20 Der Wind erhebt sich

Elayne kämpfte mit der Armlehne, bis sie sie endlich offen hatte und hinter ihnen herrennen konnte. Dabei stieß sie fast mit Nynaeve zusammen, als beide gleichzeitig die Leiter hoch wollten. Das Schiff bockte noch immer, aber lange nicht so gewaltsam wie vorher. Elayne hatte Angst, es werde sinken, und stieß Nynaeve vor sich her, damit sie schneller lief.

An Deck rannten die Besatzungsmitglieder kreuz und quer, überprüften die Takelage, spähten über die Reling, um eventuelle Schäden am Rumpf zu entdecken und schrien wild durcheinander von Erdbeben und ähnlichem. Dieselben Schreie erklangen auch vom Pier, wo die Fracht durcheinandergepurzelt war. Die Schiffe schwankten heftig an ihren Liegeplätzen. Elayne wußte jedoch, daß es sich nicht um ein Erdbeben handelte.

Sie starrte hinüber zum Stein. Die riesige Festung stand so sicher wie immer, nur ganze Schwärme aufgescheuchter Vögel flatterten um dieses helle Banner herum, das sich beinahe aufreizend langsam in einer sanften Brise bewegte. Kein Anzeichen dafür, daß irgend etwas mit dem enormen Felsklotz geschehen sei. Aber Rand war die Ursache gewesen, da war sie sicher.

Sie wandte sich um und blickte direkt in Nynaeves Augen. Ihre Blicke trafen sich einen langen Moment über. »Das hat er ja wunderbar gemacht«, sagte Elayne schließlich. »Vielleicht hat er auch noch das Schiff beschädigt? Und wie kommen wir dann nach Tanchico, wenn er nicht bald aufhört, mit sämtlichen Schiffen Ball zu spielen?« Licht, hoffentlich geht es ihm gut. Ich kann jetzt und hier nichts für ihn tun. Es geht ihm sehr gut.

Nynaeve berührte ihren Arm beruhigend. »Bestimmt hat dein zweiter Brief bei ihm einiges ausgelöst. Die Männer zeigen immer Überreaktionen, wenn sie sich gehenlassen. Das ist der Preis dafür, daß sie ihre Gefühle ansonsten derart unter Kontrolle zu halten versuchen. Er mag ja der Wiedergeborene Drache sein, aber er muß lernen, was zwischen Mann und Frau... Was machen die denn hier?« ›Die‹ waren zwei Männer, die zwischen den geschäftigen Meerleuten an Deck standen. Der eine war Thom Merrilin in seinem Gauklerumhang mit Harfe und Flöte in ihren Lederbehältern auf dem Rücken und einem Bündel zu seinen Füßen neben einem schäbigen Holzkasten mit Vorhängeschloß. Der andere war ein hagerer, gutaussehender Tairener von mittleren Jahren, ein harter Mann mit dunklem Teint, der einen flachen, kegelförmig zulaufenden Strohhut und einen dieser ArmeLeute-Mäntel trug, der bis zur Hüfte eng anlag und darunter wie ein kurzer Rock weit ausgestellt war. Ein zerkratzter Schwertbrecher hing an dem Gürtel, den er über den Mantel geschnallt hatte, und er stützte sich auf einen Stab aus hellem, getreidehalmähnlichem Holz, der genauso hoch war wie er groß und kaum dicker als sein Daumen. Ein eckig verschnürtes Paket hing ihm an einer Schlaufe von der Schulter. Elayne kannte ihn: Er hieß Juilin Sandar.

Es war offensichtlich, daß sich die Männer nicht kannten, obwohl sie beinahe Seite an Seite standen. Beide standen jedoch steif und förmlich da. Allerdings war ihre Aufmerksamkeit auf die gleichen Objekte gerichtet: Einerseits beobachteten sie die Segelherrin, wie sie zum Achterdeck marschierte, und andererseits spähten sie hinüber zu Elayne und Nynaeve. Die Blicke beider wirkten unsicher, doch verbargen sie es hinter einer Haltung, die wohl stolzes Selbstvertrauen ausdrücken sollte. Thom grinste und strich sich über den langen, weißen Schnurrbart, und dazu nickte er jedesmal, wenn sein Blick die beiden Frauen traf, während Sandar sich mehrmals ernst und würdevoll verbeugte.

»Keinerlei Schäden«, sagte Coine, als sie die Leiter hochkam. »Wir können innerhalb einer Stunde absegeln, wenn es Euch recht ist. Sogar gut vor Ablauf einer Stunde, falls wir einen Lotsen aus Tear finden. Falls nicht, segle ich auch ohne einen ab, aber das würde bedeuten, daß ich nie nach Tear zurückkommen darf.« Sie folgte ihren Blicken zu den beiden Männern hinüber. »Sie bitten um Passage —der Gaukler nach Tanchico und der Diebfänger, wohin immer Ihr reist. Ich kann es ihnen nicht verweigern, und doch... « Ihre dunklen Augen blickten wieder Elayne und Nynaeve an. »Ich werde sie mitnehmen, wenn Ihr es wünscht.« Das Zögern, weil sie gegen ihre eigenen Bräuche handeln würde, war in ihrer Stimme zu spüren, und andererseits vielleicht auch... der Wunsch, ihnen zu helfen? Dem Coramoor zu dienen? »Der Diebfänger ist ein guter Mann, obwohl er eine Landratte ist. Nichts gegen Euch, beim Licht. Aber den Gaukler kenne ich nicht. Doch könnte ein Gaukler natürlich die Reise beleben und die Stunden der Erschöpfung erleichtern.« »Ihr kennt Meister Sandar?« fragte Nynaeve.

»Zweimal schon hat er jene aufgespürt, die hier an Bord Diebstähle begingen, und er hat sie schnell gefunden. Eine andere Landratte hätte bestimmt länger dazu gebraucht, und er hätte für seine gute Arbeit mehr verlangen können. Es ist offensichtlich, daß auch Ihr ihn kennt. Möchtet Ihr, daß ich ihm die Passage verweigere?« Ihr Zögern war immer noch spürbar.

»Zuerst wollen wir einmal feststellen, warum sie sich hier befinden«, sagte Nynaeve mit einer Stimme, die nichts Gutes für die beiden Männer verhieß.

»Vielleicht sollte ich mit ihnen reden«, bot Elayne ihr sanft aber entschlossen an. »Dann kannst du sie beobachten und feststellen, ob sie etwas verbergen.« Sie verschwieg ihr, daß sie hoffte, auf diese Weise Nynaeves nächsten Wutausbruch vermeiden zu können, aber deren spöttisches Lächeln verriet ihr, daß sie die Absicht wohl erkannt hatte.

»Also gut, Elayne. Ich werde sie beobachten. Vielleicht könntest du dabei ebenfalls beobachten, wie ich die Ruhe bewahre. Du weißt ja, wie du wirst, wenn du überdreht bist.« Elayne mußte unwillkürlich lachen.

