Eine Ansammlung von Wohnwagen kam in Sicht, ein wenig abseits nach Süden hin. Es waren richtige kleine Häuser auf Rädern, hohe Holzkästen, die in den intensivsten Farbtönen bemalt und lackiert waren, rot und grün und blau und gelb. Alle standen in einem großen, etwas unregelmäßigen Kreis um eine alte, mächtige Eiche. Von dort kam die Musik. Perrin hatte gehört, daß sich Kesselflicker, Angehörige des Fahrenden Volks, im Gebiet der Zwei Flüsse aufhielten, aber bisher hatte er sie noch nicht zu Gesicht bekommen. In der Nähe grasten friedlich angepflockte Pferde.
»Ich werde woanders schlafen«, sagte Gaul eingeschnappt, als ihm klar wurde, daß Perrin in das Wohnwagenlager wollte, und ohne ein weiteres Wort trottete er davon.
Bain und Chiad unterhielten sich leise und eindringlich mit Faile. Perrin schnappte genug von ihrer Unterhaltung auf, um zu wissen, daß sie versuchten, Faile davon zu überzeugen, es sei besser, die Nacht mit ihnen in irgendeiner bequemen Hecke zu verbringen als bei den ›Verirrten‹. Es klang so, als seien sie entsetzt von der bloßen Vorstellung, mit den Kesselflickern zu sprechen, geschweige denn bei ihnen zu essen und zu schlafen. Failes Griff an seinem Bein wurde fester, als sie ruhig und entschlossen ablehnte. Die beiden Töchter des Speers blickten sich stirnrunzelnd an. Der Blick aus blauen Augen traf den aus grauen, und beide wirkten äußerst besorgt, doch bevor sie sich den Wohnwagen des Fahrenden Volks weiter näherten, wandten sie sich um und folgten Gaul. Sie schienen aber doch wieder etwas besserer Laune zu sein. Perrin hörte, wie Chiad vorschlug, Gaul dazu zu bringen, daß er irgendein Spiel mitspielen solle, das man wohl den ›Kuß der Jungfrau‹ nannte. Sie kicherten beide, als sie sich aus seiner Hörweite entfernten.
Männer und Frauen arbeiteten im Lager, nähten, reparierten Geschirre, kochten, wuschen Kleidung und Kinder oder stemmten einen Wagen hoch, um ein Rad auszutauschen. Andere Kinder rannten spielend herum oder tanzten zu den Melodien, die ein halbes Dutzend Männer auf ihren Fiedeln und Flöten spielten. Vom ältesten bis zum jüngsten trugen die Kesselflicker Kleidung, die noch bunter war als ihre Wohnwagen, und das in beinahe schmerzhaften Kombinationen, die wohl blindlings ausgewählt worden waren. Kein normaler Mann würde etwas in diesen Farbtönen tragen und bestimmt auch nicht viele Frauen.
Als die zerlumpte Gesellschaft sich den Wagen näherte, breitete sich Schweigen aus. Die Menschen hörten mit Arbeiten auf und beobachteten sie mit besorgten Mienen. Frauen griffen sich ihre Kleinkinder, und ältere Kinder rannten zu den Erwachsenen, um sich hinter ihnen zu verbergen. Manch eines spähte um ein Hosenbein herum oder verbarg das Gesicht im Rock der Mutter. Ein drahtiger Mann, klein und grauhaarig, trat vor und verbeugte sich mit ernster Miene, beide Hände an die Brust gedrückt. Er trug ein leuchtend blaues Wams mit hohem Kragen und eine Pumphose von einem Grün, das beinahe zu leuchten schien. Die Hose hatte er in kniehohe Stiefel gesteckt. »Seid willkommen an unseren Feuern. Kennt Ihr das Lied?« Perrin, der sich bemühte, sich des Pfeils in seiner Seite wegen nicht zusammenzukrümmen, konnte einen Augenblick lang nur entgeistert den Mann anblicken. Er kannte ihn, den Mahdi oder Sucher dieser Gruppe. Was für ein Zufall, staunte er insgeheim. Von all den Kesselflickern auf der Welt muß ich ausgerechnet die treffen, die ich kenne! Zufälle gefielen ihm nicht. Wenn das Muster Zufälle hervorbrachte, schien das Rad jedesmal die Ereignisse vorantreiben zu wollen. Ich höre mich schon wie eine verdammte Aes Sedai an. Er brachte keine Verbeugung fertig, aber er erinnerte sich an das Ritual. »Euer Willkommen erwärmt meinen Geist, Raen, wie Eure Feuer mein Fleisch erwärmen, aber ich kenne das Lied nicht.« Faile und Ihvon warfen ihm überraschte Blicke zu, aber die Männer von den Zwei Flüssen waren noch verblüffter. Den Bemerkungen Bans und Tells und der anderen nach zu schließen, hatte er ihnen gerade wieder einigen Gesprächsstoff geliefert.
