33 Ein neuer Faden im Muster

Der Lord selbst folgte dem Jungen fast auf den Fersen. Er war ein hochgewachsener, breitschultriger Mann von mittleren Jahren mit einem harten, kantigen Gesicht und dunklen Haaren mit rötlichem Schimmer. An den Schläfen war schon einiges Grau zu sehen. In seinen dunkelblauen Augen lag ein gewisser Hochmut. Er machte ganz den Eindruck eines adligen Herren, mit seinem gut geschnittenen grünen Wams, das an den Ärmeln mit feinen Goldmustern bestickt war. Dazu trug er ebenfalls mit Goldfäden bestickte Handschuhe. Die Scheide seines Schwerts war auch mit Gold verziert, genau wie die Schäfte seiner hochglänzenden Stiefel. Irgendwie brachte er es fertig, selbst sein Eintreten durch die Vordertür grandios wirken zu lassen. Perrin empfand auf den ersten Blick Verachtung für ihn.

Alle al'Seens und Lewins eilten herbei, um den Lord zu begrüßen. Männer, Frauen und Kinder drängten sich lächelnd um ihn, verbeugten sich, knicksten und überschrien sich gegenseitig, um ihm zu versichern, seine Anwesenheit sei eine Ehre; es sei eine große Ehre, einen der Jäger des Horns als Besucher zu empfangen. Das schien bei ihnen den größten Eindruck gemacht zu haben. Ein Lord unter dem eigenen Dach mochte ja etwas Aufregendes sein, aber dann noch einer, der geschworen hatte, das legendäre Horn von Valere zu suchen, nun, der war ja jetzt bereits eine lebende Legende. Perrin hatte noch nie erlebt, daß seine Landsleute von den Zwei Flüssen vor irgend jemand krochen, aber hier fehlte nicht mehr allzu viel.

Dieser Lord Luc nahm es so gelassen hin, als stünde es ihm zu, als könne er möglicherweise sogar noch mehr erwarten. Und ermüdend wirkte es wohl auf ihn. Dieses Bauernpack schien nicht zu bemerken, oder war vielleicht nicht in der Lage dazu, daß sich Erschöpfung um seinen Mund breit machte, daß er leicht herablassend lächelte. Sie glaubten vielleicht, so müsse sich eben ein Lord verhalten. Und das stimmte bis zu einem gewissen Grad, denn viele benahmen sich wirklich so, aber es wurmte Perrin, als er sah, daß sich sein eigenes Volk so dümmlich verhielt.

Als der Lärm der Begrüßung allmählich abebbte, stellten Jac und Elisa ihre anderen Gäste vor, bis auf Tam und Abell, die ihn schon kennengelernt hatten. Sie präsentierten ihn als Lord Luc von Chiendelna und sagten, er berate sie in bezug auf die mögliche Verteidigung gegen die Trollocs, er ermutige sie, vor den Weißmänteln nicht klein beizugeben, sondern sich zu behaupten. Zustimmendes Gemurmel erhob sich im Raum. Hätten die Zwei Flüsse einen König gewählt, dann hätte er die Lewins und die al'Seens fest hinter sich gehabt. Das war ihm auch klar. Doch seine zur Schau getragene gelangweilte Überheblichkeit hielt nicht lange an.

Bei seinem ersten Blick auf Verins glattes, altersloses Gesicht versteifte sich Luc unwillkürlich. Sein Blick zuckte so schnell zu ihren Händen hinunter, daß die meisten es gar nicht bemerkt hätten. Er hätte beinahe seine bestickten Handschuhe fallen lassen. So einfach gekleidet und mollig, wie sie war, hätte sie durchaus eine Bauersfrau sein können, aber offensichtlich erkannte er das Gesicht einer Aes Sedai, wenn er eines sah. Er war wohl auch nicht besonders glücklich darüber, sie hier zu sehen. Sein linkes Augenlid zuckte, als er hörte, wie Frau al'Seen sie als ›Frau Mathwin‹ vorstellte, ›eine Gelehrte von außerhalb‹.

Verin lächelte ihn an, als schlafe sie beinahe ein. »Ein Vergnügen«, murmelte sie. »Das Haus Chiendelna. Wo ist das? Es klingt nach den Grenzlanden.« »Nichts so Großartiges«, antwortete Luc schnell. Er verbeugte sich leicht und offensichtlich mißtrauisch vor ihr. »Aus Murandy komme ich. Es ist ein kleines Haus, aber alt.« Er schien den Blick nicht von ihr wenden zu können, als ihm die anderen vorgestellt wurden.

Tomas sah er kaum an. Er mußte wissen, daß er ›Frau Mathwins‹ Behüter war, aber er behandelte ihn wie eine Nebensache. Das war schwer zu verstehen. So gut Luc vielleicht mit seinem Schwert umgehen konnte, war doch niemand gut genug, um einen Behüter so zu mißachten. Arroganz. Der Bursche besaß davon genug für zehn Männer. Das bewies er auch bei Faile, soweit Perrin es beurteilen konnte.

Das Lächeln, das ihr Luc widmete, war schon mehr als nur selbstsicher. Es war außerdem vertraut und richtiggehend warm. Es war sogar viel zu bewundernd und viel zu warm. Er nahm ihre Hand in seine beiden, beugte sich vor und sah ihr in die Augen, als wolle er hinten wieder hinausschauen. Einen Augenblick lang glaubte Perrin, sie wolle sich zu ihm herumdrehen, doch dann erwiderte sie den Blick des Lords mit geröteten Wangen, einem leichten Kopfneigen und im offensichtlichen Bemühen, kühl zu erscheinen.

»Auch ich bin ein Jäger des Horns, Lord Luc«, sagte sie, und es klang ein wenig atemlos. »Glaubt Ihr, es hier zu finden?« Luc blinzelte und ließ ihre Hand los. »Vielleicht, meine Dame. Wer weiß schon, wo das Horn ist?« Faile blickte ein bißchen überrascht und vielleicht auch enttäuscht drein, als er so plötzlich das Interesse verlor.

Perrin machte ein gleichmütiges Gesicht. Wenn sie Wil al'Seen anlächeln und bei irgendeinem närrischen Lord rot werden wollte, war das ihre Sache. Sie konnte sich zum Narren machen, wie sie wollte, und seinetwegen jedem Mann schöne Augen machen, der vorbeikam. Also wollte Luc wissen, wo sich das Horn von Valere befand? Es war in der Weißen Burg verborgen. So war das. Er war versucht, das dem Mann zu sagen, damit er frustriert mit den Zähnen knirschte.

Wenn Luc schon überrascht darüber gewesen war, wer die anderen Gäste im Haus der al'Seens war, dann war seine Reaktion auf Perrin ausgesprochen eigenartig, um es zurückhaltend auszudrücken. Beim Anblick von Perrins Gesicht fuhr er zusammen. In seinen Augen stand eisiger Schrecken. Einen Augenblick später war es vorbei und hinter der Maske adliger Hochnäsigkeit verborgen. Nur der eine Augenwinkel zuckte wild. Das Dumme daran war nur, daß seine Reaktion keinen Sinn ergab. Er war sicher, daß es nicht seine gelben Augen gewesen waren, die es ausgelöst hatten. Es war eher gewesen, als kenne ihn der Kerl und sei überrascht, ihn hier anzutreffen. Doch er hatte diesen Luc noch nie im Leben getroffen. Darüber hinaus hätte er wetten können, daß Luc Angst vor ihm hatte. Es ergab einfach keinen Sinn.

»Lord Luc war derjenige, der vorschlug, daß die Jungen auf die Dächer gehen sollten«, sagte Jac. »Kein Trolloc wird sich uns nähern, ohne daß uns diese Burschen warnen.« »Was für eine großartige Warnung«, sagte Perrin trocken. Das also sollte ein Beispiel für die hervorragende Beratung durch Lord Luc sein? »Die Trollocs sehen wie Katzen in der Dunkelheit. Sie sind schon da und treten Euch die Tür ein, bevor Eure Jungen auch nur schreien können.« »Wir tun, was wir können«, fauchte Flann. »Hört auf, uns einschüchtern zu wollen. Es sind Kinder in Hörweite. Lord Luc macht wenigstens hilfreiche Vorschläge. Er war in meinem Haus, einen Tag bevor die Trollocs kamen, und sorgte dafür, daß ich jeden an seinen strategisch richtigen Platz stellte. Blut und Asche! Wäre er nicht gewesen, hätten die Trollocs uns alle getötet.« Luc schien dieses Lob nicht gehört zu haben. Er musterte Perrin mißtrauisch und spielte derweil mit seinen Handschuhen. Schließlich steckte er sie hinter die goldene Schnalle in Form eines Wolfskopfes, die seinen Schwertgürtel hielt. Auch Faile beobachtete ihn mit leicht gerunzelter Stirn. Er beachtete sie nicht.

»Ich glaubte, die Weißmäntel hätten Euch gerettet, Meister Lewin. Ich hatte gehört, daß gerade noch zur rechten Zeit eine Patrouille der Weißmäntel angekommen sei und die Trollocs vertrieben habe.« »Das stimmt schon.« Flann fuhr mit einer Hand durch sein graues Haar. »Aber Lord Luc... Wären die Weißmäntel nicht gekommen, dann hätten wir... Wenigstens versucht er nicht, uns einzuschüchtern«, knurrte er schließlich.