Die beiden Männer richteten sich auf, als sie und Nynaeve sich ihnen näherten. Um sie herum eilten die Seeleute, kletterten an der Takelage hoch, pullten Taue, zurrten einige Dinge fest und banden andere los, alles auf Befehl der Segelherrin. Sie bewegten sich um die Landbewohner herum, ohne sie weiter zu beachten.

Elayne blickte Thom Merrilin nachdenklich an. Sie war sicher, den Gaukler vor seinem Erscheinen im Stein noch nie gesehen zu haben, und doch kam ihr etwas an ihm so bekannt vor. Nicht sehr wahrscheinlich, aber... Gaukler traten vor allem in Dörfern auf. Ihre Mutter hatte ganz sicher nie einen im Palast in Caemlyn gehabt. Der einzige Gaukler, den gesehen zu haben sich Elayne erinnerte, war in einem Dorf in der Nähe der Landgüter ihrer Mutter aufgetreten, und dort war dieser weißhaarige Falke von einem Mann bestimmt nie gewesen.

Sie entschloß sich, zuerst mit dem Diebfänger zu sprechen. Auf dieser Bezeichnung bestand er, wie sie wohl wußte. Er war stolz darauf.

»Meister Sandar«, sagte sie ernst, »Ihr erinnert Euch vielleicht nicht mehr an uns. Ich bin Elayne Trakand, und das ist meine Freundin Nynaeve al'Meara. Wie ich hörte, wollt Ihr an dasselbe Ziel reisen wie wir. Dürfte ich den Grund erfahren? Als wir Euch das letzte Mal trafen, hattet Ihr uns nicht gerade gut gedient.« Der Mann zuckte nicht einmal mit der Wimper. Sein Blick überflog ihre Hände, und er bemerkte die Abwesenheit der Ringe. Diesen dunklen Augen entging nichts, und er prägte sich jede Einzelheit genau ein. »Ich erinnere mich an Euch, Frau Trakand, und sogar sehr gut. Aber bitte vergebt mir, doch das letzte Mal, als ich Euch diente, war in Gesellschaft von Mat Cauthon, als wir Euch beide aus dem Wasser zogen, bevor die Hechte Euch anknabberten.« Nynaeve räusperte sich. Es war eine Zelle gewesen und nicht das Wasser, und statt der Hechte die Schwarzen Ajah. Besonders Nynaeve ließ sich nicht gern daran erinnern, daß sie damals Hilfe benötigt hatten. Natürlich hätten sie ohne Juilin Sandar gar nicht in dieser Zelle gesessen. Nein, das war nicht ganz gerade. Wahr, aber nicht gerecht.

»Das ist alles schön und gut«, sagte Elayne nun kurz angebunden, »aber Ihr habt immer noch nicht gesagt, warum Ihr nach Tanchico wollt.« Er atmete tief durch und musterte Nynaeve mißtrauisch. Elayne gefiel es gar nicht, daß er es nötig zu haben schien, der anderen Frau gegenüber vorsichtiger zu sein als ihr gegenüber. »Ich wurde vor noch nicht einmal einer halben Stunde aus meinem Haus getrieben«, sagte er vorsichtig, »und zwar von einem Mann, den Ihr kennt, wie ich glaube. Einem großen Mann mit steinernem Gesicht namens Lan.« Nynaeves Augenbrauen hoben sich leicht. »Er sprach für einen anderen Mann, den Ihr kennt, einen... Schafhirten, wie man mir sagte. Man gab mir einen Haufen Goldes und sagte mir, ich solle Euch begleiten. Euch beide. Man sagte mir auch, wenn Ihr nicht sicher von dieser Reise zurückkehrtet... Sagen wir einmal, es sei dann besser, wenn ich mich ertränke, anstatt zurückzukommen. Lan war da ganz eindeutig, und der... Schafhirte sagte in seiner Nachricht an mich praktisch das gleiche. Die Segelherrin sagte mir, ich könne nur mitkommen, wenn Ihr zustimmt. Ich habe aber doch gewisse Fähigkeiten, die Euch nützlich sein könnten.« Der Stab wirbelte in seinen Händen, pfiff blitzschnell durch die Luft und stand wieder still. Seine Finger berührten den Schwertbrecher an seiner Hüfte, der wie ein ungeschärftes Schwert wirkte, aber mit Schlitzen versehen war, in denen sich eine gegnerische Klinge verhaken sollte.

»Männer finden doch immer einen Weg, um sich um das herumzudrücken, was du ihnen gesagt hast«, knurrte Nynaeve, doch es klang nicht sehr böse.

Elayne runzelte nur etwas verwirrt die Stirn. Rand hatte ihn geschickt? Dann konnte er bestimmt den zweiten Brief vorher noch nicht gelesen haben. Seng ihn! Warum ist er so sprunghaft? Keine Zeit mehr, ihm noch einen Brief zu schicken, und der würde ihn vermutlich noch mehr verwirren. Und mich zu einer noch größeren Närrin machen. Seng ihn!

»Und Ihr, Meister Merrilin?« fragte Nynaeve. »Hat der Schafhirte uns auch noch einen Gaukler hinterhergesandt? Oder nur den anderen Mann? Vielleicht sollt Ihr uns nur mit Eurem Jonglieren und Feuerschlucken unterwegs unterhalten?« Thom hatte Sandar genau gemustert, aber nun verlagerte er seine Aufmerksamkeit und verbeugte sich elegant. Er verdarb die Wirkung nur etwas, als er übertrieben seinen Flickenumhang schwenkte. »Nicht der Schafhirte, Frau al'Meara. Eine Dame, die wir alle gut kennen, bat mich —bat mich — Euch zu begleiten. Die Dame, die Euch und den Schafhirten in Emondsfeld aufgelesen hatte.« »Warum?« fragte Nynaeve mißtrauisch.

»Auch ich besitze ein paar nützliche Fähigkeiten«, sagte Thom mit einem Seitenblick auf den Diebfänger zu ihr. »Mehr als nur das Jonglieren. Und ich war schon mehrmals in Tanchico. Ich kenne die Stadt gut. Ich kann Euch sagen, wo Ihr eine gute Herberge findet und welche Bezirke sowohl bei Tageslicht wie auch in der Nacht gefährlich sind, und wen man in der Zivilgarde bestechen muß, damit sie Euch nicht zu genau auf die Finger sehen. Sie beobachten Ausländer sonst recht mißtrauisch. Ich kann Euch in vieler Hinsicht behilflich sein.« Diese Vertrautheit kitzelte wieder an Elaynes Verstand. Bevor ihr klar wurde, was sie tat, griff sie hoch und zupfte ihn an seinem langen, weißen Schnurrbart. Er fuhr zusammen, und sie schlug beide Hände vor ihr Gesicht und lief knallrot an. »Vergebt mir. Ich... ich schien mich zu erinnern, so etwas früher schon getan zu haben. Ich meine... Es tut mir ehrlich leid.« Licht, wieso habe ich das getan? Er muß mich für eine dumme Kuh halten.

