand hatte und er abwarten mußte, was Rand als nächstes einfiel. Vielleicht würde Thom Merrilin ihn begleiten. Oder Perrin. Nur schien sich Thom hier im Stein allmählich breitzumachen, als wolle er ihn nie wieder verlassen, und Perrin ging nirgendwohin, wenn nicht Faile einen Finger krumm machte. Na ja, wenn es sein mußte, würde Mat eben alleine durch die Weltgeschichte ziehen.

Aber auf dem Tisch lag genug Silber, und vor diesen jungen Adligen lag auch noch Gold, und wenn er nun dazu den fünften König bekommen würde, gab es niemanden, der dieses Blatt schlagen konnte. Nicht, daß er es wirklich nötig gehabt hätte. Plötzlich fühlte er, wie das Glück seinen Geist kitzelte. Es kitzelte natürlich nicht in dem Maße wie beim Würfeln, aber er war auch so schon sicher, mit vier Königen zu gewinnen. Die Tairer hatten die ganze Nacht über wild gewettet. Der Gegenwert von zehn Bauernhöfen hatte bereits die Besitzer gewechselt.

Aber Carlomin starrte lediglich die Karten in seiner Hand an, ohne eine vierte zu kaufen, während Baran wild an seiner Pfeife paffte und vor sich Münzen aufstapelte, als wolle er sie sich gleich in die Tasche stopfen. Reimon machte hinter seinem Bart eine finstere Miene, und Edorion studierte betont seine Fingernägel. Nur Estean schien unberührt von allem. Er sah sich unsicher grinsend am Tisch um und hatte wohl bereits die eigenen Worte vergessen. Normalerweise machten sie gute Miene zum bösen Spiel, wenn jemand das Gespräch auf die Aiel gebracht hatte, aber es war nun schon sehr spät in der Nacht, und es war eine Menge Wein geflossen.

Mat zermarterte sein Gehirn, wie er es fertigbringen konnte, sie und ihr Gold bei der Stange zu halten und dieses verdammte Spiel zu beenden. Ein Blick auf ihre Gesichter überzeugte ihn davon, daß es nicht ausreichen würde, einfach das Gesprächsthema zu wechseln. Aber es gab einen anderen Weg. Wenn er sie über die Aiel zum Lachen brachte... Ist es wert, daß sie mich dann auch auslachen? Er kaute auf seinem Pfeifenstiel herum und bemühte sich, auf etwas anderes zu kommen.

Baran nahm ein Häufchen Goldmünzen in jede Hand und schickte sich an, sie in seine Taschen zurückzustecken. »Vielleicht probiere ich's mal bei diesen Meervolkfrauen«, sagte Mat schnell, wobei er die Pfeife aus dem Mund nahm und mit ihr gestikulierte. »Wenn Ihr hinter Aielmädchen her seid, können Euch die seltsamsten Sachen passieren. Sehr seltsame. Wie das Spiel, das sie ›Kuß einer Jungfrau‹ nennen.« Nun hatte er ihre Aufmerksamkeit gewonnen, aber Baran hielt die Goldmünzen immer noch in der Hand, und Carlomin machte nach wie vor keine Anstalten, eine Karte zu kaufen.

Estean lachte betrunken. »Küssen dich und hauen dir gleichzeitig Stahl in die Rippen, schätze ich. Töchter des Speers. Stahl. Speer in die Rippen. Seng meine Seele.« Keiner der anderen lachte. Aber sie lauschten.

»Nicht ganz.« Mat brachte ein Grinsen zustande. Seng mich. Jetzt habe ich so viel angedeutet, da kann ich auch gleich den Rest erzählen. »Rhuarc sagte mir, wenn ich mit den Töchtern des Speers klarkommen wolle, dann müßte ich sie fragen, wie man den ›Kuß einer Jungfrau‹ spielt. Er sagte, das sei der beste Weg, um sie kennenzulernen.« Das klang immer noch nach einem der Kußspiele zu Hause, wie zum Beispiel ›Küß das Gänseblümchen‹. Er hatte nie geglaubt, daß ihm der Aiel-Clanhäuptling einen Streich spielen würde. Das nächste Mal würde er sich in acht nehmen. Er gab sich Mühe, sein Grinsen noch breiter erscheinen zu lassen. »Also ging ich mit zu Bain und... « Reimon runzelte ungeduldig die Stirn. Keiner kannte irgendeinen Aiel-Namen außer dem Rhuarcs und niemand wollte das auch überhaupt. Mat ließ die Namen also beiseite und fuhr fort: »... ging mit wie ein Lamm zur Schlachtbank und bat sie, mir das Spiel beizubringen.« Er hätte etwas ahnen müssen, so, wie sie ihn alle angelächelt hatten. Wie Katzen, die von einer Maus zum Tanzen aufgefordert wurden. »Bevor ich wußte, was geschah, hatte ich ein Handvoll Speere am Hals wie eine Halskrause. Ich hätte mich mit einem Nieser rasieren können.« Die anderen am Spieltisch wieherten vor Lachen. Bei Reimon klang es eher wie Keuchen und bei Estean wie ein weindurchtränktes Bellen, aber sie lachten schallend.

Mat ließ sie. Er spürte beinahe noch einmal die Speerspitzen an der Kehle, wie sie ihn pieksten, wenn er auch nur einen Finger rührte. Bain, die die ganze Zeit gelacht hatte, sagte ihm damals, daß sie noch nie davon gehört habe, irgendein Mann würde je darum bitten, den Kuß einer Jungfrau spielen zu dürfen.

Carlomin strich sich über den Bart und sprach in Mats Zögern hinein: »Du kannst jetzt nicht einfach aufhören. Erzähl weiter! Wann war das? Ich wette, vor zwei Nächten. Als du nicht zum Spielen gekommen bist und keiner wußte, wo du warst.« »In dieser Nacht habe ich mit Thom Merrilin gespielt«, sagte Mat schnell. »Das ist schon Tage her.« Er war froh, lügen zu können, ohne eine Miene zu verziehen. »Jede von ihnen mußte ich küssen. Das war alles. Wenn sie der Meinung war, es sei ein guter Kuß gewesen, haben sie die Speere ein Stück zurückgezogen. Wenn nicht, drückten sie ein bißchen fester damit zu, sozusagen um mich zu ermuntern. Das war alles. Ich kann euch sagen: Ich habe beim Rasieren schon mehr abbekommen.« Er steckte sich wieder die Pfeife zwischen die Zähne.

Wenn sie mehr wissen wollten, konnten sie ja hingehen und das Spiel selber spielen. Er hoffte beinahe, daß vielleicht ein paar von ihnen dumm genug wären. Verfluchte Aielfrauen und ihre verdammten Speere! Er war erst bei Tagesanbruch wieder ins eigene Bett gekommen.

»Das würde mir ganz gewiß reichen«, sagte Carlomin trocken. »Das Licht soll meine Seele verbrennen, wenn es mir nicht gereicht hätte.« Er warf eine Silberkrone auf den Tisch und holte sich eine neue Karte. ›Kuß einer Jungfrau.‹ Er schüttelte sich vor Lachen, und eine neue Welle des Gelächters schwappte über den ganzen Tisch hinweg.

Baran kaufte seine fünfte Karte, und Estean zog mit zittrigen Fingern eine Münze aus dem Stapel vor ihm. Er blickte sie angestrengt an, um festzustellen, was für eine es sei. Jetzt würden sie nicht mehr aufhören.

»Wilde«, murmelte Baran mit der Pfeife im Mund. »Unwissende Wilde. Das ist alles, seng meine Seele. Leben in Höhlen draußen in der Wüste. In Höhlen! Niemand außer einem Wilden würde dort draußen in der Wüste leben wollen.« Reimon nickte. »Wenigstens dienen sie dem Lord Drachen. Wenn das nicht wäre, würde ich hundert Verteidiger nehmen und den Stein von ihnen befreien.« Baran und Carlomin nickten nachdrücklich zu seinen Worten.

Es bereitete Mat einige Mühe, keine Miene zu verziehen. Er hatte dasselbe schon öfters gehört. Angeben war leicht, wenn niemand von einem verlangte, auch wirklich zu seinem Wort zu stehen. Hundert Verteidiger? Selbst wenn sich Rand aus irgendeinem Grund aus allem heraushalten sollte, wären die paar hundert Aiel in der Lage, den Stein gegen jedes Heer zu verteidigen, das Tear auf die Beine bringen konnte. Nicht, daß sie es auf den Stein abgesehen hatten. Mat vermutete, sie seien nur da, weil eben Rand hier war. Er glaubte nicht, daß irgendeiner dieser jungen Adligen auf diese Idee gekommen war. Sie ignorierten die Aiel soweit wie möglich. Außerdem hätte dieser Gedanke sie auch nicht gerade beruhigt.

»Mat.« Estean fächerte die Karten in seiner Hand auf und steckte sie dann um, als könne er sich nicht entschließen, wohin sie gehörten. »Mat, du wirst doch mit dem Lord Drachen sprechen, oder?« »Worüber?« fragte Mat mißtrauisch. Zu viele dieser Leute aus Tear wußten mittlerweile, daß Rand und er zusammen aufgewachsen waren. Das paßte ihm nicht. Sie schienen sich vorzustellen, daß er Arm in Arm mit Rand herumlief, wenn sie nicht hinsahen. Keiner von denen hätte seinen eigenen Bruder noch angesehen, wenn der die Macht benutzen könnte. Er wußte nicht, warum sie ihn als noch größeren Narren betrachteten.

