23 Jenseits des Steins

Egwene stolperte und warf die Arme um den Hals ihres Pferdes, als sich der Boden unter ihren Füßen aufbäumte. Überall um sie herum bemühten sich die Aiel um die schreienden, sich aufbäumenden Maulesel, die auf dem felsigen, unbewachsenen Abhang ins Rutschen kamen. Hitze, die sie an Tel'aran'rhiod erinnerte, hämmerte auf sie ein, die Luft flimmerte vor ihren Augen. Der Boden brannte durch die Sohlen ihrer Schuhe hindurch. Ihre Haut prickelte schmerzhaft, wenn auch nur einen Augenblick lang, und dann rann ihr Schweiß aus allen Poren. Ihr Kleid wurde feucht, doch es war so heiß, daß selbst der Schweiß sofort verdunstete.

Die wildgewordenen Maulesel und die hochgewachsenen Aiel verdeckten ihr fast ganz die Sicht auf ihre Umgebung, doch hin und wieder konnte sie ein paar Ausblicke erhaschen. Eine dicke, graue Steinsäule ragte keine drei Schritte von ihr entfernt schief aus dem Boden. Sie war vom verwehten Sand so kahlgeschliffen worden, daß man kaum noch feststellen konnte, ob es sich wirklich um das Gegenstück zu dem Portalstein in Tear handelte. Zerklüftete und zu Felsplatten zersprungene Berge, die aussahen, als habe die Axt eines Riesen sie aus dem Land gehauen, lagen unter einer aus dem wolkenlosen Himmel unbarmherzig herniederbrennenden Sonne. Und doch hing mitten über dem langgezogenen, unbewachsenen Tal weit drunten eine dichte Nebelbank. Der Nebel quoll auf wie Wolken; eigentlich hätte die sengende Sonne ihn innerhalb von wenigen Augenblicken aufgelöst haben sollen, doch die Schwaden blieben davon unberührt. Und aus diesem kochenden Grau ragten Türme auf, manche mit spitzen Hauben und andere wieder, die abrupt endeten, als arbeiteten die Steinmetzen noch daran.

»Er hatte recht«, murmelte sie leise. »Eine Stadt in Wolken.« Mat umklammerte seine Zügel und sah sich mit großen Augen um. »Wir haben es geschafft!« Er lachte sie an. »Egwene, wir haben es geschafft! Und das ohne... Seng mich, wir sind wirklich da!« Er zog sich die Schnüre am Hemdkragen auf. »Licht, ist das heiß. Seng mich, wenn's nicht stimmt!« Mit einemmal wurde ihr bewußt, daß Rand auf Knien lag und sich mit einer Hand am Boden aufstützte. Sie zog ihre Stute hinter sich her und schob sich durch die Menge der Aiel. Im gleichen Moment war auch Lan bei ihm und half ihm auf die Beine. Auch Moiraine war da und musterte ihn offensichtlich ganz gelassen. Nur die leicht zusammengekniffenen Lippen deuteten ihre innere Anspannung an.

»Ich hab's tatsächlich geschafft!« schnaufte Rand und blickte sich um. Nur der Behüter hielt ihn noch auf den Beinen. Sein Gesicht wirkte erschöpft und ausgezehrt, wie das eines Mannes auf dem Totenbett.

»Es hat Euch viel Kraft gekostet«, sagte Moiraine kühl. Sehr kühl. »Der Angreal war nicht stark genug für diese Aufgabe. So etwas dürft Ihr nicht wieder unternehmen. Wenn Ihr ein Risiko eingeht, muß das genau durchdacht sein und einem wirklich herausragenden Zweck dienen. Anders geht es nicht.« »Ich gehe kein Risiko ein, Moiraine. Mat ist derjenige, der das tut.« Rand zwang sich dazu, die rechte Hand zu öffnen. Der Angreal, der fette, kleine Mann, hatte die Spitze seines Schwerts in seine Handfläche getrieben, gleich neben den eingebrannten Reiher. »Vielleicht habt Ihr recht. Vielleicht hätte ich einen etwas stärkeren gebraucht. Ein klein wenig...« Er lachte gequält. »Es hat aber funktioniert, Moiraine. Das ist das Wichtigste. Ich habe einen Vorsprung vor allen anderen gewonnen. Es ist gelungen.« »Nur das spielt eine Rolle«, sagte Lan mit einem Kopfnicken.

Egwene gab einen empörten Laut von sich. Männer. Der eine brachte sich beinahe um und versuchte hinterher, das Ganze ins Lächerliche zu ziehen, und ein anderer bestätigte ihm, er habe das Richtige getan. Wurden sie denn niemals erwachsen?

»Die Erschöpfung nach dem Gebrauch der Macht unterscheidet sich von anderen Erschöpfungszuständen«, sagte Moiraine. »Ich kann Euch nicht ganz davon befreien, nicht nach einer solchen Anstrengung, aber ich werde mein Bestes tun. Vielleicht wird Euch das, was übrigbleibt, daran erinnern, daß Ihr beim nächstenmal etwas vorsichtiger sein müßt!« Sie war wirklich zornig. Und doch war ihre Befriedigung nicht zu überhören.

Das Glühen Saidars umgab die Aes Sedai, als sie die Hände hob und Rands Kopf umfaßte. Er schauderte und keuchte auf. Dann zitterte er unkontrolliert, riß sich aus ihren Händen los und befreite sich auch aus Lans Griff.

»Fragt mich zuerst, Moiraine«, sagte Rand kalt. Er steckte den Angreal zurück in seine Gürteltasche. »Fragt mich nächstens bitte erst! Ich bin nicht Euer Schoßhündchen, mit dem Ihr machen könnt, was und wann Ihr wollt.« Er rieb seine Hände aneinander, um ein wenig Blut davon zu entfernen.

Egwene gab noch einmal dieses Zischen von sich. Kindisch und in höchstem Maße undankbar fand sie Rands Reaktion. Mittlerweile konnte er sich allein auf den Beinen halten, aber seine Augen wirkten noch immer müde. Sie mußte seine Handfläche nicht erst ansehen, um zu wissen, daß der kleine Stich verschwunden war, als habe es ihn nie gegeben. Absolut undankbar. Überraschenderweise schalt ihn Lan gar nicht, weil er so zu Moiraine gesprochen hatte.

Nun wurde ihr bewußt, daß die Aiel sich ganz leise verhielten, seit sie die Maulesel unter Kontrolle gebracht hatten. Sie blickten mißtrauisch nach draußen, nicht hinunter ins Tal oder zu der in Nebel gehüllten Stadt, die wohl Rhuidean sein mußte, sondern zu den zwei Lagern, die sich zu beiden Seiten, jeweils vielleicht eine halbe Meile entfernt, befanden. Die beiden Gruppen von niedrigen, an der Seite offenen Zelten, von denen die eine etwa doppelt so groß war wie die andere, klebten förmlich am Berghang und waren nur schwer auszumachen, doch die graubraun gekleideten Aiel darin mit ihren Kurzspeeren und bespannten, schußbereiten Hornbögen konnte man gut sehen. Sie verschleierten sich gerade, soweit sie es nicht schon waren. Angriffsbereit standen sie trotzdem locker und entspannt da.