»Dann suchen wir weiter«, intonierte der drahtige Mann. »Wie es war, so soll es sein, wenn wir uns nur erinnern, suchen und finden.« Er verzog das Gesicht, als er die blutverschmierten Gesichter vor ihm musterte. Seine Augen wichen ihren Waffen aus. Das Fahrende Volk berührte nichts, was sie als Waffe betrachteten. »Seid willkommen an unseren Feuern. Es wird heißes Wasser da sein und Binden und Salben. Ihr kennt meinen Namen«, fügte er hinzu und blickte Perrin forschend an. »Natürlich.
Eure Augen.« Raens Frau war inzwischen neben ihn getreten. Sie war mollig, grauhaarig, doch ihr Gesicht war faltenlos, und sie überragte ihren Mann um Hauptesgröße. Ihre rote Bluse in Kombination mit einem leuchtend gelben Rock und einem grüngefransten Schal tat dem Auge weh, aber sie verhielt sich ausgesprochen lieb und mütterlich. »Perrin Aybara!« rief sie. »Ich dachte mir doch, daß ich dieses Gesicht kenne. Ist Elyas auch bei Euch?« Perrin schüttelte den Kopf. »Ich habe ihn schon lange nicht mehr getroffen, Ila.« »Er führt ein Leben voller Gewalt«, sagte Raen traurig. »Genau wie Ihr. Ein Leben der Gewalt ist befleckt, selbst wenn es lang andauert.« »Versuche nicht, ihn vom Weg des Blatts zu überzeugen, während wir hier herumstehen, Raen«, sagte Ila knapp, aber nicht unfreundlich. »Er ist verletzt. Sie sind alle verwundet.« »Wo habe ich nur meine Gedanken?« knurrte Raen. Dann erhob er seine Stimme und rief: »Kommt, Leute. Kommt und helft! Sie sind verletzt. Kommt und helft!« Schnell versammelten sich die Männer und Frauen und äußerten ihr Mitgefühl, als sie den Verwundeten von den Pferden halfen. Sie führten sie zu ihren Wohnwagen, und wenn nötig, trugen sie die Männer sogar. Wil und ein paar andere blickten besorgt drein, weil man sie voneinander trennte, aber Perrin war es recht. Gewaltanwendung war den Tuatha'an nun wirklich fremd. Sie würden gegen niemanden ihre Hand erheben, nicht einmal, um ihr eigenes Leben zu verteidigen.
Perrin mußte wohl oder übel Ihvons Hilfe annehmen, um vom Pferd zu kommen. Der Schmerz stach ihm wie ein Dolch in die Seite und breitete sich wellenförmig durch seinen Körper aus. »Raen«, sagte er ein wenig atemlos, »Ihr solltet Euch nicht hier draußen aufhalten. Wir haben keine fünf Meilen von hier gegen Trollocs gekämpft. Bringt Eure Leute nach Emondsfeld. Dort sind sie sicher.« Raen zögerte, wovon er selbst überrascht schien, und schüttelte dann den Kopf. »Selbst wenn ich es wünschte, Perrin, würden meine Leute das nicht wollen. Wir bemühen uns, nicht einmal in der Nähe auch nur des kleinsten Dorfes zu lagern, und das nicht nur, weil uns die Dorfbewohner vielleicht wieder in falschem Verdacht haben würden, die Dinge gestohlen zu haben, die sie einst verloren, oder ihre Kinder vom Weg des Blatts überzeugen zu wollen. Wo Menschen zehn Häuser nebeneinander gebaut haben, da findet man bereits den Samen der Gewalt. Das wissen die Tuatha'an seit der Zerstörung der Welt. Die Sicherheit liegt nur in unseren Wohnwagen und darin, immer in Bewegung zu bleiben und immer nach dem Lied zu suchen.« Sein Gesicht wurde wehmütig. »Von überall her bekommen wir Nachrichten über immer neue Gewalttaten, Perrin. Nicht nur hier an den Zwei Flüssen. Es liegt eine Stimmung der Veränderung über der Welt, der Zerstörung. Wir müssen bald das Lied finden. Sonst glaube ich nicht, daß wir es noch jemals finden werden.« »Ihr werdet das Lied finden«, sagte Perrin leise. Vielleicht verabscheuten sie Gewalt einfach zu sehr, als daß ein Ta'veren dagegen ankäme. Vielleicht konnte nicht einmal ein Ta'veren sie vom Weg des Blatts abbringen. Er war auch ihm einst verlockend vorgekommen. »Ich hoffe sehr, daß Ihr es findet.« »Was geschehen soll, wird geschehen«, meinte Raen lakonisch. »Alles, was existiert, stirbt auch wieder. Vielleicht sogar das Lied.« Ila nahm ihren Mann beruhigend in den Arm, obgleich ihre Augen genauso besorgt dreinblickten wie seine.