»Hab' ich es nicht gesagt?« Der Mann mit dem abstoßenden Gesicht blinzelte seine Karten an und kratzte sich am Kopf. Dann hellte sich seine Miene auf. »O ja. Seine Proklamation, Mat. Was der Lord Drache gesagt hat. Das letztemal. Wo er gesagt hat, Gemeine hätten das Recht, Lords vor dem Magistrat anzuklagen. Wer hat je so etwas gehört, daß ein Lord vor den Magistrat gerufen wird? Und das wegen irgendeinem Bauern!« Mats Hand verkrampfte sich um den Geldbeutel, bis die Münzen darin aneinander knirschten. »Wäre es nicht eine Schande«, sagte er leise, »wenn man dich vor Gericht bringen und verurteilen würde, bloß, weil du es mit der Tochter eines Fischers getrieben hast, obwohl sie nicht wollte, oder weil du irgendeinen Bauern hast auspeitschen lassen, weil er Schlamm auf deinen Umhang gespritzt hatte?« Die anderen rutschten unruhig auf ihren Stühlen umher, weil sie seine Stimmung spürten, aber Estean nickte so heftig, daß sein Kopf auf und ab hüpfte, als ob er ihn wegwerfen wolle. »Genau. Aber dazu würde es natürlich gar nicht erst kommen. Ein Lord, und vom Magistrat verurteilt! Niemals. Natürlich nicht.« Er lachte betrunken seine Karten an. »Keine Fischertöchter. Die riechen nach Fisch, und wenn man sie noch so wäscht. Ein molliges Bauernmädchen ist am besten. Kann ich nur empfehlen.« Mat redete sich ein, daß er zum Spielen hier sei. Er zwang sich dazu, das Geschwätz dieses betrunkenen Narren zu ignorieren, und bemühte sich, daran zu denken, wieviel Gold er Estean noch aus der Tasche ziehen könne. Aber seine Zunge folgte seinen Gedanken eben nicht. »Wer weiß, wohin das führen könnte? Vielleicht würde man jemand aufhängen?« Edorion warf ihm einen besorgten Seitenblick zu. »Müssen wir unbedingt über... über dieses gewöhnliche Volk reden, Estean? Wie steht es mit den Töchtern des alten Astoril? Hast du dich schon entschieden, welche du heiraten wirst?« »Was? Ach, ich werde wahrscheinlich eine Münze werfen.« Estean blickte seine Karten finster an, verschob eine und runzelte wieder die Stirn. »Medore hat zwei oder drei hübsche Zofen. Vielleicht nehme ich Medore.« Mat nahm einen tiefen Zug aus seinem silbernen Becher, um sich selbst davon abzuhalten, dem Kerl in sein Bauerngesicht zu schlagen. Es war immer noch sein erster Becher. Die Diener hatten das Nachfüllen bei ihm mittlerweile aufgegeben. Wenn er Estean schlug, würde keiner von denen auch nur eine Hand erheben, um ihn aufzuhalten, nicht einmal Estean selbst. Weil er der Freund des Lord Drachens war. Er wünschte sich in eine Taverne irgendwo außerhalb der Stadt, wo irgendein Hafenarbeiter sein Glück in Frage stellen würde und wo ihn nur sein schnelles Mundwerk oder seine flinken Beine und Hände ungeschoren wieder hinausbringen würden. Na ja, das war wirklich ein närrischer Wunsch.

Edorion blickte Mat wieder forschend an, um festzustellen, wie weit er ansprechbar sei. »Ich habe heute ein Gerücht gehört. Ich hörte, der Lord Drache werde uns zum Krieg mit Illian führen.« Mat erstickte fast an seinem Wein. »Was?« sprudelte er heraus.

»Krieg«, stimmte Reimon fast glücklich trotz des Pfeifenstiels in seinem Mund zu.

»Bist du sicher?« fragte Carlomin und Baran fügte hinzu: »Ich habe keine Gerüchte gehört.« »Ich habe es auch erst heute mitbekommen, aber gleich von drei oder vier verschiedenen Leuten.« Edorion schien in die Betrachtung seiner Karten versunken. »Wer weiß schon, was wirklich daran ist?« »Es muß stimmen«, sagte Reimon. »Wenn der Lord Drache uns führt mit Callandor in der Hand, dann wird es noch nicht einmal zum Kampf kommen. Er wird ihre Heere zerstreuen, und wir marschieren geradewegs nach Illian hinein. Auf gewisse Weise schade. Seng meine Seele, aber es ist tatsächlich schade. Ich hätte gern eine Chance, mich mit dem Schwert in der Hand mit den Illianern zu messen.« »Wenn der Lord Drache uns führt wirst du keine Gelegenheit dazu haben«, sagte Baran. »Sie werden auf die Knie fallen, sobald sie das Drachenbanner sehen.« »Und wenn nicht«, fügte Carlomin lachend hinzu, »wird er sie mit Blitzen an Ort und Stelle zerschmettern.« »Zuerst Illian«, sagte Reimon. »Und dann... Dann erobern wir die Welt für den Lord Drachen. Erzähle ihm nur, daß ich das gesagt habe, Mat. Die ganze Welt!« Mat schüttelte den Kopf. Noch vor einem Monat wären sie entsetzt gewesen, zu erfahren, daß ein Mann die Macht in diesem Ausmaße benützen konnte, ein Mann, dessen Schicksal es sein würde, wahnsinnig zu werden und auf furchtbare Art zu sterben. Jetzt waren sie bereit, Rand in jede Schlacht zu folgen, und vertrauten auf seine Macht, den Kampf für sie zu entscheiden. Der Einen Macht vertrauen, auch wenn sie es nicht so ausdrücken würden. Andererseits brauchten sie wohl etwas, an dem sie sich festhalten konnten. Der unbesiegbare Stein von Tear befand sich in den Händen der Aiel. Der Wiedergeborene Drache schlief in seinen Gemächern hundert Fuß über ihren Köpfen und hatte Callandor bei sich. Dreitausend Jahre tairenischer Anschauungen und Geschichte lagen in Trümmern, und die Welt war auf den Kopf gestellt worden. Er fragte sich, ob er anders denken würde. Auch seine eigene Welt war innerhalb eines Jahres aus den Angeln gehoben worden. Er ließ eine tairenische Goldkrone über seine Fingerrücken rollen. Wie er das auch alles bewältigt hatte — ein Zurück gab es nicht.

»Wann marschieren wir los, Mat?« fragte Baran.

»Ich weiß nicht«, antwortete er bedächtig. »Ich glaube nicht, daß Rand einen Krieg anfängt.« Es sei denn, er war bereits dabei, verrückt zu werden. Dieser Gedanke war kaum erträglich.

Die anderen sahen ihn an, als habe er ihnen versichert, die Sonne werde morgen nicht aufgehen.

»Wir stehen natürlich alle dem Lord Drachen loyal gegenüber.« Edorion blickte finster seine Karten an. »Aber draußen auf dem Land... Ich hörte, daß ein paar der Hochlords, nur wenige allerdings, versucht haben, dort ein Heer aufzustellen, das den Stein zurückerobern soll.« Plötzlich sahen alle an Mat vorbei. Nur Estean bemühte sich immer noch, seine Karten richtig einzuordnen. »Wenn der Lord Drache uns in den Krieg führt, wird davon natürlich nichts mehr übrigbleiben. Auf jeden Fall sind wir hier im Stein loyal. Die Hochlords auch, da bin ich sicher. Es sind nur ein paar, draußen auf dem Land.« Ihre Loyalität würde ihre Angst vor dem Wiedergeborenen Drachen nicht überdauern. Einen Augenblick lang hatte Mat das Gefühl, er lasse Rand inmitten einer Schlangengrube im Stich. Dann erinnerte er sich daran, wer Rand war. Es war eher, als lasse er ein Wiesel auf einem Hühnerhof zurück. Rand war sein Freund gewesen. Aber der Wiedergeborene Drache... Wer kann schon ein Freund des Wiedergeborenen Drachen sein? Ich lasse niemanden im Stich. Er könnte wahrscheinlich den Stein über ihren Köpfen zusammenstürzen lassen, wenn er wollte. Über meinem Kopf auch. Er sagte sich wieder, es sei höchste Zeit, zu gehen.

»Keine Fischertöchter«, murmelte Estean. »Du wirst mit dem Lord Drachen sprechen.« »Du bist dran, Mat«, sagte Carlomin schüchtern. Er wirkte zumindest halbwegs verängstigt, obwohl Mat nicht sagen konnte, wovor er Angst hatte — daß Estean Mat wieder wütend machen werde oder daß ihr Gespräch auf das Thema Loyalität zurückkommen könne? »Kaufst du die fünfte Karte, oder steigst du aus?« Mat wurde bewußt, daß er nicht aufgepaßt hatte. Jeder außer ihm selbst und Carlomin hatte fünf Karten. Nur Reimon hatte seine umgedreht auf den Tisch gelegt, um zu zeigen, daß er ausgestiegen war. Mat zögerte, gab vor, zu überlegen, seufzte dann und warf eine weitere Münze auf den Stapel.

Als die Silberkrone sich auf dem Tisch überschlug, fühlte er plötzlich, wie sein Glück sich von einem Rinnsal zu einem reißenden Strom verstärkte. Jedes Klimpern von Silber auf der hölzernen Tischfläche hallte in seinem Kopf nach. Er hätte bei jedem Überschlag der Münze voraussagen können, auf welche Seite sie fallen werde. Genauso wußte er bereits, welche Karte er als letzte von Carlomin erhalten werde.