»Ich... würde mich wohl daran erinnern«, sagte er sehr steif.

Sie hoffte, ihn nicht beleidigt zu haben. Von seinem Gesichtsausdruck war kaum etwas abzulesen. Männer waren manchmal beleidigt, wenn sie sich amüsieren sollten, und belustigt, wenn sie beleidigt sein sollten. Falls sie zusammen diese Reise antraten... Zum erstenmal wurde ihr klar, daß sie sich bereits entschieden hatte, beide mitzunehmen. »Nynaeve?« fragte sie.

Die andere Frau verstand natürlich die unausgesprochene Frage. Sie musterte die beiden Männer noch einmal gründlich und nickte dann. »Sie können mitkommen. Solange sie sich einverstanden erklären, zu tun, was man ihnen befiehlt. Ich werde nicht zulassen, daß irgendein wollköpfiger Kerl seiner eigenen Wege geht und uns in Gefahr bringt.« »Wie Ihr wünscht, Frau al'Meara«, sagte Sandar sofort mit einer Verbeugung, aber Thom stellte fest: »Ein Gaukler ist eine freie Seele, Nynaeve, aber ich verspreche, daß ich Euch nicht in Gefahr bringen werde. Alles andere als das.« »Wie man Euch befiehlt«, sagte Nynaeve betont. »Euer Wort darauf, oder Ihr könnt zuschauen, wie dieses Schiff ablegt.« »Die Atha'an Miere verweigern niemandem die Passage, Nynaeve.« »Glaubt Ihr das? War der Diebjäger« — Sandar zuckte zusammen — »der einzige, dem man mitteilte, daß unsere Erlaubnis nötig sei? Wie man es Euch befiehlt, Meister Merrilin.« Thom warf sein weißes Haupt hoch wie ein ungebärdiges Pferd und atmete schwer, aber schließlich nickte er. »Mein Wort darauf, Frau al'Meara.« »Also gut«, sagte Nynaeve mit eisiger Stimme. »Dann wäre das geklärt. Ihr beide geht jetzt zur Segelherrin und berichtet ihr, daß ich sagte, sie solle Euch irgendwo einen Unterschlupf zuteilen, falls das möglich ist, und so, daß Ihr uns nicht im Weg seid. Weg mit Euch jetzt. Schnell.« Sandar verbeugte sich erneut und ging. Thom bebte sichtbar, schloß sich ihm aber dann mit steifem Kreuz an.

»Behandelst du sie nicht etwas hart?« sagte Elayne, sobald sie außer Hörweite waren. Das war nicht sehr weit weg, bei all dem Durcheinander an Deck. »Wir müssen auf der Reise doch schließlich alle miteinander auskommen. ›Verbindliche Worte bringen eine verbindliche Gesellschaft ein.‹« »Es ist am besten, wir legen ihnen gleich die Zügel an, da wir ja schließlich weiterkommen wollen, Elayne. Thom Merrilin weiß sehr gut, daß wir noch keine Aes Sedai sind.« Sie senkte die Stimme und sah sich vorsichtig um, als sie das sagte. Niemand von der Besatzung sah sie auch nur an, außer der Segelherrin, die hinten in der Nähe des Achterdecks stand und dem hochgewachsenen Gaukler und dem Diebfänger lauschte. »Männer sind geschwätzig — fast alle —, und Sandar wird es auch bald wissen. Bei Aes Sedai würden sie wahrscheinlich keine Schwierigkeiten machen, aber zwei Aufgenommene... ? Wenn sie auch nur die leiseste Chance bekommen, machen sie nur noch das, was sie für richtig halten, gleich, was wir sagen. Ich werde ihnen keinerlei Chance geben.« »Vielleicht hast du recht. Glaubst du, sie wissen, warum wir nach Tanchico wollen?« Nynaeve schnaubte. »Nein, sonst wären sie nicht mehr so zuversichtlich, denke ich. Und ich möchte es ihnen lieber nicht eher sagen, als es unbedingt sein muß.« Sie warf Elayne einen bedeutungsvollen Blick zu. So mußte sie gar nicht erst sagen, daß sie es der Segelherrin auch nicht mitgeteilt hätte, wäre es ihr überlassen worden. »Hier ist auch eine Redensart für dich: ›Leih dir Schwierigkeiten aus, und du zahlst sie zehnfach zurück.‹« »Du redest, als vertrautest du ihnen nicht, Nynaeve.« Beinahe wäre ihr entschlüpft, daß Nynaeve sich wie Moiraine benehme, aber das würde ihr die andere denn doch übelnehmen.

»Können wir das denn? Juilin Sandar hat uns schon einmal verraten. Ja, ja, ich weiß, daß kein Mann das hätte vermeiden können, aber es stimmt ja trotzdem. Und Liandrin und die anderen kennen sein Aussehen. Wir müssen ihn in andere Kleidung stecken. Vielleicht muß er sich die Haare länger wachsen lassen. Und noch ein Schnurrbart dazu, so wie dieses Unkraut, das der Gaukler im Gesicht trägt. Das könnte reichen.« »Und Thom Merrilin?« fragte Elayne. »Ich glaube, wir können ihm vertrauen. Ich weiß nicht, warum, aber ich traue ihm.« »Er hat zugegeben, von Moiraine geschickt worden zu sein«, sagte Nynaeve erschöpft. »Aber was hat er nicht alles schon zugegeben? Was hat sie ihm gesagt, was er uns nicht weitersagte? Soll er uns helfen, oder was sonst?

Moiraine hat ihr Spielchen schon so oft gespielt, daß ich ihr nur soviel mehr glaube als Liandrin.« Sie hielt Daumen und Zeigefinger in geringem Abstand hoch. »Sie wird uns benützen — sowohl dich wie mich — und uns fertigmachen lassen, sofern es Rand hilft. Oder besser, wenn es ihre Pläne mit Rand fördert. Wenn sie könnte, würde sie ihn ja wie ein Schoßhündchen an die Leine legen.« »Moiraine weiß genau, was zu tun ist, Nynaeve.« Ausnahmsweise zögerte sie aber doch, dies zuzugeben. Was Moiraine als die richtige Vorgehensweise kannte, würde möglicherweise Rand noch schneller auf Tarmon Gai'don zutreiben. Vielleicht zu seinem schnelleren Tod führen. Rand saß auf der einen Waagschale, während auf der anderen die ganze Welt lag. Es war idiotisch — närrisch und kindisch — wenn sie es so sah, daß die Gewichte gleichmäßig verteilt seien. Doch sie wagte nicht, sich vorzustellen, wie die Waagschalen in Bewegung gerieten, denn sie war sich nicht sicher, wer dann am Ende oben und wer unten schweben würde. »Sie weiß es besser als er«, sagte sie und bemühte sich, ihre Stimme klar und entschlossen wirken zu lassen, »besser als wir.« »Vielleicht«, seufzte Nynaeve. »Deshalb muß es mir noch lange nicht gefallen.« Am Bug wurden bereits die Leinen losgemacht, als mit einemmal dreieckige Segel herunterfielen, sich blähten, und der Wogentänzer vom Pier ablegte. Weitere Segel wurden herabgelassen, große weiße Rechtecke und Dreiecke, die Heckleinen wurden losgemacht, und in einem großen Bogen schwenkte das Schiff auf den Fluß hinaus, und zwischen vor Anker liegenden Schiffen hindurch beschrieb es eine elegante Kurve, bis es flußabwärts nach Süden gerichtet war. Die Meerleute behandelten ihr Schiff wie ein meisterhafter Reiter sein Pferd. Irgendwie bewegte dieses eigenartige Speichenrad wohl das Steuerruder, wenn einer der Seemänner mit nacktem Oberkörper daran drehte. Elayne war erleichtert zu sehen, daß ein Mann diese Arbeit verrichtete. Die Segelherrin und die Windsucherin standen auf der einen Seite des Rads. Coine gab gelegentlich Befehle. Manchmal beriet sie sich vorher mit ihrer Schwester. Toram sah ihnen eine Weile lang mit einem Gesicht zu, das wirkte, als sei es aus einer Decksplanke geschnitzt worden, und dann trottete er nach unten.