»Kommt«, sagte sie dann im Bemühen, ihre Beunruhigung zu überspielen, »wir müssen Euch hineinbringen. Männer reden gern, wenn ihr Wams auch schon brennt.« Zu Faile gewandt sagte sie: »Ihr seid schön, Kind. Ihr solltet Euch vor Perrin in acht nehmen. Ich sehe ihn immer nur in Begleitung schöner Mädchen.« Faile warf Perrin einen abschätzenden Blick zu und versuchte schnell, ihr Gesicht abzuwenden.
Er schaffte es gerade bis zu Raens Wagen — gelb mit rotem Rand, rote und gelbe Speichen in hohen, rotgeränderten Rädern, rote und gelbe Truhen außen festgeschnallt —, der neben einem der Feuer mitten im Lager stand, aber als er den Fuß auf die erste Holzstufe an der Rückseite setzte, versagten ihm die Beine den Dienst. Ihvon und Raen trugen ihn fast nach drinnen, hastig von Faile und Ila gefolgt, und legten ihn auf das an die Vorderwand des Wagens angebaute Bett. Daneben war gerade noch Platz, um sich durch die Schiebetür zum Kutschbock zu zwängen. Es war wirklich wie ein kleines Haus, bis hin zu den rosa Gardinen an den beiden kleinen Fenstern auf beiden Seiten. Er lag einfach da und blickte die Decke an. Auch hier verwendeten die Kesselflicker ihre typischen Farben. Die Decke war himmelblau gestrichen, die Hochschränkchen grün und gelb. Faile löste seinen Gürtel und nahm ihm Axt und Köcher ab, während Ila in einem der Schränke herumkramte. Perrin war nicht in der Lage, irgendwelches Interesse an ihren Aktivitäten zu entwickeln.
»Jeder wird einmal überrascht«, sagte Ihvon. »Lernt daraus, aber nehmt es Euch nicht zu sehr zu Herzen. Nicht einmal Artur Falkenflügel hat jede Schlacht gewonnen.« »Artur Falkenflügel.« Perrin versuchte zu lachen, aber es wurde ein Stöhnen daraus. »Ja«, brachte er heraus. »Und ich bin bestimmt nicht Artur Falkenflügel, oder?« Ila sah den Behüter finster an, oder genauer gesagt, sein Schwert, das sie noch schlimmer zu finden schien als Perrins Axt. Dann kam sie mit einem Bündel zusammengerollter Binden zum Bett herüber. Sobald sie Perrins Hemd von dem Pfeilstummel weggezogen hatte, verzog sie schmerzhaft berührt das Gesicht. »Ich glaube nicht, daß ich dazu in der Lage bin, das zu entfernen. Er sitzt sehr tief.« »Mit Widerhaken versehen«, sagte Ihvon im Plauderton. »Trollocs benützen nicht oft Bögen, aber wenn, dann nehmen sie Pfeile mit Widerhaken.« »Raus«, fuhr ihn die mollige Frau entschlossen an. »Und du genauso, Raen. Kranke zu pflegen ist nichts für Männer. Warum gehst du nicht zu Moshea und schaust, ob er das neue Rad schon an seinem Wagen hat?« »Gute Idee«, sagte Raen. »Vielleicht werden wir ja auch morgen weiterziehen. Das letzte Jahr über hatten wir einige sehr schwere Strecken zurückzulegen«, vertraute er Perrin an. »Der ganze Weg nach Cairhien und dann zurück nach Ghealdan und anschließend nach Andor hinauf. Ich denke, morgen geht's weiter.« Als sich die Tür hinter ihm und Ihvon geschlossen hatte, wandte sich Ila besorgt an Faile: »Wenn er Widerhaken hat, glaube ich nicht, daß ich ihn überhaupt herausholen kann. Ich versuche es schon, wenn es sein muß, aber falls sich jemand in der Nähe befindet, der mehr von solchen Dingen versteht... « »Es gibt jemanden in Emondsfeld«, versicherte ihr Faile. »Aber kann man das wirklich bis morgen in ihm drin lassen?« »Das ist vielleicht besser, als ihn durch mich herausschneiden zu lassen. Ich kann ihm etwas zusammenbrauen, damit er keine Schmerzen hat, und dazu eine Salbe gegen Infektionen auftragen.« Perrin funkelte die beiden Frauen an und fauchte: »Hallo? Erinnert Ihr euch noch an mich? Ich bin hier. Hört auf, über meinen Kopf weg zu bestimmen.« Sie blickten ihn einen Augenblick lang an.