»Er jagt Euch keine Angst ein«, sagte Perrin. »Aber ich fürchte die Trollocs. Und die Weißmäntel halten die Trollocs von Euch fern. Wenn sie können.« »Ihr wollt alle Ehre den Weißmänteln zuschieben?« Luc fixierte Perrin mit einem kalten Blick und begann, auf diesen scheinbaren Schwachpunkt einzuprügeln. »Und wer, glaubt Ihr, ist verantwortlich für den Drachenzahn, der den Menschen auf die Türen gekritzelt wird? O nein, sie halten niemals die Holzkohle in der eigenen Hand, aber sie stecken dahinter. Sie stolzieren in die Häuser dieser guten Leute, fragen sie aus und erwarten Antworten, als stünden sie unter dem eigenen Dach. Ich behaupte, daß diese Menschen ihre eigenen Herren sind und keine Hunde, die auf Befehl der Weißmäntel angerannt kommen. Laßt sie ihre Patrouillen über das Land draußen schicken, alles schön und gut, aber tretet ihnen an der Tür entgegen und sagt ihnen klipp und klar, auf wessen Land sie stehen. Das ist meine Meinung. Wenn Ihr ein Schoßhündchen der Weißmäntel werden wollt, dann meinetwegen, aber beraubt diese guten Leute nicht ihrer Freiheit!« Perrin sah Luc geradewegs in die Augen. »Ich habe nichts für die Weißmäntel übrig. Sie wollen mich schließlich aufhängen. Habt Ihr das nicht gewußt?« Der hochgewachsene Lord riß die Augen auf, als sei ihm das neu. Vielleicht hatte er es im Übereifer auch vergessen. Er hätte dem anderen zu gern eine Schwäche bei Perrin nachgewiesen. »Was schlagt Ihr dann vor?« Perrin wandte dem Mann den Rücken zu, ging zum Kamin hinüber und stellte sich davor. Er wollte sich nicht bloß mit Luc herumstreiten. Alle sollten zuhören. Sie sahen ihn nun auch alle erwartungsvoll an. Er würde einfach sagen, was er auf dem Herzen hatte, und das war's dann. »Ihr müßt Euch auf die Weißmäntel verlassen, müßt hoffen, daß sie die Trollocs zurückhalten werden, hoffen, daß sie zur rechten Zeit kommen und die Trollocs zurückschlagen. Warum? Weil jeder hier versucht, an seinem Hof festzuhalten, solange er kann, oder zumindest möglichst in der Nähe zu bleiben. So lebt Ihr verteilt auf hundert kleine Grüppchen, wie die Trauben, die man nur noch pflücken muß. Solange dieser Zustand anhält, solange Ihr hoffen müßt, die Weißmäntel würden die Trollocs daran hindern, Euch zu Most zu zerstampfen, habt Ihr keine andere Wahl, als den Weißmänteln freie Hand zu geben, sie jede Frage stellen zu lassen und von Euch Antworten zu verlangen. Ihr müßt danebenstehen und zusehen, wie unschuldige Menschen verschleppt werden. Oder glaubt hier irgend jemand, Haral und Alsbet Luhhan seien Schattenfreunde? Natti Cauthon? Bodewhin und Eldrin?« Abells Blick wanderte im Raum herum und warnte jeden, auch nur ein ›Ja‹ anzudeuten, aber das war gar nicht notwendig. Selbst Adine Lewins Aufmerksamkeit galt ganz Perrin. Luc blickte ihn finster an, nachdem er die Reaktionen der Menschen in dem überfüllten Raum gesehen hatte.

»Ich weiß, daß sie Natti und Alsbet und die anderen nicht hätten festnehmen dürfen«, sagte Wit, »aber das ist nun mal geschehen.« Er strich mit der Hand über seinen kahlen Schädel und warf Abell einen besorgten Blick zu. »Außer natürlich, daß man sie dazu bringen muß, alle laufen zu lassen. Sie haben in der Zwischenzeit sonst niemanden mehr gefangengenommen, soweit mir bekannt ist.« »Und Ihr glaubt, damit sei alles erledigt?« fragte Perrin. »Glaubt Ihr wirklich, sie gäben sich mit den Cauthons und den Luhhans zufrieden? Mit zwei niedergebrannten Bauernhöfen? Welcher von Euch wird der oder die nächste sein? Vielleicht, weil Ihr etwas Falsches gesagt habt, oder auch einfach nur als warnendes Beispiel? Es könnten auch die Weißmäntel sein, die dieses Haus anzünden, anstelle der Trollocs. Oder eines Nachts wird bei Euch der Drachenzahn an die Tür gekritzelt? Es gibt immer Leute, die nur zu gern so etwas glauben.« Viele Blicke wanderten hinüber zu Adine, die nervös ihre Füße bewegte und die Schultern einzog. »Selbst wenn alles nur darauf hinausläuft, daß Ihr vor jedem Weißmantel, der vorbeikommt, künftig einen Bückling machen müßt: Wollt Ihr so weiterleben? Wollt Ihr das Euren Kindern zumuten? Ihr seid den Trollocs ausgeliefert und den Weißmänteln und jedem anderen, der Euch ans Zeug will. Solange auch nur einer Euch in der Hand hat, haben Euch alle drei in der Hand. Ihr versteckt Euch im Keller und hofft, der eine tollwütige Hund werde Euch vor dem anderen beschützen, hofft, daß die Ratten nicht auch noch aus ihren Löchern kommen und Euch im Dunklen beißen.« Jac tauschte einen besorgten Blick mit Flann und Wit und den anderen Männern im Raum, und dann sagte er bedächtig: »Wenn Ihr glaubt, daß wir es falsch anpacken, was schlagt Ihr dann statt dessen vor?« Perrin hatte die Frage nicht erwartet. Er war sicher gewesen, daß sie wütend würden. Jetzt fuhr er einfach fort, ihnen zu sagen, was er auf dem Herzen hatte: »Sammelt Eure Leute. Sammelt Eure Schafe und Eure Kühe, Eure Hühner — alles. Sammelt sie und bringt sie irgendwo in Sicherheit. Geht nach Emondsfeld. Oder nach Wachhügel, da es näher liegt, obwohl Ihr euch damit direkt unter den Augen der Weißmäntel befindet. Solange hier zwanzig Leute wohnen und dort fünfzig, seid Ihr eine leichte Beute für die Trollocs. Wenn aber Hunderte von Euch zusammen sind, habt Ihr eine Chance, und eine, die nicht darauf beruht, daß Ihr vor den Weißmänteln buckelt.« Das brachte endlich die gewünschte Explosion hervor.

»Meinen Hof ganz aufgeben?« schrie Flann empört, und gleichzeitig ertönte Wits »Ihr spinnt ja!« Alle überschrien sie sich gegenseitig — Brüder, Freunde, Cousins...

»Nach Emondsfeld ziehen? Ich bin jetzt schon zu weit weg, um jeden Tag nach den Feldern zu schauen!« »Das Unkraut wird alles überwuchern!« »Ich weiß doch jetzt schon kaum noch, wie ich mit der Ernte zurechtkommen soll!« »... wenn der Regen kommt...!« »... versuche, wieder aufzubauen...!« »... der Tabak wird faulen...!« »... muß die Schur aufgeben...!« Perrins Faust krachte auf den Kaminsims und ließ sie verstummen. »Ich habe kein Feld gesehen, das niedergetrampelt oder angezündet wurde, und kein zerstörtes Haus oder keine verkohlte Scheune, solange sich keine Menschen dort aufhielten. Die Trollocs sind hinter den Menschen her. Und was ist schon, wenn sie doch alles niederbrennen? Dann sät man eben wieder neu aus. Stein und Balken kann man neu errichten. Aber könnt Ihr das wieder zum Leben erwecken?« Er deutete auf Lailas Baby, und sie preßte das Kind an ihre Brust und funkelte ihn an, als habe er persönlich ihr Kind bedroht. Doch die Blicke, die sie ihrem Mann und Flann zuwarf, sprachen von Angst. Ein nervöses Gemurmel erhob sich.

»Weggehen?« sagte Jac leise und schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht recht, Perrin.« »Ihr habt die Wahl, Meister al'Seen. Das Land wird immer noch dasein, wenn Ihr zurückkehrt. Das können die Trollocs nicht wegschleppen. Überlegt, ob man das gleiche auch von Eurer Familie behaupten kann.« Das Gemurmel wurde stärker. Eine ganze Anzahl von Frauen stritt mit ihren Männern herum, und zwar meist diejenigen, die ein oder zwei Kinder im Schlepptau hatten. Aber keiner der Männer schien wirklich zu widersprechen.

»Ein interessanter Plan«, sagte Luc, während er Perrin weiter beobachtete. An seinem Gesicht konnte man nicht ablesen, ob er den Plan befürwortete oder nicht. »Ich werde mit Interesse beobachten, wie das ausgeht. Und nun, Meister al'Seen, muß ich mich auf den Weg machen. Ich habe nur hereingeschaut, um zu sehen, wie es Euch geht.« Jac und Elisa brachten ihn zur Tür, aber die anderen waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um ihm viel Beachtung zu schenken. Luc verließ den Raum mit angespanntem Gesicht. Perrin hatte das Gefühl, daß ansonsten seine Abgänge genauso grandios gewesen sein mußten wie seine Auftritte.