Auf dem Achterdeck stand ein Tairener, ein molliger, etwas verloren wirkender Mann in fadem gelben Mantel mit grauen Puffärmeln, der sich nervös die Hände rieb. Er war gerade noch an Bord geschubst worden, bevor man die Planke hochgehievt hatte. Das war der Lotse, der den Wogentänzer angeblich flußabwärts steuern sollte, wie es dem Gesetz Tears entsprach, denn kein Schiff durfte die Finger des Drachen passieren, das keinen solchen tairenischen Lotsen an Bord hatte. Diesen verlorenen Eindruck machte er allerdings deshalb, weil er zum Nichtstun verurteilt war, denn wenn er den Seeleuten irgendwelche Anweisungen gab, beachteten sie diese gar nicht.

Nynaeve knurrte etwas von Nachsehen, wie ihre Kabine aussehe, und ging hinunter unter Deck, doch Elayne genoß die Brise und die Aufbruchstimmung. Reisen und Orte zu sehen, an denen sie noch nie zuvor gewesen war, machte ihr immer Spaß. Sie hatte das auch überhaupt nicht erwartet, jedenfalls nicht auf diese Art. Die Tochter-Erbin Andors machte gewöhnlich einige offizielle Staatsbesuche, und das würden später mehr werden, wenn sie den Thron bestieg, aber das Ganze war von Pomp und Zeremonien überlagert. Überhaupt nicht so, wie jetzt. Barfüßige Meerleute und ein Schiff, das in Richtung offenes Meer fuhr.

Das Ufer glitt schnell vorbei, während die Sonne stieg. Gelegentlich erschien eine kleine Gruppe von steinernen Bauernhäusern und Scheunen, eintönig und einsam dazu, und verschwand wieder hinter ihnen. Aber keine Dörfer. Tear gestattete auch nicht das kleinste Dorf im Gebiet zwischen der Stadt und dem Meer, denn selbst ein kleiner Weiler könnte wachsen und eines Tages zur Konkurrenz für die Hauptstadt werden. Die Hochlords hielten die Größe und Ausdehnung von Dörfern und Kleinstädten im ganzen Land durch eine Gebäudesteuer unter Kontrolle. Je mehr Gebäude es wurden, desto höher wurde auch die Steuer. Elayne war sicher, daß man Godan an der Bucht von Remara das Aufblühen niemals gestattet hätte, wenn nicht die zwingende Notwendigkeit bestanden hätte, einen starken Außenposten an der Grenze nach Mayene zu besitzen. Auf gewisse Weise war sie erleichtert, einen solchen närrischen Staat hinter sich zu lassen. Wenn sie nur nicht gleichzeitig auch einen närrischen Mann hinter sich hätte lassen müssen.

Die Anzahl der Fischerboote, meist klein und alle von Schwärmen hoffnungsfroher Möwen und anderer Fischervögel umflattert, nahm zu, je weiter nach Süden der Wogentänzer kam, besonders, als sie in das Gewirr von Mündungsarmen einfuhren, das man Finger des Drachen nannte. Oft waren nur die Vögel und die langen Stangen sichtbar, an denen die Netze hingen, und ansonsten war die Welt voller Schilf und scharfkantiger Grashalme, die sich im Wind krümmten, von grünen Wellen überlaufene Ebenen, aus denen hier und da niedrige Inseln aufragten, und auf den Inseln wiederum wuchsen eigenartig verkrümmte Bäume mit spinnenartigen Luftwurzeln. Viele Fischer arbeiteten direkt im Schilf, wenn auch ohne Netze. Einmal sah Elayne einige von ihnen in der Nähe eines offeneren Wasserlaufs. Die Männer und Frauen warfen Leinen mit Haken daran ins Wasser und zogen sich windende, armlange, schwarzgestreifte Fische heraus.

Der tairenische Lotse begann, nervös auf und ab zu tigern, sobald sie sich im Delta befanden und die Sonne senkrecht über ihnen stand. Er rümpfte die Nase, als man ihm eine Schale mit dickem und nach Gewürzen duftenden Fischeintopf und einen Kanten Brot reichte. Elayne aß hungrig ihre Mahlzeit und wischte die Schale schließlich mit dem letzten Brocken Brot aus, obwohl sie natürlich seine Unruhe durchaus teilte. In jeder Richtung sah man sowohl breite wie auch schmale Wasserläufe, die sich durch das Schilfmeer zogen. Einige endeten ganz plötzlich noch in ihrer Sichtweite in einer wahren Schilfwand. Es gab keine Möglichkeit, zu erkennen, welcher der anderen Wasserläufe vielleicht nach der nächsten Biegung genauso verschwinden würde. Coine ließ aber trotzdem den Wogentänzer keineswegs langsamer segeln. Sie zögerte auch keinen Moment, wenn sie ihre Fahrrinne auswählen mußte. Offensichtlich kannte sie die Kanäle genau, die sie nehmen mußte, oder die Windsucherin kannte sie, aber der Lotse knurrte ständig in sich hinein, als erwarte er jeden Moment, daß sie auflaufen würden.

Es war später Nachmittag, als mit einemmal die eigentliche Flußmündung vor ihnen auftauchte und dahinter die endlose Bläue des Meers der Stürme. Die Seeleute stellten irgend etwas mit den Segeln an, und bis auf ein leichtes Schaukeln lag das Schiff bewegungslos im Wasser. Erst dann bemerkte Elayne ein großes Ruderboot, das wie ein vielbeiniger Wasserläufer von einer Insel her auf sie zukam. Auf dieser Insel standen verloren ein paar Steingebäude um den Fuß eines hohen, schmalen Turms herum, auf dessen Spitze einige Männer unter einer Flagge mit den drei weißen Halbmonden Tears auf rotem und goldenem Feld zu sehen waren. Der Lotse nahm kommentarlos den Geldbeutel, den ihm Coine reichte, und kletterte eine Strickleiter hinab zu dem Ruderboot. Sobald er sich dort an Bord befand, wurden die Segel wieder herumgeschwenkt, und der Wogentänzer begab sich in die Umarmung der ersten aus dem offenen Meer heranrollenden Wellen. Der Bug hob sich leicht und schnitt dann seinen Weg durchs Wasser. Seeleute kletterten in der Takelage herum, setzten weitere Segel, und das Schiff nahm Fahrt Richtung Südwest auf — weg vom Festland.