»Er soll still liegen«, sagte Ila zu Faile. »Er darf schon sprechen, aber gestattet ihm nicht, sich zu bewegen. Sonst verletzt er sich vielleicht noch mehr.« »Ich sorge dafür«, antwortete Faile.
Perrin knirschte mit den Zähnen und gab sich Mühe, dabei zu helfen, ihm Wams und Hemd auszuziehen, aber die Hauptarbeit mußte er den beiden überlassen. Er fühlte sich so schwach wie dünnes Eisenblech, das jedem Druck nachgeben mußte. Eine Handbreit des daumendicken Pfeils steckte beinahe genau über seiner untersten Rippe in einer angeschwollenen und dick mit geronnenem Blut verklebten Wunde. Sie drückten ihm den Kopf auf ein Kissen herunter, da sie aus irgendeinem Grund nicht wollten, daß er die Wunde anblickte. Dann wusch Faile sie aus, während Ila ihre Salbe mit einem Stößel in einem Steintiegel zubereitete. Beides war aus einfachem, glattem, grauem Stein gefertigt, und es waren die ersten Gegenstände, die er im Lager der Kesselflicker erblickte, die nicht bunt angemalt waren. Sie strichen die Salbe um die Pfeilspitze herum und wickelten Bandagen um seinen Brustkorb, damit die Salbe nicht unabsichtlich weggewischt werden konnte.
»Raen und ich schlafen heute nacht unter dem Wagen«, sagte die Tuatha'an-Frau schließlich und wischte sich die Hände ab. Sie sah die aus den Bandagen herausragende Pfeilspitze finster an und schüttelte den Kopf. »Einst habe ich geglaubt, daß er schließlich zum Weg des Blatts finden werde. Er war, glaube ich, ein zartbesaiteter Junge.« »Der Weg des Blatts kann nicht für jeden gelten«, sagte Faile sanft, doch Ila schüttelte erneut den Kopf.
»Er gilt für alle«, antwortete sie genauso sanftmütig und ein klein wenig traurig, »wenn sie es nur wüßten.« Sie ging, und Faile setzte sich auf die Bettkante. Sie tupfte sein Gesicht mit einem zusammengefalteten Tuch ab. Aus irgendeinem Grund schien er stark zu schwitzen.
