29 Heimkehr

Für die Reise zum Westwald, für die er im Wolfstraum gerade einmal ein halbes Dutzend Schritte benötigt hatte, brauchten sie zu Pferd drei lange Tage. Aus den Bergen hinaus und durch das Gebiet der Sandhügel ritten sie, und die Aiel hatten keine Mühe, zu Fuß mitzuhalten. Das ständige Auf und Ab ermüdete die Tiere fast mehr als die Aiel. Perrins Wunden juckten stark, aber sie heilten. Failes Tinkturen schienen zu wirken.

Im großen und ganzen war es ein ruhiger Ritt. Man hörte öfters das Bellen eines jagenden Fuchses oder den Jagdschrei eines Habichts, als daß jemand etwas gesagt hätte. Wenigstens sahen sie auch nichts mehr von den Raben. Mehr als einmal glaubte Perrin, Faile wolle ihr Pferd zu seinem herüberlenken und ihm etwas sagen, aber jedesmal hielt sie sich dann doch zurück. Er war auch froh darüber, denn einerseits wünschte er sich nichts mehr, als mit ihr zu sprechen, aber andererseits fragte er sich, was wäre, wenn er sich wieder mit ihr versöhnte. Er machte sich allein schon dieses Wunsches wegen Selbstvorwürfe. Sie hatte Loial und ihn hinters Licht geführt. Sie würde alles nur noch schlimmer machen, noch schwerer für ihn. Er hätte sie so gern wieder geküßt. Es wäre ihm am liebsten gewesen, wenn sie von ihm die Nase voll hätte und davonritt. Warum mußte sie so stur sein?

Sie und die beiden Aielfrauen blieben meist für sich.

Bain und Chiad liefen zu beiden Seiten neben ihrem Pferd her, soweit nicht eine von ihnen gerade ein Stück voraus den Weg erkundete. Manchmal sprachen die drei leise miteinander, und danach mieden sie betont jeden Blick zu ihm herüber. Sie hätten genausogut Steine nach ihm werfen können. Da Perrin es wünschte, ritt Loial mit den Frauen, obwohl ihn das offensichtlich verdroß. Loials Ohren zuckten manchmal derart, als wünsche er sich, er hätte niemals auch nur von der Existenz der Menschen gehört. Gaul schien das alles unwahrscheinlich amüsant zu finden. Wann Perrin ihn auch ansah, immer grinste er verstohlen in sich hinein.

Was ihn selbst betraf, so ritt Perrin in ständige Sorgen gehüllt dahin und hatte den bespannten Bogen vor sich auf das hohe Sattelhorn gehängt. Ob sich dieser Mann, den man den Schlächter nannte, nur im Wolfstraum in den Zwei Flüssen herumtrieb, oder ob er auch in der realen Welt sein Unwesen trieb? Perrin befürchtete das letztere und auch, daß der Schlächter derjenige gewesen war, der ohne ersichtlichen Grund den Bussard abgeschossen hatte. Das war eine weitere Komplikation, auf die er verzichten konnte. Und das alles zusätzlich zu den Kindern des Lichts.

Seine Familie wohnte auf einem großen Bauernhof mehr als eine halbe Tagesreise von Emondsfeld entfernt nahe dem Wasserwald. Vater und Mutter, seine Schwestern und sein kleiner Bruder. Paetram war jetzt neun und wehrte sich wahrscheinlich mehr als je zuvor dagegen, als das Baby in der Familie betrachtet zu werden. Die mollige Deselle war mittlerweile zwölf und Adora sechzehn. Vielleicht bereitete sie sich schon darauf vor, ihr Haar zum Zopf einer Frau zu flechten. Dazu Onkel Edward, Papas Bruder, Tante Madge, eine kräftige Frau, die ihrem Mann sehr ähnlich sah, und deren Kinder. Dann Tante Neain, die jeden Morgen Onkel Carlins Grab besuchte, und ihre Kinder, und schließlich Großtante Ealsin, die nie geheiratet hatte. Sie hatte eine spitze Nase und scharfe Augen, mit denen sie offensichtlich alles erspähte, was meilenweit in ihrer Umgebung passierte. Seit er einst als Lehrling zu Meister Luhhan gegangen war, hatte er sie nur noch an Festtagen gesehen. Die Entfernung war zu groß, um einfach mal zu Besuch hereinzuschneien, und dazu hatte es immer irgend etwas zu arbeiten gegeben. Falls die Weißmäntel nach den Aybaras forschten, waren diese ziemlich leicht zu finden. Dort lag seine Verantwortung. Für diesen Schlächter war er nicht zuständig. Er konnte sich nicht zerteilen. Er mußte seine Familie und Faile beschützen. Das kam zuerst. Dann das Dorf und die Wölfe, und hinterher vielleicht noch der Schlächter. Ein Mann konnte unmöglich alles bewältigen.

Der Westwald wuchs auf steinigem Boden, von Zeit zu Zeit durch Felsvorsprünge unterbrochen, die meist von Brombeerhecken überzogen waren. Es war ein hartes, dicht bewaldetes Land mit wenigen Bauernhöfen und Wegen. Als Junge war er viel in diesem verfilzten Waldgebiet herumgewandert, allein oder mit Rand und Mat. Sie hatten mit Pfeil und Bogen oder der Steinschleuder gejagt, Kaninchenfallen ausgelegt oder waren einfach nur umhergestreift, weil es ihnen Spaß machte. Eichhörnchen mit dicken, buschigen Schwänzen keckerten in den Bäumen, gefleckte Drosseln sangen auf den Zweigen und wurden von den schwarzgefiederten Spottdrosseln imitiert, Wachteln mit blauen Rückenfedern hüpften, von den Reisenden aufgescheucht, aus dem Unterholz hervor... Alles typische Merkmale seiner Heimat. Er erkannte sogar den Geruch der von den Pferdehufen losgerissenen Erdklumpen.