»Der Friede Rhuideans!« rief eine Frauenstimme von weiter oben her, und Egwene spürte, wie die Anspannung der Aiel in ihrer Umgebung sich löste. Die zwischen den Zelten lösten ihre Schleier wieder, obwohl sie noch immer mißtrauisch herüberspähten.

Jetzt wurde sie auch eines weiteren, wenn auch viel kleineren Lagers hoch droben am Hang gewahr. Dort standen ein paar der niedrigen Zelte auf einem winzigen, ebenen Vorsprung. Vier Frauen schritten von diesem Lager aus den Hang herab, ernst und würdevoll in der Bewegung und angetan mit dunklen, weiten Röcken und lose hängenden weißen Blusen. Um die Schultern trugen sie trotz der Hitze jeweils eine braune oder graue Stola und Halsketten sowie Armreife aus Gold und Elfenbein. Zwei der Frauen hatten weißes Haar, während das einer weiteren golden wie die Sonne war. Sie alle trugen es lang, bis zur Hüfte hinunterfließend und nur von um die Stirn geschlungenen, gefalteten Tüchern zurückgehalten.

Egwene erkannte die eine der beiden weißhaarigen Frauen: Amys, die Weise Frau, die sie in Tel'aran'rhiod kennengelernt hatte. Wieder wurde ihr der Kontrast zwischen dem sonnengebräunten Gesicht und dem schneeweißen Haar bei Amys deutlich bewußt; die Weise Frau wirkte einfach nicht alt genug. Die zweite Weißhaarige hatte ein faltiges, großmütterliches Gesicht, und eine weitere, ihr Haar war dunkel und mit Grau durchsetzt, schien etwa gleich alt. Sie war sich sicher, daß alle vier Weise Frauen waren, wahrscheinlich dieselben, die den Brief an Moiraine unterzeichnet hatten.

Die Aielfrauen blieben zehn Schritt oberhalb der Versammlung um den Portalstein stehen, und die großmütterliche Frau breitete die Arme aus. Sie sprach mit alter, doch immer noch kräftiger Stimme: »Der Friede von Rhuidean sei mit Euch. Wer zum Chaendaer kommt, soll in Frieden in seine Festung zurückkehren. Es wird kein Blut vergossen werden.« Damit begannen die Aiel aus Tear, sich voneinander zu lösen und schnell die Packtiere und den Inhalt ihrer Tragekörbe untereinander aufzuteilen. Diesmal ging es nicht mehr nach Kriegergemeinschaften. Egwene sah bei mehreren Gruppen Töchter des Speers. Ein paar dieser Gruppen gingen sofort los und mieden dabei sowohl die anderen wie auch die Lager, Friede von Rhuidean oder nicht. Andere gingen auf das eine oder das andere der beiden großen Lager zu, wo man nun endlich auch die Waffen ablegte.

Nicht jeder war sich des Friedens von Rhuidean so sicher gewesen. Lan ließ nun den Griff seines Schwerts los, das aber immer noch in der Scheide steckte. Egwene hatte gar nicht bemerkt, wie er es gepackt hatte. Mat steckte schnell ein paar Messer in seine Ärmel zurück. Rand stand da und hatte die Daumen in den Gürtel eingehakt, doch in seinen Augen stand deutlich die Erleichterung.

Egwene sah sich nach Aviendha um, damit sie ihr ein paar Fragen stellen konnte, bevor sie mit Amys sprach. Hier, in ihrem eigenen Land, würde die Aielfrau wohl ein wenig offener von den Weisen Frauen erzählen. Sie entdeckte die Tochter des Speers, die einen großen Jutesack trug, in dem es hörbar klapperte. Über die Schulter hatte sie sich zwei eingerollte Wandbehänge gelegt, und sie ging mit schnellen Schritten auf eines der großen Lager zu.

»Du bleibst hier, Aviendha«, sagte die Weise Frau mit den grauen Strähnen im dunklen Haar laut und deutlich.

Aviendha blieb wie angewurzelt stehen und blickte zu Boden.

Egwene wollte zu ihr hinübergehen, aber Moiraine sagte leise: »Mischt Euch am besten nicht ein. Ich bezweifle auch, daß sie Sympathie braucht oder sonst etwas, was Ihr ihr bieten könntet.« Egwene nickte unwillkürlich. Aviendha sah aus, als wolle sie ihre Ruhe haben. Was wollten die Weisen Frauen von ihr? Hatte sie irgendeine Vorschrift übertreten oder ein Gesetz gebrochen?

Sie dagegen hätte gern ein wenig andere Gesellschaft gehabt. Sie fühlte sich allen Blicken ausgesetzt, nun, da sie nicht mehr von Aiel umgeben war, und von sämtlichen Zelten her blickten alle zu ihnen herüber. Die Aiel, die mit ihr im Stein von Tear gewesen waren, hatten sich zumindest höflich verhalten, wenn auch nicht unbedingt freundlich. Doch diese Zuschauer wirkten weder freundlich noch höflich. Die Versuchung lag nahe, nach Saidar zu greifen. Nur Moiraine, ernst und kühl wie immer trotz des Schweißes auf ihrer Stirn, und Lan, der so unbeeindruckt schien wie die Steine ihrer Umgebung, hielten sie davon ab. Sie wußten es bestimmt, falls ihnen irgendeine Gefahr drohte. Solange sie die Situation ertrugen, würde sie das auch. Doch sie wünschte, die Aiel würden aufhören, sie anzustarren.

Rhuarc kletterte lächelnd den Hang empor. »Ich bin zurück, Amys, wenn auch nicht auf dem Weg, den wir erwartet hatten, wette ich.« »Ich wußte, daß du heute hiersein würdest, Schatten meines Herzens.« Sie faßte hoch, um seine Wange zu berühren. Ihre braune Stola rutschte auf ihre Unterarme hinunter. »Meine Schwesterfrau schickt dir ihr Herz.« »Das habt Ihr also gemeint, als Ihr vom Träumen spracht«, sagte Egwene leise zu Moiraine. Nur Lan befand sich noch nahe genug, um zu hören, was sie sagte. »Deshalb wart Ihr gewillt, Rand versuchen zu lassen, uns mit Hilfe des Portalsteins hierherzubringen. Sie wußten davon und haben in ihrem Brief davon geschrieben. Nein, das ergibt auch keinen Sinn. Falls sie einen Portalstein erwähnt hätten, hättet Ihr nicht versucht, Rand das Ganze auszureden. Aber sie wußten, daß wir heute ankommen würden.« Moiraine nickte, ohne den Blick von den Weisen Frauen zu wenden. »Sie schrieben, daß sie uns heute hier am Chaendaer treffen würden. Ich glaubte, das sei... unwahrscheinlich, bis Rand die Steine erwähnte. Als er sicher war, daß hier einer stand, und sich von mir auch nicht mehr abbringen ließ... Sagen wir einmal, da erschien es mir auch höchst wahrscheinlich, daß wir heute den Chaendaer erreichen würden.« Egwene atmete die heiße Luft tief ein. Also gehörte dies wohl zu den Fähigkeiten eines Träumers. Sie konnte es nicht erwarten, mehr darüber zu lernen. Sie wollte hinter Rhuarc herlaufen und sich von ihm Amys vorstellen lassen, erneut vorstellen lassen, doch Rhuarc und Amys blickten sich versunken in die Augen. Da waren Eindringlinge nicht erwünscht.