Er schob seine Karten auf dem Tisch zusammen und breitete sie dann in der Hand zum Fächer aus. Neben den anderen vier stand da nun der Herr der Flammen, und der wurde dargestellt von der Amyrlin, die eine Flamme auf der Handfläche hielt. Sie sah allerdings überhaupt nicht wie Siuan Sanche aus. Welche Gefühle die Tairener auch den Aes Sedai gegenüber hegten, zumindest erkannten sie die Macht von Tar Valon an, auch wenn der Herr der Flammen der niedrigste der Könige war.

Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, alle fünf Könige in die Hand zu bekommen? Sein Glück war am stärksten ausgeprägt, wo der Zufall herrschte, wie beim Würfeln, aber nun wurde es anscheinend auch beim Kartenspielen immer besser. »Das Licht soll meine Knochen zu Asche verbrennen, wenn das nicht hinhaut«, knurrte er. Oder zumindest wollte er das sagen.

»Da!« Estean schrie es beinahe heraus. »Diesmal kannst du es nicht verleugnen! Das war die Alte Sprache. Irgend etwas von Brennen und Knochen.« Er sah sich grinsend am Tisch um. »Mein Hauslehrer wäre stolz auf mich. Ich sollte ihm ein Geschenk schicken. Falls ich herausfinden kann, wohin er gezogen ist.« Von Adligen erwartete man, daß sie die Alte Sprache beherrschten, obwohl in Wirklichkeit die meisten auch nicht mehr davon kannten als Estean. Die jungen Lords stritten sich offensichtlich darum, was genau Mat gesagt hatte. Sie schienen zu glauben, er habe über die Hitze geflucht.

Mat bekam eine Gänsehaut, als er sich ins Gedächtnis zurückzurufen versuchte, welche Worte er gerade benützt hatte. Unverständliches Zeug, aber fast schien er es doch zu verstehen! Seng Moiraine! Wenn sie mich in Ruhe gelassen hätte, hätte ich nicht diese Gedächtnislücken, so groß, daß ein Planwagen mitsamt Gespann hindurchpaßt, und ich würde nicht so ein... was es auch, verflucht noch mal, ist, daherquatschen! Er würde außerdem die Kühe seines Vaters melken, anstatt mit einer Tasche voll Gold durch die Weltgeschichte zu spazieren, doch er schaffte es, diesen letzten Gedanken noch einmal beiseite zu lassen.

»Seid ihr zum Spielen hier«, fragte er grob, »oder um wie die alten Weiber über ihrem Strickzeug zu klatschen?« »Um zu spielen«, antwortete Baran knapp. »Drei Kronen, Gold!« Er warf die Münzen auf den Haufen in der Mitte des Tisches.

»Und noch mal drei dazu!« Estean bekam einen Schluckauf, warf aber seinerseits sechs Goldkronen auf den Tisch.

Mat unterdrückte ein Grinsen und vergaß die Alte Sprache. Es war einfach genug: Er wollte schlicht nicht mehr daran denken. Außerdem: Wenn sie jetzt wirklich mit den Einsätzen in die Vollen gingen, würde er vielleicht genug gewinnen, um am Morgen abreisen zu können. Und wenn er wirklich verrückt genug ist, einen Krieg anzufangen, dann haue ich ab, auch wenn ich den ganzen Weg laufen muß.

Draußen in der Dunkelheit krähte ein Hahn. Mat wurde unruhig, auch wenn er sich selbst einen Narren schimpfte. Niemand würde sterben.

Sein Blick fiel auf die Karten, und dann kniff er erstaunt die Augen zu. Die Flamme der Amyrlin war durch ein Messer ersetzt worden. Während er sich sagte, er sei übermüdet und sehe schon Gespenster, hob sie die winzige Klinge und stieß sie ihm in den Handrücken.

Mit einem heiseren Aufschrei warf er seine Karten weg und ließ sich nach hinten fallen, wobei sein Stuhl umstürzte und er mit beiden Füßen im Fallen gegen den Tisch trat. Die Luft schien sich wie zu Honig zu verdichten. Alles bewegte sich nur noch wie in Zeitlupe, und trotzdem schien alles zur gleichen Zeit zu geschehen. Andere Schreie erklangen wie ein Echo der seinen, und sie verhallten wie in einer Höhle. Er fiel unendlich langsam zusammen mit dem Stuhl nach hinten und in die Tiefe, während der Tisch nach oben schwebte.

Der Herr der Flammen hing in der Luft, wurde immer größer und betrachtete ihn mit einem grausamen Lächeln. Sie aber, nun beinahe schon lebensgroß, trat aus der Karte heraus; noch immer eine gemalte Gestalt ohne Tiefe, stach sie mit dem Messer nach ihm, und das Messer war rot von Blut, seinem Blut, als habe es bereits in seinem Herzen gesteckt. Neben ihr begann der Herr der Pokale zu wachsen, und der tairenische Hochlord zog sein Schwert.

Mat schwebte, doch schaffte er es irgendwie, den Dolch in seinem linken Ärmel zu erreichen und ihn mit einer flüssigen Bewegung direkt in Richtung auf das Herz der Amyrlin zu werfen. Falls dieses Ding ein Herz hatte. Das zweite Messer rutschte glatt in seine linke Hand, und er warf es noch geschmeidiger. Die beiden Messer schwebten wie Daunenfedern durch die Luft auf ihre Ziele zu. Er hätte gern geschrien, aber dieser erste Aufschrei aus Schreck und Zorn hatte seinen Mund noch nicht einmal ganz verlassen. Die Herrin der Ruten wuchs nun neben den beiden anderen empor. Es war die Königin von Andor, die ihre Rute wie einen Knüppel in der Hand hielt. Unter ihrem rotgoldenen Haar war die verzerrte Fratze einer Wahnsinnigen zu sehen.

Er fiel noch immer und schrie noch immer diesen einen, ersten, langgezogenen Schrei. Die Amyrlin war aus ihrer Karte herausgekommen, und der Hochlord verließ gerade die seine mit dem gezogenen Schwert in der Hand. Die flachen Gestalten bewegten sich beinahe so langsam wie er. Beinahe. Er war sich sicher, daß der Stahl in ihren Händen schneiden konnte, und zweifellos würde die Rute einen Schädel zu Brei hämmern. Seinen Schädel.

Seine Dolche bewegten sich wie durch Gelatine. Er wußte nun, daß der Hahn für ihn gekräht hatte. Was sein Vater auch immer sagen mochte, dieses Omen war etwas Wirkliches. Doch er würde nicht aufgeben und sterben. Irgendwie gelang es ihm, zwei weitere Dolche aus seiner Jacke hervorzuholen und einen in jede Hand zu nehmen. Er wand sich in der Luft herum, um seine Füße unter sich zu bekommen, und warf ein Messer auf die Gestalt mit dem goldenen Haar und dem Knüppel. Das andere behielt er in der Hand, während er sich zu drehen versuchte und auf den Füßen landen wollte, damit er...

Die Welt schwankte, und alle Bewegungen liefen wieder in normaler Geschwindigkeit ab. Er landete schwerfällig und so hart auf der Seite, daß ihm zuerst die Luft wegblieb. Verzweifelt bemühte er sich, auf die Beine zu kommen, und zog ein weiteres Messer aus der Jacke hervor. Man kann nicht zu viele davon bei sich tragen, hatte Thom immer behauptet. Aber er benötigte keines mehr.

Einen Augenblick lang glaubte er sogar, die Karten und die Gestalten seien verschwunden. Oder daß er sich alles nur eingebildet habe. Vielleicht war auch er derjenige, der wahnsinnig wurde. Dann erblickte er die Karten, wieder in normaler Größe. Sie waren von seinen noch zitternden Messern an die dunkle Holztäfelung genagelt worden. Er atmete tief und ächzend ein.

Der Tisch lag umgekippt auf der Seite. Münzen rollten noch immer über den Fußboden, auf dem die jungen Adligen und die Diener gleichermaßen herumkrochen. Sie starrten Mat und seine Messer mit weit aufgerissenen, verängstigten Augen an — sowohl die Messer in seinen Händen wie auch die an der Wand. Estean schnappte sich einen silbernen Krug, der aus irgendwelchen Gründen nicht mit umgestürzt war, und begann, sich den Wein in den Mund zu kippen. Ein Teil des Weins lief ihm über das Kinn und auf die Brust hinunter.

»Nur weil dein Blatt nicht gut genug ist, um zu gewinnen«, sagte Edorion heiser, »mußt du nicht gleich... « Er brach schaudernd ab.

»Ihr habt es doch auch gesehen.« Mat steckte die Messer wieder in ihre Scheiden zurück. Ein dünnes Rinnsal Blut lief ihm von der winzigen Wunde über den Handrücken. »Tut nicht so, als wärt ihr blind!« »Ich habe nichts gesehen«, sagte Reimon hölzern. »Nichts!« Er begann, über den Boden zu kriechen, Gold und Silber aufzusammeln, wobei er sich so auf die Münzen konzentrierte, als seien sie das Wichtigste auf der Welt. Die anderen machten es ihm nach, bis auf Estean, der herumkrabbelte und alle Becher untersuchte, ob in einem vielleicht noch etwas Wein übriggeblieben sei. Einer der Diener hatte das Gesicht in den Händen verborgen, der andere betete leise in weinerlichem, atemlosem Ton mit geschlossenen Augen.

