Drei Tage vergingen in einer feuchten Hitze, die sogar die Tairener auszulaugen schien. Die Betriebsamkeit in der Stadt verlangsamte sich; Lethargie hatte sich über alles gesenkt. Im Stein ging alles noch schleppender voran. Die Diener schienen beim Arbeiten einzuschlafen. Die Majhere riß frustriert an ihren um den Kopf geschlungenen Zöpfen, hatte aber auch nicht mehr die Energie, um Kopfnüsse auszuteilen oder die Dienerinnen an den Ohren zu ziehen. Die Verteidiger des Steins hockten zusammengesunken wie halbgeschmolzene Kerzen auf ihren Posten, und die Offiziere hatten eindeutig mehr Interesse an gekühltem Wein als an ihren Inspektionsrunden. Die Hochlords hielten sich fast nur in ihren Gemächern auf, verschliefen die heißesten Tageszeiten, und einige verließen sogar den Stein, weil sie die relative Kühle ihrer Landgüter weit im Osten oder die Abhänge des Rückgrats der Welt bevorzugten. Seltsamerweise trieben sich nur die Ausländer, denen diese Hitze am meisten zu schaffen machte, dazu, so hart wie immer zu arbeiten, wenn nicht sogar härter. Sie spürten die drückende Last der Hitze nicht so sehr wie den zunehmenden Druck der verfliegenden Stunden.
Mat bemerkte schnell, daß er recht gehabt hatte in bezug auf die jungen Lords, die gesehen hatten, wie die Spielkarten versuchten, ihn zu töten. Nicht nur, daß sie ihn mieden. Sie erzählten alles brühwarm ihren Freunden, übertrieben natürlich, und nun sprach niemand im Stein, der auch nur zwei Silbermünzen in der Tasche hatte, mehr als ein paar Worte mit ihm. Sie entschuldigten sich vielmehr hastig und zogen sich zurück. Die Gerüchte verbreiteten sich selbstverständlich auch über die jungen Lords hinaus. Mehr als eine Dienerin, die sich vorher gern von ihm in den Arm nehmen lassen hatte, zuckte jetzt vor ihm zurück, und zwei davon erklärten ihm sogar ängstlich, daß sie gehört hatten, es sei gefährlich, mit ihm allein zu sein. Perrin schien in seinen eigenen Sorgen gefangen, und Thom war wie durch Zauberei ganz verschwunden. Mat hatte keine Ahnung, womit sich der Gaukler beschäftigte, aber er war nur sehr selten anzutreffen, tagsüber ebenso wie nachts. Moiraine, die einzige Person, von der Mat wünschte, sie würde sich nicht um ihn kümmern, tauchte statt dessen überall auf, wo er sich aufhielt. Entweder kam sie gerade vorbei, oder sie überquerte den Flur in einiger Entfernung, aber jedesmal traf ihn ihr Blick. Sie schien immer genau zu wissen, was er dachte und wünschte, und überzeugt zu sein, daß sie ihn auf jeden Fall dazu bringen werde, zu tun, was sie wollte. In einer Hinsicht aber spielte das keine Rolle: Er fand immer noch Ausreden, um seine Abreise einen Tag um den anderen hinauszuschieben. Wie er es auffaßte, hatte er Egwene wohl nicht versprochen, daß er bleiben würde, aber er blieb da.
Einmal trug er eine Lampe hinunter in den Bauch des Steins zur sogenannten Großen Sammlung bis vor die halbverfallene Tür am Ende des engen Ganges. Ein paar Minuten lang spähte er in das düstere Innere des Raumes, sah undeutliche Umrisse, mit staubigen Laken bedeckt, aufeinandergestapelte Kisten und Fässer, deren Oberseiten man benützt hatte, um ein Durcheinander von kleinen Statuen, Schnitzereien und seltsamen — Dingen — aus Glas und Kristall und Metall darauf abzustellen. Nach ein paar Minuten also hatte er genug und eilte zurück. »Ich müßte ja der größte aller Narren auf der ganzen verfluchten Welt sein!« knurrte er im Weggehen.
Nichts hielt ihn jedoch davon ab, in die Stadt zu gehen, und in den Tavernen des Hafenviertels Maule traf er Moiraine ganz bestimmt nicht an, genausowenig wie im Speicherviertel Chalm. Die Schenken dort waren schlecht beleuchtet, eng und oft schmutzig, stanken nach billigem Wein oder dünnem Bier; es gab häufig Raufereien und unendlich lange Würfelspiele. Die Einsätze beim Würfeln waren klein, verglichen mit denen, an die er sich im Stein gewöhnt hatte, aber das war nicht der Grund, warum er nach wenigen Stunden doch regelmäßig wieder oben in der Festung anzutreffen war. Er bemühte sich, nicht daran zu denken, was ihn immer zurückzog in Rands Nähe.
Perrin traf Mat manchmal in einer der Tavernen am Hafen und bemerkte, daß der Freund zuviel billigen Wein trank und würfelte, als sei es ihm völlig gleich, ob er gewann oder verlor. Einmal zog er sogar ein Messer, als ein stämmiger Seemann von ihm wissen wollte, wie oft er gewonnen hatte. Das sah Mat gar nicht ähnlich, daß er so leicht erregbar war, aber statt zu versuchen, die Gründe herauszufinden, mied ihn Perrin lieber. Perrin war nicht dort unten, um zu trinken oder zu spielen, und die rauflustigen Männer vergaßen ihre Absicht schnell, nachdem sie einen Blick auf seine Muskelpakete geworfen hatte — und in seine Augen. Doch er lud Seeleute in weiten Lederhosen oder Händlergehilfen mit dünnen Silberketten vorn am Mantel oftmals zu einem Bier ein — überhaupt jeden Mann, der aussah, als käme er aus einem fernen Land. Er suchte nach Gerüchten, nach irgendwelchen Neuigkeiten, die Faile vielleicht von Tear und von ihm weglocken könnten.
Er war sicher, wenn er für sie ein Abenteuer aufspürte, etwas, das ihr eine Chance verschaffte, ihren eigenen Namen in den Legenden zu verewigen, würde sie gehen. Sie gab wohl vor, zu verstehen, warum er bleiben mußte, aber gelegentlich deutete sie doch an, sie wolle lieber gehen und hoffe, er werde mitkommen. Er war sicher, der richtige Köder würde sie auch ohne seine Begleitung weglocken.