Von jedem der Lager war ein Mann herangekommen. Der eine war groß, breitschultrig, hatte Haar von der Farbe der Flammen und war noch nicht ganz von mittleren Jahren, der andere älter und dunkelhäutiger, nicht weniger groß, dafür aber schlanker. Sie blieben ein paar Schritt entfernt von Rhuarc und den Weisen Frauen zu beiden Seiten stehen. Der ältere Mann mit dem ledernen Gesicht trug keine sichtbare Waffe, bis auf ein Messer mit breiter Klinge an seinem Gürtel, doch der andere trug sowohl Speere wie auch einen Lederschild, und er hatte den Kopf stolz erhoben. Er sah Rhuarc wild und finster an.

Rhuarc ignorierte ihn und wandte sich dem älteren Mann zu. »Ich sehe Euch, Heirn. Hat einer der Septimenführer angenommen, ich sei bereits tot? Wer will meinen Platz einnehmen?« »Ich sehe Euch, Rhuarc. Keiner der Taardad hat Rhuidean betreten oder beabsichtigt das. Amys sagte, sie würde herkommen und Euch heute hier treffen, und diese anderen Weisen Frauen kamen mit ihr. Ich nahm diese Männer aus der Jindo-Septime mit, um sie sicher herzubegleiten.« Rhuarc nickte ernst. Egwene hatte das Gefühl, irgend etwas Wichtiges sei gerade ausgesprochen oder angedeutet worden. Die Weisen Frauen sahen den Mann mit dem Flammenhaar nicht an, genausowenig wie Rhuarc und Heirn, doch dessen Gesicht lief so rot an, als blickten sie ihm direkt in die Augen. Sie sah hilfesuchend zu Moiraine hinüber und erhielt nur ein kaum sichtbares Kopfschütteln zur Antwort. Die Aes Sedai verstand es auch nicht.

Lan beugte sich zwischen ihnen herab und erklärte leise: »Eine Weise Frau kann in Sicherheit überall hingehen, in jede Festung, gleich, welchem Clan sie gehört. Ich glaube, nicht einmal eine Blutfehde kann daran etwas ändern. Dieser Heirn kam her, um Rhuarc vor denen zu schützen, die sich im anderen Lager befinden, aber es würde die Ehre verletzen, so etwas auszusprechen.« Moiraine hob eine Augenbraue ein wenig, und er fügte hinzu: »Ich weiß nicht viel von ihnen, aber ich habe oft gegen sie gekämpft, bevor ich Euch kennenlernte. Ihr habt mich nie danach gefragt.« »Das wird sich ändern«, sagte die Aes Sedai trocken.

Als sie sich wieder den Weisen Frauen und den drei Männern zuwandte, wurde Egwene schwindlig. Lan drückte ihr einen bereits geöffneten ledernen Wasserbeutel in die Hände, und sie legte den Kopf in den Nacken und trank dankbar. Das Wasser war zwar lauwarm und schmeckte nach Leder, aber bei dieser Hitze schmeckte es, als käme es frisch aus einer Quelle. Sie bot den halbleeren Beutel Moiraine an, die jedoch nur wenig daraus trank und ihn dann Egwene zurückreichte. Die kippte den Rest schnell hinunter und schloß glückselig die Augen. Schnell öffnete sie sie wieder, als sich Wasser über ihren Kopf ergoß. Lan hatte einen weiteren Wasserbeutel über ihr entleert; auch Moiraines Haar war tropfnaß.

»Diese Hitze kann Euch umbringen, wenn Ihr nicht daran gewöhnt seid«, erklärte der Behüter, als er zwei einfache, weiße Leinenhalstücher befeuchtete, die er aus seinem Mantel gezogen hatte. Auf seine Anweisung hin banden sich beide Frauen die nassen Tücher um die Stirn. Rand und Mat taten es ihnen gleich. Lan tat nichts, um seinen Kopf vor der Sonne zu schützen. Den Mann konnte offensichtlich nichts beeindrucken.

Noch immer herrschte Schweigen zwischen Rhuarc und den beiden anderen Aielmännern, doch endlich wandte sich der Clanhäuptling dem Mann mit den Flammenhaaren zu. »Brauchen denn die Shaido einen neuen Clanhäuptling, Couladin?« »Suladric ist tot«, antwortete der Mann. »Muradin hat Rhuidean betreten. Sollte er versagen, werde ich ihm nachfolgen.« »Ihr habt uns nicht um Erlaubnis gebeten, Couladin«, sagte die großmütterlich wirkende Weise Frau mit dieser brüchigen und doch kräftigen Stimme. »Sollte Muradin versagen, müßt Ihr uns erst fragen. Wir sind zu viert, genug also, um die Entscheidung zu treffen.« »Es ist mein Recht, Bair«, sagte Couladin hitzig. Er wirkte wie ein Mann, der es nicht gewohnt war, daß man ihm widersprach.

»Es ist Euer Recht, uns darum zu bitten«, entgegnete die Frau mit der dünnen Stimme. »Und es ist unser Recht, darauf zu antworten. Ich glaube nicht, daß Ihr die Erlaubnis erhalten werdet, Rhuidean zu betreten, gleich, was mit Muradin geschieht. Ihr seid dem innerlich nicht gewachsen, Couladin.« Sie nestelte an ihrer grauen Stola herum und verschob sie auf eine Weise, die andeutete, sie habe bereits mehr gesagt, als sie für notwendig befand.

Das Gesicht des flammenhaarigen Mannes lief wieder rot an. »Mein Erstbruder wird als Clanhäuptling zurückkehren und wir werden die Shaido zu großem Ruhm führen! Wir werden...!« Er schloß schnell den Mund. Dabei bebte er sichtlich.

Egwene beschloß, ihn aufmerksam zu beobachten, solange er sich in ihrer Nähe befand. Er erinnerte sie an die Congars und Coplins zu Hause — immer voll von Angebereien und ewig stänkernd. Sie hatte bisher noch keinen Aiel kennengelernt, der soviel Gefühlsaufwallungen zeigte.