»Ich habe einen Fehler gemacht«, sagte er nach einer Weile. »Nein, das drückt es nicht richtig aus. Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll.« »Du hast keinen Fehler begangen«, stellte sie entschlossen fest. »Du hast getan, was zu der Zeit richtig aussah. Es war richtig. Ich kann mir nicht vorstellen, wie sie plötzlich hinter uns kamen. Gaul kann doch gewöhnlich gut einschätzen, wo sich der Gegner befindet. Ihvon hatte recht, Perrin. Jeder findet einmal veränderte Umstände vor, von denen er nichts geahnt hat. Du hast aber alle zusammengehalten. Du hast uns herausgebracht.« Er schüttelte heftig den Kopf, was die Schmerzen in seiner Seite noch verstärkte. »Ihvon hat uns herausgebracht. Was ich fertigbrachte, war, siebenundzwanzig Männer umbringen zu lassen«, sagte er in bitterem Tonfall und versuchte, sich aufzusetzen, damit er sie ansehen konnte. »Einige davon waren meine Freunde, Faile. Und ich bin dafür verantwortlich, daß sie getötet wurden.« Faile benützte ihr Gewicht, um ihn wieder hinabzudrücken. Es zeigte ihr deutlich, wie schwach er war, als sie ihn so leicht unten halten konnte. »Morgen ist noch Zeit genug, über so etwas zu sprechen«, sagte sie mit fester Stimme, wobei sie sein Gesicht genau musterte, »wenn wir dich wieder aufs Pferd hieven müssen. Ihvon hat uns nicht herausgebracht. Ich glaube, es war ihm so ziemlich gleichgültig, wer davonkommen würde, solange er und du es überlebten. Diese Männer hätten sich in alle Himmelsrichtungen zerstreut, wenn du nicht gewesen wärst, und dann hätten sie uns alle einzeln gejagt. Sie hätten sich nicht von Ihvon, von einem Fremden, zusammenholen lassen. Was deine Freunde betrifft... « Sie setzte sich seufzend wieder hin. »Perrin, meint Vater sagt immer, ein General kann sich um die Lebenden kümmern oder die Toten beweinen, aber nicht beides gleichzeitig.« »Ich bin kein General, Faile. Ich bin ein Narr von einem Schmied, der glaubte, er könne andere Menschen dazu benützen, ihm beim Durchsetzen der Gerechtigkeit behilflich zu sein oder vielleicht Rache zu üben. Ich will das immer noch, aber ich will dafür niemanden mehr benützen.« »Glaubst du etwa, die Trollocs ziehen ab, weil du findest, deine Motive seien nicht lauter genug?« Ihre Stimme klang so hitzig, daß er den Kopf hob, aber sie schubste ihn beinahe grob auf das Kissen zurück. »Werden sie davon weniger schlimm? Kennst du einen besseren Grund, sie zu jagen, als eben genau das, was sie darstellen? Noch eine Weisheit meines Vaters: Die schlimmste Sünde, die ein General begehen kann, schlimmer, als einen Fehler zu begehen, schlimmer, als zu verlieren, schlimmer als alles, ist, Männer im Stich zu lassen, die auf ihn angewiesen sind.« Es klopfte an der Tür, und ein schlanker, gutaussehender junger Kesselflicker in einem rot-grün-gestreiften Wams steckte den Kopf herein. Er lächelte Faile mit blitzend weißen Zähnen und vor Charme triefend an, und dann blickte er zu Perrin hinüber. »Großvater hat gesagt, daß Ihr es seid. Ich glaubte, es sei diese Gegend hier, von der Egwene sagte, daß sie herstamme.« Plötzlich runzelte er mißbilligend die Stirn. »Eure Augen. Wie ich sehe, seid Ihr letzten Endes Elyas gefolgt und zu den Wölfen übergegangen. Ich war ja auch sicher, daß Ihr nie zum Weg des Blatts findet.« Perrin kannte ihn: Aram, Raens und Ilas Enkel. Er mochte ihn nicht. Sein Lächeln wirkte wie das Wils. »Geht weg, Aram. Ich bin müde.« »Ist Egwene bei Euch?« »Egwene ist jetzt eine Aes Sedai, Aram«, grollte er, »und sie würde Euch mit Hilfe der Einen Macht das Herz aus dem Leib reißen, wenn Ihr sie zum Tanzen aufforderte. Geht weg!« Aram riß die Augen auf und schlug schnell die Tür zu. Er blieb natürlich draußen.
Perrin ließ den Kopf zurücksinken. »Er lächelt zuviel«, knurrte er. »Ich kann Männer nicht leiden, die zuviel lächeln.« Faile gab einen erstickten Laut von sich und er sah sie mißtrauisch an. Sie biß sich auf die Unterlippe.
»Ich habe einen Frosch im Hals«, sagte sie mit erstickter Stimme und stand schnell auf. Sie eilte zu der breiten Ablage hinter dem Fuß des Bettes hinüber, auf der Ila ihre Salbe zubereitet hatte. Sie stand dort mit dem Rücken zu ihm und goß Wasser aus einer grünroten Kanne in einen gelbblauen Krug. »Möchtest du auch etwas zu trinken? Ila hat dieses Pulver hinterlassen, um die Schmerzen zu lindern. Damit kannst du auch besser schlafen.« »Ich will kein Pülverchen schlucken«, sagte er. »Faile, wer ist dein Vater?« Ihr Rücken versteifte sich. Einen Augenblick später drehte sie sich mit dem Krug in beiden Händen um. Der Blick aus ihren schrägstehenden Augen war für ihn nicht zu deuten.