Er hätte auf direktem Weg nach Emondsfeld reiten können, aber er hielt sich etwas weiter nördlich, blieb im Wald und überquerte schließlich den breiten, ausgefahrenen Weg, den man Haldenstraße getauft hatte. Die Sonne senkte sich bereits auf die Baumwipfel nieder. Was die ›Halde‹ im Namen bedeutete, wußte keiner an den Zwei Flüssen. Sie sah ja kaum wie eine richtige Straße aus — eher wie eine langgezogene, von Unkraut bewachsene aber ansonsten baumfreie Fläche, die man erst als Straße erkannte, wenn man drauf stand und die Fahrspuren von Generationen von Karren und Planwagen bemerkte. An manchen Stellen traten noch Bruchstücke von alten Pflastersteinen an die Oberfläche. Vielleicht hatte sie einst zu einer Halde oder einem Steinbruch geführt, als Manetheren noch existierte.

Der Hof, den Perrin aufsuchen wollte, lag unweit der Straße hinter Reihen von Apfel- und Birnbäumen, an denen das Obst reifte. Er roch den Hof, lange bevor er ihn sah. Es war der Gestank von Ruß und Brand, nicht frisch, aber auch ein volles Jahr würde diesen Gestank nicht schwächer werden lassen.

Er ließ sein Pferd am Waldrand stehenbleiben und betrachtete das, was vor ihm lag, bevor er sich dazu zwang, zwischen die Ruinen des al'Thor-Hofes zu reiten, das Packpferd nach wie vor im Schlepptau. Nur der ummauerte Schafpferch stand noch, das Gittertor geöffnet und schief an einer Angel hängend. Der rußgeschwärzte Schornstein warf einen schrägen Schatten über das Durcheinander umgestürzter Pfosten und Steine, wo einst das Wohnhaus gestanden hatte. Von der Scheune und dem Tabakschuppen war nur Asche übriggeblieben. Das Tabakfeld und der Gemüsegarten waren von Unkraut überwuchert, und der Hausgarten war offensichtlich niedergetrampelt worden. Alles bis auf Sägblattpflanzen und Federkronen lag braun und zertreten am Boden.

Er dachte gar nicht daran, einen Pfeil aufzulegen. Das Feuer mußte schon Wochen her sein. Das angesengte Holz war von den Regenfällen der letzten Zeit deutlich ausgewaschen und glanzlos. Die Brennesseln zwischen den Trümmern waren bestimmt schon einen Monat alt. Egge und Pflug, die am Ackerrain weiter hinten standen, waren beinahe von ihnen überwuchert, und unter den Blättern zeigten sich bereits Rostflecken an den Ackergeräten.

Die Aiel suchten das Gelände gründlich ab, die Speere bereitgehalten und die Augen wachsam. Systematisch schritten sie den ehemaligen Bauernhof ab und stierten selbst in der Asche herum. Als Bain aus dem Trümmerhaufen des Wohnhauses kletterte, sah sie Perrin an und schüttelte den Kopf. Also war Tam al'Thor wenigstens nicht hier ums Leben gekommen.

Sie wissen Bescheid. Sie wissen es, Rand. Du hättest mitkommen sollen. Er hatte Mühe, sich zu beherrschen und Traber nicht in vollem Galopp den ganzen Weg zum Hof seiner Familie zurücklegen zu lassen. Selbst dieses ausdauernde Pferd konnte das nicht durchhalten und wäre vermutlich tot umgefallen. Vielleicht waren es Trollocs gewesen, die das angerichtet hatten. Falls ja, dann arbeitete seine Familie vielleicht noch unbehelligt und sicher auf ihrem Hof. Er atmete tief durch, aber der Rußgestank ging ihm nicht aus der Nase.

Gaul blieb neben ihm stehen. »Wer das auch angerichtet haben mag, ist schon lange weg. Sie haben einige Schafe getötet, und der Rest ist weggelaufen. Später ist jemand gekommen, um den Rest der Herde wieder einzufangen und nach Norden zu treiben. Zwei Männer, glaube ich, aber die Spuren sind zu alt, um sicherzugehen.« »Gibt es irgendeinen Hinweis darauf, wer das getan hat?« Gaul schüttelte den Kopf. Es könnten Trollocs gewesen sein. Seltsam, daß er sich wünschte, es sei das Werk von Trollocs. Und dumm obendrein. Die Weißmäntel kannten seinen Namen und, wie es schien, auch den Rands. Sie kennen meinen Namen. Er blickte versonnen auf die Asche des al'Thor-Hauses, und Traber schritt vorwärts, als die Zügel in seiner Hand zitterten.

Loial war bei den Obstbäumen abgestiegen, und sein Kopf befand sich zwischen den Zweigen. Faile ritt auf Perrin zu und musterte seine Gesichtszüge. Ihre Stute schritt graziös einher. »Ist das... ? Kennst du die Leute, die hier wohnten?« »Rand und sein Vater.« »Oh. Ich dachte, es sei... « Erleichterung und Mitgefühl schwangen in ihrem Tonfall mit. »Wohnt deine Familie hier in der Nähe?« »Nein«, sagte er schroff, und sie zuckte zurück, als habe er ihr eine Ohrfeige verpaßt. Doch sie blickte ihn weiterhin an und wartete. Was mußte er denn noch anstellen, um sie zu vertreiben? Mehr, als er fertigbrachte jedenfalls, wenn er es bis jetzt noch nicht geschafft hatte.