Mat knurrte einen Fluch und ging hinüber, wo seine Messer die drei Karten an die Wand genagelt hatten. Sie waren nur noch gewöhnliche Spielkarten, einfach Pappe mit leicht gesprungenen Lackfarben. Aber die Gestalt der Amyrlin hielt noch immer den Dolch anstelle der Flamme in der Hand. Er schmeckte Blut und ihm wurde bewußt, daß er an dem Schnitt in seinem Handrücken saugte.

Hastig riß er seine Messer heraus und zerriß jede Karte in zwei Hälften, bevor er das entsprechende Messer wegsteckte. Nach einem Augenblick des Überlegens suchte er die Karten auf dem Fußboden ab, bis er die Herren der Münzen und des Windes aufgespürt hatte. Die zerriß er ebenfalls. Er fühlte sich dabei wohl etwas närrisch, da ja alles vorüber war, und die Karten wieder nur Karten, aber er konnte nicht anders.

Keiner der jungen Adligen, die auf den Knien herumrutschten, versuchte, ihn aufzuhalten. Sie krabbelten ihm aus dem Weg und blickten ihn nicht einmal an. Heute nacht würde es keine Kartenspiele mehr geben und vielleicht auch an den nächsten Abenden nicht. Auf jeden Fall nicht mit ihm. Was auch geschehen war, es hatte eindeutig ihm gegolten. Und was noch eindeutiger war: Es hatte mit der Einen Macht zu tun. Und damit wollten sie nichts zu tun haben.

»Seng dich, Rand!« knurrte er leise. »Wenn du schon verrückt wirst, dann laß mich aus dem Spiel!« Seine Pfeife lag in zwei Teilen am Boden. Er hatte den Stiel glatt durchgebissen. Wütend schnappte er sich seinen Geldbeutel vom Fußboden und stolzierte aus dem Raum.

In seinem dunklen Schlafgemach wälzte sich Rand unruhig auf einem Bett herum, das breit genug war für fünf. Er träumte.

Moiraine trieb ihn mit einem spitzen Stock durch einen düsteren Wald zu einer Lichtung, auf der die Amyrlin ihn schon erwartete. Sie saß auf einem Baumstumpf und hatte ein für ihn bestimmtes Henkerseil in der Hand. Zwischen den Bäumen bewegten sich dunkle Gestalten, die er nur undeutlich wahrnehmen konnte, lauerten, hetzten ihn. Hier blinkte ein Dolch im Dämmerlicht, dort wartete ein Strick, um ihn zu fesseln. Moiraine, schlank und so klein, daß sie ihm kaum bis an die Schulter reichte, ließ einen Gesichtsausdruck erkennen, den er bei ihr noch nie gesehen hatte. Angst. Sie schwitzte, stieß ihn fester, versuchte, ihn dem Henkerseil der Amyrlin schneller zuzutreiben. Schattenfreunde und die Verlorenen lauerten im Wald, die Leine der Weißen Burg vor und Moiraine hinter ihm. Er duckte sich unter Moiraines Stock hindurch und floh.

»Dazu ist es zu spät!« rief sie ihm nach, aber er mußte zurück. Zurück.

Im Schlaf vor sich hin murmelnd, wälzte er sich herum, lag still, und dann atmete er kurze Zeit etwas leichter.

Er befand sich zu Hause im Wasserwald. Der Sonnenschein trieb breite Lichtbalken zwischen den Bäumen hindurch und glitzerte auf dem Teich vor ihm. Die Felsbrocken auf seiner Seite des Teichs waren grün bemoost, und dreißig Schritt entfernt am anderen Ufer blühten Blumen. Hier hatte er als Kind schwimmen gelernt.

»Du solltest jetzt ein wenig schwimmen.« Er fuhr erschrocken herum. Da stand Min in ihrer Jungenkleidung und grinste ihn an. Daneben stand Elayne. Ihr rotgoldenes Haar leuchtete über einem grünen Seidenkleid, das auch in den Palast ihrer Mutter gepaßt hätte.

Min war diejenige, die gesprochen hatte. Nun fügte Elayne hinzu: »Das Wasser wirkt einladend, Rand. Niemand wird uns hier stören.« »Ich weiß nicht«, begann er leise, doch Min unterbrach ihn, legte ihm die Arme um den Hals und zog sich auf die Zehenspitzen hoch. Dann gab sie ihm einen Kuß.

Sie wiederholte Elaynes Worte sanft und leise: »Niemand wird uns hier stören.« Dann trat sie zurück und warf ihren Mantel zur Seite, begann, die Bänder ihres Hemdes zu lösen.

Rand starrte sie entgeistert an, und seine Augen wurden noch größer, als er bemerkte, daß Elaynes Kleid auf dem moosbewachsenen Waldboden lag. Die Tochter-Erbin beugte sich gerade mit überkreuzten Armen vor, um sich das Hemd über den Kopf zu ziehen.

»Was macht ihr da?« fragte er mit erstickter Stimme.

»Wir machen uns fertig, um mit dir schwimmen zu gehen«, antwortete Min.

Elayne lächelte ihn an und zog das Hemd hoch.

Er drehte ihr schnell den Rücken zu, obwohl er eigentlich gern zugeschaut hätte. Und da fiel dann sein Blick auf Egwene, deren große, dunkle Augen ihn traurig anblickten. Wortlos wandte sie sich um und verschwand im Wald.

»Warte!« rief er ihr nach. »Ich kann es erklären!« Er fing an zu rennen. Er mußte sie finden. Aber als er den Waldrand erreichte, ließ Mins Stimme ihn stehenbleiben.

»Geh nicht, Rand!« Sie und Elayne befanden sich bereits im Wasser. Nur ihre Köpfe waren zu sehen, als sie sich entspannt in die Mitte des Teichs treiben ließen.

»Komm zurück«, rief Elayne und hob einen schlanken Arm, um ihm zuzuwinken. »Hast du nicht zur Abwechslung einmal verdient, was du gern haben möchtest?« Er trat unsicher von einem Fuß auf den anderen. Er wollte sich bewegen, war aber nicht in der Lage, sich für eine Richtung zu entscheiden. Was er gern haben wollte. Das klang eigenartig. Was wollte er eigentlich? Er hob eine Hand an sein Gesicht, um wegzuwischen, was ihm als Schweiß von der Stirn zu rinnen schien. Verfaulendes Fleisch hatte beinahe den in seine Handfläche gebrannten Reiher ausgelöscht. Zwischen den ekligroten Wundrändern blitzten weiße Knochen.

Mit einem Ruck fuhr er hoch und war wach. Er lag vor Kälte zitternd in der dunklen Nachthitze. Seine Unterwäsche war schweißgetränkt, genau wie das leinene Bettuch unter seinem Rücken. Seine Seite brannte, wo die alte Wunde noch immer nicht richtig verheilt war. Er fuhr mit den Fingern die Narbe nach einen Kreis von mehr als zwei Finger Durchmesser, wo die Haut nach all dieser Zeit noch immer empfindlich war. Selbst Moiraines Aes-Sedai-Heilkunst konnte die Heilung nicht bewerkstelligen. Aber noch verfaule ich nicht. Und ich bin auch noch nicht wahnsinnig. Noch nicht. Noch nicht. Das sagte alles. Er hätte gern gelacht, fragte sich aber gleichzeitig, ob das ein Anzeichen für den beginnenden Wahnsinn sei.

Von Min und Elayne zu träumen, und dann noch auf diese Art und Weise...

Nun ja, Wahnsinn war es nicht, aber verrückt schon. Keine der beiden hatte ihn je auf diese Art angesehen, wenn er wach war. Er war beinahe mit Egwene verlobt gewesen, und das seit ihrer Kindheit. Sicher war die Verlobungsformel nicht vor der Versammlung der Frauen gesprochen worden, aber jeder in und um Emondsfeld herum hatte gewußt, daß sie eines Tages heiraten würden.

Natürlich würde dieser Tag nun niemals kommen, nicht bei dem Schicksal, das einen Mann erwartete, der die Macht lenkte. Auch Egwene mußte das begriffen haben. Sie war vollauf damit beschäftigt, zur Aes Sedai zu werden. Trotzdem — Frauen waren schon seltsam:

Vielleicht dachte sie, sie könne Aes Sedai sein und ihn dennoch heiraten, ob er nun die Macht benutzen konnte oder nicht. Wie konnte er ihr sagen, daß er sie nicht mehr heiraten wollte, daß er sie wie eine Schwester liebte? Aber es war sicher nicht mehr notwendig, ihr das zu sagen. Er konnte sich hinter dem verstecken, was er war; das mußte sie verstehen. Denn welcher Mann konnte eine Frau bitten, ihn zu heiraten, obwohl er wußte, daß er mit Glück nur ein paar Jahre vor sich hatte, bevor er wahnsinnig wurde, bevor er bei lebendigem Leib zu verfaulen begann? Er schauderte trotz der Hitze.

Ich brauche Schlaf. Die Hochlords würden am Morgen zurückkehren und wieder um seine Gunst buhlen — um die Gunst des Wiedergeborenen Drachen. Vielleicht träume ich diesmal nicht. Er rollte sich herum und suchte nach einem trockenen Fleck auf dem Bettuch. Doch dann erstarrte er und lauschte einem leichten Rascheln in der Dunkelheit. Er war nicht allein.