Jac kam von der Tür aus gleich zu Perrin. »Das ist ein kühner Plan. Ich gebe zu, ich bin nicht gerade erpicht darauf, meinen Hof aufzugeben, aber was Ihr sagt, ist schon richtig. Ich weiß allerdings nicht, wie die Kinder des Lichts darauf reagieren werden. Sie sind schon ein mißtrauischer Haufen. Vielleicht nehmen sie an, wir wollten irgend etwas gegen sie unternehmen, wenn wir uns alle zusammenrotten.« »Laßt sie das ruhig annehmen«, sagte Perrin. »Ein ganzes Dorf voller Menschen kann es riskieren, Lucs Rat anzunehmen und ihnen zu sagen, sie sollten sich trollen. Oder meint Ihr, es sei klüger, weiterhin das Opfer zu spielen, damit die Weißmäntel Euch wohlgesonnen bleiben, so wie jetzt?« »Nein. Nein, mir ist das schon klar. Ihr habt mich überzeugt. Und wie es scheint, habt Ihr auch die anderen auf Eurer Seite.« Das entsprach wohl der Wahrheit. Die Diskussion flaute langsam ab, denn alle schienen sich einig zu sein. Selbst Adine, die nun lautstarke Anweisungen an ihre Töchter gab, sofort zu packen. Sie nickte sogar Perrin mürrisch, aber zustimmend zu.

»Wann wollt Ihr aufbrechen?« fragte Perrin Jac.

»Sobald alle bereit sind. Wir können es bis Sonnenuntergang bis zu Jon Gaelins Haus an der Nordstraße schaffen. Ich werde Jon weitergeben, was Ihr gesagt habt, und alle runter nach Emondsfeld führen. Besser dorthin als nach Wachhügel. Wenn wir schon dem Einfluß der Weißmäntel genauso entrinnen wollen wie den Trollocs, dann sollten wir nicht gerade vor ihrer Nase herumsitzen.« Jac kratzte sich mit einem Finger an seinem dürftigen Haarkranz. »Perrin, ich glaube nicht, daß die Kinder des Lichts wirklich Natti Cauthon und den Mädchen, oder auch den Luhhans, etwas antun würden, aber es macht mir schon Sorgen. Falls sie glauben, wir wollten uns gegen sie stellen — was dann?« »Ich habe vor, sie sobald wie möglich zu befreien, Meister al'Seen. Und alle anderen Gefangenen der Weißmäntel außerdem.« »Ein kühner Plan«, wiederholte Jac. »Na ja, dann kümmere ich mich mal darum, daß die Leute fertig werden. Ich muß es schaffen, sie bis Sonnenuntergang zu Jon zu bringen. Wandelt im Licht, Perrin.« »Ein sehr kühner Plan«, sagte auch Verin, die herantrat, während Meister al'Seen davoneilte und Befehle ausgab, die Wagen herauszuholen und zu packen, was man eben tragen konnte. Sie musterte Perrin interessiert mit schräggehaltenem Kopf, aber auch nicht erstaunter als Faile, die neben ihr stand. Faile blickte drein, als habe sie ihn noch nie zuvor gesehen.

»Ich weiß überhaupt nicht, warum jeder das so nennt«, sagte er. »Einen Plan, meine ich. Dieser Luc hat Unsinn geredet. Den Weißmänteln an der Tür entgegentreten. Jungen auf dem Dach, um Ausschau nach Trollocs zu halten. Offene Türen, um die Katastrophe einzuladen. Ich habe das lediglich allen klarmachen wollen. Das hätten sie selber gleich zu Anfang sehen müssen. Dieser Mann... « Er hielt sich zurück, um nicht zu sagen, daß Luc ihn ganz mächtig irritiere. So etwas durfte er nicht in Failes Gegenwart sagen. Sie würde es möglicherweise mißverstehen.

»Selbstverständlich«, sagte Verin beschwichtigend. »Ich hatte zuvor noch keine Gelegenheit, zu beobachten, wie es funktioniert. Oder wenn ich eine hatte, wußte ich es nicht.« »Wovon sprecht Ihr? Was soll funktionieren?« »Perrin, als wir hier ankamen, waren diese Leute bereit, um jeden Preis hierzubleiben. Ihr habt Ihnen eine sinnvolle und leidenschaftliche Begründung dafür geliefert, von hier wegzugehen. Aber glaubt Ihr, wenn ich diese Ansprache gehalten hätte oder Tam oder Abell, dann hätten sie genauso reagiert und sich umdrehen lassen? Von uns allen solltet Ihr am besten wissen, wie halsstarrig die Menschen von den Zwei Flüssen sein können. Ihr habt den Ablauf der Dinge in den Zwei Flüssen durch Eure Anwesenheit und Euren Einfluß geändert. Mit ein paar aus dem... Ärger?... heraus gesprochenen Worten. Ta'veren weben wirklich und wahrhaftig die Schicksale anderer Menschen in ihr eigenes Muster hinein. Faszinierend. Ich hoffe nur, ich werde noch Gelegenheit haben, Rand dabei zu beobachten.« »Was auch immer«, murmelte Perrin, »es ist jedenfalls gut gegangen. Je mehr Menschen sich jetzt an einem Ort aufhalten, desto sicherer sind sie.« »Natürlich. Rand hat das Schwert an sich genommen, oder irre ich mich da?« Er runzelte die Stirn, sah aber keinen Grund, es ihr zu verschweigen. Sie wußte über Rand Bescheid und sie kannte die Bedeutung Tears für ihn. »Ja, stimmt.« »Seid bei Alanna vorsichtig, Perrin.« »Was?« Die schnellen Themenwechsel Verins brachten ihn aus dem Gleichgewicht. Das galt besonders, wenn sie ihm sagte, er solle tun, was er sowieso vorgehabt hatte und vor ihr geheimhalten wollte. »Warum?« Verins Gesichtsausdruck änderte sich nicht, aber ihre dunklen Augen wirkten plötzlich besonders aufmerksam wie die eines Raubvogels. »Es gibt viele... Intrigen in der Weißen Burg. Bei weitem nicht alle sind bösartig, aber manchmal ist das schwer festzustellen, bevor es zu spät ist. Und selbst bei den besten Absichten könnten ein paar Fäden im Gewebe reißen. Es ist, als zerbräche man ein paar Reiser, die in einen Korb verflochten werden sollten. Ein Ta'veren wäre für jede Art von Planung ein äußerst nützlicher Faden im Muster.« Mit einemmal blickte sie sich in dem Durcheinander im Raum ein wenig verwirrt um, als fühle sie sich in ein Buch vergraben oder in Gedanken versunken erheblich wohler als in ihrer wirklichen Umwelt. »O je, Meister al'Seen verschwendet nun wirklich keine Zeit, oder? Ich werde mal sehen, ob er jemanden entbehren kann, um unsere Pferde zu holen.« Faile schauderte, als die Braune Schwester wegging. »Manchmal machen mich diese Aes Sedai... nervös«, murmelte sie.

»Nervös?« meinte Perrin. »Die meiste Zeit über mache ich mir ihretwegen beinahe in die Hose vor Angst.« Sie lachte leise und begann, mit einem seiner Mantelknöpfe zu spielen. Er schien sie enorm zu interessieren. »Perrin, ich... war wohl... eine ziemliche Närrin.« »Was meinst du damit?« Sie blickte zu ihm auf. Beinahe hätte sie den Knopf vollends abgedreht. Er fügte hastig hinzu: »Du bist einer der vernünftigsten Menschen, die ich kenne.« Er schloß ganz schnell den Mund, um nicht zu sagen: »Jedenfalls gelegentlich«. Als sie lächelte, war er froh, sich das verkniffen zu haben.

»Es ist wohl sehr nett, daß du das sagst, aber ich war tatsächlich dumm.« Sie tätschelte den Knopf und begann, sein Wams zurechtzurücken, was keineswegs nötig war, und seine Revers zu glätten — genauso überflüssig. »Du hast dich auch dumm verhalten«, sagte sie, wobei sie viel zu schnell sprach, »nur, weil mich dieser junge Mann angeschaut hat. Er wirkt doch wirklich noch zu jungenhaft und überhaupt nicht so wie du. Und dann wollte ich dich nur ein ganz klein wenig eifersüchtig machen, als ich vortäuschte — nur vortäuschte —, daß ich mich für Lord Luc interessiere. Das hätte ich nicht tun sollen. Verzeihst du es mir?« Er bemühte sich, ihr Gestammel zu durchschauen. Es war gut, daß sie Wil für zu jungenhaft hielt. Falls er sich einen Bart stehen ließ, wäre der vermutlich ziemlich spärlich. Aber sie hatte natürlich nicht erwähnt, wie sie Wils Blick erwidert hatte. Und wenn sie nur vorgegeben hatte, an Luc interessiert zu sein, warum war sie dann so errötet? »Natürlich verzeihe ich es dir«, sagte er. In ihren Augen blitzte es gefährlich auf. »Ich meine, es gibt ja eigentlich nichts zu verzeihen.« Wenn möglich, funkelten ihre Augen nun noch bedrohlicher. Was wollte sie denn von ihm hören? »Verzeihst du statt dessen mir? Als ich versuchte, dich wegzujagen, habe ich Dinge gesagt, die ich nicht hätte sagen sollen. Wirst du mir das vergeben?« »Du hast allerdings einiges gesagt, was man erst mal verzeihen muß«, sagte sie mit süßlicher Stimme, und er wußte, daß er nun in der Klemme steckte. »Ich kann mich gerade nicht daran erinnern, aber ich werde darüber nachdenken.« Darüber nachdenken? Jetzt klang sie ganz nach einer adligen Dame. Vielleicht arbeitete ihr Vater für irgendeinen Lord und sie hatte beobachten können, wie sich die vornehmen Damen benahmen. Er hatte keine Ahnung, wie sie das meinte. Aber er würde es vermutlich viel zu schnell herausfinden, fürchtete er.