Als der letzte dünne Streifen Landes unter dem Horizont verschwand, zogen die Meervolk-Frauen ihre Blusen aus. Alle — auch die Segelherrin und die Windsucherin. Elayne wußte vor Verlegenheit nicht, wo sie hinsehen sollte. Alle diese Frauen liefen halbnackt herum und kümmerten sich überhaupt nicht um die ganzen Männer in ihrer Umgebung. Juilin Sandar schien die gleichen Schwierigkeiten zu haben wie sie. Abwechselnd sah er mit großen Augen die Frauen an, und dann blickte er wieder verlegen auf seine Füße hinunter. Schließlich hatte er genug und begab sich beinahe im Laufschritt nach unten. Elayne ließ sich nicht auf diese Art vertreiben. Sie blickte statt dessen auf die See hinaus.

Unterschiedliche Bräuche, machte sie sich selbst aufmerksam. Solange sie nicht von mir das Gleiche erwarten... Bei dem Gedanken hätte sie beinahe hysterisch gelacht. Irgendwie war es einfacher, sich die Schwarzen Ajah vorzustellen, als das. Unterschiedliche Bräuche. Licht!

Der Himmel färbte sich rötlich. Die Sonne stand mattgolden am Horizont. Scharen von Delphinen begleiteten das Schiff, schossen elegant seitlich vorbei oder sprangen hoch aus dem Wasser, während sich weiter draußen ein ganzer Schwarm glitzernder, silberblauer Fische aus dem Meer erhob, auf weit gespreizten Flossen vielleicht fünfzig Schritt weit durch die Luft glitt, und dann in die schwellende graugrüne Flut zurückplatschte. Elayne beobachtete das erstaunt ein ums andere Mal, doch nach einer Weile blieben diese Fische schließlich aus.

Dennoch, allein schon die Delphine mit ihren großen, schlanken Körpern waren erstaunlich genug. Sie bildeten die Ehrenwache, die den Wogentänzer dorthin zurückgeleitete, wohin sie gehörte. Sie hatte vorher nur in Büchern von ihnen gelesen. Man sagte, wenn sie einen Ertrinkenden fänden, brächten sie ihn gemeinsam ans Ufer zurück. Sie konnte das nicht ganz glauben, aber es war eine schöne Geschichte. So folgte sie ihnen an der Reling entlang zum Bug, wo sie in der Bugwelle spielten und sich immer wieder auf die Seite drehten, um zu ihr aufzublicken, ohne ihre Geschwindigkeit im Wasser zu verringern.

Sie befand sich schon beinahe am Bugspriet, als sie entdeckte, daß dort bereits Thom Merrilin stand und ein wenig traurig auf die Delphine hinunterlächelte. Sein Umhang blähte sich wie eines der Segel im Wind. Er hatte sein Gepäck irgendwo abgeladen. So vertraut kam er ihr vor! »Seid Ihr unglücklich, Meister Merrilin?« Er blickte sie von der Seite her an. »Bitte nennt mich Thom, Lady Elayne.« »Also gut, Thom. Aber bitte nicht Lady Elayne! Hier bin ich nur einfach Frau Trakand.« »Wie Ihr wünscht, Frau Trakand«, sagte er mit einem angedeuteten Lächeln.

»Wie könnt Ihr diesen Delphinen zusehen und trotzdem unglücklich sein, Thom?« »Sie sind frei«, murmelte er so, daß sie nicht sicher sein konnte, ob es eine Antwort auf ihre Frage sei. »Sie müssen keine Entscheidungen treffen und keinen Preis zahlen, haben keine Sorgen und machen sich höchstens Gedanken darüber, Fische zum Fressen zu fangen. Und über Haie und Löwenfische vielleicht. Und vielleicht noch über hundert andere Dinge, von denen ich nichts weiß. Nun, möglicherweise sind sie doch nicht so beneidenswert.« »Beneidet Ihr sie?« Er antwortete nicht, aber es war auch die falsche Frage gewesen. Sie mußte ihn wieder zum Lächeln bringen. Nein, zum Lachen. Aus irgendeinem Grund war sie sicher, sie werde sich daran erinnern, woher sie ihn kannte, wenn sie ihn nur zum Lachen brachte. So wechselte sie das Gesprächsthema und kam auf etwas, das ihm näherliegen sollte. »Habt Ihr vor, das Hohelied des Rand zu komponieren, Thom?« Das war eigentlich etwas für Barden und nicht für Gaukler, aber ein wenig Schmeichelei konnte nicht schaden. »Das Hohelied des Wiedergeborenen Drachen. Wißt Ihr, Loial will ein Buch darüber schreiben.« »Vielleicht werde ich das tun, Frau Trakand. Vielleicht. Aber weder meine Komposition noch Loials Buch werden auf lange Sicht etwas bewirken. Unsere Geschichten werden nicht überleben, jedenfalls über einen längeren Zeitraum. Wenn das nächste Zeitalter anbricht...« Er verzog das Gesicht und zupfte an einem seiner Schnurrbartenden. »Wenn man es bedenkt, liegt das vielleicht nur noch ein oder zwei Jahre in der Zukunft. Wie kann man sagen, ob das Ende eines Zeitalters erreicht ist? Es kann ja nicht immer eine Weltkatastrophe wie die Zerstörung damals sein. Allerdings, sollten die Prophezeiungen recht behalten, wird es wieder eine solche geben. Das ist das Dumme an Prophezeiungen. Der ursprüngliche Text ist immer in der Alten Sprache geschrieben und vielleicht auch noch in der Form des Hochgesangs: Wenn man nicht von vornherein weiß, was eine Sache bedeutet, gibt es keine Möglichkeit, es hinterher herauszufinden. Bedeutet es einfach das, was da geschrieben steht, oder ist es verschlüsselt und hat eine ganz andere Bedeutung?« »Ihr wolltet doch von Eurem Hohelied erzählen«, sagte sie und versuchte, ihn darauf zurückzubringen, doch er schüttelte sein zerzaustes weißes Haupt.

»Ich sprach von Veränderungen. Mein Hohelied, falls ich es je komponiere — und Loials Buch — werden nicht mehr als ein Samenkorn darstellen, falls wir beide Glück haben. Diejenigen, die die Wahrheit kennen, werden sterben, und die Enkel ihrer Enkel werden sich an ganz andere Dinge zu erinnern glauben. Und ihre Urenkel werden die Dinge wiederum anders sehen. Zwei Dutzend Generationen, und dann seid vielleicht Ihr die Heldin und nicht Rand.« »Ich?« lachte sie.