Das Schwert, Das Kein Schwert War, lag auf der anderen Seite des Zimmers, außerhalb seiner Reichweite, auf einem thronähnlichen Ständer, den ihm die Hochlords verehrt hatten, zweifellos in der Hoffnung, daß er Callandor irgendwo außer Sicht aufbewahren werde. Jemand will Callandor stehlen. Ein neuer Gedanke kam ihm. Oder den Wiedergeborenen Drachen töten. Er brauchte Thoms heimlich zugeflüsterte Warnungen nicht, um zu wissen, daß das Geschwätz der Hochlords von Loyalität nur der augenblicklichen Notwendigkeit entsprang.

Er löste sich von allen Gedanken und Gefühlen und suchte das Nichts. Das ging mühelos. Als er in der kalten Leere in seinem Innern schwebte, Gedanken und Gefühle außerhalb zurücklassend, griff er nach der Wahren Quelle. Diesmal berührte er sie leicht, was nicht immer der Fall war.

Saidin erfüllte ihn wie ein Strom weißer Glut, ließ ihn vor Leben sprühen, machte ihn krank mit der Fäulnis, mit der es der Dunkle König vergiftet hatte. Es war wie Schmutz, der an der Oberfläche klaren, sauberen Wassers schwamm. Der Strom drohte, ihn wegzuschwemmen, ihn zu verbrennen, ihn einzuschließen.

Er kämpfte gegen die Flut an und meisterte sie mit reiner Willenskraft. Er ließ sich aus dem Bett fallen, landete auf den Füßen, benützte die Macht und nahm sofort eine Haltung ein, die er beim Schwertkampf unter dem Namen ›Apfelblüten im Wind‹ kennengelernt hatte. Es konnten sich nicht viele Feinde im Raum befinden, sonst hätten sie mehr Lärm gemacht; seine Haltung, die so wohlklingend umschrieben wurde, war aber trotzdem die eines Schwertkämpfers, der mehr als einem Gegner gegenübersteht.

Als seine Füße den Teppich berührten, hielt er ein Schwert in der Hand. Es hatte einen langen Griff und eine leicht gekrümmte Klinge, die an einer Seite geschliffen war. Es sah aus, als sei es aus Feuer geschmiedet worden, fühlte sich aber nicht einmal warm an. Die Gestalt eines Reihers hob sich schwarz vom Gelb-Rot der Klinge ab. Im gleichen Moment entzündete sich jede Kerze, jede vergoldete Lampe im Raum, und die kleinen Spiegel hinter jeder einzelnen verstärkten den Lichtschein. Große Spiegel an den Wänden und zwei Spiegelständer reflektierten das Licht erneut, bis er bequem in jeder Ecke des großen Raums hätte lesen können.

Callandors Ständer war mannshoch, aus kunstvoll geschnitztem Holz, vergoldet und mit kostbaren Edelsteinen eingelegt. Dort stand unberührt das Schwert, das ganz aus Glas angefertigt zu sein schien. Auch die übrige Einrichtung war vergoldet und mit Gemmen besetzt, selbst Bett und Stühle und Bänke, Kleiderschrank, Truhen und Waschtisch. Krug und Waschschüssel bestanden aus dem goldenem Porzellan der Meerleute und waren so dünn wie ein Blatt. Von dem breiten Teppich aus Tarabon mit seinen roten, goldenen und blauen Mustern hätte ein ganzes Dorf monatelang leben können. Auf beinahe jeder freien Fläche stand weiteres zerbrechliches Meervolk-Porzellan der Pokale und Schüsseln aus Gold, mit Silber eingelegt, oder aus vergoldetem Silber. Auf dem breiten Marmorsims über dem Kamin jagten zwei Silberwölfe mit Rubinaugen einen gut drei Fuß hohen goldenen Hirsch. Vor den engen Fenstern hingen Vorhänge aus scharlachroter Seide mit aufgestickten Adlern aus Goldfäden. Sie blähten sich leicht im nachlassenden Nachtwind. Wo noch Platz war, lagen Bücher, in Leder gebunden, in Holz gebunden, manche zerfleddert und noch voller Staub, wie er sie von den hintersten Regalbrettern der Bibliothek des Steins hatte herholen lassen.

Wo er nun Attentäter oder Diebe zu sehen erwartet hatte, stand allein eine schöne junge Frau zögernd und überrascht in der Mitte des Raums. Das schwarze Haar fiel ihr in sanften Wellen auf die Schultern. Ihr dünner weißer Umhang enthüllte mehr, als er verbarg. Berelain, die Herrscherin des Stadtstaates Mayene, war die letzte Person, die er hier zu sehen erwartet hatte.

Zuerst fuhr sie zusammen und riß die Augen auf, doch dann machte sie einen tiefen, graziösen Knicks, bei dem sich ihr Umhang noch straffte. »Ich bin unbewaffnet, Lord Drache. Ich unterwerfe mich Eurer Untersuchung, wenn Ihr an meinen Worten zweifelt.« Ihr Lächeln machte ihn nervös und darauf aufmerksam, daß er nichts als Unterwäsche an hatte.

Ich will versengt sein, wenn ich ihretwegen herumrenne und versuche, mir etwas anzuziehen. Der Gedanke schwebte jenseits des Nichts. Ich habe sie nicht gebeten, zu mir hereinzukommen. Sich einzuschleichen! Auch Ärger und Verlegenheit trieben am Rande der Leere entlang, doch er errötete trotzdem, war sich dessen auch vage bewußt, und dieses Bewußtsein trieb ihm die Röte noch tiefer ins Gesicht. So kaltblütig und ruhig innerhalb des Nichts, aber draußen... Er nahm jeden einzelnen Schweißtropfen wahr, der ihm über Brust und Rücken rann. Es kostete ihn ungeheure Mühe und Willenskraft, hier vor ihren Augen stehenzubleiben. Sie durchsuchen? Licht, hilf mir!

Er entspannte sich und ließ das Schwert verschwinden, doch den engen Strom, der ihn mit Saidin verband, unterbrach er noch nicht. Das war so, als trinke er aus einem Loch im Deich, obwohl der ganze Dammbau nachgeben wollte. Und das Wasser war süß wie Honigwein und machte ihn krank wie ein Bach, der sich aus einem Misthaufen ergoß.

Er wußte nicht viel über diese Frau, nur, daß sie durch den Stein schritt, als sei es ihr Palast in Mayene. Thom sagte, die Erste von Mayene stelle pausenlos Fragen an jedermann, vor allem aber erkundige sie sich überall nach Rand. Was vielleicht ganz normal war, wenn man bedachte, was er war, doch leichter machte es ihm die Sache nicht. Und sie war nicht nach Mayene zurückgekehrt. Das war unnatürlich. Sie war monatelang praktisch gefangen gehalten worden, auch wenn man es nicht so nannte, bis er ankam — abgeschnitten von ihrem Thron und der Herrschaft über ihr kleines Volk. Die meisten Menschen hätten in ihrer Lage die erste Gelegenheit ergriffen, um vor einem Mann wegzulaufen, der die Macht benutzte.

»Was macht Ihr hier?« Er wußte, das klang grob, aber es war ihm gleich. »Als ich schlafen ging, standen Aiel an meiner Tür Wache. Wie seid Ihr an ihnen vorbeigekommen?« Berelains Lächeln verstärkte sich noch etwas. Rand schien es, als sei es im Raum noch ein wenig heißer geworden. »Sie haben mich sofort durchgelassen, als ich sagte, der Lord Drache habe mich zu sich bestellt.« »Bestellt? Ich habe niemanden zu mir bestellt.« Hör auf damit, sagte er sich. Sie ist Königin oder beinahe so etwas. Du weißt ebensoviel über den Umgang mit Königinnen wie über das Fliegen. Also bemühte er sich, höflich zu sein, nur, wußte aber nicht einmal, wie man die Erste von Mayene anredete. »Lady...« Das mußte eben reichen. »... warum sollte ich Euch um diese Zeit in der Nacht zu mir bestellen?« Sie lachte mit tiefer, wohltönender Stimme — ein kehliges Lachen. Sogar in das Nichts gehüllt, schien es ihn zu erregen, sträubten sich ihm die Härchen auf Armen und Beinen. Plötzlich wurde ihm ihr durchscheinendes, enges Gewand erst richtig bewußt, und er spürte, wie er erneut rot anlief. Sie kann doch nicht meinen... Oder doch? Licht, ich habe mit ihr doch noch keine zwei Worte gesprochen.

»Vielleicht möchte ich mich mit Euch unterhalten, mein Lord Drache.« Sie ließ die helle Robe zu Boden fallen und enthüllte ein noch dünneres weißes Seidengewand darunter, das man kaum noch Nachthemd nennen konnte. Ihre Schultern waren nun völlig unbedeckt, und ein großer Teil ihres weißen Busens bot sich nun seinen Blicken dar. Er ertappte sich bei der Frage, was diesen Busen wohl hielt. Es fiel ihm schwer, nicht zu deutlich hinzustarren. »Ihr seid weit weg von zu Hause, genau wie ich. Besonders die Nächte sind einsam.« »Morgen werde ich mich glücklich schätzen, mit Euch zu reden.« »Aber den Tag über seid Ihr von Leuten umgeben. Bittsteller. Hochlords. Aiel.« Sie schauderte. Er sagte sich, er solle eigentlich nun woandershin schauen, aber genausogut hätte er das Atmen aufgeben können. Noch niemals zuvor, wenn er sich im Nichts befand, hatte er seine körperlichen Reaktionen so deutlich zu spüren bekommen. »Die Aiel ängstigen mich, und ich mag keinen dieser Lords aus Tear.« Das mit den Tairenern nahm er ihr ab, aber andererseits glaubte er nicht, daß diese Frau vor irgend jemandem Angst hatte. Seng mich, sie befindet sich mitten in der Nacht im Schlafzimmer eines fremden Mannes, ist nur dürftig angezogen und ich bin derjenige, der Angst hat wie ein Katze im Hundezwinger, Nichts hin oder her. Es wurde Zeit, diesen Zustand zu beenden, bevor er zu weit führte.