Die Schatten wurden länger, und die Sonne wanderte auf die Baumwipfel zu. Er ließ Traber umdrehen und wandte ihr unhöflich den Rücken zu. »Gaul, wir werden heute nacht hier in der Nähe lagern. Ich will früh am Morgen aufbrechen.« Er riskierte einen schnellen Blick nach hinten. Faile ritt zu Loial zurück. Sie saß steif und hoch aufgerichtet im Sattel. »In Emondsfeld werden sie wissen... « Wo sich die Weißmäntel befanden, so daß er sich ihnen freiwillig stellen konnte, bevor sie seiner Familie etwas antaten. Falls es seiner Familie überhaupt noch gutging. Falls der Hof, auf dem er geboren war, nicht schon genauso aussah wie dieser. Nein. Er mußte rechtzeitig kommen, um das zu verhindern. »Sie werden wissen, was los ist.« »Also, dann früh am Morgen.« Gaul zögerte. »Du wirst sie nicht loswerden. Sie ist beinahe wie eine Far Dareis Mai, und wenn eine Tochter des Speers dich liebt, dann kannst du ihr nicht entkommen, so schnell du auch wegzulaufen versuchst.« »Überlaß das ruhig mir.« Er atmete durch und bemühte sich, freundlicher zu sprechen, denn Gaul wollte er ja nicht verscheuchen. »Sehr früh. Während Faile noch schläft.« Unter den Apfelbäumen war es diese Nacht in beiden Lagern ruhig. Mehrmals stand die eine oder andere der Aielfrauen auf und blickte hinüber zu dem kleinen Feuer, an dem er mit Gaul saß, aber die einzigen Laute waren das gelegentliche Schreien einer Eule und das Stampfen der Pferdehufe. Perrin konnte nicht einschlafen, und so schlüpfte er mit Gaul eine Stunde vor Sonnenaufgang schließlich aus dem Lager. Der Aiel machte mit seinen weichen Stiefeln keinerlei Geräusch, und auch die Pferdehufe hörte man auf dem dichten Gras unter den Bäumen kaum. Bain, oder vielleicht war es auch Chiad, beobachtete ihr Gehen. Jedenfalls weckte sie Faile nicht auf, und dafür war er dankbar.

Als sie ein kleines Stück unterhalb des Dorfes aus dem Westwald traten, stand die Sonne bereits am Himmel. Hier trafen sich eine Reihe von Fahrspuren und Wegen, meist von Hecken oder niedrigen Steinmauern gesäumt. Über den Schornsteinen der Häuser standen fedrige, graue Rauchwolken. Dem Duft nach buken die Frauen gerade das Brot für den Tag. Auf den Tabak- und Gerstenfeldern waren die Männer bereits bei der Arbeit, und die älteren Jungen hüteten die Herden der Schafe, die mit ihren schwarzen Köpfen so typisch für dieses Land waren. Ein paar Leute bemerkten sie, als sie in der Nähe vorbeikamen, aber Perrin ließ Traber schnell voranschreiten und hoffte, daß niemand nahe genug kommen würde, der ihn erkannte oder sich über die eigenartige Kleidung Gauls wunderte und über dessen Speere.

Auch in Emondsfeld selbst gingen jetzt die Menschen ihren Beschäftigungen nach, und so umging er das Dorf in weitem Bogen im Osten, hielt sich weit ab von den ausgefahrenen Straßen und den strohgedeckten Häusern um den Dorfanger herum, wo die Weinquelle so kraftvoll unter einem Felsvorsprung hervorquoll, daß sie einen Mann durchaus umwerfen konnte, bevor sie noch das Bachbett erreichte. Die Schäden, an die er sich von der Winternacht vor einem Jahr erinnerte, die niedergebrannten Häuser und angesengten Dächer, hatte man offensichtlich repariert und die Häuser neu gebaut. Dann waren die Trollocs wohl auch nicht wiedergekommen. Er hoffte inbrünstig, daß niemand so etwas noch einmal erleben mußte. Die Weinquellenschenke stand fast am Ostende von Emondsfeld zwischen der festgebauten hölzernen Wagenbrücke über den hurtig dahinströmenden Weinquellenbach und einer mächtigen alten Grundmauer. Mitten in der von ihr umsäumten Fläche wuchs eine große Eiche. Unter deren dicken Asten standen Tische, und dort saßen die Menschen an einem ruhigen Nachmittag und sahen den Jüngeren beim Spielen zu. Zu dieser frühen Morgenstunde saß natürlich niemand dort. Weiter im Osten standen nur noch ein paar einzelne Häuser. Die Schenke selbst wies einen Unterbau aus Flußfels auf, und das obere Stockwerk aus weißgetünchten Backsteinen ragte rundherum ein Stück über das untere hinaus. Ein Dutzend Schornsteine erhoben sich über dem glitzernden, roten, mit glasierten Ziegeln gedeckten Dach, dem einzigen Ziegeldach in der ganzen Gegend.

Perrin band Traber und das Packpferd an einem dafür vorgesehenen Pfosten in der Nähe der Küchentür an. Sein erster Blick galt dem strohgedeckten Stall. Er hörte, daß darin gearbeitet wurde. Wahrscheinlich misteten Hu und Tad den Stall aus, in dem Meister al'Vere das Gespann großgewachsener Dhurran-Pferde hielt, das er zu schweren Arbeiten vermietete. Auch von der anderen Seite der Schenke her erklangen Geräusche: Stimmengemurmel auf dem Anger, das Schnattern von Gänsen, das Rumpeln eines Leiterwagens über die Brücke. Er ließ alles auf den Pferden, denn er wollte hier nur kurz Halt machen. Eine kurze Bewegung reichte, und Gaul folgte ihm, als er mitsamt Pfeilen und Bogen nach drinnen eilte, bevor vielleicht einer der Stallburschen herauskam.

Die Küche war leer. Sowohl die Eisenöfen, wie auch die offenen Feuerstellen waren bis auf eine einzige kalt, obwohl der Geruch nach frischgebackenem Brot noch in der Luft lag. Brot und Honigkuchen. Die Schenke hatte selten Übernachtungsgäste. Höchstens dann, wenn die Kaufleute aus Baerlon herunterkamen, um Wolle oder Tabak zu kaufen, oder wenn einer der monatlich erscheinenden fahrenden Händler kam, solange die Straße nicht durch Schnee unbefahrbar gemacht wurde. Die Dorfbewohner, die später am Tag auf ein Bier oder einen Wein und gelegentlich zum Essen hereinkommen würden, waren jetzt auf ihren Höfen und in ihren Werkstätten an der Arbeit. Aber der Zufall wollte es vielleicht, daß doch gerade jetzt jemand da war, und deshalb schlich Perrin auf Zehenspitzen durch den kurzen Flur von der Küche zum Schankraum und öffnete die Tür einen Spaltbreit, um hineinzuspähen.