»Oder vielleicht Mat oder Lan. Vielleicht sogar ich.« Er grinste sie an. Sein verwittertes Gesicht nahm einen Ausdruck von Wärme an. »Thom Merrilin. Kein Gaukler mehr — aber was sonst? Wer kann das schon sagen? Keiner, der Feuer schluckt, sondern einer, der es ausspeit. Der es wie eine Aes Sedai auf andere schleudert.« Er spreizte seinen Umhang. »Thom Merrilin, der geheimnisvolle Held, der Berge zum Einstürzen bringt und Könige auf ihren Thron hebt.« Aus dem Grinsen wurde ein herzhaftes Lachen. »Wenn Rand al'Thor Glück hat, erinnert man sich vielleicht im nächsten Zeitalter gerade noch an seinen Namen.« Sie hatte recht gehabt; es war nicht nur ein Gefühl. Dieses Gesicht, dieses herzhafte Lachen: Sie erinnerte sich daran. Aber woher? Sie mußte ihn am Reden halten. »Ist es denn immer so? Ich glaube nicht, daß zum Beispiel jemand daran zweifelt, daß Artur Falkenflügel ein großes Reich erobert hat. Die ganze Welt, oder zumindest den größten Teil.« »Falkenflügel, junge Frau? Klar eroberte er ein Weltreich, aber glaubt Ihr, er habe wirklich alles getan, was in den Büchern und Legenden und Gesängen über ihn berichtet wird? Genauso, wie man es sich erzählt? Daß er die hundert besten Kämpfer einer gegnerischen Armee einen nach dem anderen eigenhändig tötete? Die beiden Heere standen bloß so herum und sahen zu, während einer der Führer — ein König sogar — hundert Zweikämpfe austrug?« »In den Büchern steht es so.« »Zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang reicht die Zeit niemals für einen einzelnen Mann, hundert Zweikämpfe auszutragen, Mädchen.« Sie hätte ihm beinahe eine verpaßt, weil er sie Mädchen nannte. Sie war die Tochter-Erbin Andors und nicht einfach ein Mädchen, aber er ließ sich nicht aufhalten. »Und das liegt nur tausend Jahre zurück. Geht weiter zurück zu den ältesten Legenden, die ich kenne, denen aus dem Zeitalter vor dem der Legenden. Haben Mosk und Merk wirklich mit Feuerspeeren gegeneinander gekämpft und waren sie vielleicht echte Riesen? War Elsbet wirklich die Königin der Welt und Anla ihre Schwester? War Anla wirklich die weise Ratgeberin, oder jemand anders? Genausogut kann man fragen, von welcher Tierart Elfenbein stamme oder auf welcher Pflanze die Seide wächst. Falls die nicht auch von einem Tier produziert wird.« »Diese anderen Fragen kann ich nicht beantworten«, sagte Elayne ein wenig steif. Es ärgerte sie, wenn man sie mit Mädchen anredete. »Aber in bezug auf Elfenbein und Seide könnt Ihr ja die Meerleute fragen.« Er lachte wieder. Das hatte sie erhofft, aber immer noch bewirkte es nicht mehr, als sie in ihrer Gewißheit zu bestärken, daß sie ihn kenne. Sie hatte so halb erwartet, er werde sie als närrisch bezeichnen, doch er sagte: »Praktisch veranlagt und zielbewußt wie Eure Mutter. Mit beiden Beinen auf dem Boden und nur wenige Höhenflüge.« Sie hob das Kinn ein wenig an und machte eine kühle Miene. Wohl gab sie sich als Frau Trakand aus, aber das hier war etwas anderes. Er war ein liebenswerter alter Mann, und sie wollte eigentlich das Rätsel, das er für sie darstellte, nicht mit Gewalt lösen. Doch letzten Endes war er nur ein Gaukler und sollte nicht in so vertrautem Tonfall von einer Königin sprechen. Seltsam und ärgerlich, daß er nun amüsiert erschien. Amüsiert!

»Die Atha'an Miere wissen es auch nicht«, sagte er. »Sie sehen nicht mehr von den Ländern jenseits der Aiel-Wüste, als die paar Meilen rund um eine Handvoll Hafenstädte, die sie anlaufen dürfen. Diese Orte haben hohe Mauern und werden so bewacht, daß man noch nicht einmal hochklettern kann, um nachzusehen, wie es auf der anderen Seite aussieht. Falls eines ihrer Schiffe irgendwo anders festmacht — oder auch ein Schiff aus einem anderen Land, denn nur dem Meervolk ist es erlaubt, diese Länder überhaupt zu besuchen —, wird dieses Schiff mitsamt seiner Besatzung niemals mehr gesehen. Und das ist auch schon fast alles, was ich Euch dazu sagen kann, obwohl ich viele Jahre lang Erkundigungen eingezogen habe. Die Atha'an Miere wahren ihre Geheimnisse, aber ich glaube nicht, daß sie viel mehr darüber wissen. Nach alledem, was ich erfahren habe, hat man auch die Leute aus Cairhien genauso behandelt, als es ihnen noch gestattet war, die Seidenstraße durch die Aielwüste zu benützen. Die Händler aus Cairhien sahen niemals mehr, als eine einzige Stadt mit hohen Mauern, und wer sich davon entfernte, der verschwand spurlos.« Elayne ertappte sich dabei, daß sie ihn genauso neugierig musterte wie vorher die Delphine. Welche Art von Mensch war er? Zweimal bereits hätte er Grund gehabt, sie auszulachen — er hatte sich ja auch amüsiert, wie sie zähneknirschend zugeben mußte —, doch statt dessen unterhielt er sich ernst mit ihr, wie ein... Nun ja, wie ein Vater mit seiner Tochter. »Vielleicht findet Ihr ein paar Antworten auf diesem Schiff, Thom. Sie wollten an sich nach Osten fahren, bis wir die Segelherrin überredeten, uns nach Tanchico zu bringen. Nach Schara, sagte der Zahlmeister, östlich von Mayene. Das muß bedeuten: Es liegt jenseits der Wüste.« Er sah sie einen Augenblick lang an. »Schara sagt Ihr? Den Namen habe ich noch nie gehört. Ist Schara eine Stadt oder ein Staat oder beides? Vielleicht erfahre ich wirklich hier noch etwas Neues.« Was habe ich gesagt? fragte sie sich. Ich habe etwas gesagt, um ihn zum Nachdenken zu bringen. Licht! Ich sagte ihm, daß wir Coine überredet haben, ihre Pläne zu ändern. Es konnte an sich nicht weiter schaden, doch sie schalt sich selbst eine Närrin. Ein unvorsichtiges Wort diesem netten alten Mann gegenüber würde vielleicht keinen Schaden anrichten, aber in Tanchico könnte sie das umbringen und Nynaeve dazu, gar nicht zu sprechen von dem Diebfänger und Thom selbst. Wenn er wirklich ein so netter alter Mann war. »Thom, warum seid Ihr mit uns gekommen? Nur weil Moiraine Euch darum bat?« Seine Schultern bebten und ihr wurde bewußt, daß er über sich selbst lachte. »Was das betrifft, nun, wer weiß das schon? Man widerspricht selten einer Aes Sedai, die einen um einen Gefallen bittet. Vielleicht war es auch die Aussicht auf Eure angenehme Gesellschaft die Reise über. Oder ich habe erkannt, daß Rand alt genug ist, um auf sich selbst aufzupassen, jedenfalls eine Weile lang.« Er lachte schallend, und sie mußte mitlachen. Allein schon der Gedanke, daß dieser weißhaarige alte Bursche auf Rand aufpaßte! Das Gefühl, ihm vertrauen zu können, kehrte zurück, noch stärker als zuvor, als er sie anblickte. Nicht, weil er über sich selbst lachen konnte, oder jedenfalls nicht nur deshalb. Sie kannte auch keinen anderen Grund als den, daß sie einfach nach einem Blick in diese blauen Augen nicht glauben konnte, er werde jemals etwas unternehmen, was ihr schaden könnte.