»Es ist besser, wenn Ihr nun in Eure eigenen Gemächer zurückkehrt, Lady.« Etwas in ihm wollte ihr auch noch empfehlen, einen Umhang anzulegen. Einen weniger dünnen Umhang. Etwas — aber... »Es... es ist wirklich zu spät, um sich zu unterhalten. Morgen. Bei Tageslicht.« Sie sah ihn fragend von der Seite her an. »Habt Ihr bereits die steifen Sitten von Tear angenommen, Lord Drache? Oder rührt diese Zurückhaltung von Euren Zwei Flüssen her? Wir sind nicht so... formell... in Mayene.« »Lady... « Er bemühte sich, förmlich und distanziert zu sprechen. Wenn sie das abschreckte, war es genau richtig. »Ich bin Egwene al'Vere versprochen, Lady Berelain.« »Ihr meint die Aes Sedai, Lord Drache? Falls sie wirklich eine ist. Sie ist ziemlich jung — vielleicht zu jung —, um Ring und Stola zu tragen.« Berelain sprach von ihr, als sei Egwene ein Kind, obwohl sie selbst kaum ein Jahr älter als Rand sein konnte, wenn überhaupt, und er war nur wenig mehr als zwei Jahre älter als Egwene. »Lord Drache, ich wollte mich nicht zwischen Euch drängen. Heiratet sie, wenn sie eine Grüne Ajah ist. Ich würde niemals wagen, den Wiedergeborenen Drachen heiraten zu wollen. Vergebt mir, falls ich mich zu weit vorwage, aber ich habe Euch ja gesagt, daß wir in Mayene nicht so... formell sind. Darf ich Euch Rand nennen?« Rand ertappte sich dabei, daß er bedauernd seufzte. In ihrem Blick hatte etwas geglitzert, der Ausdruck ihrer Augen hatte sich ein wenig verändert, aber nur ganz kurz, als sie davon sprach, den Wiedergeborenen Drachen zu heiraten. Falls sie zuvor nicht daran gedacht hatte, hatte sie das jetzt aber bestimmt getan. Den Wiedergeborenen Drachen, nicht Rand al'Thor; die Gestalt aus den Prophezeiungen und nicht den Schäfer von den Zwei Flüssen. Er war darüber nicht weiter schockiert: Auch zu Hause himmelten die Mädchen denjenigen an, der sich als der schnellste oder stärkste bei den Spielen an Bel Tein erwies, und gelegentlich warfen die Frauen ein Auge auf den Mann mit den größten Feldern oder Herden. Es wäre aber doch nett gewesen, glauben zu dürfen, daß sie Rand al'Thor begehre. »Es ist Zeit, daß Ihr geht, Lady Berelain«, sagte er ruhig.

Sie trat näher an ihn heran. »Ich fühle Eure Blicke auf mir, Rand.« Ihre Stimme klang rauchig und erhitzt. »Ich bin kein Mädchen vom Dorf, das seiner Mutter am Schürzenzipfel hängt, und ich weiß, daß Ihr eine Frau... « »Glaubt Ihr, daß ich aus Stein bestehe, Frau?« Sie fuhr zusammen, als er sie anbrüllte, aber im nächsten Moment war sie schon bei ihm, faßte nach ihm, und ihre Augen waren dunkle Teiche, die einen Mann unwiderstehlich in ihre Tiefen zogen.

»Eure Arme wirken so stark wie Stein. Wenn Ihr glaubt, mich grob behandeln zu müssen, dann seid grob zu mir, aber haltet mich fest, bitte.« Ihre Hände berührten sein Gesicht. Von ihren Fingerspitzen schienen Funken zu sprühen.

Ohne zu überlegen, lenkte er eine winzige Menge der Macht, die ihn noch durchströmte, und plötzlich taumelte sie mit weit aufgerissenen Augen rückwärts, als stoße die Luft selbst sie weg. Ihm wurde bewußt, daß er tatsächlich Luft dazu benützt hatte. Häufiger, als ihm bewußt war vollbrachte er Dinge, ohne zu wissen, was er eigentlich tat. Aber wenigstens konnte er sich gewöhnlich hinterher daran erinnern, wie er es künftig anstellen mußte.

Der unsichtbare Luftschwall warf Wellen in dem Teppich, ließ Berelains abgelegtes Gewand davongleiten, ebenso einen seiner beim Ausziehen weggeworfenen Stiefel und ein rotes Lederpolster, auf dem ein geöffnetes Exemplar von Eban Vandes Geschichte des Steins von Tear lag. Berelain wurde fast bis zur Wand zurückgedrängt und dort festgehalten. In sicherem Abstand von ihm. Er nabelte den winzigen Machtstrom ab — ihm fiel kein anderer Ausdruck dafür ein — und mußte nun seine Abschirmung nicht mehr aufrecht erhalten. Einen Augenblick lang prägte er sich genau ein, was er getan hatte, um es später wiederholen zu können. Es schien etwas Nützliches zu sein, besonders das Abnabeln am Ende.

Mit immer noch weit aufgerissenen dunklen Augen tastete Berelain mit zittrigen Händen nach den Wänden ihres unsichtbaren Gefängnisses. Ihr Gesicht war fast so weiß wie ihr spärliches Seidenhemd. Polster, Stiefel und Buch lagen samt ihrem Gewand in wildem Durcheinander zu ihren Füßen.

»So sehr ich das auch bedaure«, sagte er zu ihr, »aber wir werden uns künftig nur noch in der Öffentlichkeit unterhalten, Lady Berelain.« Er bedauerte es tatsächlich. Was sie auch vorhatte — sie war wirklich schön! Seng mich, was bin ich doch für ein Narr! Er war sich selbst nicht ganz im klaren darüber, wie er das gemeint hatte: ihrer Schönheit wegen oder weil er sie wegschickte. »Es ist wahrscheinlich sogar besser, Ihr arrangiert Eure Rückreise nach Mayene so bald wie möglich. Ich verspreche Euch, daß Tear Mayene künftig keine Schwierigkeiten mehr bereiten wird. Ihr habt mein Wort darauf.« Das Versprechen konnte höchstens zeit seines Lebens Gültigkeit haben, oder möglicherweise nur, solange er sich im Stein befand, doch irgend etwas mußte er ihr nun bieten. Ein Pflaster für verletzten Stolz, ein Geschenk, um sie von ihrer Angst abzulenken.

Aber zumindest äußerlich hatte sie sich bereits wieder unter Kontrolle. Ehrlichkeit und Offenheit standen nun in ihrem Gesicht geschrieben, und alles Bemühen, ihn zu verführen, war daraus verschwunden. »Vergebt mir. Ich habe das sehr schlecht angefangen. Ich wollte Euch nicht beleidigen. In meinem Land sagt eine Frau einem Mann ganz offen, was sie will, und umgekehrt natürlich auch. Rand, Ihr müßt doch wissen, daß Ihr ein gutaussehender Mann seid, groß und stattlich. Ich wäre diejenige, die aus Stein bestünde, wenn mir das nicht aufgefallen wäre. Bitte schickt mich nicht weg. Wenn Ihr wünscht, bitte ich Euch auf Knien darum.« Mit einer geschmeidigen, tänzerischen Bewegung kniete sie in ihrem Gefängnis nieder. Ihr Gesichtsausdruck besagte immer noch, daß sie ganz offen sei, alles gestehe, aber andererseits hatte sie es fertiggebracht, im Niederknien ihr sowieso schon knappes Hemd noch weiter herabzuziehen, bis es den Eindruck erweckte, jeden Moment ganz herunterfallen zu können.

»Bitte, Rand?« Sogar so im Nichts geborgen, starrte er sie mit offenem Mund an, und das hatte nichts mit ihrer Schönheit zu tun oder mit dem Zustand ihrer Bekleidung. Oder nur ein wenig. Wären die Verteidiger des Steins nur halb so entschlossen in den Kampf gegangen wie diese Frau, nur halb so standhaft wie sie, dann hätten auch zehntausend Aiel den Stein nicht erobert.

»Ihr schmeichelt mir, Lady Berelain«, sagte er diplomatisch. »Glaubt mir, Ihr schmeichelt mir wirklich. Aber es wäre nicht fair Euch gegenüber. Ich kann Euch nicht geben, was Ihr verdient.« Und das kann sie verstehen, wie sie will.

Draußen in der Dunkelheit krähte ein Hahn.

Zu Rands Überraschung starrte Berelain plötzlich an ihm vorbei etwas mit weit aufgerissenen Augen an. Ihr Mund öffnete sich und ihr Hals zog sich in einem Schrei zusammen, der nicht herauskam. Er wirbelte herum, und das gelbrote Schwert flammte wieder in seiner Hand auf.

Auf der anderen Seite des Zimmers warf einer der hohen Standspiegel sein Bild zurück, das eines hochgewachsenen jungen Mannes mit rötlichem Haar und grauen Augen, der nur dünne Leinenunterwäsche trug und ein aus Flammen geschmiedetes Schwert in Händen hielt. Das Spiegelbild trat aus der glänzenden Glasfläche heraus und hob das Schwert.