Eine Minute verging, bevor sie sagte: »Mein Vater ist Davram aus dem Haus Bashere, Lord von Bashere, Tyr und Sidona, Hüter der Grenze zur Fäule, Verteidiger des Herzlandes, Generalfeldmarschall von Königin Tenobia von Saldaea. Und ihr Onkel.« »Licht! Und was hatte das alles zu bedeuten, daß er Holzhändler sei oder Pelzhändler? Ich kann mich auch dunkel daran erinnern, daß er mal mit Eispfeffer gehandelt hat.« »Das war nicht gelogen«, sagte sie scharf, und dann mit schwächerer Stimme: »Nur nicht... die ganze Wahrheit. Auf den Gütern meines Vaters wächst gutes Bauholz und feines Möbelholz und Eispfeffer, und es werden Pelztiere gezüchtet und noch mehr. Und seine Verwalter verkaufen sie für ihn, also handelt er auf gewisse Weise mit ihnen.« »Warum konntest du mir das nicht einfach sagen? Dinge vor mir verbergen. Lugen. Du bist eine Lady!« Er sah sie anklagend an. So etwas hatte er nicht erwartet. Ein kleiner Händler als Vater, vielleicht ein ehemaliger Soldat, aber nicht so etwas. »Licht, wieso rennst du dann als Jägerin des Horns herum? Erzähle mir nicht, der Lord von Bashere und was sonst noch habe dich losgeschickt, um Abenteuer zu suchen.« Sie hielt den Krug nach wie vor in der Hand und setzte sich wieder neben ihn. Aus irgendeinem Grund sah sie immerzu sein Gesicht an. »Meine beiden älteren Brüder sind gestorben, Perrin. Der älteste ist im Kampf gegen Trollocs gefallen, und der andere stürzte bei der Jagd vom Pferd. Damit war ich die Älteste, und das bedeutete, daß ich Buchführung und Verkaufen lernen mußte. Während meine jüngeren Brüder zu Soldaten ausgebildet wurden, während sie sich auf Abenteuer vorbereiteten, mußte ich lernen, die Güter zu verwalten! Das ist nun mal die Pflicht des oder der Ältesten. Pflicht! Es gibt keine Abwechslung, ist langweilig und trocken. Zwischen Beamten in Papieren vergraben sein!
Als Vater Maedin mit zur Grenze der Fäule nahm — er ist zwei Jahre jünger als ich —, war das nun mehr, als ich aushalten konnte. Man bildet in Saldaea Mädchen nicht für den Krieg aus, aber Vater hatte mir als Lakaien einen alten Soldaten zur Seite gestellt. Eran war immer nur zu glücklich, wenn er mir beibringen durfte, wie man mit Messern und mit den Händen kämpft. Ich denke, das hat ihm wirklich Spaß gemacht. Als jedenfalls Vater Maedin mitnahm, hatte sich gerade die Nachricht verbreitet, daß man zur Großen Jagd nach dem Horn aufgerufen habe, also... zog ich einfach los. Ich schrieb Mutter einen Brief, um es zu erklären, und... ritt fort. Und ich war rechtzeitig in Illian, um den Eid des Jägers abzulegen... « Sie nahm das Tuch wieder in die Hand und tupfte ihm den Schweiß von der Stirn. »Du solltest jetzt wirklich schlafen, wenn du kannst.« »Ich schätze, du bist also Lady Bashere oder so was?« sagte er. »Wie bist du denn dazu gekommen, einen einfachen Schmied zu mögen?« »Der richtige Ausdruck lautet ›lieben‹, Perrin Aybara.« Die Strenge in ihrem Tonfall widersprach der Sanftheit, mit der sie ihm das Gesicht abtupfte. »Und du bist auch nicht gerade ein gewöhnlicher Schmied, denke ich.« Das Tuch hielt in der Bewegung inne. »Perrin, was hat dieser Bursche gemeint, als er von dir und den Wölfen sprach? Und Raen hat auch von diesem Elyas gesprochen.« Einen Moment lang stockte ihm der Atem, und er erstarrte. Aber gerade eben hatte er noch geschimpft, weil sie Geheimnisse vor ihm gehabt hatte. Das hatte er nun von seinem Ungestüm und Ärger. Wenn man einen Hammer zu zornig schwingt, trifft man gewöhnlich den eigenen Daumen. Er atmete langsam aus, und dann erzählte er ihr die Geschichte, wie er Elyas Machera kennengelernt und erfahren hatte, daß er sich mit den Wölfen verständigen konnte. Wie seine Augen die Farbe gewechselt hatten und schärfer geworden waren, und genauso sein Gehör und sein Geruchssinn — so gut wie der eines Wolfs. Von den Wolfsträumen. Von dem, was mit ihm geschehen werde, sollte er jemals seine Menschlichkeit verlieren. »Es ist so leicht. Manchmal, besonders im Traum, vergesse ich, daß ich ein Mensch bin und kein Wolf. Wenn ich mich bei einer dieser Gelegenheiten nicht mehr rechtzeitig daran erinnere, werde ich meine Menschlichkeit bei der Rückkehr verlieren und ein Wolf sein. Jedenfalls im Kopf. Eine Art von Halbwolf. Von mir selbst ist dann nichts mehr übrig.« Er hielt inne und wartete darauf, daß sie zusammenzucke und von ihm abrücke.