Bei den meisten Gerüchten wurde ihr genauso schnell wie ihm klar, daß es sich um verdrehte Wahrheiten handelte. Man sagte, der Krieg an der Küste des Aryth-Meeres sei das Werk eines bis dato unbekannten Volkes, das sich Schaukinn oder so ähnlich nannte. Der Name variierte von Erzähler zu Erzähler. Dieses seltsame Volk war möglicherweise der Nachfahre des Heeres, das Artur Falkenflügel vor über tausend Jahren ausgesandt hatte. Ein Bursche, er war aus Tarabon und trug einen runden, roten Hut und einen Schnurrbart, so dick wie die Hörner eines Stiers, erzählte ihm ganz ernsthaft, daß Falkenflügel selbst diese Leute anführe und dabei sein legendäres Schwert namens Gerechtigkeit in der Hand halte. Es gab Gerüchte, das berühmte Horn von Valere sei wiedergefunden worden, mit dem man tote Helden aus den Gräbern herbeirufen konnte, um in der Letzten Schlacht zu kämpfen. In Ghealdan war es überall im Land zu Aufständen gekommen; Illian litt unter Ausbrüchen von Massenhysterie; in Cairhien brachte die Hungersnot fast den Bürgerkrieg zum Erliegen, und irgendwo in den Grenzlanden begannen sich die Trolloc-Überfälle zu häufen. Dorthin konnte Perrin Faile nicht schicken, nicht einmal, um sie aus Tear wegzubringen.
Berichte über Unruhen in Saldaea schienen ihm vielversprechend. Sie mußte sich doch zu ihrer eigenen Heimat hingezogen fühlen, und er hatte überdies gehört, Mazrim Taim, der falsche Drache, befände sich fest in den Händen der Aes Sedai. Aber niemand wußte genau, was dort eigentlich los war. Etwas zu erfinden würde auch nicht helfen. Was er auch erfand, sie würde dem erst einmal selbst nachgehen, bevor sie aufbrach. Außerdem konnten natürlich die Unruhen in Saldaea genauso schlimm sein wie die anderswo, von denen er gehört hatte.
Er sagte ihr auch nicht, wo er seine Zeit verbrachte, denn sonst würde sie ihn auf jeden Fall fragen, warum er dorthin ging. Sie wußte, daß er nicht so wie Mat war, dem es Spaß machte, in den Tavernen herumzuhocken. Er hatte noch nie gut lügen können, also schwieg er sich bei ihr aus und riskierte, daß sie ihm lange, stille, nachdenkliche Blicke zuwarf. Alles, was er dagegen tun konnte, war, seine Anstrengungen zu verdoppeln, eine Neuigkeit aufzutreiben, die sie fortlockte. Er mußte sie von sich wegschicken, bevor er sie durch seine Nähe in den Tod trieb. Er mußte einfach.
Egwene und Nynaeve verbrachten weitere Stunden ohne Erfolg mit Joiya und Amico. Deren Geschichten blieben immer die gleichen. Nynaeve protestierte zwar, aber Egwene unternahm trotzdem einen Versuch und erzählte jeder, was die andere gesagt hatte. Sie hoffte, damit etwas Neues auszulösen. Amico jedoch starrte sie nur mit großen Augen an und winselte, sie habe nie etwas von einem solchen Plan gehört. Doch sie fügte hinzu, daß es möglich sei. Vielleicht. Sie schwitzte, so begierig war sie, ihnen zu Gefallen zu sein. Joiya riet ihnen nur kühl, sie sollten nach Tanchico gehen, wenn sie wünschten. »Es ist mittlerweile eine unangenehme Stadt geworden, wie man hört«, sagte sie verbindlich mit glitzernden Rabenaugen. »Der König hält höchstens noch die Stadt selbst, und wie ich weiß, hat der Panarch es aufgegeben, Ruhe und Ordnung zu wahren. In Tanchico herrschen starke Arme und schnelle Messer. Aber geht nur, wenn es Euch gefällt.« Aus Tar Valon hörten sie nichts, auch nichts darüber, ob die Amyrlin Vorkehrungen traf, den Plan zur Befreiung Mazrim Taims zu vereiteln. Die Zeit hatte gut ausgereicht, um ihnen eine Botschaft zu senden, entweder mit einem schnellen Schiff oder einem Reiter, der unterwegs die Pferde wechselte, seit Moiraine die Amyrlin per Brieftaube benachrichtigt hatte — wenn das wirklich stimmte. Egwene und Nynaeve stritten sich darüber. Nynaeve gab wohl zu, daß eine Aes Sedai nicht lügen konnte, wollte aber trotzdem irgendeinen Haken in Moiraines Worten finden. Moiraine schien sich wegen dieses Mangels an Kommunikation mit der Amyrlin keine Sorgen zu machen, obwohl das bei ihrer kristallinen Ruhe schwer festzustellen war.
Egwene hielt sich damit nicht weiter auf. Sie grübelte nicht darüber nach, ob Tanchico eine falsche Spur darstellte oder eine echte, oder ob es eine Falle war. In der Bibliothek des Steins fand sie Bücher über Tarabon und Tanchico, doch obwohl sie las, bis ihr die Augen tränten, fand sie nichts, was irgendwie für Rand gefährlich werden konnte. Die Hitze und die Grübeleien taten ihrer Laune nicht gerade gut. Manchmal war sie genauso streitsüchtig wie Nynaeve.
Einige Dinge entwickelten sich natürlich auch gut. Mat hielt sich immer noch im Stein auf. Offensichtlich wurde er doch langsam erwachsen und begriff seine Verantwortung. Es tat ihr leid, daß sie ihm nicht hatte helfen können, aber sie wußte nicht, ob irgendeine Frau aus der Burg mehr für ihn tun könne. Sie verstand seinen Wissensdurst, denn auch sie teilte diese Gefühle, aber sie wollte andere Dinge wissen als er, Dinge, die sie nur in der Burg erfahren konnte, Dinge, die nur sie allein jemals wissen würde oder die schon lange in Vergessenheit geraten waren.