Er hatte diesen quadratischen Raum mindestens tausendmal zuvor gesehen — den offenen, aus Flußsteinen gemauerten Kamin, der so breit war wie der halbe Raum und so hoch, daß er Perrin bis an die Schulter reichte. Meister al'Veres hochglänzende Tabaksdose und seine wertvolle Uhr standen auf dem Sims. Irgendwie kam ihm das alles jetzt kleiner vor. Vor dem Kamin standen die hochlehnigen Stühle, auf denen der Rat der Gemeinde bei seinen Sitzungen saß. Brandelwyn al'Veres Bücher standen auf einem Bücherbord gegenüber dem Kamin. Einst hatte sich Perrin überhaupt nicht mehr Bücher auf einmal vorstellen können, als diese paar Dutzend meist abgegriffener Exemplare. An einer anderen Wand standen Bier- und Weinfässer aufgestapelt. Wie gewöhnlich schlief Kratzi, die gelbe Katze der al'Veres, oben auf einem der Fässer.

Der Schankraum war leer bis auf Bran al'Vere selbst und seine Frau Marin, beide mit langen, weißen Schürzen angetan, die die Silber- und Zinnkrüge der Schenke polierten. Meister al'Vere war ein breitgebauter, rundlicher Mann mit einem spärlichen, grauen Haarkranz um den ansonsten kahlen Schädel. Frau al'Vere war schlank und wirkte mütterlich. Den dicken, mit Grau durchsetzten Zopf hatte sie sich über die Schulter gelegt. Sie roch nach Backen und darunter lag ein leichter Rosenduft. Perrin erinnerte sich an sie als ewig lächelnde, freundliche Menschen, doch beide wirkten nun besorgt. Der Dorfvorsteher zeigte eine finstere Miene, die sicher nichts mit dem Silberbecher in seinen Händen zu tun hatte.

»Meister al'Vere?« Er schob die Tür auf und ging hinein. »Frau al'Vere. Ich bin's, Perrin.« Sie sprangen derart überrascht auf, daß ihre Stühle nach hinten purzelten und Kratzi fauchend hochhüpfte. Frau al'Vere schlug die Hände vor den Mund. Sie und ihr Mann starrten ihn und Gaul mit weit aufgerissenen Augen an. Perrin nahm den Bogen verlegen von einer Hand in die andere. Dann eilte Bran zu einem der Vorderfenster, wobei er sich für einen so massigen Mann erstaunlich leichtfüßig bewegte, und schob die leichten Sommergardinen auseinander, um hinauszuspähen, als suche er nach weiteren Aiel dort draußen.

»Perrin?« murmelte Frau al'Vere ungläubig. »Du bist es wirklich. Ich hätte dich beinahe nicht erkannt mit dem Bart und... Deine Wange! Warst du...? Ist Egwene bei dir?« Perrin betastete den Schnitt auf seiner Wange und bereute, daß er sich nicht gewaschen hatte und daß er Bogen und Axt nicht wenigstens in der Küche abgestellt hatte. Er hatte gar nicht daran gedacht, daß sein Aussehen sie ängstigen könnte. »Nein. Das hat nichts mit ihr zu tun. Sie ist in Sicherheit.« Vielleicht war sie auf dem Weg nach Tar Valon sicherer, als wenn sie sich noch bei Rand in Tear aufhielt, aber in jedem Fall war sie wohl in Sicherheit. Er mußte aber wohl Egwenes Mutter etwas mehr sagen als das. »Frau al'Vere, Egwene befindet sich in der Ausbildung zur Aes Sedai. Nynaeve auch.« »Ich weiß«, sagte sie ruhig und berührte dabei ihre Schürzentasche. »Ich habe drei Briefe von ihr aus Tar Valon. Nach dem zu schließen, was sie schreibt, hat sie noch öfters geschrieben und auch Nynaeve zumindest einmal, aber nur drei von Egwenes Briefen sind hier angekommen. Sie berichtet ein bißchen von ihrer Ausbildung. Ich muß sagen, das klingt mir reichlich streng.« »Sie will es aber nicht anders.« Drei Briefe? Schuldbewußt zuckte er die Achseln. Er hatte niemandem geschrieben; nichts mehr seit den Botschaften, die er seiner Familie und Meister Luhhan zurückgelassen hatte, als er in jener Nacht mit Moiraine und den anderen aus Emondsfeld floh. Kein einziger Brief.

»So scheint es, wenn es auch nicht das ist, was ich für sie im Sinn hatte. Ich kann den Leuten davon auch nichts erzählen, oder? Sie schreibt, sie habe neue Freundinnen, nette Mädchen, wie es klingt. Elayne und Min. Kennst du sie?« »Wir haben uns kennengelernt. Ich glaube schon, daß man sie als nette Mädchen bezeichnen kann.« Wieviel hatte ihr Egwene in diesen Briefen mitgeteilt? Offensichtlich doch nicht sehr viel. Sollte Frau al'Vere doch glauben, was sie wollte. Er hatte nicht die Absicht, ihre Sorgen noch durch Dinge zu vergrößern, gegen die sie sowieso nichts unternehmen konnte. Was vorbei war, war vorbei. Egwene war jetzt doch wenigstens in Sicherheit.

Mit einemmal wurde ihm bewußt, daß Gaul noch hinter ihm stand, und so stellte er ihn schnell den beiden vor. Bran zwinkerte überrascht, als er Gaul als Aiel zu erkennen gab, und dann blickte er etwas finster nach den Speeren und dem schwarzen Schleier, der von der Schufa herunterhing, aber seine Frau sagte lediglich: »Seid willkommen in Emondsfeld, Meister Gaul, und in der Weinquellenschenke.« »Ich wünsche Euch Wasser und Schatten für Euer ganzes Leben, Dachherrin«, sagte Gaul höflich und verbeugte sich vor ihr. »Ich bitte um Erlaubnis, Euer Dach und Eure Feste verteidigen zu dürfen.« Sie zögerte kaum merklich und antwortete dann, als sei sie an diese Art von Ansprachen gewöhnt: »Ein großzügiges Angebot. Aber Ihr müßt mir erlauben, zu bestimmen, wann Eure Hilfe gebraucht wird.« »Wie Ihr wünscht, Dachherrin. Eure Ehre ist die meine.« Unter seinem Wams holte Gaul ein goldenes Salzgefäß hervor, eine kleine Schüssel, die auf dem Rücken eines kunstvoll geformten Löwen saß, und hielt es ihr hin. »Ich möchte Eurem Dach dieses kleine Gastgeschenk verehren.« Marin al'Vere verhielt sich, als sei es ein gewöhnliches Geschenk, und verbarg ihre erschrockene Überraschung recht gut. Perrin bezweifelte, daß es im gesamten Bereich der Zwei Flüsse auch nur ein einziges ähnlich wertvolles Stück gab, und ganz bestimmt nicht aus Gold. Es gab schon wenig Gold in den zwei Flüssen, und Goldschmuck oder ähnliches gab es noch seltener. Er hoffte, sie werde niemals herausfinden, daß es ein Beutestück aus dem Stein von Tear war. Darauf hätte er jedenfalls wetten können.