Amys beschäftigte sich bereits mit einem anderen Thema. »Es ist jemand mit dir gekommen, Rhuarc«, begann sie. Egwene erwartete, daß die Frau mit ihr sprechen wolle, doch Amys blickte Rand an. Moiraine war offensichtlich davon keineswegs überrascht. Egwene fragte sich, was noch alles in dem Brief der vier Weisen Frauen an Moiraine gestanden hatte, worüber die Aes Sedai ihnen nicht berichtet hatte.

Rand wirkte einen Augenblick lang wie betäubt, zögerte, aber dann schritt er den Hang hinauf und stellte sich neben Rhuarc, genau auf Augenhöhe der Frauen. Der Schweiß ließ sein weißes Hemd am Körper festkleben, und auch an seinen Hosen waren dunkle Schweißflecken zu sehen. Mit dem zusammengedrehten weißen Schal um den Kopf wirkte er keineswegs so beeindruckend wie damals im Herzen des Steins. Er verbeugte sich ein wenig eigenartig, den linken Fuß nach vorn gesetzt und die linke Hand auf dem Knie, während die Rechte mit der Handfläche nach oben ausgestreckt war. »Mit dem Recht des Blutes«, sagte er, »bitte ich um Erlaubnis, Rhuidean betreten zu dürfen, zur Ehre unserer Vorfahren und in Erinnerung an das, was einmal war.« Amys zwinkerte vor Überraschung, und Bair murmelte: »Eine uralte Art, um Erlaubnis zu bitten, doch die Frage wurde gestellt. Meine Antwort lautet: ja.« »Ich stimme ebenfalls mit ja, Bair«, sagte Amys. »Seana?« »Dieser Mann ist kein Aiel«, warf Couladin zornig ein. Egwene hatte den Verdacht, daß er sich ständig über irgend etwas aufrege. »Es bedeutet den Tod für ihn, sich überhaupt hier aufzuhalten! Warum hat ihn Rhuarc mitgebracht? Warum...?« »Möchtest du eine Weise Frau werden, Couladin?« fragte Bair, auf deren Stirn sich strenge Falten zeigten. »Zieh ein Kleid an und komm mit, dann werde ich feststellen, ob man dich dazu ausbilden kann. Bis dahin allerdings schweig still, wenn eine Weise Frau spricht!« »Meine Mutter war eine Aiel«, stieß Rand hervor.

Egwene starrte ihn an. Kari al'Thor war gestorben, als Egwene noch kaum die Wiege verlassen hatte, aber wenn Tams Frau eine Aiel gewesen wäre, hätte sie das sicherlich erfahren. Sie blickte Moiraine an, aber die Aes Sedai sah ruhig und mit entspannter Miene zu. Rand sah wirklich wie ein Aielmann aus, bei seiner Größe, den graublauen Augen und dem rötlichen Haar, aber das war doch lächerlich!

»Eure Mutter nicht«, sagte Amys bedächtig. »Euer Vater.« Egwene schüttelte den Kopf. Das grenzte nun wirklich an Wahnsinn. Rand öffnete den Mund, doch Amys ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Seana, was meinst du?« »Ja«, sagte die Frau mit dem graumelierten Haar. »Melaine?« Die letzte der vier, eine gutaussehende Frau mit rotgoldenem Haar, nicht mehr als zehn oder fünfzehn Jahre älter als Egwene, zögerte noch. »Es muß vollbracht werden«, sagte sie schließlich, wenn auch unwillig. »Ich antworte ebenfalls mit ja.« »Euch ist eine Antwort zuteil geworden«, sagte Amys zu Rand. »Ihr dürft Rhuidean betreten und... « Sie unterbrach sich, als Mat heraufkletterte und ungeschickt Rands Verbeugung imitierte.

»Auch ich bitte darum, Rhuidean betreten zu dürfen«, sagte er unsicher.

Die vier Weisen Frauen sahen ihn an. Rand riß überrascht den Kopf herum. Egwene glaubte, niemand könne überraschter sein als sie, doch Couladin strafte sie Lügen. Knurrend hob er einen seiner Speere und stach in Richtung auf Mats Brust.

Das Glühen Saidars umgab Amys und Melaine. Stränge aus dem Element Luft packten den Mann mit dem Flammenhaar und schleuderten ihn ein Dutzend Schritt zurück.

Egwene starrte die Szenerie mit weit aufgerissenen Augen an. Sie konnten die Macht gebrauchen. Oder zumindest zwei von ihnen. Mit einemmal erkannte sie die jugendlich glatten Gesichtszüge von Amys als ein Äquivalent zu der alterslosen Glätte der Aes-Sedai-Gesichter. Moiraine verhielt sich absolut still. Egwene konnte erkennen, wie sie angestrengt nachdachte. Offensichtlich war die Überraschung der Aes Sedai genauso groß wie die ihre.

Couladin rappelte sich hoch und blieb geduckt stehen. »Ihr akzeptiert diesen Ausländer als einen von uns«, keuchte er und zeigte mit dem Speer auf Rand, mit dem er Mat hatte töten wollen. »Wenn Ihr so entscheidet, dann sei es. Er ist trotzdem ein weicher Feuchtländer und Rhuidean wird ihn umbringen.« Der Speer deutete wieder auf Mat, der sich bemühte, unbemerkt ein Messer in seinen Ärmel zurückzustecken. »Aber er... es bedeutet den Tod für ihn, sich hier aufzuhalten, und es ist für ihn ein Sakrileg, überhaupt um die Erlaubnis zu bitten, Rhuidean zu betreten! Niemand außer denen vom Blute dürfen Rhuidean betreten! Niemand!« »Geh zurück zu deinen Zelten, Couladin«, sagte Melaine kalt. »Und auch du, Heirn. Du auch, Rhuarc. Das ist die Angelegenheit von Weisen Frauen und nicht von Männern, außer natürlich denjenigen, die um Erlaubnis gebeten haben. Geht!« Rhuarc und Heirn nickten und schritten auf die kleinere Gruppe von Zelten zu. Sie unterhielten sich dabei. Couladin funkelte Rand und Mat an, warf den Weisen Frauen einen bösen Blick zu, und dann drehte er sich steif um und stolzierte auf das größere Lager zu.

Die Weisen Frauen tauschten Blicke. Besorgte Blicke, wie Egwene festzustellen glaubte, obwohl sie es genausogut wie die Aes Sedai beherrschten, ihre Gefühle für sich zu behalten.

»Es ist nicht gestattet«, sagte Amys schließlich. »Junger Mann, Ihr wißt nicht, was Ihr getan habt. Geht mit den anderen zurück.« Ihr Blick streifte Egwene, Moiraine und Lan, die nun allein mit ihren Pferden am Zügel in der Nähe des verwitterten Portalsteins standen. Egwene bemerkte in diesem Blick kein Wiedererkennen.