Aviendha begann, Egwene öfter zu besuchen, und zwar offensichtlich von sich aus. Falls die Frau anfangs noch mißtrauisch gewesen war, na gut, sie war eben eine Aiel, und sie glaubte nach wie vor, daß Egwene eine Aes Sedai sei. Aber Egwene genoß ihre Gesellschaft, obwohl sie manchmal glaubte, in den Augen der anderen unausgesprochene Fragen zu entdecken. Doch trotz dieser Reserviertheit wurde Egwene schnell klar, daß sie einen hellen Verstand und einen Sinn für Humor ähnlich dem Egwenes besaß. Gelegentlich kicherten sie miteinander wie überkandidelte kleine Mädchen. Allerdings bekam Egwene auch zu spüren, daß die Sitten und Angewohnheiten der Aiel sich von den ihren stark unterschieden. So fühlte sich Aviendha absolut unwohl, wenn sie auf einem Stuhl sitzen mußte. Sie war auch mächtig erschrocken, als sie Egwene im Bad sitzend vorfand. Die Majhere hatte ihr eine versilberte Badewanne hinaufbringen lassen. Aviendhas Schreck galt nicht der Tatsache, daß Egwene nackt war, sondern daß sie bis zur Brust im Wasser saß. Ihr fielen fast die Augen heraus, daß man soviel Wasser auf einmal schmutzig machte. Ansonsten bemerkte sie, daß Egwene sich ihrer Nacktheit schämte, und so schälte sie sich selbst kurzerhand aus ihrer Kleidung und setzte sich nackt auf den Fußboden, damit sie sich unterhalten konnten. Aviendha konnte auch nicht verstehen, wieso sie und Elayne nicht zu drastischeren Mitteln Berelain gegenüber gegriffen hatten, obwohl sie sie doch aus dem Weg haben wollten. Es war natürlich einem Krieger verboten, eine Frau zu töten, die nicht dem Speer angetraut war, aber da sowieso weder Elayne noch Berelain Töchter des Speers waren, war es in Aviendhas Augen völlig normal, wenn Elayne die Erste von Mayene zu einem Messerduell herausforderte oder sie wenigstens mit Fäusten und Füßen traktierte. In ihrer Sichtweise waren Messer allerdings am besten. Berelain machte den Eindruck einer Frau, die man wohl mehrmals niederschlagen konnte, ohne daß sie aufgab. Am besten, sie einfach zu fordern und zu töten. Oder Egwene als Freundin und Beinahe-Schwester konnte das für sie erledigen.
Trotzdem war es ein Vergnügen, jemanden zum Unterhalten und Lachen dazuhaben. Elayne war natürlich die meiste Zeit über beschäftigt und Nynaeve, die genauso deutlich wie Egwene spürte, wie die Zeit verrann, verbrachte ihre freien Augenblicke mit Mondscheinspaziergängen auf den Festungsanlagen mit Lan oder kochte für den Behüter seine Lieblingsspeisen. Dabei fluchte sie manchmal derart, daß die Köche aus ihrer Küche flüchteten. Nynaeve verstand eben nicht viel vom Kochen. Ohne Aviendha hätte Egwene nichts mit den trüben Stunden zwischen den Verhören der Schattenfreunde anzufangen gewußt. Wahrscheinlich wäre sie beim Grübeln ins Schwitzen gekommen und hätte die ganze Zeit über gefürchtet, sie müsse etwas tun, was ihr schon beim bloßen Gedanken daran Alpträume verursachte.
Sie hatten sich darauf geeinigt, daß Elayne bei diesen Verhören nicht zugegen sein werde. Ein weiteres Paar Ohren hätte auch keinen Unterschied gemacht. Statt dessen war die Tochter-Erbin immer zufällig zugegen, wenn Rand etwas Zeit hatte, unterhielt sich mit ihm oder ging einfach an seinem Arm mit ihm spazieren, selbst wenn er nur von einer Zusammenkunft mit einem Hochlord kam und in einen Raum mußte, wo wieder andere auf ihn warteten, oder wenn er eine überraschende Inspektion der Quartiere der Verteidiger vornahm. Sie entwickelte viel Geschick darin, abgelegene Ecken aufzufinden, wo sie gemeinsam und ungesehen eine kleine Pause einlegen konnten. Natürlich wurde er immer in einigem Abstand von Aiel begleitet, aber das war ihr nach einiger Zeit genauso gleich wie die Meinung ihrer Mutter. Sie ging sogar eine Art von Verschwörung mit den Töchtern des Speers ein. Die kannten wohl jeden verborgenen Winkel im Stein und sie ließen sie wissen, wenn Rand allein war. Sie schienen das für ein prächtiges Spiel zu halten.
Das Überraschendste war, daß er ihren Rat in bezug auf das Regieren eines Landes suchte und auch tatsächlich auf sie hörte. Sie wünschte, ihre Mutter hätte das miterlebt. Mehr als einmal hatte Morgase halb verzweifelt gelacht und ihr gesagt, sie müsse unbedingt lernen, sich besser zu konzentrieren. Es mochten wohl sehr trockene Entscheidungen sein, welches Handwerk man schützen mußte und wie und welches nicht und warum, aber sie waren genauso wichtig, wie zu wissen, wie man Kranke versorgt. Es mochte Spaß machen, einen starrköpfigen Lord oder Kaufmann dazu zu bringen, daß er Dinge tat, die er ablehnte, und dabei noch glaubte, die Idee entstamme dem eigenen Kopf, es mochte herzerwärmend sein, den Hungrigen Nahrung zu verschaffen, doch wenn man eben diese Hungrigen ernähren wollte, war es nötig, zu entscheiden, wie viele Beamte und Fahrer und Wagen man brauchte. Man konnte diese Entscheidungen anderen überlassen, doch dann erfuhr man erst, wenn es zu spät war, daß sie vielleicht einen Fehler begangen hatten. Er hörte ihr zu und befolgte oftmals ihren Ratschlag. Sie glaubte, ihn allein schon deshalb lieben zu müssen. Berelain wagte sich nicht aus ihren Gemächern heraus. Rand hatte angefangen, jedesmal zu lächeln, sobald er sie erblickte, und es gab nichts Schöneres auf der Welt. Außer, wenn die Zeit stillgestanden wäre.
Drei kurze Tage rannen ihr durch die Finger wie Wasser. Man würde Joiya und Amico nach Norden schicken, und damit bestand kein Grund mehr für sie, in Tear zu verweilen. Es war an der Zeit, daß sie, Egwene und Nynaeve abreisten. Natürlich würde sie gehen; sie hatte keinen Gedanken daran verschwendet, sich ihrer Aufgabe zu entziehen. Es war ihr bewußt und machte sie stolz, daß sie sich wie eine Frau verhielt und nicht wie ein kleines Mädchen, aber sie hätte am liebsten geweint.