»Mein Junge«, sagte Bran zu Perrin, »vielleicht sollte ich dich zu Hause willkommen heißen, aber — warum bist du zurückgekommen?« »Ich habe das mit den Weißmänteln gehört, Meister al'Vere«, antwortete Perrin einfach.

Der Dorfvorsteher und seine Frau warfen sich einen ernsten Blick zu, und Bran sagte: »Noch einmal, warum bist du zurückgekommen? Du kannst hier nichts aufhalten oder ändern, mein Junge. Am besten gehst du wieder. Wenn du kein Pferd haben solltest, gebe ich dir eins. Falls du eines hast, dann steig auf und reite nach Norden. Ich glaubte, die Weißmäntel säßen in Taren Fähre... Hast du diesen Gesichtsschmuck von ihnen abbekommen?« »Nein. Ich... « »Dann spielt es keine Rolle. Wenn du bei deinem Kommen an ihnen vorbeigekommen bist, kommst du auch wieder vorbei, wenn du gehst. Ihr Hauptlager befindet sich oben bei Wachhügel, aber ihre Patrouillen können sich überall herumtreiben. Geh nur, mein Junge.« »Warte nicht lange, Perrin«, fügte Frau al'Vere leise aber bestimmt hinzu. Wenn sie diesen Tonfall an sich hatte, taten die Leute gewöhnlich genau das, was sie wollte. »Keine einzige Stunde. Ich packe dir ein Bündel zum Mitnehmen. Ein wenig frisches Brot und Käse, Schinken und Rinderbraten und Gurken. Du mußt gehen, Perrin.« »Ich kann nicht. Ihr wißt, daß sie hinter mir her sind, sonst würdet Ihr mir diesen Rat nicht geben.« Und sie hatten nichts von seinen Augen erwähnt, nicht einmal gefragt, ob er krank sei. Frau al'Vere war kaum überrascht gewesen. Sie wußten Bescheid. »Wenn ich mich ihnen stelle, kann ich einiges verhindern. Ich kann meine Familie... « Er fuhr zusammen, als die Tür zum Flur aufschlug und Faile eintrat, von Bain und Chiad gefolgt.

Meister al'Vere fuhr sich mit der Hand über die Glatze. Obwohl er die Kleidung der Aielfrauen prüfend gemustert und sie offensichtlich als Gauls Begleiterinnen eingeschätzt hatte, schien er eigentlich nicht weiter erstaunt darüber, daß sie Frauen waren. Vor allem wirkte er über ihr plötzliches Eindringen verärgert. Kratzi hatte sich aufgesetzt und musterte mißtrauisch die Fremden. Perrin fragte sich, ob die Katze auch ihn als einen solchen betrachte. Er fragte sich ebenfalls, wie sie ihn aufgespürt hatten und wo Loial blieb. Er vermied jeden Gedanken daran, was er jetzt wohl mit Faile anfangen solle.

Sie ließ ihm wenig Zeit zum Nachdenken, sondern stellte sich breitbeinig vor ihn hin, die Hände in die Hüften gestützt. Irgendwie hatte sie sich den Trick vieler Frauen angeeignet, in ihrem empörten Zorn größer zu wirken als ihr Gegenüber. »Dich stellen? Dich stellen! Hast du das etwa von Anfang an geplant gehabt? Bestimmt, oder? Du Vollidiot! Dein Hirn ist ja wohl eingefroren, Perrin Aybara! Es war von Anfang an nicht mehr als ein paar Muskeln und Haare, aber jetzt ist selbst davon nicht mehr viel übrig! Wenn dich die Weißmäntel suchen, dann hängen sie dich auf, sobald sie dich haben. Warum sollten sie dich überhaupt suchen?« »Weil ich Weißmäntel getötet habe.« Er blickte auf sie hinunter und achtete nicht auf Frau al'Vere, die überrascht nach Luft schnappte. »Die an dem Abend, als ich dich kennenlernte, und zwei andere schon vorher. Sie wissen davon, Faile, und sie halten mich für einen Schattenfreund.« Soviel würde sie auf jeden Fall in Kürze erfahren. Wenn sie es auf die Spitze getrieben hätte und sie allein gewesen wären, hätte er ihr vielleicht auch den Grund dafür genannt. Mindestens zwei Weißmäntel, Geofram Bornhald und Jaret Byar, ahnten etwas von seiner Verbindung mit den Wölfen. Sie wußten keineswegs alles, aber auch das wenige reichte schon. Ein Mann, der mit den Wölfen jagte, mußte ein Schattenfreund sein. Vielleicht befand sich einer oder gar beide bei diesen Weißmänteln hier. »Sie halten es für die Wahrheit.« »Du bist nicht mehr Schattenfreund als ich«, flüsterte sie mit hartem Unterton. »Da könnte die Sonne noch eher einer sein.« »Das spielt keine Rolle, Faile. Ich muß tun, was sein muß.« »Du hirnverbrannter Hornochse! Du mußt keineswegs etwas so Idiotisches tun! Du hirnloses Geschöpf! Wenn du das tust, dann hänge ich dich selber auf!« »Perrin«, sagte Frau al'Vere beruhigend, »würdest du mich bitte dieser jungen Frau vorstellen, die soviel von dir hält?« Faile bekam einen puterroten Kopf, als ihr zu Bewußtsein kam, daß sie Meister al'Vere und seine Frau vollkommen ignoriert hatte. Hastig knickste sie, entschuldigte sich wieder und wieder. Bain und Chiad taten es Gaul nach, baten darum, Frau al'Veres Dach verteidigen zu dürfen, und schenkten ihr eine kleine goldene Schüssel, die in Blattform gearbeitet war, und eine kunstvolle silberne Pfeffermühle, größer als beide Fäuste Perrins zusammen. Obenauf saß eine phantasievolle Figur, halb Pferd, halb Fisch.