»Ich kann nicht.« In Mats Stimme klang Verzweiflung mit. »Ich bin schon soweit gekommen, aber das zählt hier nicht, oder? Ich muß nach Rhuidean.« »Es ist nicht gestattet«, sagte Melaine in scharfem Tonfall. Ihr langes, rotgoldenes Haar schwang herum, als sie den Kopf schüttelte. »Ihr habt kein Aielblut in den Adern.« Rand hatte die ganze Zeit über Mat aufmerksam angesehen. »Er kommt mit mir«, sagte er plötzlich. »Ihr habt mir die Erlaubnis gegeben, und er kann mit mir kommen, ob Ihr es nun genehmigt oder nicht.« Er blickte die Weisen Frauen wohl nicht trotzig, aber dennoch entschlossen an. Er hatte diese Frage entschieden Egwene kannte das bei ihm; er würde keinen Deut davon abweichen, mochten sie sagen, was sie wollten.

»Es ist nicht gestattet«, sagte Melaine entschieden, wobei sie ihre Schwestern ansprach. Sie zog die Stola hoch und bedeckte ihren Kopf. »Das Gesetz ist ganz klar. Keine Frau darf mehr als zweimal nach Rhuidean gehen und kein Mann mehr als einmal, und niemals jemand, der kein Aielblut in den Adern hat.« Seana schüttelte den Kopf. »Es ändert sich so viel, Melaine. Die alten Sitten... « »Wenn er derjenige ist«, sagte Bair, »dann ist die Zeit der Änderungen über uns gekommen. Aes Sedai stehen auf dem Chaendaer und mit ihnen Aan'allein in seinem farbverändernden Umhang. Können wir uns immer noch stur an die alten Sitten halten? Obwohl wir wissen, wieviel sich nun ändern wird?« »Das können wir nicht«, sagte Amys. »Alles befindet sich nun am Rande der Veränderung. Melaine?« Die Frau mit dem rotgoldenen Haar sah sich um, sah die Berge an und die in Nebel gehüllte Stadt unter ihnen, seufzte dann und nickte. »Damit ist es entschieden«, sagte Amys und wandte sich Rand und Mat zu. »Ihr«, begann sie, doch dann unterbrach sie sich. »Welchen Namen führt Ihr eigentlich?« »Rand al'Thor.« »Mat. Mat Cauthon.« Amys nickte. »Ihr, Rand al'Thor, müßt Euch ins Herz Rhuideans begeben, genau ins Zentrum der Stadt. Wenn Ihr wünscht, mit ihm zu kommen, Mat Cauthon, dann sei es, doch Ihr mußt wissen, daß die meisten Männer nie aus Rhuidean zurückkehren, und manche von denen, die wiederkommen, sind wahnsinnig. Ihr dürft weder Lebensmittel noch Wasser mit Euch führen, in Erinnerung an unsere Wanderung nach der Zerstörung der Welt. Ihr müßt auch unbewaffnet nach Rhuidean gehen, außer mit Euren Händen und Euren Herzen, um die Jenn zu ehren. Falls Ihr Waffen bei Euch habt, legt sie auf den Boden vor uns hin. Sie werden hier auf Euch warten, bis Ihr zurückkehrt. Falls Ihr zurückkehrt.« Rand zog sein Messer aus der Scheide und legte es Amys zu Füßen. Dann, einen Moment später, legte er noch die kleine, grüne Steinfigur dazu. »Mehr habe ich nicht«, sagte er.

Mat begann mit dem Messer an seinem Gürtel und machte dann weiter. Er zog Messer aus seinen Ärmeln und unter seinem Mantel hervor, selbst eines aus einer Nackenscheide, und häufte sie vor den Aielfrauen auf. Selbst die schienen davon beeindruckt. Er wollte schon aufhören, sah die Frauen noch einmal an und holte aus den Stiefelschäften auch noch je ein Messer heraus. »Ich habe sie vergessen«, sagte er grinsend und mit einem Achselzucken. Die ernsten Blicke der Weisen Frauen wischten ihm das Grinsen vom Gesicht.

»Sie haben gelobt, nach Rhuidean zu gehen«, sagte Amys in rituellem Singsang, und sie blickte über die Köpfe der Männer hinweg. Die anderen drei reagierten gemeinsam: »Rhuidean gehört den Toten.« »Sie dürfen nicht mit den Lebenden sprechen, bis sie zurückkehren«, sang sie heraus, und wieder antworteten die anderen: »Die Toten sprechen nicht mit den Lebenden.« »Wir sehen sie nicht mehr, bis sie sich wieder unter den Lebenden befinden.« Amys zog sich die Stola über die Augen, und eine nach der anderen folgten ihr die drei. Mit verborgenen Gesichtern sprachen sie im Chor: »Hebt Euch hinweg von den Lebenden und verfolgt uns nicht mit Erinnerungen an das Verlorene. Sprecht nicht von dem, was die Toten sehen.« Dann standen sie schweigend da, hielten die Stolen vor ihre Gesichter und warteten.

Rand und Mat sahen einander an. Egwene wäre gern zu ihnen hinübergegangen und hätte mit ihnen gesprochen. Sie wirkten wie Männer, die niemandem zeigen wollten, daß sie Angst hatten. Doch das hätte möglicherweise die Zeremonie gestört.

Schließlich lachte Mat hart auf. »Na ja, ich schätze, die Toten können wenigstens miteinander sprechen. Ich frage mich, ob das auch für... Ach, spielt keine Rolle. Denkst du, es ist in Ordnung, wenn wir reiten?« »Ich glaube nicht«, sagte Rand. »Ich glaube, wir müssen zu Fuß gehen.« »O je, seng meine schmerzenden Füße. Also, gehen wir halt los. Wir werden den halben Nachmittag brauchen, bis wir dort sind. Wenn wir Glück haben.« Rand lächelte Egwene beruhigend zu, als sie sich bergab wandten, als wolle er ihr sagen, daß keine Gefahr bestünde und nichts Schlimmes sie erwarte. Mats Grinsen war typisch für ihn, wenn er etwas besonders Idiotisches unternahm, wie beispielsweise auf einem Dachfirst zu tanzen.

»Du willst doch nicht etwa irgendwas... Verrücktes... unternehmen, oder?« fragte Mat. »Ich will nämlich lebendig zurückkommen.« »Ich auch«, antwortete Rand. »Ich auch.« Sie waren schnell außer Hörweite und wurden immer kleiner dort unten am Abhang. Als sie nur noch winzige Gestalten waren, kaum noch als Menschen zu erkennen, ließen die Weisen Frauen endlich ihre Stolen wieder sinken.