Und Rand? Er empfing die Hochlords in seinen Gemächern und gab Anordnungen. Er überraschte sie, indem er mehrfach bei heimlichen Treffen von drei oder vier Hochlords auftauchte, von denen Thom erfahren hatte. Dann gab er vor, lediglich irgendeinen Teilaspekt seiner Befehle noch einmal abklären zu wollen. Sie lächelten und verbeugten sich und schwitzten Blut und fragten sich, wieviel er wußte. Er mußte irgendein Ziel für ihre Energie finden, bevor einer von ihnen entschied, daß es Zeit sei, Rand zu töten, weil man ihn nicht manipulieren konnte. Aber was auch notwendig war, um sie abzulenken — einen Krieg würde er deshalb auf keinen Fall beginnen. Wenn er sich mit Sammael auseinandersetzen mußte, gut, aber er würde keinen Krieg anfangen.
Die Planung nahm den größten Teil seiner Zeit in Anspruch, soweit er nicht die Hochlords bei ihren Zusammenkünften überraschte. Er reimte sich Bruchstücke aus den Büchern zusammen, von denen er sich von Bibliothekaren ganze Armladungen in seine Gemächer bringen ließ, und aus seinen Gesprächen mit Elayne. Ihre Ratschläge hinsichtlich der Hochlords waren ausgesprochen nützlich. Er konnte beinahe zusehen, wie sie ihn langsam anders einschätzten, da er über Dinge Bescheid wußte, von denen sie selbst nur wenig verstanden. Elayne hielt ihn davon ab, zuzugeben, daß es ihr Wissen war, was er benützte.
»Ein weiser Herrscher hört auf gute Ratschläge«, sagte sie ihm lächelnd, »aber er läßt sich nicht dabei erwischen, wie er sich beraten läßt. Laß sie ruhig glauben, du wüßtest erheblich mehr, als du tatsächlich weißt. Das schadet ihnen nicht, aber es hilft dir.« Doch sie freute sich ganz offensichtlich, daß er den Vorschlag gemacht hatte.
Er war sich selbst nicht ganz sicher, ob er nicht ihretwegen eine Entscheidung immer weiter hinausschob. Drei Tage der Planung, des Versuchs, herauszufinden, was noch fehlte. Irgend etwas fehlte tatsächlich noch. Er konnte nicht einfach nur auf die Verlorenen reagieren. Statt dessen mußte er sie dazu zwingen, auf seine Handlungen zu reagieren. Drei Tage, und am vierten würde sie abreisen —zurück nach Tar Valon, wie er hoffte —, aber sobald er etwas unternahm, wären ihre kurzen Momente miteinander beendet, soviel war sicher. Drei Tage heimlicher Küsse und zärtlicher Augenblicke, in denen er vergessen konnte, daß er etwas anderes war als ein Mann, der eine Frau in den Armen hielt. Er wußte, daß dieser Grund für sein Zögern närrisch war, aber so war es eben. Er war erleichtert, daß sie nicht mehr von ihm forderte als seine Gesellschaft, aber nur während dieser Augenblicke konnte er alle Entscheidungen vergessen, genau wie das Schicksal, das den Wiedergeborenen Drachen erwartete. Mehr als einmal überlegte er, ob er sie bitten sollte zu bleiben, aber es war nicht anständig, in ihr Erwartungen zu wecken, solange ihm selbst nicht einmal klar war, was er über ihre Gesellschaft hinaus eigentlich von ihr wollte. Falls sie überhaupt etwas von ihm erwartete. Viel besser, sich einfach nur vorzustellen, sie seien ein Mann und eine junge Frau, die gemeinsam einen festlichen Abend genießen wollten. Das machte es um vieles leichter. Er vergaß manchmal schon, daß sie die Tochter-Erbin war und er ein Schafhirte. Doch er wünschte, sie könnte bleiben. Drei Tage. Er mußte sich entscheiden. Er mußte den nächsten Zug machen. In einer Richtung, die niemand erwartete.
Die Sonne sank am Abend des dritten Tags langsam dem Horizont entgegen. Die halb zugezogenen Vorhänge von Rands Schlafzimmer dämpften das rotgelbe Glühen. Callandor funkelte wie der reinste aller Kristalle auf seinem verzierten Ständer.
Rand musterte Meilan und Sunamon, und dann warf er die dicke Mappe mit Pergamentbögen nach ihnen. Ein Vertrag, alles fein säuberlich ausgefüllt und fertiggestellt, so daß nur noch die Unterschriften und Siegel fehlten. Er traf Meilan an der Brust, und der fing das Ganze mit einer Reflexbewegung auf. Er verbeugte sich, als fühle er sich geehrt, doch die zu einem Lächeln verzogenen Lippen enthüllten zusammengebissene Zähne.
Sunamon trat von einem Fuß auf den anderen und rang die Hände. »Alles ist so, wie Ihr befohlen habt, Lord Drache«, sagte er ängstlich. »Getreide im Austausch für Schiffe... « »Plus zweitausend tairenische Soldaten«, unterbrach ihn Rand, »›um für die gerechte Verteilung des Getreides zu sorgen und die Interessen Tears zu schützen.‹« Seine Stimme klang eisig, doch in seinem Magen kochte es. Der Wunsch, diese beiden Narren mit den Fäusten zu bearbeiten, schien übermächtig, so daß er beinahe zitterte. »Zweitausend Mann. Unter dem Kommando Toreans!« »Hochlord Torean hat ein Interesse an den Beziehungen zu Mayene, Lord Drache«, sagte Meilan verbindlich.
»Er hat ein Interesse daran, sich einer Frau aufzudrängen, die ihn nicht einmal anschaut!« schrie Rand. »Getreide gegen Schiffe, habe ich gesagt! Keine Soldaten! Und ganz sicher kein verfluchter Torean als Kommandant! Habt Ihr überhaupt mit Berelain darüber gesprochen?« Sie sahen ihn mit großen Augen an, als verstünden sie ihn nicht. Das war denn doch zuviel. Er schnappte sich Saidin, und aus den Pergamenten in Meilans Armen schlugen Flammen. Mit einem Aufschrei warf Meilan das Flammenbündel in den leeren Kamin und wischte sich schnell die Funken und Rußflecken von seinem roten Seidenmantel. Sunamon starrte mit offenem Mund die brennenden Papiere an, die im Kamin knisterten und sich schwarz färbten.