Der Drang, ihn wieder am Schnurrbart zu zupfen, war beinahe überwältigend, aber sie zwang ihre Hände zur Untätigkeit. Sie war schließlich kein Kind mehr. Ein Kind. Sie öffnete den Mund... und plötzlich war alles vergessen.

»Bitte entschuldigt mich, Thom«, sagte sie schnell. »Ich muß... Entschuldigt mich.« Sie ging hastig in Richtung Heck und wartete nicht auf eine Antwort. Er glaubte vielleicht, daß sie wegen der Schaukelei des Schiffs seekrank geworden sei. Der Wogentänzer schwankte nun mehr und bewegte sich schneller als zuvor durch die mächtigen Wogenberge. Der Wind hatte aufgefrischt.

Zwei Männer standen am Rad auf dem Achterdeck. Die Muskeln beider waren notwendig, um das Schiff auf Kurs zu halten. Die Segelherrin befand sich nicht an Deck, aber die Windsucherin stand an der Reling hinter den Rudergängern, mit nacktem Oberkörper, genau wie die Männer, und betrachtete den Himmel, an dem dicke Wolken schneller entlangquollen als die Wogen der See. Diesmal war es allerdings nicht Jorins Kleidung, oder besser ihr halbnackter Zustand, was Elayne störte. Das Glühen einer Frau, die mit Saidar arbeitete, umgab sie. Es hob sich klar von dem trüben Dämmerlicht ab. Das war es, was sie gespürt hatte, was sie angezogen hatte. Eine Frau, die die Macht benützte.

Elayne blieb kurz vor dem Achterdeck stehen, um genau zu beobachten, was sie tat. Die Stränge aus Luft und Wasser, die von der Windsucherin benützt wurden, waren kabeldick, doch ihr Gewebe war kompliziert und fast fein zu nennen. Es reichte beinahe so weit, wie das Auge über das Meer hinweg blicken konnte, ein himmelsumspannendes Netz. Der Wind wurde immer stärker, die Rudergänger strengten sich mächtig an, und der Wogentänzer flog über die See. Das Weben hörte auf, das Glühen Saidars verschwand, und Jorin hing erschöpft an der Reling und stützte sich mühevoll auf.

Elayne stieg leise die Leiter hinauf, doch die MeervolkFrau sprach mit ruhiger Stimme, ohne den Kopf zu wenden, sobald sie in Hörweite war: »Mitten in meiner Arbeit wurde mir klar, daß Ihr mich beobachtet. Ich konnte aber nicht aufhören. Das hätte zu einem Sturm führen können, den der Wogentänzer nicht überstanden hätte. Das Meer der Stürme trägt seinen Namen nicht zu unrecht. Es gibt schon, ohne daß ich nachhelfe, genug Stürme hier. Ich wollte das an sich gar nicht tun, aber Coine sagte, wir müßten uns beeilen. Euretwegen und für den Coramoor.« Sie hob den Blick und spähte zum Himmel auf. »Dieser Wind hält bis zum Morgen, wenn es dem Licht gefällt.« »Deshalb also befördert das Meervolk keine Aes Sedai?« sagte Elayne und stellte sich neben die andere an die Reling. »Damit die Burg nicht herausfindet, daß Windsucherinnen die Macht benützen können. Deswegen habt Ihr entschieden, uns an Bord zu lassen, und nicht Eure Schwester. Jorin, die Burg wird nicht versuchen, sich Euch irgendwie entgegenzustellen. Es gibt kein Gesetz in der Burg, das eine Frau davon abhält, die Macht zu benützen, auch wenn sie keine Aes Sedai ist.« »Eure Weiße Burg wird eingreifen. Sie wird versuchen, ihren Machtbereich auf unsere Schiffe auszudehnen, wo wir frei sind von allen Einschränkungen des Landes und seiner Menschen. Sie wird versuchen, uns an sich zu binden, weit von der See.« Sie seufzte schwer. »Die Woge, die vorbeifloß, kann man nicht mehr zurückholen.« Elayne wünschte, sie könne ihr versichern, daß sie sich irre, doch die Burg suchte schließlich nach Frauen und Mädchen mit dieser Eigenschaft, sowohl um die Anzahl der Aes Sedai zu steigern, die immer mehr zusammenschrumpfte, gemessen an ihrer früheren Größe, wie auch wegen der Gefahren, die sich ergaben, wenn man ohne Hilfe lernte, die Macht zu gebrauchen. Um die Wahrheit zu sagen, fand sich jede Frau, die diese Fähigkeit besaß, irgendwann in der Burg wieder, ob sie wollte oder nicht, zumindest bis sie genug Ausbildung genossen hatte, um nicht sich selbst oder andere zu gefährden.

Einen Augenblick später fuhr Jorin fort: »Es sind nicht alle von uns. Nur manche. Wir schicken auch ein paar Mädchen nach Tar Valon, damit keine Aes Sedai hergeschickt werden und sich bei uns umschauen. Kein Schiff, dessen Windsucherin die Winde verweben kann, wird eine Aes Sedai befördern. Als Ihr euch zuerst zu erkennen gabt, glaubte ich, Ihr hättet mich durchschaut, aber Ihr habt nichts gesagt und um eine Passage gebeten, und da hoffte ich, daß Ihr trotz Eurer Ringe noch keine Aes Sedai wärt. Eine vergebene Hoffnung. Ich konnte Eurer beider Stärke fühlen. Und nun wird es die Weiße Burg erfahren.« »Ich kann nicht versprechen, Euer Geheimnis zu wahren, aber ich werde mein Möglichstes tun.« Die Frau verdiente etwas mehr. »Jorin, Ich schwöre bei der Ehre des Hauses Trakand von Andor, daß ich alles tun werde, um Euer Geheimnis vor allen zu wahren, die Euch oder Eurem Volk Schaden zufügen wollen, und falls ich es irgend jemanden eröffnen muß, werde ich alles tun, um Euer Volk vor jedem fremden Einfluß zu schützen. Das Haus Trakand ist nicht ganz ohne Einfluß, selbst in der Burg.« Und ich werde auch Mutter dazu bringen, diesen Einfluß geltend zu machen, falls es sein muß. Irgendwie.