Egwene zupfte ihr Kleid zurecht und wünschte sich, nicht ganz so zu schwitzen. Dann kletterte sie mit ihrem Pferd im Schlepptau das kurze Stück Abhang zu ihnen hinunter. »Amys? Ich bin Egwene al'Vere. Ihr habt gesagt, ich solle... « Amys unterbrach sie mit erhobener Hand und blickte hinüber zu Lan, der nun Mandarb, Pips und Jeade'en am Zügel hielt und etwas hinter Moiraine und Aldieb stand. »Das hier ist nur eine Angelegenheit für Frauen, Aan'allein. Ihr müßt uns verlassen. Geht zu den Zelten. Rhuarc wird Euch Schatten und Wasser anbieten.« Lan wartete auf Moiraines leichtes Nicken, bevor er sich verbeugte und in der gleichen Richtung wie zuvor Rhuarc davonschritt. Dieser farbverändernde Umhang auf seinem Rücken ließ ihn manchmal wie einen Geist erscheinen, von dem man nur Kopf und Arme vor den drei Pferden über den Boden dahinschweben sah.

»Warum nennt Ihr ihn so?« fragte Moiraine, als er sich außer Hörweite befand. »Den Einen Mann. Kennt Ihr ihn?« »Wir wissen von ihm, Aes Sedai.« Bei Amys klang der Titel wie eine Anrede unter Gleichgestellten. »Der letzte der Malkieri. Der Mann, der nicht aufhört, gegen den Schatten zu kämpfen, obwohl seine ganze Nation durch diesen Krieg zerstört wurde. Es ist sehr viel Ehrenhaftes an ihm. Aus dem Traum wußte ich, falls Ihr herkämt, würde Aan'allein höchstwahrscheinlich dabei sein, aber ich wußte nicht, daß er Euch gehorcht.« »Er ist mein Behüter«, sagte Moiraine einfach.

Egwene glaubte, die Aes Sedai sei trotz ihres leichten Tonfalls beunruhigt, und sie wußte auch, warum. Höchstwahrscheinlich werde Lan mit ihr kommen? Lan folgte Moiraine immer. Er würde ihr ohne Zögern in der Krater des Todes folgen. Und es war beinahe genauso interessant für Egwene, daß Amys gesagt hatte: ›Falls Ihr herkämt.‹ Hatten die Weisen Frauen nun gewußt, daß sie kämen, oder nicht? Vielleicht war die Auslegung eines Traums doch nicht so einfach, wie sie gehofft hatte. Sie wollte schon danach fragen, als Bair sagte: »Aviendha? Komm her.« Aviendha hatte verloren an der Seite gehockt, die Arme um die Knie geschlungen, und auf den Boden geblickt. Sie stand langsam auf. Falls Egwene das nicht besser gewußt hätte, hätte sie annehmen müssen, die Frau habe Angst. Aviendha schlurfte förmlich hinüber zu den Weisen Frauen und legte sich die Tasche und die Rolle mit den Wandbehängen vor die Füße.

»Es wird Zeit«, sagte Bair nicht unfreundlich. Trotzdem war in ihren Augen keine Kompromißbereitschaft zu erkennen. »Du bist mit den Speeren gelaufen, solange es ging. Länger, als du solltest.« Aviendha hob trotzig den Kopf. »Ich bin eine Tochter des Speers. Ich will keine Weise Frau werden. Ich will nicht!« Die Gesichter der Weisen Frauen verhärteten sich. Das erinnerte Egwene an die Versammlung der Frauen zu Hause, wenn man eine Frau verhörte, die im Begriff war, etwas Dummes zu tun.

»Du bist sowieso schon viel sanfter behandelt worden, als das zu meiner Zeit üblich war«, sagte Amys mit steinerner Stimme. »Auch ich weigerte mich, als ich berufen wurde. Meine Speerschwestern haben vor meinen Augen meine Speere zerbrochen. Sie brachten mich nackt und an Händen und Füßen gebunden zu Bair und Coedelin.« »Und mit einer hübschen, kleinen Puppe unter deinen Arm geklemmt«, sagte Bair trocken, »um dich daran zu erinnern, wie kindisch du dich benommen hast. Wie ich mich erinnere, bist du im ersten Monat neunmal weggelaufen.« Amys nickte grimmig. »Und dafür mußte ich wie ein Kind um Verzeihung bitten — jedesmal. Im zweiten Monat bin ich nur fünfmal weggelaufen. Ich hielt mich für so stark und hart, wie eine Frau nur sein kann. Aber ich war nicht schlau genug. Ich brauchte ein halbes Jahr, bis ich merkte, daß du härter und stärker warst, als ich jemals sein würde, Bair. Schließlich begriff ich dann, was meine Pflicht war, die Verpflichtung meinem Volk gegenüber. So, wie du es lernen wirst, Aviendha. Solche Frauen wie du und ich sind einfach dazu verpflichtet. Du bist kein Kind mehr. Es ist Zeit, die Puppen — und die Speere — beiseite zu legen und die Frau zu werden, die zu werden dir bestimmt ist.« Mit einemmal wurde Egwene klar warum sie von Beginn an eine solche Kameradschaft zu Aviendha empfunden hatte. Nun wußte sie, warum Amys und die anderen aus ihr eine Weise Frau machen wollten. Aviendha konnte die Macht gebrauchen. Genau wie sie, wie Elayne und Nynaeve — und natürlich Moiraine — gehörte sie zu jenen wenigen Frauen, denen man nicht nur den Gebrauch der Macht beibringen konnte, sondern die mit dieser Fähigkeit geboren waren und irgendwann die Wahre Quelle berührten, selbst wenn sie gar nicht wußten, was sie taten. Moiraine hatte das Gesicht nicht verzogen und wirkte ganz ruhig, doch in ihren Augen las Egwene die Bestätigung ihrer eigenen Gedanken. Die Aes Sedai mußte das vom ersten Moment an gewußt haben, als sie die Aielfrau kennengelernt hatte. Egwene erkannte, daß sie die gleiche Verbundenheit auch Amys und Melaine gegenüber empfinden konnte. Aber nicht bei Bair oder Seana. Nur die ersteren konnten die Macht gebrauchen, da war sie sich sicher. Und nun konnte sie bei Moiraine dasselbe spüren. Es war das erstemal, daß sie Derartiges empfand; die Aes Sedai war eine Frau, die immer für sich blieb.

Einige der Weisen Frauen allerdings lasen offensichtlich mehr aus der Miene Moiraines heraus. »Ihr wollt sie zu Eurer Weißen Burg bringen«, sagte Bair, »um aus ihr eine von Euch zu machen. Doch sie ist eine Aiel, Aes Sedai.« »Sie kann sehr stark werden, wenn man sie richtig unterweist«, antwortete Moiraine. »Genauso stark, wie Egwene einst sein wird. In der Burg kann man sie so weit bringen.« »Wir können sie genausogut unterrichten, Aes Sedai.« Melaines Stimme klang einigermaßen verbindlich, aber in dem steten Blick aus ihren grünen Augen lag ein Hauch von Verachtung. »Besser sogar. Ich habe mich schon mit Aes Sedai unterhalten. Ihr verwöhnt die Frauen in der Burg. Das Dreifache Land ist kein Ort, um jemanden zu verwöhnen. Aviendha wird wissen, was sie mit ihren Kräften anfangen kann, wenn sie bei Euch noch Kinderspiele erlernen würde.« Egwene warf Aviendha einen besorgten Blick zu. Die andere junge Frau blickte bedrückt zu Boden. Ihr Trotz schien verflogen. Falls sie den Unterricht in der Burg schon für Verwöhnen hielten... Sie hatte als Novizin härter arbeiten müssen und war strenger behandelt worden als je zuvor in ihrem Leben. Sie empfand eine Menge Sympathie für die Aielfrau.