»Ihr geht zu Berelain«, sagte er ihnen und war selbst überrascht, wie ruhig seine Stimme klang. »Bis morgen mittag habt Ihr entweder Berelain den Vertrag angeboten, den ich verlange, oder ich werde Euch beide bei Sonnenuntergang hängen lassen. Falls ich jeden Tag paarweise Hochlords aufhängen lassen muß, werde ich nicht zögern. Ich werde auch den letzten von Euch zum Galgen schicken, wenn Ihr mir nicht gehorcht. Und jetzt geht mir aus den Augen.« Dieser ruhige Tonfall schien sie mehr zu erschrecken als das Schreien zuvor. Selbst Meilan blickte unruhig drein, als sie sich rückwärts hinausschoben, verbeugte sich bei jedem zweiten Schritt und murmelte etwas von lebenslanger Treue und Gehorsam. Es machte ihn krank.
»Hinaus!« brüllte er, und sie ließen alle Würde fahren und kämpften beinahe darum, wer sich zuerst durch die Tür drängte. Sie rannten weg. Einer der Aielwächter steckte einen Augenblick lang seinen Kopf herein, um zu sehen, ob es Rand gutgehe, und dann schloß er die Tür.
Rand zitterte heftig. Er ekelte sich beinahe genauso vor ihnen wie vor sich selbst. Männer zu bedrohen, er werde sie hängen, weil sie nicht machten, was er wollte! Und was noch schlimmer war: es war ihm ernst gewesen. Er konnte sich an Zeiten erinnern, als er keine Launen gehabt hatte oder wenigstens nur selten schlechte Laune, als er sich noch besser im Griff gehabt hatte.
Er ging durch den Raum hinüber zu Callandor. Das Schwert glitzerte im Sonnenschein, der zwischen den Vorhängen hindurchfiel. Die Klinge sah aus, als bestünde sie aus dem feinsten Glas. Sie war vollkommen klar und durchsichtig, und doch fühlte sie sich nach Stahl an und war rasiermesserscharf. Er hätte beinahe danach gegriffen, um auf Meilan und Sunamon loszugehen. Vielleicht hätte er es wie ein normales Schwert benützt, vielleicht aber auch so, wie es eigentlich vorgesehen war. Er wußte es selbst nicht. Jede der beiden Möglichkeiten erschreckte ihn. Ich bin doch noch nicht wahnsinnig. Nur wütend. Licht, so wütend! Morgen. Morgen würde man die Schattenfreunde auf ein Schiff bringen. Elayne würde abreisen. Und natürlich auch Egwene und Nynaeve. Zurück nach Tar Valon, hoffte er inbrünstig. Schwarze Ajah oder nicht: Die Weiße Burg war bestimmt der sicherste Ort, den es heute noch gab. Morgen. Keine Ausreden mehr, um aufzuschieben, was er tun mußte. Nicht nach dem morgigen Tag.
Er drehte seine Hände um und betrachtete den Reiher, der in jede Handfläche eingebrannt war. Er hatte sie schon so oft betrachtet, daß er jede Linie auswendig nachzeichnen konnte. Die Prophezeiungen hatten auch sie vorhergesagt.
Zweimal und zweimal wird er gezeichnet, zweimal zum Leben und zweimal zum Tod. Einmal der Reiher, seinen Weg zu bestimmen, wieder der Reiher, ihn beim wahren Namen zu nennen.
Einmal der Drache, der verlorenen Erinnerung wegen.
Zum zweiten der Drache für den Preis, den er zahlen muß.
Aber wenn die Reiher seine Echtheit bewiesen, wozu dann noch die Drachen? Und überhaupt, was war mit diesen Drachen gemeint? Der einzige Drache, von dem er bisher gehört hatte, war Lews Therin Telamon. Lews Therin Brudermörder war der Drache gewesen. Der Drache war der Brudermörder. Und nun war er selbst in dieser Lage. Aber er konnte ja schlecht mit sich selbst gezeichnet sein. Vielleicht war das Bild auf der Flagge der eine dieser Drachen, aber nicht einmal die Aes Sedai schienen genau zu wissen, was dieses Geschöpf genau darstellen sollte.
»Du hast dich geändert, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe. Du bist stärker. Härter.« Er fuhr herum und starrte die junge Frau an, die an der Tür stand. Ihr dunkles Haar und die dunklen Augen stachen von der blassen Haut ab. Sie war hochgewachsen und ganz in Weiß und Silber gekleidet. Nun zog sie eine Augenbraue hoch, als sie die halbgeschmolzenen Klumpen Gold und Silber auf dem Kaminsims erblickte. Er hatte sie dort gelassen, damit sie ihn daran erinnerten, was geschehen konnte, wenn er gedankenlos handelte und die Beherrschung verlor. Es war ihm eine Lehre gewesen.
»Selene!« Er schnappte nach Luft und eilte zu ihr hinüber. »Woher kommst du? Wie bist du hier hereingekommen? Ich glaubte, du seist immer noch in Cairhien oder...« Er blickte auf sie hinunter und wollte nicht mehr aussprechen, er habe gefürchtet, sie sei tot oder unter den verhungernden Flüchtlingen. Ihre schlanke Taille wurde von einem aus Silberfäden gewebten Gürtel umschlossen. Silberne Kämme mit eingravierten Sternen und Mondsicheln glänzten in ihrem Haar, das ihr wie ein Wasserfall der Nacht über die Schultern fiel. Sie war immer noch die schönste Frau, die er je gesehen hatte. Ihr gegenüber waren Elayne und Egwene bestenfalls hübsch zu nennen. Doch aus irgendeinem Grund berührte sie ihn nicht so wie früher. Vielleicht lag es an den langen Monaten, die seit ihrem letzten Zusammentreffen vergangen waren, damals in einem Cairhien, das noch nicht vom Bürgerkrieg zerrissen war.