Ich bin übergeschnappt! Der Gedanke trieb am Rande des Nichts entlang. Nein! Sie hat es auch gesehen. Es ist Wirklichkeit.

Eine Bewegung zu seiner Linken ließ ihn herumfahren. Er bewegte sich automatisch und vollführte mit dem Schwert ›Der Mond erhebt sich über den Wassern‹. Die Klinge schlitzte die Gestalt auf — seine Gestalt —, die aus einem Spiegel an der Wand geklettert war. Ihr Umriß verschwamm, zerfiel in durch die Luft treibende Staubkörner und verschwand. Rands Spiegelbild erschien wieder im Spiegel selbst, ergriff aber im gleichen Moment schon wieder mit beiden Händen den Spiegelrahmen. Überall im Raum kam Bewegung in die Spiegel.

Verzweifelt stach er in den nächststehenden Spiegel. Das versilberte Glas splitterte, doch ihm schien es, daß die Gestalt darin zuerst zersplittert war. Er glaubte, einen fernen Schrei in seinem Kopf gehört zu haben, den verklingenden Schrei seiner eigenen Stimme. Noch in dem Moment, als die Scherben herunterfielen, schlug er mit der Einen Macht zu. Jeder Spiegel im Raum explodierte lautlos, und Scherben spritzten durch die Luft und auf den Teppich. Wieder und wieder ertönte der Todesschrei in seinem Kopf und jagte ihm Schauder über den Rücken. Es war seine Stimme. Er konnte kaum glauben, daß nicht er selbst diese Schreie ausstieß.

Er wirbelte herum, um denjenigen abzufangen, der herausgekommen war, und schaffte es gerade noch rechtzeitig. ›Den Fächer öffnen‹, um damit ›Steine rollen den Hang herab‹ zu parieren. Die Gestalt sprang zurück und plötzlich merkte Rand, daß sie nicht allein war. So schnell er auch die Spiegel zerschmettert hatte, waren doch zwei weitere Spiegelbilder entkommen. Nun standen sie ihm gegenüber, drei Doppelgänger seiner selbst, bis hin zu der runden Narbe an der Seite, und sie alle blickten ihn an, die Gesichter haßverzerrt, voller Verachtung und auf eigenartige Weise hungrig. Nur ihre Augen erschienen leer, leblos. Bevor er Luft holen konnte, stürmten sie auf ihn ein.

Rand sprang zur Seite. Spiegelscherben schnitten ihm in die bloßen Füße. Immer wieder wich er seitlich aus, glitt aus einer Fechtfigur in die andere und versuchte, sie so zu lenken, daß er immer nur einem gegenüberstand. Er benützte alles, was Lan, Moiraines Behüter, ihm bei ihren täglichen Übungen mit dem Schwert beigebracht hatte.

Wenn die drei gemeinsam gekämpft hätten, sich gegenseitig ergänzt, dann wäre er nach einer Minute tot gewesen, aber jeder focht allein für sich gegen ihn, als existierten die anderen gar nicht. Doch auch so konnte er ihren Klingen nicht ganz entgehen. Nach kurzer Zeit rannen ihm Blutspuren über Wange, Brust und Arme. Die alte Wunde riß wieder auf und trug das Ihrige dazu bei, daß seine Unterwäsche sich rot färbte. Sie besaßen nicht nur sein Gesicht, sondern auch seine Geschicklichkeit, und sie waren immerhin drei gegen einen. Stühle und Tischchen stürzten um; kostbares Meervolk-Porzellan zerbrach auf dem Teppich.

Er fühlte, wie seine Kraft schwand. Keine der Schnittwunden war für sich selbst gefährlich, außer natürlich der alten Wunde, aber alle zusammen... Er dachte überhaupt nicht daran, die Aiel vor der Tür zur Hilfe zu rufen. Die dicken Wände würden selbst einen Todesschrei zurückhalten. Was auch vollbracht werden mußte — er allein war dafür verantwortlich. Er kämpfte, in die kalte Gefühllosigkeit des Nichts gehüllt, doch an dessen Oberfläche kratzte die Furcht wie vom Wind gepeitschte Zweige in der Nacht über ein Fenster schaben.

Seine Klinge fuhr an einem Gegner vorbei und zerschnitt ein Gesicht gerade unterhalb der Augen. Er konnte nicht anders, als die Zähne zusammenzubeißen, denn es war sein Gesicht. Der dieses Gesichts schreckte gerade weit genug zurück, um einen tödlichen Schnitt zu vermeiden. Blut quoll aus der Wunde. Mund und Kinn wurden von einem dunkelroten Schleier überzogen, aber der Gesichtsausdruck der Gestalt änderte sich nicht im geringsten. Der Blick aus den leeren Augen blieb stetig. Er wünschte seinen Tod herbei, so, wie ein verhungernder Mann sich nach Essen sehnt.

Kann denn nichts sie umbringen? Alle drei bluteten aus Wunden, die er ihnen beigebracht hatte, doch das schien sie keineswegs zu behindern, so wie seine Wunden ihn langsamer werden ließen. Sie bemühten sich, sein Schwert zu meiden, schienen aber gar nicht zu bemerken, daß sie verwundet waren. Wenn sie überhaupt verletzt wurden, dachte er grimmig. Licht, wenn sie bluten, kann man sie auch verletzen. So muß es sein! Er brauchte eine Pause, um Luft zu holen, um Kraft zu schöpfen und sich zu sammeln. Mit einemmal sprang er von ihnen weg auf das Bett und rollte sich darüber hinweg ab. Er fühlte mehr, als daß er sie sehen konnte, die Klingen, die seine Bettücher zerschnitten und seine Haut knapp verfehlten. Taumelnd landete er auf den Füßen und hielt sich an einem kleinen Tisch fest. Die glänzende, mit Gold eingelegte Silberschüssel darauf schwankte. Einer seiner Doppelgänger war auf das aufgeschlitzte Bett geklettert und trat Gänsefedern hoch, als er vorsichtig mit bereitgehaltenem Schwert darüberschritt. Die anderen beiden kamen langsam um das Bett herum auf ihn zu, ignorierten sich aber gegenseitig und hatten nur Augen für ihn. Diese Augen funkelten wie Glas.

Rand zuckte zusammen, als er den Stich in seiner auf der Tischfläche liegenden Hand wahrnahm. Da stand ein weiterer Doppelgänger, nicht mehr als eine Handbreit groß, und zog gerade sein Schwert zurück, um neu auszuholen. Instinktiv packte er die kleine Gestalt, bevor sie wieder zustechen konnte. Sie wand sich in seinem Griff und fletschte die Zähne. Er bemerkte nun viele kleine Bewegungen im ganzen Raum. Eine Menge winziger Doppelgänger stieg aus den Spiegelscherben hervor. Seine Hand wurde taub und kalt, als sauge das Dinge die Wärme aus seinem Fleisch. Die Hitze Saidins schwoll in ihm an. Das Blut rauschte in seinem Kopf, und die Hitze floß in seine eisige Hand.

Plötzlich zerbarst die kleine Gestalt wie eine Blase, und er spürte, wie etwas in ihn hineinströmte, vielleicht ein kleiner Teil seiner verlorengegangenen Stärke. Er zuckte, und sein Körper wurde von kleinen Blitzschlägen neuer Lebenskraft erschüttert.

Als er den Kopf hob und sich dabei fragte, wieso er eigentlich noch nicht tot sei, waren die kleinen Doppelgänger, die er aus dem Augenwinkel gesehen hatte, alle verschwunden. Die drei größeren standen schwankend da, als habe er ihnen diese neue Kraft abgewonnen. Doch während er sich noch umsah, faßten sie wieder Fuß und kamen erneut, wenn auch vorsichtiger als zuvor, auf ihn zu.

Er trat zurück und zermarterte sich das Hirn. Sein Schwert bedrohte erst den einen und dann den anderen. Wenn er so weiterkämpfte wie vorher, würden sie ihn früher oder später töten. Das war ihm genauso klar, wie die Tatsache, daß er blutete. Aber seine Doppelgänger wurden durch irgend etwas miteinander verbunden. Als er die Kraft des Winzlings in sich aufgesogen hatte — der bloße Gedanke daran ließ in ihm Übelkeit aufsteigen, aber es war Tatsache —, hatte er damit nicht nur die anderen kleinen Spiegelbilder gleich mitgenommen, sondern auch, zumindest einen Augenblick lang, die größeren geschwächt. Wenn er das gleiche bei einem von ihnen fertigbrachte, wären vielleicht alle drei vernichtet.

Bei dem Gedanken daran, sie in sich hineinzusaugen, wurde ihm schlecht, aber etwas anderes fiel ihm nicht ein. Aber ich weiß nicht, wie! Wie habe ich das angestellt? Licht, was genau habe ich getan? Er mußte mit einem davon ringen, ihn wenigstens berühren; irgendwie war er sich dessen sicher. Aber wenn er versuchte, sich einem so weit zu nähern, würde er innerhalb eines Herzschlags von drei Schwertern durchbohrt. Spiegelbilder. Inwieweit sind sie immer noch Spiegelbilder?

Er hoffte, sich damit nicht selbst zum Narren zu machen — dann wäre er nämlich im Handumdrehen ein toter Narr —und ließ sein Schwert verschwinden. Er war bereit, es innerhalb eines Augenblicks wieder erscheinen zu lassen, aber als seine flammengeschmiedete Klinge verlosch, geschah das gleiche mit den Klingen der anderen. Diesen einen Moment lang zeichnete Verwirrung die drei Kopien seines Gesichts, von denen eine nur noch eine blutige Grimasse darstellte. Doch bevor er einen von ihnen packen konnte, sprangen sie alle auf ihn zu und stürzten in einem wilden Haufen um sich schlagender Gliedmaßen zu Boden. Sie rollten über den scherbenübersäten Teppich.