Bran al'Vere fielen fast die Augen aus dem Kopf, und er rieb sich wieder die Glatze und murmelte etwas in sich hinein. Perrin hörte die Bezeichnung Aiel mehrmals heraus, in einem ungläubigen Tonfall. Der Blick des Dorfvorstehers huschte auch immer wieder zu den Fenstern hinüber. Er suchte bestimmt nicht nach weiteren Aiel. Er war ja schon erstaunt gewesen, als Gaul sich als Aiel zu erkennen gegeben hatte. Vielleicht hatte er Angst, die Weißmäntel kämen.

Marin al'Vere andererseits nahm alles gelassen hin, behandelte Faile, Bain und Chiad genau wie jede andere junge Frau, die als Gast in ihre Schenke kam, plauderte mit ihnen darüber, wie anstrengend Reisen sei, machte Faile Komplimente wegen ihres Reitkleides — heute eines aus dunkelblauer Seide — und sagte den Aielfrauen, wie sehr sie Farbe und Glanz ihrer Haare bewundere. Perrin vermutete, daß Bain und Chiad nichts mit ihr anfangen konnten, aber nach kurzer Zeit hatte sie auf ihre ruhige und feste mütterliche Art die drei Frauen an einen Tisch gebracht, ihnen feuchte Handtücher gegeben, um sich den Reisestaub von Gesicht und Händen zu wischen, und dann nippten sie an ihren Teetassen. Perrin erinnerte sich noch gut an die große, rotgestreifte Teekanne.

Es wäre ja durchaus amüsant gewesen, zu beobachten, wie diese harten Kämpferinnen — Faile ganz gewiß eingeschlossen — plötzlich Frau al'Vere eifrig versicherten, daß sie sich sehr wohl fühlten, und ob sie nicht behilflich sein könnten, sie tue doch entschieden zuviel, und alle hatten große Augen wie die Kinder und die gleiche Chance wie ein Kind, gegen sie anzukommen. Es wäre amüsant gewesen — wenn sie nicht auch ihn und Gaul mit eingeschlossen hätte. Sie winkte sie genauso entschlossen zum Tisch herüber und bestand darauf, daß sie sich Hände und Gesicht wuschen, bevor sie eine Tasse Tee bekamen. Gaul grinste die ganze Zeit über ein wenig. Die Aiel hatten wohl einen eigenartigen Sinn für Humor.

Überraschenderweise beachtete sie seinen Bogen und die Axt überhaupt nicht, genausowenig wie die Waffen der Aiel. Im Gebiet der Zwei Flüsse trugen die Menschen sehr selten auch nur einen Bogen, und wenn, dann hatte sie immer darauf bestanden, daß er irgendwo abgestellt wurde, wenn man sich an einen Tisch setzen wollte. Immer. Doch jetzt schenkte sie den Waffen keine Beachtung.

Er erlebte eine weitere Überraschung, als Bran ihm einen silbernen Becher mit Apfelkorn hinstellte, denn es war nicht die übliche kleine Portion, gerade so hoch wie sein Daumennagel, sondern immerhin halb voll. Bevor er aus Emondsfeld floh, hätte er ihm wahrscheinlich nur Most angeboten, vielleicht sogar Milch, oder höchstens einen halb gefüllten Becher Schorle zum Essen, an einem Feiertag möglicherweise auch einen ganzen. Er war dankbar dafür, jetzt als erwachsener Mann anerkannt zu werden. Trotzdem ließ er den Schnaps zunächst stehen, denn er war nur an Wein gewöhnt und trank kaum etwas Stärkeres.

»Perrin«, sagte der Dorfvorsteher, als er sich neben seine Frau an den Tisch setzte, »kein Mensch hält dich für einen Schattenfreund. Keiner, der noch einen Funken Verstand hat. Es gibt keinen Grund für dich, dich einfach aufhängen zu lassen.« Faile nickte eindringlich und zustimmend, doch Perrin beachtete sie nicht. »Ich lasse mich nicht umstimmen, Meister al'Vere. Die Weißmäntel wollen mich haben, und wenn sie mich nicht bekommen, lassen sie das vielleicht am nächsten Aybara aus, den sie in die Finger bekommen. Die Weißmäntel sind nur zu schnell bereit, jemanden schuldig zu sprechen. Das sind keine angenehmen Menschen.« »Das wissen wir«, sagte Frau al'Vere leise.

Ihr Mann blickte auf seine Hände hinunter, die auf dem Tisch lagen. »Perrin, deine Familie ist nicht mehr.« »Ist nicht mehr? Heißt das, sie haben den Hof bereits niedergebrannt?« Perrin verkrampfte seine Faust um den silbernen Becher. »Ich hoffte, ich käme noch rechtzeitig. Aber wahrscheinlich hätte ich es besser wissen müssen. Es ist zu viel Zeit vergangen, bevor ich von den Ereignissen hörte. Nun, vielleicht kann ich meinem Pa und Onkel Edward beim Wiederaufbau helfen. Bei wem wohnen sie jetzt? Ich will sie wenigstens zuerst einmal begrüßen.« Bran verzog das Gesicht, und seine Frau streichelte ihm beruhigend über die Schulter. Doch ihr Blick ruhte seltsamerweise weiter auf Perrin. In ihren Augen standen Trauer und Sympathie.

»Sie sind tot, mein Junge«, sagte Bran atemlos.