Die Erleichterung war groß, als er mitten in dem Durcheinander des Aufbruchs wieder auf Traber steigen konnte. Man führte die Gespanne herbei, die Leute stritten sich darum, was sie mitnehmen konnten und was nicht, die Kinder jagten Hühner und Gänse, um sie einzufangen, ihnen die Füße zusammenzubinden und sie auf die Wagen zu laden. Die Jungen waren bereits dabei, das Vieh nach Osten zu treiben, und andere trieben die Schafe aus dem Pferch.

Faile erwähnte das, was sie drinnen besprochen hatten, jetzt nicht mehr. Statt dessen lächelte sie ihn an und verglich die Schafzucht hier mit Saldaea. Als eines der Mädchen ihr einen Strauß kleiner roter Blumen brachte —Herzrötchen —, versuchte sie, ein paar davon in seinen Bart zu flechten und lachte über seine Bemühungen, sie davon abzuhalten. Kurz gesagt, er fuhr fast aus der Haut. Er mußte dringend wieder mit Meister Cauthon reden.

»Geht im Licht«, sagte Meister al'Seen noch einmal zu ihm, als sie bereit waren, loszureiten, »und paßt auf die Jungen auf.« Vier der jungen Männer hatten sich entschlossen, mit ihnen zu reiten. Ihre Pferde waren auch zottig, aber bei weitem nicht so gut wie die Tams und Abells. Perrin wußte nicht ganz, warum ausgerechnet er auf die Jungen aufpassen sollte. Sie waren alle älter als er, wenn auch nicht um vieles. Wil al'Seen war dabei mit seinem Cousin Ban, einem von Jacs Söhnen, der die größte Nase in der Familie abbekommen hatte, und einem Pärchen Lewins, Tell und Dannil, die Flann so ähnlich sahen, daß sie genauso seine Söhne hätten sein können und nicht seine Neffen. Perrin hatte versucht, sie davon abzubringen, vor allem, als sie ganz klar aussagten, sie wollten bei der Rettung der Cauthons und der Luhhans vor den Weißmänteln helfen. Sie schienen zu glauben, man müsse nur einfach in das Lager der Weißmäntel reiten und verlangen, daß alle herausgegeben würden. ›Unseren Widerstand offen zeigen‹, nannte Tell das, und Perrin standen dabei fast die Haare zu Berge. Zu viele Gauklermärchen. Sie hatten Narren wie Luc zu oft gelauscht. Er vermutete, Wil habe einen anderen Grund, obwohl der sich bemühte, so zu tun, als existiere Faile überhaupt nicht, aber die anderen waren schon schlimm genug.

Keiner sonst hatte irgendwelche Einwände. Tam und Abell machten sich anscheinend nur Gedanken darüber, daß jeder mit dem Bogen umgehen konnte, den er trug, und nicht vom Pferd fiel. Verin beobachtete alles nur und machte sich Notizen in ihr kleines Buch. Tomas wirkte amüsiert, und Faile beschäftigte sich damit, eine Krone aus den Herzrötchen zu flechten. Wie sich herausstellte, war sie für Perrin bestimmt. Seufzend hängte der die Blumen über sein Sattelhorn. »Ich werde auf sie aufpassen, so gut ich kann, Meister al'Seen«, versprach er.

Eine Meile vom Hof der al'Seens entfernt glaubte er beinahe, ein oder zwei von den Jungen würden gleich wieder zurückreiten, denn plötzlich erschienen Gaul, Bain und Chiad aus einem Gebüsch und liefen zu ihnen herüber. Wil und seine Freunde erhaschten einen Blick auf die Aiel und legten sofort Pfeile auf. Die Aiel hielten im Gegenzug, ohne auch nur im Schritt innezuhalten, augenblicklich Speere in den Händen und hatten die Gesichter verschleiert. Er brauchte ein paar Minuten, um die Lage zu klären. Gaul und die Töchter des Speers schienen das Ganze für einen großen Spaß zu halten, denn als sie verstanden, was geschehen war, lachten sie schallend los.

Das wiederum brachte die Lewins und al'Seens aus dem Gleichgewicht, genauso natürlich wie die Tatsache, daß diese drei Aiel waren und zwei davon auch noch Frauen. Wil probierte es mit einem Lächeln in Richtung Bain und Chiad, worauf die einen Blick tauschten und sich kurz zunickten. Perrin wußte nicht, was bei ihnen vorging, aber er entschloß sich, nicht einzugreifen, solange Wil nicht gerade etwas unternahm, was ihm den Kopf kosten konnte. Es war noch Zeit genug, alle zurückzuhalten, wenn eine der Aielfrauen ihr Messer zog. Vielleicht würde Wil daraus eine Lehre ziehen, was sein Lächeln Frauen gegenüber betraf.

Er hatte vor, so schnell wie möglich bis Wachhügel vorzustoßen, aber eine Meile oder mehr nördlich des al'Seen-Hofes sah er einen der Bauernhöfe, die diese weit verstreuten Rauchwolken aus ihren Schornsteinen hervorgebracht hatten. Tam führte sie so weit daran vorbei, daß die Menschen auf dem Hof nur als ganz kleine Gestalten sichtbar waren. Außer für Perrins Augen: Er sah sogar die Kinder, wie sie auf dem Hof spielten. Und Jac al'Seen war ihr nächster Nachbar. War es bis heute mittag gewesen. Er zögerte und lenkte dann Traber auf den Bauernhof zu. Wahrscheinlich würde es nichts ändern, aber einen Versuch war es wert.

»Was hast du vor?« fragte Tam mit gerunzelter Stirn.

»Ihnen den gleichen Rat geben wie Meister al'Seen. Das dauert gar nicht lang.« Tam nickte, und die anderen kamen mit. Verin betrachtete Perrin nachdenklich. Die Aiel wichen kurz vor dem Hof vom allgemeinen Kurs ab, um weiter nördlich auf sie zu warten. Gaul rannte immer ein Stückchen von den Töchtern des Speers entfernt einher.

Perrin kannte die Torfinns nicht persönlich, und er war auch ihnen unbekannt, aber als sich die erste Aufregung über die Ankunft der Fremden gelegt hatte und sie Tomas und Verin und Faile nicht mehr so neugierig anstarrten, hörten sie zu seiner Überraschung tatsächlich auf ihn. Schnell spannten sie die Pferde vor zwei Wagen und zwei hochrädrige Karren, und dann ritt er mit den anderen weiter.

Noch dreimal unterbrach er ihren Ritt, wenn ihr Kurs sie an Bauernhäusern vorbeiführte. Einmal waren es sogar fünf nahe aneinander gebaute Häuser. Ansonsten war es immer dasselbe. Die Leute protestierten, sie könnten ihre Höfe nicht im Stich lassen, aber jedesmal, wenn sie weiterritten, hinterließen sie ein Durcheinander von packenden und Tiere einfangenden Menschen.

Noch etwas geschah während ihrer Zwischenaufenthalte. Er konnte Wil, seinen Cousins und die Lewins nicht davon abhalten, mit den jungen Männern auf den Bauernhöfen zu sprechen. So wuchs ihre Gruppe um dreizehn an, Torfinns und al'Dais, Ahans und Marwins, mit Bögen bewaffnet und auf allen möglichen Reittieren, Ponies und Ackergäulen, alle darauf erpicht, die Gefangenen aus dem Lager der Weißmäntel zu befreien.

So glatt lief es nun allerdings nicht. Wil und die anderen vom Hof der al'Seens hielten es für ungerecht, daß er die Neuzugänge auf die Aiel vorbereitete und ihnen den Spaß verdarb, ihre Reaktion darauf beobachten zu können. Sie erschraken für Perrins Geschmack noch mehr als genug, und so, wie sie hinterher hinter jeden Busch spähten, jede Baumgruppe mißtrauisch beäugten, war es klar, daß sie glaubten, es seien noch mehr Aiel da, gleich, was er ihnen versichern mochte. Zuerst versuchte Wil, sich bei den Torfinns und den anderen als der große Meister aufzuspielen, weil er sich als erster Perrin angeschlossen hatte —nun ja, als Ban und die Lewins ihn zornig anschauten, gab er zu, nur einer der ersten gewesen zu sein — und die anderen seien eben nur Nachzügler.