Kälte sickerte in Rand ein. Seine Gliedmaßen wurden taub, seine Knochen ebenfalls, bis er die Scherben kaum noch spürte, die Glasscherben der Spiegel und die Porzellanscherben, die sich in seine Haut bohrten. Etwas wie Panik flackerte durch die ihn umgebende Leere. Möglicherweise hatte er einen tödlichen Fehler begangen. Sie waren viel größer als derjenige, den er in sich aufgenommen hatte. Sie entzogen seinem Körper auch viel mehr Wärme. Und nicht nur Wärme. In dem Maße, wie sein Körper erkaltete, nahmen ihre glasigen Augen Leben an. Mit kalter Sicherheit wurde ihm klar, daß sein Tod diesen Kampf nicht beenden würde. Sie würden untereinander weiterkämpfen, bis nur noch einer übrig blieb, und der würde dann sein Leben führen, seine Erinnerungen besitzen, er sein.

Verzweifelt kämpfte er weiter. Je schwächer er wurde, desto mehr strengte er sich an. Er sog Saidin in sich auf und versuchte, sich mit dessen Wärme aufzuladen. Selbst das Würgen ob Saidins Verderbtheit war ihm jetzt willkommen, denn je stärker er das empfand, desto mehr der Macht nahm er in sich auf. Wenn sein Magen rebellierte, zeigte das ja, daß er noch am Leben war und kämpfen konnte. Aber wie? Wie? Was habe ich vorhin nur gemacht? Saidin tobte durch seinen Körper. Wenn er diesen Kampf überlebte, so schien es ihm, würde die Macht ihn verschlingen. Wie habe ich das angestellt? Alles, was ihm übrig blieb, war, Saidin an sich zu reißen... zu versuchen... die Angreifer damit zu packen... in einer Gewaltanstrengung...

Einer der drei verschwand. Rand spürte, wie die Gestalt in ihn hineinglitt. Es war, als sei er aus großer Höhe herabgestürzt, direkt auf den steinernen Boden. Und dann kamen die beiden anderen zur gleichen Zeit. Der Aufschlag warf ihn auf den Rücken, und so lag er da und starrte die Stuckdecke mit den vergoldeten Ecken an. Er genoß die Tatsache, daß er immer noch atmete.

Immer noch schwoll die Macht in jeder Faser seines Seins an. Er hätte am liebsten jedes Mahl herausgewürgt, das er je gegessen hatte. Er fühlte sich so voller sprühenden Lebens, daß im Vergleich dazu ein nicht von Saidin erfülltes Leben wie eine Schattenexistenz schien. Er roch das Bienenwachs der Kerzen und das Öl der Lampen. Er fühlte jede Faser des Teppichs an seinem Rücken. Er spürte jeden Schnitt, jeden Riß, jede Schramme in seiner Haut. Aber er klammerte sich an Saidin.

Einer der Verlorenen hatte versucht, ihn zu töten. Oder sogar alle zusammen. Das mußte es gewesen sein, es sei denn, der Dunkle König wäre bereits in Freiheit, aber dann hätte er wohl kaum nur einem einfachen Angriff wie diesem trotzen müssen. Also blieb er in Verbindung mit der Wahren Quelle. Und wenn ich das alles selbst getan habe? Kann ich das, was ich bin, so sehr hassen, daß ich versuche, mich selbst auf diese Art zu töten? Ohne daß ich es weiß? Licht, ich muß endlich lernen, meine Kräfte unter Kontrolle zu bringen. Ich muß!

Schmerzerfüllt drückte er sich hoch. Er hinterließ auf dem Teppich blutige Fußabdrücke, als er zu dem Ständer hinüberhumpelte, auf dem Callandor ruhte. Blut aus Hunderten von Schnitten lief über seinen Körper. Er hob das Schwert auf, und seine glasige Länge wurde von der Macht erleuchtet, die hineinfloß. Das Schwert, Das Kein Schwert War. Die Klinge, augenscheinlich aus Glas gefertigt, konnte genau wie der beste Stahl schneiden, und doch war Callandor kein wirkliches Schwert, sondern ein Überbleibsel aus dem Zeitalter der Legenden, ein Sa'Angreal. Mit Hilfe der wenigen erhalten gebliebenen Angreal, die den Schattenkrieg und die Zerstörung der Welt überstanden hatten, war es möglich, Ströme der Macht zu beherrschen, die ohne diese Hilfe jeden zu Asche verbrannt hätten. Mit einem der noch selteneren Sa'Angreal konnte man den Strom der Macht noch einmal um genauso vieles mehr verstärken, wie mit einem Angreal dem Menschen gegenüber, der keine solchen Helfer hatte. Und Callandor, das nur von einem Mann zu gebrauchen war, und das über dreitausend Jahre von Legenden und Prophezeiungen hinweg mit dem Wiedergeborenen Drachen verknüpft gewesen war, war einer der stärksten Sa'Angreal, die man jemals angefertigt hatte. Mit Callandor in der Hand konnte er eine Stadtmauer mit einem Schlag einebnen. Mit Callandor in der Hand konnte er sogar einem der Verlorenen gegenübertreten. Das waren sie. Es muß so sein.

Plötzlich fiel ihm ein, daß er von Berelain die ganze Zeit über keinen Laut vernommen hatte. Er fürchtete beinahe, sie tot daliegen zu sehen, als er sich zu ihr umdrehte.

Sie zuckte unter seinem Blick zusammen. Wohl lag sie noch immer auf den Knien, hatte aber ihr Gewand wieder angelegt und um sich zusammengezogen wie einen schützenden Stahlpanzer oder wie eine Steinmauer. Ihr Gesicht war schneeweiß, und sie fuhr sich mit der Zunge über die ausgetrockneten Lippen. »Welcher seid...?« Sie schluckte und fing noch einmal von vorne an: »Welcher von denen...?« Sie war nicht in der Lage, ihre Frage auszusprechen.

»Ich bin der einzige«, sagte er sanft. »Derjenige, den Ihr behandelt habt, als seien wir verlobt.« Er wollte sie damit beruhigen und vielleicht zum Lächeln bringen. Sicher war doch eine so starke Frauenpersönlichkeit, als die sie sich erwiesen hatte, imstande, auch einen blutüberströmten Mann anzulächeln. Doch sie beugte sich vor und drückte ihr Gesicht auf den Fußboden.

»Ich bitte Euch untertänigst um Verzeihung, weil ich Euch so ungeheuerlich beleidigt habe, Lord Drache.« Ihre rauchige Stimme hörte sich demütig an und verängstigt dazu. Ganz anders als zuvor. »Ich bitte Euch, meine Beleidigung zu vergessen und zu vergeben. Ich werde Euch nicht mehr belästigen. Das schwöre ich, Lord Drache. Beim Namen meiner Mutter und beim Licht schwöre ich es Euch.« Er löste den vernabelten Strom der Macht. Aus den unsichtbaren Wänden um sie herum wurde wieder Luft. Ihr Gewand wurde einen Moment lang vom Luftzug bewegt. »Es gibt nichts, das ich Euch vergeben müßte«, sagte er erschöpft. Er war sehr, sehr müde. »Geht, wohin Ihr wollt.« Sie richtete sich zögernd auf, streckte eine Hand aus und seufzte erleichtert auf, als diese Hand auf keinen Widerstand traf. Sie hob ihr Gewand etwas an und begann, vorsichtig über den scherbenbedeckten Teppich zu gehen. Unter ihren Samtpantoffeln knirschte es gelegentlich. Kurz vor der Tür blieb sie noch einmal stehen und blickte ihn an, was ihr offensichtlich schwerfiel. Ihr Blick traf den seinen nicht ganz. »Wenn Ihr wünscht, schicke ich die Aiel herein. Ich kann auch nach einer der Aes Sedai schicken, damit sie sich um Eure Wunden kümmert.« Sie könnte sich genausogut mit einem Mydrdraal im gleichen Raum befinden oder gar mit dem Dunklen König selbst, so wie sie mich ansieht. Aber sie ist kein Feigling. »Ich danke Euch«, sagte er ruhig, »aber — nein. Es wäre mir lieber, wenn Ihr niemandem davon erzähltet, was sich hier abgespielt hat. Noch nicht. Ich werde selbst veranlassen, was notwendig ist.« Es müssen die Verlorenen gewesen sein.

»Wie mein Lord Drache befiehlt.« Sie knickste leicht und eilte hinaus. Vielleicht fürchtete sie, er könne seine Ansicht ändern und sie doch nicht gehen lassen.

»Als sei ich der Dunkle König selbst«, knurrte er, als sich die Tür hinter ihr schloß.

Er humpelte zum Fuß des Betts und setzte sich mühsam auf die Truhe, die dort stand. Callandor legte er sich über die Knie. Seine blutigen Hände ruhten auf der glühenden Klinge. Solange er dieses Schwert in Händen hielt, würde selbst ein Verlorener ihn fürchten. Noch ganz kurz, dann würde er Moiraine holen lassen, um seine Wunden zu heilen. Danach würde er wieder mit den Aiel draußen sprechen und wäre wieder ganz der Wiedergeborene Drache. Aber jetzt wollte er nur einfach dasitzen und sich an einen Schafhirten namens Rand al'Thor erinnern.

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