»Ich gehe, wohin immer ich gehen will.« Sie runzelte die Stirn. »Du wurdest gezeichnet, aber das ist gleich. Du gehörtest mir, und du gehörst mir. Jede andere ist lediglich eine Art von Kindermädchen, dessen Zeit vorüber ist. Ich werde von nun an offen beanspruchen, was mein ist.« Er sah sie mit großen Augen an. Gezeichnet? Meinte sie damit seine Hände? Und was sollte das bedeuten — er gehöre ihr? »Selene«, sagte er mit sanfter Stimme, »wir haben schöne Tage miteinander verbracht — und schwere Tage. Ich werde deinen Mut und deine Hilfe nicht vergessen, aber zwischen uns war nie mehr als Kameradschaft. Wir sind miteinander durch das Land gezogen, aber das war auch alles. Du wirst hier im Stein bleiben, bekommst die schönsten Gemächer, und wenn in Cairhien wieder Friede herrscht, werde ich dafür sorgen, daß du deine Güter dort zurückbekommst, falls es möglich ist.« »Du bist wirklich gezeichnet.« Sie lächelte verschmitzt. »Güter in Cairhien? Ich habe vielleicht einst Güter in diesen Ländern besessen. Die Erde hat sich derart verändert, daß nichts mehr so ist wie einst. Selene ist nur ein Name, den ich manchmal benutze, Lews Therin. Der Name, den ich wirklich für mich erwählte, ist Lanfear.« Rand lachte gezwungen. »Ein müder Scherz, Selene. Ich würde weder über den Dunklen König noch über einen der Verlorenen Witze reißen. Und außerdem heiße ich Rand.« »Wir nennen uns die Erwählten«, sagte sie gelassen. »Dazu erwählt, die Welt für ewig zu regieren. Wir werden wirklich ewig leben. Das kann auch für dich gelten.« Er musterte sie mit besorgter Miene. Glaubte sie tatsächlich, sie sei... ? Die Anstrengungen ihrer Reise nach Tear mußten sie nervlich zerrüttet haben. Doch sie wirkte auf ihn keineswegs verrückt. Sie war ruhig, kühl und selbstbewußt. Ohne nachzudenken, griff er nach Saidin. Er griff danach — und stieß gegen eine Mauer, die er weder sehen noch fühlen konnte, außer, daß sie ihn von der Quelle abschnitt. »Das kann doch nicht sein.« Sie lächelte. »Licht«, hauchte er, »du bist wirklich eine von ihnen!« Langsam wich er vor ihr zurück. Falls er Callandor erreichte, hätte er wenigstens eine Waffe in der Hand. Möglicherweise würde das Schwert in diesem Fall nicht als Angreal funktionieren, doch es war ja immer noch ein Schwert. Konnte er mit dem Schwert in der Hand auf eine Frau losgehen, auf Selene? Nein, auf Lanfear, eine der Verlorenen?
Er stieß mit dem Rücken gegen etwas und blickte sich um. Da war nichts zu sehen. Eine Mauer aus nichts, gegen die er seinen Rücken preßte. Callandor glitzerte dahinter, keine drei Schritt entfernt, doch unerreichbar. Verzweifelt schmetterte er eine Faust gegen die Wand. Sie war unnachgiebig wie ein Felsen.
»Ich kann dir nicht voll vertrauen, Lews Therin. Noch nicht.« Sie kam näher und er überlegte, ob er sie einfach packen solle. Er war viel größer und stärker, und so abgeschirmt wie im Augenblick konnte sie ihn mit Hilfe der Macht verschnüren wie ein Kätzchen, das sich in ein Wollknäuel verstrickt hat. »Nicht, wenn du das da hast«, fügte sie hinzu und verzog das Gesicht beim Anblick Callandors. »Es gibt nur zwei noch mächtigere Dinge, die ein Mann benützen könnte. Von einem davon weiß ich, daß es auf jeden Fall noch existiert. Nein, Lews Therin. Soweit geht das Vertrauen noch nicht.« »Hör auf, mich so zu nennen«, grollte er. »Ich heiße Rand. Rand al'Thor.« »Du bist Lews Therin Telamon. Sicher, körperlich stimmt außer der Größe nichts überein, aber ich würde wissen, wer hinter diesen Augen steckt, und wenn ich dich in der Wiege vorfände.« Sie lachte plötzlich auf. »Um wie vieles leichter wäre alles gewesen, hätte ich dich damals gefunden. Wäre ich nur frei gewesen, und... « Das Lachen verflog und machte einem bösen Blick Platz. »Willst du mein wirkliches Aussehen genießen? Daran kannst du dich wohl auch nicht mehr erinnern, oder?« Er versuchte, nein zu sagen, doch seine Zunge rührte sich nicht. Einmal hatte er zwei der Verlorenen zusammen gesehen, Aginor und Balthamel, die ersten beiden, die sich wieder in Freiheit befanden nach dreitausend Jahren im versiegelten Kerker des Dunklen Königs. Der eine war geschrumpft und gealtert gewesen, wie etwas, das bestimmt nicht mehr am Leben sein konnte, und der andere hatte sein Gesicht hinter einer Maske verborgen, hatte jedes Fleckchen Haut verborgen, als könne er nicht ertragen, daß es jemand zu Gesicht bekäme.
Die Luft um Lanfear herum flimmerte, und sie veränderte sich. Sie war — ganz sicher älter als er, aber älter war nicht der richtige Ausdruck dafür. Reifer. Und wenn möglich, noch schöner als zuvor. Eine üppige Blüte verglichen mit einer Knospe. Obwohl ihm bewußt war, was sie war, trocknete sein Mund aus, und sein Hals war wie zusammengeschnürt.
Ihre dunklen Augen blickten forschend auf sein Gesicht. Der Blick war voller Stolz, und doch lag die Andeutung einer Frage darin, was er wohl sehen mochte. Was sie bei ihm auch wahrnahm, schien sie zufriedenzustellen. Sie lächelte wieder. »Ich war in einem tiefen, traumlosen Schlaf gefangen, in dem sich die Zeit nicht mehr bemerkbar machte. Die Drehungen des Rads haben mich nicht mehr betroffen. Nun siehst du mich, wie ich wirklich bin, und ich habe dich in der Hand.« Sie fuhr mit einem Fingernagel an seiner Kinnpartie entlang — so hart, daß er zusammenzuckte. »Die Zeit der Spiele und des Zurückziehens ist vorbei, Lews Therin. Lange vorbei.« Sein Magen rebellierte. »Willst du mich nun also töten? Das Licht soll dich versengen, ich... « »Dich töten?« rief sie ungläubig. »Dich töten? Ich will dich haben, und zwar für immer! Du hast mir gehört, lange bevor diese Schlampe mit den hellen Haaren dich mir stahl. Bevor sie dich je erblickt hatte. Du hast mich geliebt!« »Und du liebtest die Macht!« Einen Augenblick lang war er wie vor den Kopf geschlagen. Die Worte klangen vollkommen wahr — er wußte, daß sie stimmten — aber woher waren sie gekommen?