Perrin beendete das energisch, indem er sie in zwei etwa gleichstarke Gruppen einteilte und Dannil und Ban jeweils die Führung übergab. Auch daraufhin erhob sich einiges Grollen, jedenfalls zu Beginn. Die al'Dais wollten, daß die Anführer dem Alter entsprechend gewählt würden — Bili al'Dai war nämlich ein Jahr älter als die anderen —, während die anderen Hu Marwin als den besten Spurensucher vorschoben und Jaim Torfinn als den besten Bogenschützen, und dann wiederum war Kenley Ahan schon oft in Wachhügel gewesen, bevor die Weißmäntel kamen, und er kannte sich am besten im Dorf aus. Sie schienen es alle für einen Ausflug zu halten. Tells törichter Spruch über den Widerstand, den sie leisten wollten, wurde mehr als einmal wiederholt.

Schließlich fuhr Perrin sie zornig an und zwang die ganze Gruppe im hohen Gras zwischen zwei Baumgruppen zum Anhalten. »Das ist hier kein Spiel und keine Tanzveranstaltung zum Bel Tine. Entweder macht Ihr, was man Euch sagt, oder Ihr geht wieder nach Hause! Ich weiß sowieso nicht, was Ihr nützen sollt! Ich habe nicht die Absicht, mich umbringen zu lassen, nur weil Ihr glaubt, zu wissen, was Ihr tut! Jetzt reiht Euch gefälligst ein und haltet den Mund! Euer Geschwätz klingt so, als träfe sich die ganze Frauenversammlung in einem Kleiderschrank.« Kleinlaut bildeten sie zwei Reihen hinter Ban und Dannil. Wil und Bili machten finstere Mienen, aber sie hielten sich zurück und sagten lieber nichts. Faile nickte Perrin beifällig zu, und sogar Tomas schloß sich dem an. Verin beobachtete alles mit unbeteiligtem Gesicht. Ohne Zweifel dachte sie sich dabei, sie sehe einen Ta'veren in voller Aktion. Perrin hielt es nicht für notwendig, ihr zu erzählen, daß er sich nur daran zu erinnern versucht hatte, was ein schienarischer Soldat namens Uno, den er kannte, an seiner Stelle gesagt hätte. Allerdings hätte Uno dafür sehr viel härtere Worte gewählt.

Als sie sich Wachhügel näherten, wurden die Bauernhöfe häufiger, standen in Gruppen beieinander und gingen schließlich genau wie in der Nähe von Emondsfeld nahtlos in das Dorf über. Umgeben war es von einem Netz durch Hecken oder Mauern eingezäunter Felder, zwischen denen sich schmale Pfade, Fußwege und breitere Wagenstraßen entlangzogen. Trotz ihrer Unterbrechungen bei den vier Höfen davor war es noch nicht dunkel, die Männer arbeiteten noch auf den Äckern, und die Jungen trieben Schafe und Rinder von den Weiden zur Nacht in die Ställe. Heutzutage ließ keiner die Tiere nachts draußen.

Tam schlug vor, daß Perrin nun damit aufhören solle, die Leute zu warnen, und er stimmte ihm zögernd bei. Von hier aus würden sie alle direkt nach Wachhügel ziehen und damit die Weißmäntel alarmieren. Mehr als zwanzig Menschen, die als Gruppe ritten, zogen schon genügend Blicke auf sich, obwohl die meisten Leute viel zu beschäftigt waren, um ihnen mehr als einen Blick zuzuwerfen. Man mußte sie aber dennoch warnen, je eher, desto besser. Solange sich die Menschen draußen auf dem offenen Land aufhielten und den Schutz der Weißmäntel benötigten, hatten diese eine Machtposition an den Zwei Flüssen, die sie wohl kaum aufgeben wollten.

Perrin hielt konzentriert Ausschau nach einem Anzeichen, daß eine Patrouille der Weißmäntel sich nähere, aber außer einer Staubwolke drüben in der Nähe der Nordstraße, die sich in Richtung Süden bewegte, sah er nichts Auffälliges. Nach einer Weile schlug Tam vor, daß sie absteigen und ihre Pferde führen sollten. Zu Fuß konnte man sie nicht so leicht sehen, denn die Hecken und selbst die niedrigen Steinmauern schützten sie doch ein wenig vor neugierigen Blicken.

Tam und Abell kannten ein Wäldchen, aus dem man einen guten Blick auf das Lager der Weißmäntel hatte. Es war ein verfilztes Durcheinander von Eichen, Ulmen und Lederblattbäumen, das wenig mehr als eine Meile südwestlich von Wachhügel das ansonsten offene, flache Land bedeckte. Sie betraten es so schnell wie möglich vom Süden her. Perrin hoffte, daß niemand sie dabei beobachtet hatte, jedenfalls keiner, der sich vielleicht fragen würde, wieso sie nicht wieder herauskamen, und der darüber reden würde.

»Bleibt hier«, sagte er zu Wil und den andern jungen Männern, als sie ihre Pferde an Zweige banden. »Haltet Eure Bögen bereit und seid auch bereit, wegzulaufen, sobald ihr einen Schrei hört. Aber rührt Euch ja nicht, bevor Ihr mich rufen hört. Und falls jemand Lärm macht, schlage ich ihm persönlich den Schädel ein. Wir sind hier, um die Weißmäntel auszuspähen, und nicht, um sie zu reizen, wie die Stiere über uns hinwegzutrampeln.« Sie befühlten nervös ihre Waffen und nickten. Vielleicht begann es ihnen zu dämmern, worauf sie sich eingelassen hatten. Die Kinder des Lichts würden es möglicherweise nicht als einen Akt der Freundschaft betrachten, wenn ein ganzer Haufen Leute von den Zwei Flüssen sich bewaffnet hier herumtrieb.

»Bist du je Soldat gewesen?« fragte Faile mit leiser Stimme. »Einige von den... Wächtern meines Vaters drücken sich so aus.« »Ich bin Schmied«, lachte Perrin. »Ich habe eben gehört, wie die Soldaten so reden. Es scheint aber zu funktionieren.« Selbst Wil und Bili sahen sich unsicher um und trauten sich kaum, sich zu rühren.

Er und Faile schlichen von Baum zu Baum hinter Tam und Abell her zu dem Fleck, an dem bereits die Aiel nahe dem Nordrand des Wäldchens kauerten. Auch Verin befand sich schon dort und natürlich Tomas. Der dünne Blättervorhang reichte gerade aus, um sie einigermaßen zu verbergen, gestattete ihnen aber trotzdem eine gute Sicht auf das Lager.

Das Lager der Weißmäntel erstreckte sich am Fuß des Wachhügels wie ein eigenes Dorf. Hunderte von Männern, unter ihnen viele Gerüstete, bevölkerten die Wege zwischen den Reihen weißer Zelte und der mit Leinen verbundenen Haltepfosten, an denen die Pferde festgemacht waren, immer fünf zu jedem Zelt. Auf der einen Seite wurden Tiere abgesattelt und gestriegelt, was darauf hindeutete, daß die Patrouillen für heute ihren Dienst beendet hatten. Auf der anderen Seite ritt derweil eine Doppelreihe von Männern in blütenweißen Mänteln mit gleichmäßigen Bewegungen in schneller Gangart in Richtung Wasserwald davon. Die Lanzen hielten sie alle im gleichen Winkel. In Abständen marschierten ebenfalls in weiße Umhänge gehüllte Wachsoldaten auf und ab, die Lanzen wie Speere geschultert. Ihre polierten Helme glänzten im Schein der sinkenden Sonne.

Ein Dröhnen drang an Perrins Ohren. Ein gutes Stück westlich erschienen zwanzig Reiter, die aus der Richtung von Emondsfeld auf das Lager zu galoppierten. Aus der gleichen Richtung, aus der er mit seinen Begleitern gekommen war. Wären sie auch nur ein wenig langsamer geritten, hätte man sie bestimmt gesehen. Ein Horn erklang, und die Männer im Lager gingen zu den Küchenfeuern hinüber.

An der einen Seite lag ein weiteres, viel kleineres Lager mit wild durcheinandergestellten Zelten. Einige davon hingen schief in ihren Halteleinen. Von denen, die sich dort aufhielten, waren die meisten nun schon weg. Nur ein paar Pferde an einem kurzen Halteseil schlugen mit den Schwänzen, um die Fliegen zu verscheuchen und deuteten durch ihre Anwesenheit darauf hin, daß sich hier noch jemand aufhielt. Keine Weißmäntel. Die Kinder des Lichts hielten zuviel von einer geradezu starren Ordnung und Sauberkeit in ihrem Lager.

Zwischen den Wäldchen und den beiden Zeltgruppen befand sich eine weite, mit Gras und Blumen bewachsene Fläche. Wahrscheinlich hatten die Einheimischen das als Weide benutzt. Aber jetzt nicht mehr. Da der Boden ziemlich eben war, konnten die Weißmäntel die Fläche in vollem Galopp wie vorher diese Patrouille in einer Minute überqueren.