Amys streckte die Hände aus, und Aviendha legte ihr zögernd die Speere und den Schild hinein. Sie zuckte zusammen, als die Weise Frau krachend ihre Bewaffnung zur Seite warf. Langsam zog sie sich den in seiner Hülle steckenden Bogen über den Kopf und übergab ihn. Dann schnallte sie den Gürtel ab, an dem der Köcher und ihr Messer hingen. Amys nahm alles entgegen und warf es wie Abfall zur Seite. Jedesmal zuckte Aviendha zusammen. In einem Winkel ihrer blaugrünen Augen schimmerte eine Träne.

»Müßt Ihr sie so grob behandeln?« brach es zornig aus Egwene heraus. Amys und die anderen sahen sie ausdruckslos an, doch sie ließ sich nicht einschüchtern. »Ihr behandelt Dinge, die für sie etwas bedeuten, als wären sie Schrott.« »Sie muß lernen, solche Dinge als Schrott zu sehen«, sagte Seana. »Wenn sie zurückkehrt — falls sie zurückkehrt —, wird sie alles verbrennen und die Asche in den Wind streuen. Das Metall wird sie dem Schmied übergeben, um daraus einfache Dinge zu fertigen. Keine Waffen. Nicht einmal ein Brotmesser. Gürtelschnallen oder Kochtöpfe oder Puzzles für Kinder. Diese Dinge wird sie hinterher mit eigenen Händen verteilen.« »Das Dreifache Land ist kein weiches, Aes Sedai«, sagte Bair. »Weiche Dinge sterben hier.« »Dein Cadin'sor, Aviendha.« Amys deutete auf die weggeworfenen Waffen. »Deine neue Kleidung wird dich bei deiner Rückkehr erwarten.« Mit mechanischen Bewegungen zog sich Aviendha aus und warf Mantel und Hosen, Stiefel und alles andere auf einen Haufen zu den Waffen. Nackt stand sie da und rührte sich nicht. Nur Egwene glaubte, ihre Füße hätten trotz der Stiefel schon Brandblasen aufzuweisen. Sie erinnerte sich daran, wie sie zugesehen hatte, als man ihre Kleider verbrannt hatte, die sie auf dem Weg zur Weißen Burg getragen hatte. Auch damals hatte man das Band zerschnitten, das sie an ihr früheres Leben gebunden hatte, aber es war nicht so schlimm gewesen wie hier. Nicht so kraß.

Als Aviendha auch noch den Sack und die Wandbehänge auf den Stapel legen wollte, nahm ihr Seana die Sachen ab. »Die kannst du zurückbekommen. Falls du zurückkommst. Wenn nicht, gehen sie an deine Familie, deines Angedenkens wegen.« Aviendha nickte. Sie schien keine Angst zu haben. Zögern, Zorn, ja vielleicht schmollte sie auch ein wenig, aber Angst hatte sie keine.

»In Rhuidean«, sagte Amys, »wirst du drei Ringe finden, die so angeordnet sind.« Sie zeichnete mit dem Finger drei Linien in die Luft, die sich in der Mitte trafen. »Tritt durch irgendeinen hindurch. Du wirst deine eigene Zukunft erleben, wieder und wieder, in immer neuen Abwandlungen. Sie werden dir keine eindeutigen Hinweise geben, und das ist auch das Beste, denn wie Geschichten, die du vor langer Zeit gehört hast, werden sie verschwimmen und miteinander verschmelzen, doch wirst du dich an genügend Dinge erinnern, um zu wissen, daß vieles sein muß, was zu tun du haßt, und anderes nicht sein darf, worauf du gehofft hattest. Das ist der Anfang, der erste Schritt zu dem, was man Weisheit nennt. Manche Frauen kehren niemals aus den Ringen zurück. Vielleicht wurden sie nicht mit ihrer Zukunft fertig. Manche, die wohl die Ringe überleben, überleben jedoch ihre zweite Reise nach Rhuidean nicht, wo sie ins Herz gelangen. Du gibst kein hartes und entbehrungsreiches Leben auf, um ein angenehmeres zu führen, sondern tauschst ein noch härteres und gefährlicheres dagegen ein.« Ein Ter'Angreal. Amys hatte einen Ter'Angreal beschrieben. Was für eine Art von Stadt war dieses Rhuidean? Egwene fühlte in sich den Wunsch aufsteigen, selbst hinunterzugehen und es herauszufinden. Das war wohl ziemlich närrisch. Sie war nicht hier, um unnötige Risiken mit Ter'Angreal einzugehen, die sie überhaupt nicht kannte.

Melaine faßte Aviendha unter das Kinn und drehte den Kopf der jungen Frau zu sich hin. »Du hast die Kraft«, sagte sie ruhig und überzeugt. »Ein starker Verstand und ein starkes Herz sind nun deine Waffen, aber du hältst sie genauso fest und sicher wie zuvor deine Speere. Denke daran, benütze sie, und du wirst alles unbeschadet überstehen.« Egwene war überrascht. Von den vier Frauen hätte sie bei Melaine am wenigsten erwartet, so etwas wie Mitgefühl zu entdecken.