»Wenn dein Gehör wirklich so scharf ist«, sagte sie gelassen, »werde ich künftig aufpassen müssen, was ich in deiner Nähe sage.« Er ergriff ihre Hand, damit sie mit der Tupferei aufhörte. »Hast du eigentlich etwas von dem gehört, was ich dir sagte? Was werden dein Vater und deine Mutter denken, Faile? Ein Halbwolfschmied. Und du bist eine Lady! Licht!« »Ich habe jedes Wort verstanden. Vater wird hinter mir stehen. Er hat schon immer gesagt, daß das Blut unserer Familie zu dünn wird, nicht so wie früher. Ich weiß, daß er glaubt, ich sei schrecklich weich.« Sie lächelte ihn mit so wildem Gesichtsausdruck an, daß es jedem Wolf zur Ehre gereicht hätte. »Natürlich wollte Mutter immer, daß ich mal einen König heirate, der mit einem Schwertstreich einen Trolloc in zwei Stücke haut. Ich denke jedoch, die Axt tut's auch, aber könntest du ihr bitte erzählen, du seist der König der Wölfe? Ich glaube nicht, daß jemand vortritt und dir diesen Rang streitig macht. Ach, dieses Trolloc-Spalten wird Mutter wohl auch reichen, doch hätte sie das andere schon gern gehört.« »Licht!« sagte er heiser. Das hatte beinahe ernst geklungen. Nein, sie schien es wirklich ernst zu meinen. Aber wenn sie es auch nur halbwegs ernst meinte, hätte er lieber Trollocs getroffen, als ihre Eltern kennenzulernen.
»Hier«, sagte sie und hielt ihm den Krug mit Wasser an die Lippen. »Du hörst dich nach einer trockenen Kehle an.« Er schluckte und spuckte beinahe wieder aus, als er den bitteren Geschmack wahrnahm. Sie hatte Ilas Pulver hineingerührt! Er wollte mit Trinken aufhören, aber sie goß weiter nach, und er mußte wohl oder übel schlucken, um nicht zu ersticken. Als er schließlich den Krug wegschieben konnte, hatte sie die Hälfte des Inhalts in ihn hineingeschüttet. Warum mußte Medizin immer so furchtbar schmecken? Er vermutete, daß die Frauen es so wollten. Er hätte wetten können, daß die Sachen, die sie selbst einnahmen, keineswegs so schlecht schmeckten. »Ich habe dir doch gesagt, ich wollte das Zeug nicht! Gaaah!« »Tatsächlich? Das muß ich überhört haben. Aber ganz gleich, du brauchst jedenfalls Schlaf.« Sie streichelte ihm über den Lockenkopf. »Schlaf, mein kleiner Perrin.« Er wollte erwidern, daß er es tatsächlich gesagt und sie es auch gehört habe, aber irgendwie verwickelten sich die Worte um seine Zunge. Seine Augenlider fielen immer wieder zu. Er konnte sie einfach nicht mehr oben halten, so schwer waren sie. Das letzte, was er noch hörte, waren ihre sanften Worte: »Schlaf, mein Wolfskönig. Schlafe ein.«