»Tot? Nein. Das kann nicht sein... « Perrin runzelte die Stirn, als seine Hand plötzlich feucht wurde, und blickte den zerdrückten Becher an, als frage er sich, wo der eigentlich herkäme. »Es tut mir leid. Ich wollte ihn nicht... « Er zog an dem zusammengedrückten Silberblech und versuchte, ihm mit seinen Fingern wieder die ursprüngliche Form zu verleihen. Das ging aber nicht. Natürlich nicht. Sorgfältig legte er den kaputten Becher auf den Tisch zurück. »Ich werde es ersetzen. Ich kann... « Er wischte sich die Hand am Wams ab, und plötzlich wurde ihm klar, daß er die an seinem Gürtel hängende Axt streichelte. Warum sahen ihn alle so eigenartig an? »Seid Ihr sicher?« Seine Stimme klang, als käme sie von weither. »Adora und Deselle? Paet? Meine Mutter?« »Alle«, sagte Bran. »Auch deine Tanten und Onkel und Cousins. Jeder, der auf dem Hof wohnte. Ich half dabei, sie zu beerdigen, mein Junge. Auf diesem niedrigen Hügel dort, dem mit den Apfelbäumen.« Perrin steckte den Daumen in den Mund. Idiotisch, sich an der eigenen Axt zu schneiden. »Meine Mutter mag Apfelblüten. Die Weißmäntel. Warum sollten sie... ? Seng mich, Paet war nur neun. Die Mädchen... « Seine Stimme klang tonlos. Er dachte sich, daß in diesen Worten doch etwas Gefühl hätte durchkommen müssen. Etwas Gefühl wenigstens.

»Es waren Trollocs«, sagte Frau al'Vere schnell. »Sie sind zurückgekehrt, Perrin. Nicht so wie damals, als ihr weggingt. Sie haben nicht das Dorf angegriffen, aber die Höfe auf dem Land. Die meisten Höfe, die weitab von anderen liegen, sind mittlerweile verlassen. Keiner geht nachts nach draußen, selbst in der Nähe des Dorfs. Es ist das gleiche drunten in Devenritt und oben in Wachhügel, vielleicht sogar bis nach Taren-Fähre. Die Weißmäntel, so schlimm sie auch sind, stellen unseren einzigen Schutz dar. Sie haben schon zwei Familien gerettet, die ich kenne, als Trollocs ihre Höfe angriffen.« »Ich wollte... ich hoffte...« Er konnte sich nicht mehr ganz daran erinnern, was er wollte. Hatte etwas mit Trollocs zu tun. Er wollte sich gar nicht daran erinnern. Die Weißmäntel beschützten die Zwei Flüsse? Das brachte ihn beinahe zum Lachen. »Rands Vater. Tams Hof. Waren das auch Trollocs?« Frau al'Vere öffnete den Mund, doch Bran kam ihr zuvor: »Er verdient es, die Wahrheit zu erfahren, Marin. Das waren die Weißmäntel, Perrin. Dort und auch beim Hof der Cauthons.« »Mats Angehörige also auch. Rands Leute und Mats und meine.« Seltsam. Es klang bei ihm, als rede er vom Wetter. »Sind sie auch tot?« »Nein, mein Junge. Nein, Abell und Tam haben sich irgendwo im Westwald versteckt. Und Mats Mutter und seine Schwestern... Sie leben jedenfalls auch.« »In einem Versteck?« »Es ist nicht nötig, darüber zu sprechen«, sagte Frau al'Vere kurz angebunden. »Bran, bring ihm einen neuen Becher Schnaps. Und diesmal trinkst du ihn, Perrin.« Ihr Mann blieb an seinem Platz sitzen, aber sie runzelte nur die Stirn und fuhr dann fort: »Ich würde euch anbieten, bei uns zu schlafen, aber das wäre nicht sicher. Es gibt Leute, die wahrscheinlich nichts Eiligeres zu tun hätten, als zu Lord Bornhald zu rennen, falls sie herausfinden, daß du hier bist. Eward Congar und Hari Coplin rennen den Weißmänteln wie die Schoßhündchen hinterher. Die wollen denen immer jeden Gefallen tun und jeden Namen nennen. Cenn Buie ist auch nicht viel besser. Und auch Will Congar wird plappern, wenn ihn Daise nicht davon abhält. Sie ist jetzt die Seherin hier. Perrin, es ist das beste, ihr geht wieder. Glaub es mir.« Perrin schüttelte bedächtig den Kopf. Es war alles einfach zuviel. Daise Congar, die Seherin? Das war eine Frau wie ein Stier. Weißmäntel beschützten Emondsfeld.

Hari und Eward und Will als Mitläufer. Man konnte ja von den Congars und Coplins nicht viel anderes erwarten, aber Cenn Buie war immerhin im Rat der Gemeinde. Lord Bornhald. Also befand sich Geofram Bornhald tatsächlich hier. Faile beobachtete ihn, und ihre Augen waren groß und feucht. Warum war sie denn den Tränen nahe?

»Da ist aber noch mehr, Brandelwyn al'Vere«, sagte Gaul. »Euer Gesicht sagt mir das.« »Das stimmt«, bestätigte Bran. »Nein, Marin«, fügte er nachdrücklich hinzu, als sie den Kopf leicht schüttelte. »Er verdient wirklich die Wahrheit. Die ganze Wahrheit.« Sie faltete seufzend die Hände. Marin al'Vere setzte sich fast immer durch, außer, wenn Brans Gesicht so entschlossen wirkte wie jetzt gerade. Seine Augenbrauen waren stramm zusammengezogen.

»Welche Wahrheit?« fragte Perrin. Seine Mutter hatte Apfelblüten so gern.

»Zuerst einmal ist Padan Fain bei den Weißmänteln«, sagte Bran. »Er nennt sich jetzt Ordeith und hört überhaupt nicht mehr auf seinen eigenen Namen, aber er ist es, und wenn er noch so hochmütig dreinblickt.« »Er ist ein Schattenfreund«, sagte Perrin abwesend. Adora und Deselle steckten sich im Frühling immer Apfelblüten ins Haar. »Das habe ich von ihm selbst. Er hat in der Winternacht damals die Trollocs hergeführt.« Paet kletterte so gern auf den Apfelbäumen herum und warf dann mit Äpfeln nach einem, wenn man ihn nicht gebührend beachtete.