Abell lenkte Perrins Aufmerksamkeit auf das große Lager. »Siehst du das Zelt beinahe in der Mitte, wo an jedem Ende ein Mann Wache steht? Kannst du es erkennen?« Perrin nickte. Die niedrig stehende Sonne warf lange, dunkle Schatten nach Osten, aber er konnte recht gut sehen. »Dort sind Natti und die Mädchen. Und die Luhhans. Ich habe sie herauskommen und wieder hineingehen sehen. Immer nur eine, und das unter Bewachung. Selbst in die Latrine dürfen sie nur unter Bewachung gehen.« »Wir haben nachts dreimal versucht, uns dort einzuschleichen«, sagte Tam, »aber sie bewachen gerade den Rand des Lagers ganz genau. Beim letztenmal konnten wir kaum noch entwischen.« Es war, als wolle man seine Hand in einen Ameisenhaufen stecken, ohne daß man etwas abbekam. Perrin setze sich unter einen hohen Lederblattbaum und legte den Bogen auf seine Knie. »Ich will eine Weile über das alles nachdenken. Meister al'Thor, würdet Ihr Wil und diesen Haufen beruhigen? Sorgt dafür, daß sich keiner von denen in den Kopf setzt, nach Hause zu laufen. Es könnte gut sein, daß sie gedankenlos geradewegs zur Nordstraße reiten würden und wir im Nu fünfzig Weißmäntel hier hätten, die nachsehen wollen, was da los ist. Falls einer von ihnen etwas zu essen mitgebracht hat, könntet Ihr dafür sorgen, daß sie alle etwas davon abbekommen. Wenn wir fliehen müssen, verbringen wir möglicherweise die ganze Nacht im Sattel.« Mit einem Schlag wurde ihm klar, daß er Befehle erteilte, aber als er sich zu entschuldigen versuchte, grinste Tam und sagte: »Perrin, du hast hinten bei Jac die Führung übernommen. Es ist nicht das erste Mal, daß ich einem jüngeren Mann folge, der genau weiß, worauf es ankommt.« »Du machst deine Sache gut, Perrin«, bestätigte Abell, bevor die beiden älteren Männer wieder zwischen den Bäumen verschwanden.

Verblüfft kratzte Perrin sich im Bart. Er hatte die Führung übernommen? Wenn er es genauer bedachte, hatten weder Tam noch Abell wirklich eine Entscheidung getroffen, seit sie den Hof der al'Seens verlassen hatten. Sie hatten lediglich Vorschläge gemacht und die Entscheidungen ihm überlassen. Und keiner der beiden hatte seither noch einmal ›Junge‹ zu ihm gesagt.

»Interessant«, sagte Verin. Sie hatte wieder ihr Notizbuch in der Hand. Er hätte nur zu gern eine Gelegenheit gehabt, zu lesen, was sie sich notiert hatte.

»Wollt Ihr mich wieder davor warnen, mich wie ein Idiot zu benehmen?« fragte er.

Statt zu antworten, sagte sie mit nachdenklichgetragener Stimme: »Es wird noch interessanter werden, zu beobachten, was Ihr als nächstes macht. Ich kann nicht behaupten, daß Ihr die Welt aus den Angeln hebt, so wie Rand al'Thor, aber an den Zwei Flüssen bewegt Ihr auf jeden Fall einiges. Ich frage mich, ob Ihr eine Ahnung habt, wohin sich das alles bewegt.« »Ich habe vor, die Luhhans und die Cauthons zu befreien«, sagte er ärgerlich zu ihr. »Das ist alles!« Außer, was die Trollocs betraf. Er ließ seinen Kopf nach hinten an den Stamm des Lederblattbaumes sinken und schloß die Augen. »Ich mache einfach nur, was ich tun muß. Die Zwei Flüsse werden dort bleiben, wo sie immer waren.« »Selbstverständlich«, sagte Verin.

Er hörte, wie sie wegging, sie und Tomas. Halbschuhe wie Stiefel machten kaum ein Geräusch auf dem weichen Boden, der mit den abgestorbenen Blättern vom letzten Herbst bedeckt war. Er öffnete die Augen. Faile sah dem Paar hinterher und schien nicht besonders glücklich.

»Sie läßt dich einfach nicht in Ruhe«, murmelte sie. Der geflochtene Kranz aus Herzrötchen, den er an seinem Sattel gelassen hatte, hing an ihrer Hand.

»Das tun die Aes Sedai nie«, entgegnete er.

Sie wandte sich ihm mit herausforderndem Blick zu. »Ich schätze, du willst versuchen, sie noch heute nacht herauszuholen?« Es mußte jetzt sein. Er hatte überall die Warnung ausgegeben, und die Leute wußten, wer er war. Vielleicht würden die Weißmäntel ihren Gefangenen nichts antun. Vielleicht. Er vertraute genauso auf die Gnade der Weißmäntel wie auf die Intelligenz eines Schafes. Er blickte zu Gaul hinüber, und der nickte.

»Tam al'Thor und Abell Cauthon bewegen sich für Feuchtländer ausgesprochen gut, aber ich glaube, diese Weißmäntel sind zu steif, um irgend etwas wahrzunehmen, das sich im Dunklen bewegt. Ich denke, sie erwarten, daß ihre Feinde in großer Zahl und ganz offen sichtbar kommen.« Chiad blickte mit ihren grauen Augen amüsiert den Aielmann an. »Hast du denn vor, dich wie der Wind zu bewegen, Steinhund? Das wird eine Abwechslung, einmal einen Steinhund zu sehen, der sich leichtfüßig bewegt! Wenn meine Speerschwester und ich die Gefangenen befreit haben, gehen wir vielleicht zurück und holen dich ab, falls du zu alt dafür bist, den Weg zurück zu finden.« Bain berührte sie am Arm, und sie sah überrascht die Frau mit den Flammenhaaren an. Einen Moment später wurde sie trotz ihrer Sonnenbräune rot. Beide Frauen blickten hinüber zu Faile, die immer noch Perrin mit erhobenem Kopf und vor der Brust verschränkten Armen beobachtete.

Er atmete tief durch. Wenn er ihr sagte, er wolle sie nicht dabeihaben, würden auch Bain und Chiad mit Sicherheit hierbleiben. Sie betonten nach wie vor, sie zu begleiten und nicht ihn. Faile bestand wohl auch darauf. Vielleicht schaffte er es auch allein mit Gaul, aber andererseits wußte er nicht, wie er sie dazu bringen könne, hierzubleiben, wenn sie nicht wollte. Da Faile eben Faile war, würde sie vermutlich hinter ihnen herschleichen. »Du bleibst ganz nahe bei mir!« sagte er energisch. »Ich will Gefangene befreien und keine neuen hinterlassen.« Lachend ließ sie sich neben ihm auf den Boden fallen und schmiegte sich an ihn. »Nahe bei dir zu bleiben klingt gut.« Sie warf ihm den Kranz roter Blumen auf den Kopf, und Bain schmunzelte.

Er rollte ergeben mit den Augen. Er konnte gerade noch den Rand des Kranzes auf seiner Stirn erkennen. Wie ein Narr mußte er aussehen. Doch er ließ ihn hängen.

Die Sonne sank so langsam wie eine Glasperle im Honig. Abell brachte ihnen etwas Brot und Käse. Mehr als die Hälfte dieser Möchtegern-Helden hatten nicht einmal daran gedacht, etwas Eßbares mitzunehmen. Dann aßen sie und warteten. Die Nacht brach herein. Der Mond stand bereits hoch am Himmel, wurde aber immer wieder durch vorbeiziehende Wolken verdeckt. Perrin wartete ab. Die Lampen im Lager der Weißmäntel wurden gelöscht. Auch in Wachhügel war es dasselbe; lediglich hier und da drang noch Lichtschein aus einem Fenster. Ansonsten war der ganze Hügel dunkel. Dann holte er sich Tam, Faile und die Aiel heran. Für ihn waren alle Gesichter auch im Dunklen klar erkennbar. Verin stand nahe genug, um zu lauschen. Abell und Tomas hielten sich bei den übrigen ›jungen Helden‹ auf, um sie notfalls zur Ruhe zu bringen.

Es war für ihn schon ein eigenartiges Gefühl, Befehle auszugeben. Also ließ er es bei sehr einfachen Anweisungen bewenden. Tam sollte alle sofort losreiten lassen, sobald Perrin mit den Gefangenen auftauchte. Die Weißmäntel würden sie verfolgen, wenn ihnen klar wurde, was los war, also benötigten sie ein Versteck. Tam kannte eines, ein leerstehendes Bauernhaus am Rand des Westwalds.

»Versucht, niemanden zu töten, wenn Ihr es vermeiden könnt«, warnte Perrin die Aiel. »Die Weißmäntel werden schon wütend genug über die Befreiung ihrer Gefangenen sein. Wenn sie dazu noch Männer verlieren, werden sie die Sonne anzünden.« Gaul und die Töchter des Speers nickten, als freuten sie sich darauf. Seltsames Volk. Sie verschwanden in der Nacht.