»Falls es dem Licht gefällt«, sagte Jorin ergeben, »wird alles gut gehen. Alles wird gut und allen wird es gutgehen und alle möglichen Dinge werden gut gehen, falls es dem Licht gefällt.« »Es war doch eine Damane auf dem Schiff der Seanchan, nicht wahr?« Die Windsucherin sah sie fragend an. »Eine der gefangenen Frauen, eine, die mit der Macht umgehen kann.« »Ihr seid sehr weise für eine so junge Frau. Deshalb hatte ich zuerst geglaubt, Ihr wärt noch gar keine Aes Sedai, weil Ihr eben so jung seid. Ich glaube, meine Töchter sind älter als Ihr. Ich wußte nicht, daß sie eine Gefangene war. Nun wünsche ich, wir hätten sie gerettet. Der Wogentänzer lief anfangs dem Seanchan-Schiff glatt davon. Wir hatten von ihnen und ihren Schiffen mit den gerippten Segeln gehört, und daß sie seltsame Eide zu schwören verlangten und diejenigen bestraften, die dazu nicht bereit waren. Aber dann brach die — Damane? — zwei unserer Masten, und sie enterten uns mit Schwertern in der Hand. Ich schaffte es, auf dem Schiff der Seanchan Feuer ausbrechen zu lassen, obwohl es mir schwerfällt, mit dem Element Feuer umzugehen, außer, wenn ich eine Lampe anzünden will, doch diesmal gelang es mir mit Hilfe des Lichts. Dann brachte Toram die Mannschaft zum Kämpfen, bis die Seanchan auf ihr eigenes Schiff zurückgeworfen wurden. Wir schnitten die Leinen der Enterhaken ab, und ihr Schiff trieb brennend weg. Sie waren zu sehr damit beschäftigt, das Feuer zu löschen, um sich noch viel um uns zu kümmern, als wir mühsam wegsegelten. Ich habe es bedauert, ihn brennen und sinken zu sehen; er war ein gutes Schiff, glaube ich, besonders bei schwerer See. Und nun bedaure ich es noch mehr, denn wir hätten diese Frau, diese Damane, retten können. Obwohl sie uns ja Schaden zugefügt hat, hätte sie das in Freiheit vielleicht nicht getan. Das Licht leuchte ihrer Seele und die Wasser mögen sie friedlich empfangen.« Sie war über ihrer Erzählung traurig geworden. Man mußte sie ablenken. »Jorin, warum bezeichnen die Atha'an Miere Schiffe als ›er‹? Jeder sonst, den ich jemals getroffen habe, hat ein Schiff als ›sie‹ angesprochen. Es ist wohl kein großer Unterschied, aber warum das?« »Die Männer werden Euch eine andere Antwort geben«, sagte die Windsucherin lächelnd, »und von Stärke und Größe und ähnlichen sprechen, wie es ihre Art ist, aber hier ist die Wahrheit: Ein Schiff lebt, und er ist wie ein Mann, mit dem wahren Herzen eines Mannes.« Sie streichelte liebevoll über die Reling, als streichle sie etwas Lebendiges, etwas, das die Liebkosung wahrnehmen konnte. »Behandle ihn gut und pflege ihn richtig, dann kämpft er für Euch auch gegen den schlimmsten Sturm. Er wird kämpfen, um Euch am Leben zu erhalten, auch wenn er selbst schon lange den Todesstoß erhalten hat. Vernachlässige ihn und ignoriere die kleinen Warnsignale, die er bei Gefahr von sich gibt, dann wird er Euch bei ruhiger See unter wolkenlosem Himmel ertränken.« Elayne hoffte, daß Rand nicht auch so wetterwendisch sei. Aber warum hüpft er dann um mich herum und tut so, als sei er froh, mich gehen zu sehen, und im nächsten Moment schickt er mir Juilin Sandar hinterher? Sie sagte sich, sie müsse endlich aufhören, an ihn zu denken. Er war nun weit weg. Sie konnte, was ihn betraf, jetzt sowieso nichts mehr unternehmen.

Sie blickte sich um in Richtung Bug. Thom war weg. Sie war sicher, den Schlüssel zu seinem Rätsel gefunden zu haben, gerade in dem Moment, bevor sie gespürt hatte, wie die Windsucherin die Macht benützte. Es hatte etwas mit seinem Lächeln zu tun. Nun, was es auch gewesen sein mochte, sie erinnerte sich jetzt nicht mehr daran. Aber sie hatte vor, sich noch näher damit zu beschäftigen, bis sie Tanchico erreichten, und wenn sie sich auf ihn setzen müßte. Er konnte ihr ja nicht weglaufen. »Jorin, wie lange dauert es bis zu unserer Ankunft in Tanchico? Ich habe gehört, daß Eure Klipper die schnellsten Schiffe der Welt sind, aber wie schnell ist der Wogentänzer?«

»Nach Tanchico? Um dem Coramoor zu helfen, werden wir zwischendurch in keinem Hafen anlegen. Vielleicht zehn Tage, wenn ich die Winde gut genug verweben kann und falls es dem Licht gefällt, daß ich die richtigen Strömungen finde. Vielleicht sogar nur sieben oder acht Tage mit Hilfe der Gnade des Lichts.« »Zehn Tage?« Elayne schnappte nach Luft. »Das kann doch nicht möglich sein.« Sie hatte schließlich auch schon einmal Karten studiert.

Das Lächeln der anderen Frau wirkte stolz, ob ihrer Zweifel aber auch ein wenig beleidigt. »Wie Ihr selbst sagtet, die schnellsten Schiffe der Welt. Die nächstschnellsten brauchen auf jeder Strecke um die Hälfte länger und die meisten sogar mehr als doppelt so lang. Küstenschiffe, die sich immer unter Land halten und jede Nacht in einer Bucht vor Anker gehen...«, sie schnaubte verächtlich, »... brauchen zehnmal so lang.« »Jorin, würdet Ihr mir beibringen, was Ihr vorhin gemacht habt?« Die Windsucherin blickte entgeistert drein. Ihre dunklen Augen waren weit aufgerissen und glänzten im Dämmerlicht. »Euch lehren? Aber Ihr seid doch Aes Sedai!« »Jorin, ich habe noch niemals einen auch nur halb so dicken Strang verwoben wie Ihr vorhin! Und dann diese Reichweite! Ich bin wirklich verblüfft, Jorin.« Die Windsucherin blickte sie noch einen weiteren Augenblick lang sehr genau an, nicht mehr so erstaunt wie vorher, aber so, als wolle sie sich Elaynes Gesicht einprägen. Schließlich küßte sie die Fingerspitzen ihrer rechten Hand und drückte sie auf Elaynes Lippen. »Wenn es dem Licht gefällt, werden wir beide lernen.«

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