»Tatsächlich«, kommentierte der Dorfvorsteher grimmig. »Das ist nun wirklich interessant. Er hat bei den Weißmänteln nämlich durchaus etwas zu sagen. Das erstemal, daß wir von ihrer Anwesenheit erfuhren, war nach der Zerstörung von Tams Hof. Das war Fains Werk; er führte die Weißmäntel an, die das taten. Tam hat vier oder fünf von ihnen mit Pfeilen gespickt, bevor er in den Wald floh, und dann erreichte er den Cauthon-Hof gerade rechtzeitig, um zu verhindern, daß sie Abell gefangennahmen. Doch sie fingen Natti und die Mädchen ein. Und auch Haral Luhhan und Alsbet. Ich glaube, Fain hätte sie aufgehängt, aber Lord Bornhald hat das nicht zugelassen. Natürlich haben sie sie nicht gehen lassen. Soweit ich in Erfahrung bringen konnten, hat man ihnen nichts getan, aber sie werden im Lager der Weißmäntel oben in Wachhügel gefangengehalten. Aus irgendeinem Grund haßt Fain dich und Rand und Mat. Er hat hundert Goldstücke für jeden geboten, der mit euch dreien verwandt ist und zweihundert für Tam oder Abell. Und Lord Bornhald scheint besonders an dir Interesse zu haben. Wenn eine Weißmantel-Patrouille hierher kommt, ist er gewöhnlich auch dabei und stellt Fragen in bezug auf dich.« »Ja«, sagte Perrin. »Ganz klar. So was würde er machen.« Perrin von den Zwei Flüssen, der mit den Wölfen lief. Schattenfreund. Fain hatte ihnen möglicherweise den Rest erzählt. Fain und bei den Kindern des Lichts? Der Gedanke lag fern. Aber immer noch besser, als über die Trollocs nachzudenken. Er verzog das Gesicht und zwang seine Hände, still auf dem Tisch liegenzubleiben. »Sie beschützen euch vor den Trollocs.« Marin al'Vere beugte sich mit gerunzelter Stirn zu ihm herüber. »Perrin, wir brauchen die Weißmäntel. Ja, sie haben Tams Hof niedergebrannt und den Abells. Sie haben Leute festgenommen, und sie laufen herum, als gehörte alles ihnen, was sie sehen, aber Alsbet und Natti und dem Rest ist nichts passiert. Sie werden lediglich festgehalten, und das kann man irgendwie schon wieder hinbiegen. Man hat den Drachenzahn auf ein paar Türen gekritzelt, aber außer den Congars und Coplins beachtet das niemand, und wahrscheinlich waren sie es selbst, die das getan haben. Tam und Abell bleiben in ihrem Versteck, bis die Weißmäntel wieder weg sind. Sie müssen ja früher oder später mal wieder weg. Aber solange sich hier Trollocs herumtreiben, brauchen wir sie. Bitte verstehe das. Wir hätten ja lieber dich als sie, aber wir brauchen sie, und wir wollen nicht, daß sie dich aufhängen.« »Ihr nennt so was beschützen, Dachherrin?« fragte Bain. »Wenn Ihr den Löwen bittet, Euch vor den Wölfen zu beschützen, dann habt Ihr lediglich einen anderen Magen gewählt, in dem Ihr enden wollt.« »Könnt Ihr euch nicht selbst schützen?« fügte Chiad hinzu. »Ich habe Perrin kämpfen sehen und Mat Cauthon und Rand al'Thor. Sie sind vom gleichen Blut wie Ihr.« Bran seufzte schwer. »Wir sind Bauern, einfache Leute. Lord Luc redet davon, einen Widerstand gegen die Trollocs zu organisieren, aber das hieße, die Familien schutzlos zu Hause zu lassen, während wir mit ihm ziehen, und das gefällt nun wieder keinem.« Perrin war verwirrt. Wer war nun wieder Lord Luc? Er fragte danach, und Frau al'Vere antwortete: »Er kam ungefähr zur gleichen Zeit wie die Weißmäntel hier an. Er ist einer der Jäger des Horns. Kennst du die Geschichte: Die Große Jagd nach dem Horn? Lord Luc glaubt, das Horn von Valere befände sich irgendwo in den Verschleierten Bergen über den Zwei Flüssen. Aber er hat die Jagd im Moment aufgegeben, unserer Probleme wegen. Lord Luc ist ein großer Herr. Er hat die feinsten Manieren, die man sich vorstellen kann.« Sie glättete ihr Haar und lächelte bestätigend. Bran warf ihr einen Seitenblick zu und knurrte verächtlich.

Jäger des Horns. Trollocs. Weißmäntel. Die Zwei Flüsse schienen nicht mehr das gleiche Land zu sein, das er verlassen hatte. »Faile ist auch eine Jägerin des Horns. Kennst du diesen Lord Luc, Faile?« »Ich habe genug«, verkündete sie. Perrin verzog das Gesicht, als sie aufstand und um den Tisch herum zu ihm kam. Sie nahm seinen Kopf in die Hände und drückte sein Gesicht an ihre Brust. »Deine Mutter ist tot«, sagte sie leise. »Dein Vater ist tot. Deine Schwestern und dein Bruder sind tot. Deine ganze Familie ist tot, und du kannst nichts mehr daran ändern. Ganz gewiß nicht, wenn du selbst stirbst. Verkrampfe dich nicht mehr so. Traure um sie. Friß nicht alles in dich hinein, wo es dich von innen her zerstört.« Er packte sie an den Armen und wollte sie wegschieben, aber aus einem unerfindlichen Grund spannten sich seine Hände an, bis nur noch dieser Griff ihn aufrecht hielt. Erst dann wurde ihm bewußt, daß er weinte, daß er in ihr Kleid hineinschluchzte wie ein kleines Kind. Was mußte sie von ihm denken? Er öffnete den Mund, um ihr zu sagen, daß er sich wieder gut fühle, um sich wegen seines Ausbruchs zu entschuldigen, aber heraus kam lediglich: »Ich konnte doch nicht schneller herkommen. Ich konnte nicht... ich... « Er knirschte mit den Zähnen, um sich selbst zum Schweigen zu bringen.

»Ich weiß«, murmelte sie und strich ihm wie einem Kind über das Haar. »Ich weiß.« Er wollte aufhören, aber je mehr sie ihm ihr Verständnis zuflüsterte, desto heftiger weinte er, als streichelten ihre weichen Hände auf seinem Gesicht die Tränen aus ihm heraus.

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