»Seid vorsichtig«, warnte ihn Verin leise, als er sich den Bogen über den Rücken hängte. »Ta'veren heißt nicht unsterblich.« »Tomas könnte eine große Hilfe sein, oder?« »Glaubt Ihr, einer mehr spielt eine große Rolle?« fragte sie nachdenklich zurück. »Außerdem brauche ich ihn für etwas anderes.« Er schüttelte den Kopf und marschierte los, aus dem Wäldchen hinaus. Dann kroch er jedoch bald auf Ellbogen und Knien weiter, dicht am Boden, denn nun befand er sich auf der freien Fläche. Faile tat es ihm gleich. Sie hielt sich neben ihm. Gras und Blumen waren hoch genug, um ihnen eine recht gute Deckung zu verschaffen. Er war froh, daß sie sein Gesicht nicht sehen konnte. Er hatte schreckliche Angst. Nicht um sein eigenes Leben, aber wenn ihr etwas zustoßen würde...

Wie zwei weitere vom Mond geworfene Schatten krochen sie über die offene Fläche. Auf Perrins Signal hin blieben sie ungefähr zehn Schritt vor der Linie still liegen, auf der die Wachen mit im Mondschein leuchtenden Mänteln auf und ab marschierten, ein Stückchen vor der ersten Zeltreihe. Zwei Wächter kamen beinahe direkt vor ihnen mit einem kräftigen Aufstampfen zum Stillstand und blickten sich starr an.

»Alles ist ruhig in der Nacht«, verkündete der eine. »Das Licht leuchte uns und behüte uns vor dem Schatten.« »Alles ist ruhig in der Nacht«, antwortete der andere. »Das Licht leuchte uns und behüte uns vor dem Schatten.« Sie drehten sich auf dem Fuße um und marschierten davon. Sie blickten dabei starr geradeaus.

Perrin ließ jeden ein Dutzend Schritte machen, und dann berührte er Failes Schulter. Sie erhoben sich lautlos. Er wagte kaum, zu atmen, und auch von ihr hörte er keinen Atemzug. Fast auf Zehenspitzen eilten sie zwischen die Zelte hinein und gingen sofort wieder auf alle viere. Drinnen schnarchten Männer, und manche murmelten in ihrem Schlaf. Bis auf diese Geräusche war es im Lager still. Das Stampfen der Stiefel der Wächter war deutlich zu hören. In der Luft hing noch der Geruch von den gelöschten Feuern, von Segeltuch, Pferden und Menschen.

Wortlos bedeutete er Faile, hinterherzukommen. Die Halteleinen der Zelte wurden für unvorsichtige Füße in der Dunkelheit zu Fallen. Er konnte sie jedoch mit seinen Augen sehr gut erkennen, und so suchte er den Pfad für sie beide.

Er hatte die Lage des Gefängniszeltes genau im Kopf und hielt vorsichtig darauf zu. In der Nähe des Lagerzentrums. Ein weiter Weg dorthin und ein weiter Weg zurück.

Das Knirschen von Stiefelsohlen und ein gedämpfter Laut von Faile ließen ihn gerade noch rechtzeitig herumwirbeln, um von einer anstürmenden mächtigen Gestalt mit weißem Umhang umgerissen zu werden. Der Mann mußte genauso groß sein wie Meister Luhhan. Eisern zupackende Finger gruben sich in seinen Hals, als sie sich am Boden überschlugen. Perrin packte mit einer Hand das Kinn des Burschen, drückte seinen Kopf nach hinten und versuchte, ihn von sich herunterzuschieben. Mit der anderen Hand riß er an den würgenden Fingern. Dann knallte er dem Mann die Faust in die Rippen, was wohl ein Stöhnen hervorbrachte, sonst aber keine fühlbare Wirkung. Das Blut rauschte in seinen Ohren. Seine Sicht schwand; von beiden Seiten her kroch Schwärze in sein Gesichtsfeld. Er griff nach seiner Axt, doch die Finger waren taub.

Mit einem Mal zuckte der Mann und brach auf ihm zusammen. Perrin schob die schlaffe Gestalt von sich herunter und holte ein paarmal tief Luft. Die kühle Nachtluft erschien ihm süß und erholsam.

Faile warf ein Scheit Feuerholz zur Seite und rieb sich die Schläfe. »Er glaubte, sich über mich weiter keine Gedanken mehr machen zu müssen, nachdem er mich niedergeschlagen hatte«, flüsterte sie.

»Ein Narr«, flüsterte Perrin zurück. »Aber ein kräftiger.« Er würde diese Finger noch tagelang am Hals spüren.

»Geht es dir wieder gut?« »Natürlich. Ich bin doch keine Porzellanpuppe.« Das hatte er auch nicht angenommen.

Er schleifte den bewußtlosen Mann schnell an eine der Zeltwände und hoffte, es werde ihn dort so schnell niemand finden. Er nahm ihm den weißen Umhang ab und band seine Hände und Füße mit Reserve-Bogensehnen zusammen. Als Knebel diente ein Taschentuch, das er in einer der Taschen des Mannes gefunden hatte. Nicht gerade sauber, aber das war seine eigene Schuld. Er zog sich den Bogen über den Kopf und hängte sich den Umhang um. Wenn sie jemand sah, würden sie ihn vielleicht für einen der ihren halten. Auf dem Umhang befand sich ein goldener Rangknoten unter den Strahlen des Sonnenaufgangs. Ein Offizier. Um so besser.

Er ging jetzt ganz offen zwischen den Zelten hindurch und natürlich mit schnellen Schritten. Versteckt oder nicht, man konnte eben doch jeden Moment den Niedergeschlagenen entdecken und Alarm geben. Faile eilte wie ein Schatten neben ihm her und suchte genauso aufmerksam wie er das Lager nach Anzeichen für Unruhe ab. Die ständig wechselnden Schatten machten es sogar für Perrins Augen schwer, zwischen den Zelten noch etwas zu erkennen.

Als sie sich dem Gefängniszelt näherten, verlangsamte er seinen Schritt, um die Wachen nicht nervös zu machen. An diesem Ende stand ein Mann mit weißem Umhang, und am anderen Ende erhob sich auch die glänzende Spitze einer Lanze über das Zeltdach hinaus.

Mit einem Mal verschwand diese Lanzenspitze. Es gab keinen Laut. Sie fiel einfach herab.

Einen Herzschlag später, und aus zwei dunklen Umrissen wurden verschleierte Aiel, keiner von beiden allerdings groß genug für Gaul. Bevor der Wächter sich rühren konnte, sprang eine der beiden in die Luft und trat ihn ins Gesicht. Er taumelte und sank auf die Knie. Die andere Tochter des Speers wirbelte herum, und auch ihr Fuß traf seinen Kopf. Der Wächter sackte wie ein leerer Sack zusammen. Geduckt und mit bereitgehaltenen Speeren blickten sich die Aielfrauen um, ob sie jemanden aufmerksam gemacht hatten.

Beim Anblick Perrins mit weißem Umhang wären sie beinahe auf ihn losgegangen, doch gerade noch rechtzeitig sahen sie Faile. Eine schüttelte den Kopf und flüsterte der anderen etwas zu, worauf die lautlos zu lachen schien.

Perrin sagte sich, daß er sich eigentlich nicht so knurrig fühlen müsse, aber zuerst hatte ihn Faile davor bewahrt, erwürgt zu werden, und nun ersparte sie ihm einen Speer zwischen die Rippen. Für jemanden, der eine Rettungsaktion anführte, hatte er bisher nicht gerade viel gezeigt.

Er schob die Zeltklappe beiseite und steckte den Kopf hinein. Drinnen war es noch dunkler als draußen. Meister Luhhan lag schlafend im Zelteingang. Die Frauen hatten sich weiter hinten aneinandergeschmiegt. Perrin legte seine Hand auf Haral Luhhans Mund und, als der die Augen aufschlug, einen Finger über seine Lippen. »Weckt die anderen auf«, sagte Perrin ganz leise. »Ruhig. Wir holen Euch hier raus.« In Meister Luhhans Augen dämmerte Verstehen auf, und er nickte.

Perrin schob sich rückwärts aus dem Zelt und nahm dem bewußtlosen Wächter den Umhang ab. Der Mann atmete noch, wenn auch schwerfällig, röchelnd und blubbernd, da seine Nase gründlich gebrochen war. Er wachte durch Perrins Bewegungen nicht auf. Sie mußten sich jetzt beeilen. Gaul war ebenfalls da mit dem Umhang des anderen Wächters. Die drei Aiel beobachteten mißtrauisch die anderen Zelte. Faile tanzte beinahe herum, so ungeduldig war sie. Als Meister Luhhan seine Frau und die anderen herausbrachte und alle sich nervös im Mondschein umsahen, legte Perrin dem Schmied schnell einen der Umhänge um die Schultern. Er paßte nicht recht, denn Haral Luhhan schien aus Baumstämmen zusammengesetzt, aber es mußte reichen. Den anderen Umhang bekam Alsbet Luhhan. Sie war wohl nicht so groß wie ihr Mann, entsprach aber immer noch dem Durchschnitt der Männer. Ihr rundes Gesicht wirkte erst überrascht, doch dann nickte sie. Sie zog sogar dem betäubten Wächter den kegelförmig zulaufenden Helm vom Kopf und setzte ihn sich auf. Sie mußte allerdings ihren dicken Zopf darunterquetschen. Sie fesselten die beiden Wächter mit von Decken abgerissenen Streifen und legten sie ins Zelt.