Selene — Lanfear — schien genauso überrascht wie er, aber sie erholte sich schnell. »Du hast viel gelernt und mehr getan, als ich dir ohne jede Hilfe zugetraut hätte, aber du stolperst immer noch im Dunkeln durch ein Labyrinth, und dein Unwissen könnte dich umbringen. Einige der anderen fürchten dich zu sehr, um noch lange warten zu wollen. Sammael, Rahvin, Moghedien. Andere vielleicht auch, aber diese drei auf jeden Fall. Sie werden dich verfolgen. Sie werden nicht erst versuchen, dich zu überzeugen und zu gewinnen. Sie werden sich anschleichen und dich im Schlaf töten. Weil sie dich fürchten. Aber es gibt auch solche, die dir vieles beibringen würden, damit du wieder lernst, was du einst wußtest. Dann würde niemand mehr wagen, sich dir in den Weg zu stellen.« »Mir beibringen? Du willst, daß mir einer der Verlorenen Unterricht erteilt?« Einer der Verlorenen. Ein Mann natürlich. Ein Mann, der im Zeitalter der Legenden zu den Aes Sedai gehört hatte, der wußte, wie man mit der Macht umging, der wußte, wie man mit Schwierigkeiten fertig wurde, der... Was war ihm nicht schon alles angeboten worden. »Nein! Selbst wenn man mir das anböte, würde ich ablehnen. Warum sollte ich so etwas annehmen? Ich bekämpfe sie schließlich — und dich auch. Ich hasse alles, was ihr getan habt, alles, wofür ihr steht.« Narr! dachte er. Hier sitze ich in der Falle und führe große Reden, ohne daran zu denken, daß diejenige, die mich gefangenhält, so wütend werden könnte, daß sie mir etwas antut. Aber er konnte sich einfach nicht zum Schweigen bringen oder die Worte zurücknehmen. Starrköpfig machte er weiter und alles noch schlimmer: »Ich werde euch vernichten, wenn ich kann. Dich und den Dunklen König und alle anderen Verlorenen!« In ihren Augen blitzte es gefährlich auf und verschwand wieder. »Weißt du, warum einige von uns dich so fürchten? Hast du eine Ahnung, warum? Weil sie Angst haben, daß der Große Herr der Dunkelheit dir einen Platz über ihnen zuweisen wird.« Rand überraschte sich selbst mit einem Auflachen. »Der Große Herr der Dunkelheit? Kannst selbst du seinen wirklichen Namen nicht aussprechen? Du fürchtest doch wohl nicht, daß er dadurch auf dich aufmerksam wird, so wie die anständigen Leute, oder?« »Es wäre Blasphemie«, gab sie ihm einfach zur Antwort. »Sie haben recht mit ihrer Angst, Sammael und die anderen. Der Große Herr will dich tatsächlich haben. Er will dich über alle anderen Menschen stellen. Das sagte er mir.« »Das ist lächerlich! Der Dunkle König ist immer noch im Shayol Ghul gefangen, sonst würde ich jetzt bestimmt in Tarmon Gai'don kämpfen. Und falls er überhaupt weiß, daß ich existiere, wünscht er meinen Tod. Ich habe vor, ihn weiterhin zu bekämpfen.« »Oh, er kennt dich. Der Große Herr weiß mehr, als du vermutest. Und es ist durchaus möglich, mit ihm zu sprechen. Geh zum Shayol Ghul in den Krater des Verderbens, und du kannst... ihn hören. Du kannst... seine Gegenwart genießen.« Nun leuchtete etwas anderes aus ihrem Gesicht: Ekstase. Sie atmete durch halbgeöffnete Lippen und schien einen Augenblick lang etwas Fernes und Wunderbares zu sehen. »Das kann man ganz und gar nicht mit Worten beschreiben. Du mußt es erleben, um es zu verstehen. Du mußt!« Sie kehrte zurück und nahm wieder sein Gesicht wahr. Ihre Augen waren groß und dunkel und blickten intensiv in seine. »Knie vor dem Großen Herrn nieder, und er wird dich über alle anderen erheben. Er wird dir Freiheit lassen, so zu regieren, wie du willst, solange du auch nur einmal dein Knie vor ihm beugst. Ihn anerkennst. Nicht mehr als das. Er hat es mir gesagt. Asmodean wird dir beibringen, die Macht zu lenken, ohne in Gefahr zu geraten, daß du dich damit selbst umbringst, und wird dir zeigen, was du damit alles vollbringen kannst. Laß mich dir helfen. Wir können die anderen vernichten. Dem Großen Herrn wird das gleich sein. Wir können sie alle vernichten, auch Asmodean, wenn er dir alles beigebracht hat, was du wissen mußt. Du und ich, wir können gemeinsam die Welt unter dem Großen Herrn regieren — für immer und ewig.« Ihre Stimme senkte sich zu einem Flüstern, das zugleich von Gier und Angst erfüllt schien: »Ganz kurz vor dem Ende wurden zwei große SaAngreal hergestellt. Den einen kannst du benützen und ich den anderen. Sie sind viel mächtiger als dieses Schwert. Ihre Macht ist unvorstellbar. Mit ihrer Hilfe könnten wir sogar... den Großen Herrn selbst bedrohen. Selbst den Schöpfer!« »Du bist wahnsinnig«, sagte er, von ihren Worten abgestoßen. »Der Vater der Lügen behauptet, er werde mich in Freiheit lassen? Ich wurde geboren, um ihn zu bekämpfen. Deshalb bin ich hier — um die Prophezeiungen zu erfüllen. Ich werde gegen ihn kämpfen und gegen euch alle, bis hin zur Letzten Schlacht! Bis zu meinem letzten Atemzug!« »Aber das mußt du nicht! Prophezeiungen sind nicht mehr als der in geheimnisvollen Worten ausgedrückte Wunsch der Menschen. Wenn du die Prophezeiungen erfüllst, zwingst du dich damit nur auf einen Weg, der zu Tarmon Gai'don und letztendlich zu deinem Tod führt. Moghedien oder Sammael können deinen Körper vernichten. Der Große Herr der Dunkelheit kann deine Seele vernichten. Das wäre dein vollständiges und endgültiges Ende. Du würdest nie mehr wiedergeboren, gleich, wie oft sich das Rad der Zeit noch dreht!« »Nein!« Sie betrachtete ihn eine — wie es ihm schien — endlos lange Zeit. Er konnte beinahe die Waagschalen sehen, auf denen die beiden so unterschiedlichen Möglichkeiten ruhten. »Ich könnte dich einfach mitnehmen«, sagte sie schließlich. »Ich könnte dich zum Großen Herrn bekehren, ob du willst oder nicht. Es gibt da Möglichkeiten.« Sie schwieg, vielleicht um abzuwarten, ob ihre Worte irgendeine Wirkung zeigten. Schweiß rann ihm über den Rücken, doch er verzog das Gesicht nicht. Er würde etwas unternehmen müssen, ob er nun eine Chance hatte oder nicht. Ein zweiter Versuch, Saidin zu ergreifen, scheiterte wieder an dieser unsichtbaren Barriere. Er ließ seine Blicke wandern, als überlege er angestrengt. Callandor befand sich hinter ihm und so weit außerhalb seiner Reichweite, daß es sich genausogut jenseits des Aryth-Meeres hätte befinden können. Sein Messer lag auf einem Nachttisch am Bett neben einem halbfertigen Fuchs, den er zu schnitzen begonnen hatte. Die formlosen Metallklumpen grinsten ihn von ihrem Platz auf dem Kaminsims spöttisch an. Ein Mann in unauffälliger Kleidung mit einem Messer in der Hand schlüpfte durch die Tür herein. Überall lagen Bücher. Er straffte sich und wandte sich wieder zu Lanfear um.