Es war unmöglich, sich auf dem gleichen Weg wieder hinauszuschleichen, den sie gekommen waren; das hatte Perrin von Anfang an gewußt. Selbst, wenn sich Meister Luhhan und seine Frau leise genug bewegten, woran er zweifelte, hielten sich Bode und Eldrin gegenseitig umschlungen. Sie waren so verängstigt, daß sie kaum glauben konnten, gerettet zu werden. Nur die sanfte Stimme ihrer Mutter hielt sie davon ab, in Tränen auszubrechen. Das hatte er aber eingeplant. Sie brauchten Pferde, sowohl, um schnell vom Lager wegzukommen, wie auch, um jeden mitnehmen zu können. An den Halteleinen hingen genug Pferde.

Die Aiel bewegten sich wie Geister allen voran, und dahinter folgte er mit Faile. Hinter ihnen kamen die Cauthons, während Haral und Alsbet den Schluß machten. Auf einen flüchtigen Blick wirkten sie wie drei Weißmäntel, die vier Frauen begleiteten.

Die angebundenen Pferde wurden zwar bewacht, aber nur auf der den Zelten abgewandten Seite. Warum sollte man sie auch vor den Männern schützen, die sie täglich ritten? Das machte Perrins Aufgabe auf jeden Fall leichter. Sie gingen einfach hinüber zu der den Zelten am nächsten befindlichen Reihe von Pferden. Jedes war nur mit einer Leine am Nasenriemen befestigt. Sie banden für jeden außer den Aiel eines los. Am schwersten war es, Frau Luhhan ohne Sattel und Steigbügel auf das Pferd zu bekommen. Perrin und Meister Luhhan mußten sich gewaltig anstrengen, und sie versuchte dabei immer, ihren Rock hinunterzuschieben, damit ihre Knie bedeckt waren. Natti und die Mädchen kletterten behende auf ihre Pferde. Faile natürlich auch. Die Wächter, die auf der anderen Seite die Pferde zu bewachen hatten, drehten weiter ihre genau bemessenen Runden und erzählten sich rituell, daß alles ruhig sei in der Nacht.

»Wenn ich Euch das Zeichen gebe«, begann Perrin, aber dann schrie irgendwo im Lager jemand laut und dann noch mal und noch lauter. Ein Horn ertönte, und durcheinanderschreiende Männer stürmten aus den Zelten. Ob sie nun herausgefunden hatten, daß die Gefangenen fehlten, oder ob jemand den bewußtlosen Mann gefunden hatte, spielte keine Rolle. »Folgt mir!« rief Perrin, und er grub die Fersen in die Flanken des dunklen Wallachs, den er für sich ausgewählt hatte. »Reitet los!« Es war ein verrückter Ritt, aber er bemühte sich trotzdem, alle im Auge zu behalten. Meister Luhhan war ein beinahe genauso schlechter Reiter wie seine Frau. Sie fielen fast von ihren Pferden, so wurden sie im Galopp herumgebeutelt. Entweder Bode oder Eldrin schrie aus vollem Hals, vor Aufregung oder vor Angst. Glücklicherweise erwarteten die Wachen keine Schwierigkeiten von innerhalb des eigenen Lagers. Ein Mann im weißen Umhang, der gerade hinaus in die Dunkelheit spähte, drehte sich rechtzeitig um und konnte sich mit einem gewaltigen Satz vor den wirbelnden Pferdehufen in Sicherheit bringen. Dabei schrie er beinahe genauso schrill auf wie das Cauthon-Mädchen. Weitere Hörner erklangen hinter ihnen, und laute Rufe, die eindeutig nach Befehlen klangen, peitschten durch die Nacht, lange, bevor sie das Wäldchen erreichten. Jetzt war das als Deckung allerdings auch nicht mehr viel wert.

Tam hatte alle aufsitzen lassen, wie Perrin es gewünscht hatte. Oder angeordnet. Er schwang sich mit einer flüssigen Bewegung von dem Wallach hinüber auf Traber. Verin und Tomas waren die einzigen, die nicht aufgeregt im Sattel auf- und abhüpften, und dementsprechend waren ihre Pferde auch die einzigen, die nicht der Aufregung des Reiters wegen nervös umhertänzelten. Abell versuchte, seine Frau und die beiden Töchter alle auf einmal zu umarmen, und sie alle lachten und weinten in einem. Meister Luhhan wollte jede Hand in seiner Reichweite schütteln. Alle außer den Aiel, Verin und ihrem Behüter schienen allen anderen gratulieren zu wollen, als sei schon alles getan.

»Ja, Perrin, das bist ja du!« rief Frau Luhhan. Ihr rundes Gesicht wirkte ganz eigenartig unter dem Helm, der ihres Zopfes wegen auch noch schief saß. »Was ist denn das auf deinem Gesicht, junger Mann? Ich bin dir mehr als dankbar, aber du wirst nicht an meinem Tisch sitzen, solange du aussiehst wie ein... « »Keine Zeit für so was«, unterbrach er sie und beachtete den ungläubigen Schock auf ihrem Gesicht gar nicht. Sie war keine Frau, die man einfach unterbrach, doch mittlerweile klangen die Hörner der Weißmäntel etwas anders, trugen ein Signal, kurze, scharfe, ständig wiederholte Töne, in die Nacht hinaus. Es mußte ein Befehl sein. »Tam, Abell, bringt Meister Luhhan und die Frauen in das Versteck, das Ihr ausfindig gemacht habt. Gaul, du gehst mit. Faile auch.« Damit hätten sie auch Bain und Chiad dabei. »Und Hu und Haim.« Das sollte reichen, um sicher zu sein. »Bewegt Euch leise. Ruhe ist im Moment jedenfalls noch wichtiger als Tempo. Jetzt geht.« Diejenigen, die er fortgeschickt hatte, ritten ohne Widerspruch nach Westen los. Nur Frau Luhhan, die sich mit beiden Händen an der Mähne ihres Pferdes festhielt, warf ihm einen strengen Blick zu. Was ihn verblüffte, war der Mangel an Widerspruch von Faile. So wurde ihm erst etwas später bewußt, daß er Meister al'Thor und Meister Cauthon mit ihren Vornamen angesprochen hatte.

Verin und Tomas waren zurückgeblieben, und er blickte sie nun scharf an. »Irgendeine Möglichkeit, daß Ihr uns ein wenig behilflich seid?« »Vielleicht nicht auf die Weise, wie Ihr jetzt meint«, erwiderte sie gelassen, als läge kein im Aufruhr befindliches Lager der Weißmäntel knapp eine Meile entfernt von ihnen. »Meine Gründe sind immer noch die gleichen wie gestern. Aber ich glaube, es könnte in... oh... etwa einer halben Stunde regnen. Vielleicht auch früher. Das wird ein ziemlich heftiger Guß, schätze ich.« Eine halbe Stunde. Perrin knurrte und wandte sich den übriggeblieben Jungen von den Zwei Flüssen zu. Sie zitterten fast vor Angst und wären am liebsten weggerannt, so schnell sie konnten. Ihre Knöchel waren weiß vor Anstrengung, so fest hielten sie die Bögen in ihren Händen. Er hoffte, sie hatten alle daran gedacht, ReserveBogensehnen mitzubringen, für den Fall, daß es regnete. »Wir«, so erklärte er ihnen, »werden die Weißmäntel ablenken, damit Frau Cauthon und Frau Luhhan und die anderen in Sicherheit entkommen können. Wir ziehen sie mit bis an die Nordstraße, und dann hängen wir sie im Regen ab. Wenn jemand wegwill, sollte er jetzt losreiten.« Einige Händen wechselten unruhig den Griff an den Zügeln, doch alle blieben im Sattel sitzen und sahen ihn an. »Also, in Ordnung. Schreit, als wärt Ihr alle verrückt geworden, damit sie uns auch hören. Schreit, bis wir die Straße erreichen.« Aufbrüllend riß er Traber herum und galoppierte in Richtung der Straße. Anfangs war er sich nicht ganz sicher, ob sie ihm wirklich folgen würden, aber ihr wildes Heulen übertönte bald seine eigenen Schreie und das Donnern der Hufe. Wenn die Weißmäntel das nicht hörten, dann waren sie taub.

Nicht alle hörten mit Schreien auf, als sie die ausgefahrene Spur der Nordstraße erreichten und in vollem Galopp durch die Nacht nach Süden ritten. Einige lachten und johlten. Perrin schüttelte den weißen Umhang ab und ließ ihn fallen. Die Hörner erklangen wieder, diesmal aber ein wenig schwächer.

»Perrin«, rief Wil, der sich auf seinem Pferd vorbeugte, »was machen wir jetzt? Was kommt als nächstes?« »Wir jagen Trollocs!« rief Perrin zurück. Als sich das Lachen verstärkte, war ihm klar, daß sie ihm kein Wort glaubten. Aber Verins Blick schien sich in seinen Rücken zu bohren. Sie wußte, daß es ernst gemeint war. Der Donner des nächtlichen Gewitters schien dem der Pferdehufe nachzueifern.

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