»Du warst schon immer ein Sturkopf«, knurrte sie. »Ich werde dich diesmal noch nicht mitnehmen. Ich will, daß du freiwillig mitkommst. Ich will es! Was ist los? Was machst du für ein Gesicht?« Ein Mann mit einem Messer, der durch die Tür schlüpft? Sein Blick war an ihm vorbeigewandert, ohne ihn wirklich bewußt wahrzunehmen. Instinktiv stieß er Lanfear aus dem Weg und griff nach der Wahren Quelle. Die Abschirmung, die ihn davon abgehalten hatte, verschwand bei der erneuten Berührung, und sein Schwert war wie eine rotgoldene Flamme in seiner Hand. Der Mann stürzte sich auf ihn. Er hielt das Messer tief, die Spitze aufwärts gerichtet, um es mit einem tödlichen Stoß in seinen Körper zu treiben. Selbst jetzt war es noch schwierig, den Burschen im Auge zu behalten, aber Rand drehte sich geschmeidig weg. ›Der Wind, der über die Mauer streicht‹ hackte die Hand mit dem Messer ab. Die restliche Drehbewegung reichte, um dem Angreifer das Schwert ins Herz zu stoßen. Einen Moment lang blickte er in matte Augen, die bereits leblos wirkten, obwohl das Herz noch schlug, und dann riß er das Schwert wieder heraus.
»Ein Grauer Mann.« Rand atmete tief durch. Er hatte das Gefühl, es sei sein erster Atemzug seit Stunden. Die Leiche zu seinen Füßen war blutüberströmt. Auch der kostbare Teppich war schnell vom Blut durchtränkt. Jetzt war es nicht mehr schwierig, den Mann anzusehen. So war es aber immer mit den Attentätern des Schattens: Wenn man sie bemerkte, war es für gewöhnlich zu spät. »Das ergibt doch keinen Sinn. Du hättest mich mit Leichtigkeit töten können. Warum mich erst ablenken, damit sich ein Grauer Mann anschleichen kann?« Lanfear musterte ihn mißtrauisch. »Ich benütze die Seelenlosen nicht. Ich sagte dir doch, daß es Unterschiede gibt bei den... Erwählten. Es scheint, daß ich einen Tag zu spät dran war, aber du hast immer noch Zeit, um mit mir zu kommen. Um zu lernen. Um zu leben. Dieses Schwert«, sagte sie beinahe verächtlich. »Du bringst noch nicht einmal den zehnten Teil von dem fertig, was du alles erreichen könntest. Komm mit mir und lerne es. Oder willst du mich jetzt töten? Ich habe dich freigelassen, damit du dich verteidigen kannst.« Ihre Stimmung und ihre Haltung deuteten an, daß sie mit einem Angriff rechnete oder zumindest bereit war, einen möglichen Angriff abzuwehren, aber das hätte ihn nicht davon abgehalten, genausowenig wie die Tatsache, daß sie zuvor seine Fesseln gelöst hatte. Sie war eine der Verlorenen. Sie hatte dem Bösen so lange gedient, daß eine Schwarze Ajah gegen sie wie ein Neugeborenes gewirkt hätte. Und doch sah er in ihr eine Frau. Er verfluchte sich selbst, aber er brachte es nicht fertig. Vielleicht, wenn sie vorher versucht hätte, ihn zu töten. Vielleicht. Doch alles, was sie tat, war, dazustehen, ihn zu beobachten, abzuwarten. Zweifellos war sie bereit, Dinge mit Hilfe der Macht zu tun, die er noch nicht einmal für möglich hielt, falls er sie zu fesseln versuchte. Er hatte es fertiggebracht, Elayne und Egwene abzuschirmen, aber es war eines dieser Dinge gewesen, die er ohne zu denken getan hatte, nur einfach aus seinem Unterbewußtsein heraus. Er konnte sich nur daran erinnern, es getan zu haben, aber nicht, wie. Wenigstens hielt er jetzt Saidin fest im Griff. So würde sie ihn nicht noch einmal überraschen. Das Verderben, das ihm mit seiner süßlichen Fäule den Magen herumdrehte, war gar nichts; Saidin war das Leben, vielleicht auf mehr als nur eine Weise.
Ein plötzlicher Gedanke kochte in ihm hoch: die Aiel! Selbst einem Grauen Mann hätte es unmöglich sein sollen, sich durch eine Tür zu schleichen, die von einem halben Dutzend Aiel bewacht wurde.
»Was hast du mit ihnen gemacht?« krächzte er, als er sich in Richtung Tür zurückzog, ohne sie dabei aus den Augen zu lassen. Falls sie die Macht einsetzte, würde er vielleicht irgendein Zeichen entdecken, das ihn rechtzeitig warnte. »Was hast du mit den Aiel dort draußen gemacht?« »Nichts«, antwortete sie kühl. »Geh nicht dort hinaus. Es mag nur ein Versuch sein, wie verwundbar du bist, aber selbst das könnte dich umbringen, falls du dich wie ein Narr verhältst.« Er warf den linken Türflügel auf und erblickte eine Szene reinen Grauens.