Aviendha nickte und brachte sogar ein Lächeln zustande. »Ich werde schneller als diese Männer in Rhuidean sein. Sie können nicht laufen.« Eine der Weisen Frauen nach der anderen küßte sie leicht auf die Wange und alle murmelten leise: »Komm zu uns zurück.« Egwene ergriff Aviendhas Hand, drückte sie und erhielt ebenfalls einen kräftigen Händedruck zur Antwort. Dann lief die Aielfrau in langen Sätzen los, den Abhang hinunter. Es schien, daß sie durchaus in der Lage sei, Rand und Mat einzuholen. Egwene sah ihr besorgt hinterher. Was sie vor sich hatte, entsprach ungefähr der Prüfung, mit der man in der Burg zur Aufgenommenen wurde, doch ohne jede Unterweisung als Novizin und ohne jede Helferin, die ihr anschließend ein wenig Trost und Unterstützung geben konnte. Wie wäre das wohl gewesen, wenn sie gleich am ersten Tag in der Burg ihre Prüfung zur Aufgenommenen hätte absolvieren müssen? Wahrscheinlich wäre sie vollkommen durchgedreht. Bei Nynaeve war es so ähnlich gelaufen, weil sie über derartige Kräfte verfügte. Sie glaubte aber, daß zumindest ein Teil der ablehnenden Haltung Nynaeves den Aes Sedai gegenüber von ihren Erlebnissen bei dieser Prüfung herrührte. Komm zu uns zurück, dachte sie. Sei standhaft. Als Aviendha außer Sicht war, seufzte Egwene und wandte sich wieder den Weisen Frauen zu. Sie war schließlich auch nicht umsonst hier, und es würde niemandem helfen, sich mit ihrem Anliegen zurückzuhalten. »Amys, in Tel'aran'rhiod habt Ihr mir gesagt, ich solle hierher zu Euch kommen, um zu lernen. Nun bin ich da.« »Diese Hektik«, stellte die weißhaarige Frau fest. »Wir haben uns so sehr beeilt, da Aviendha sich die ganze Zeit gegen ihr Toh sträubte und weil wir fürchteten, die Shaido würden selbst hier die Schleier anlegen, falls wir Rand al'Thor nicht nach Rhuidean schickten, bevor sie überhaupt zum Nachdenken kämen.« »Glaubt Ihr, sie hätten versucht, ihn zu töten?« fragte Egwene. »Aber er ist doch derjenige, dessentwegen Ihr Eure Leute über den Drachenwall geschickt habt. Er, Der Mit Der Morgendämmerung Kommt.« Bair rückte ihre Stola zurecht. »Vielleicht ist er das. Es wird sich herausstellen. Falls er überlebt.« »Er hat die Augen von seiner Mutter«, sagte Amys, »und die Gesichtszüge sowohl von ihr wie auch von seinem Vater, aber Couladin sah natürlich nur seine Kleidung und sein Pferd. Das wäre allerdings bei den anderen Shaido genauso gewesen, und wahrscheinlich auch bei den Taardad. Fremde dürfen diesen Boden nicht betreten, und nun sind gleich fünf von Euch da. Nein, vier: Rand al'Thor ist kein Fremder, wo er auch aufgewachsen sein mag. Aber einem haben wir bereits gestattet, Rhuidean zu betreten, obwohl es verboten ist. Die Veränderungen kommen wie eine Lawine, ob wir wollen oder nicht.« »Es muß sich alles ändern«, sagte Bair, und es klang etwas unglücklich. »Das Muster setzt uns an den Platz, den es für uns erwählt.« »Ihr kanntet Rands Eltern?« fragte Egwene vorsichtig. Was sie auch sagen mochten, so dachte sie doch an Tam und Kari al'Thor, wenn es um Rands Eltern ging.

»Das ist seine persönliche Geschichte«, sagte Amys, »falls er sie hören will.« Nach der Haltung ihres Kinns zu schließen, würde sie kein Wort mehr darüber sagen.

»Kommt«, sagte Bair. »Jetzt müssen wir uns nicht mehr beeilen. Kommt. Wir bieten Euch Wasser und Schatten an.« Egwene versagten beinahe die Beine, als sie das Wort ›Schatten‹ hörte. Das einst tropfnasse Tuch, das sie um ihre Stirn gewickelt hatte, war schon beinahe trocken. Ihr Kopf fühlte sich vollkommen ausgedörrt an, und der Rest ihres Körpers nicht weniger. Auch Moiraine schien dankbar, den Weisen Frauen hinauf zu der kleinen Gruppe der niedrigen, an der Seite offenen Zelte folgen zu dürfen.

Ein hochgewachsener Mann in einem weißen Gewand mit Kapuze nahm ihnen die Zügel der Pferde ab. Sein Aielgesicht wirkte eigenartig, so eingebettet in die tiefe, weiche Kapuze. Die Augen hatte er niedergeschlagen.

»Gib den Tieren Wasser«, sagte Bair, und dann bückte sie sich und trat geduckt in das niedrige Zelt hinein. Der Mann verbeugte sich hinter ihr her, wobei er die Stirn mit der Hand berührte.

Egwene zögerte, ihr Pferd von dem Mann wegbringen zu lassen. Er schien durchaus selbstbewußt, aber was verstand ein Aiel schon von Pferden? Nun ja, sie glaubte andererseits nicht, daß er ihnen Schaden zufügen werde, und im Zelt war es wunderbar dunkel und dann auch noch herrlich kühl, wenn man es mit draußen verglich.

Am höchsten Punkt des Zelts befand sich eine Öffnung, doch selbst hier konnte man kaum aufrecht stehen. Wohl als Ausgleich für die eintönigen und faden Farben der Aielkleidung, lagen überall große, rote Kissen mit Goldfransen auf leuchtend bunten Teppichen verstreut. Die Teppiche lagen übereinandergeschichtet, so daß man den harten Boden darunter nicht spürte. Egwene und Moiraine taten es den Weisen Frauen gleich. Sie ließen sich auf den Teppichen nieder und stützten sich mit einem Ellbogen auf eines der Kissen. Sie saßen schnell alle im Kreis, nahe genug beieinander, um sich zu berühren.

Bair schlug einen kleinen Messinggong, und zwei junge Frauen kamen mit silbernen Tabletts herein, beide in die gleichen weißen Gewänder mit den großen Kapuzen gehüllt wie der Mann draußen, der sich um die Pferde kümmerte. Trotz der gebückten Haltung bewegten sie sich mit natürlicher Anmut. Den Blick hatten auch sie zu Boden gesenkt. Sie knieten in der Zeltmitte nieder. Eine füllte für jede der sitzenden Frauen einen silbernen Becher mit Wein, während die andere größere Pokale mit Wasser füllte. Wortlos erhoben sie sich und gingen unter Verbeugungen rückwärts hinaus. Die schimmernden Tabletts und Krüge, von denen Wassertropfen rannen, blieben im Zelt stehen.

»Hier habt Ihr Wasser und Schatten«, sagte Bair und erhob ihren Pokal mit Wasser. »Wir geben Euch beides gern und mit Freude. Laßt nichts zwischen uns stehen. Alle hier sind willkommen, so wie Erstschwestern willkommen wären.« »Laßt nichts zwischen uns stehen«, murmelten Amys und die beiden anderen. Nach einem Schluck Wasser stellten sich die Aielfrauen offiziell vor: Bair von der Haido-Septime der Shaarad Aiel. Amys aus der Neun-Täler-Septime der Taardad Aiel. Melaine aus der Jhirad-Septime der Goshien Aiel. Seana aus der SchwarzklippenSeptime der Nakai Aiel.

Egwene und Moiraine schlossen sich dem Ritual an, auch wenn Moiraine leicht den Mund verzog, als sich Egwene als Aes Sedai von den Grünen Ajah bezeichnete.

Als habe die Vorstellung und die Gabe des Wassers den Bann gebrochen, änderte sich die Stimmung im Zelt fühlbar. Die Aielfrauen lächelten, entspannten sich und gaben zu erkennen, daß alle Formalitäten erledigt seien.

Egwene war noch dankbarer für das Wasser als für den Wein. Selbst wenn es im Zelt kühler als draußen war, trocknete ihr allein das Atmen die Kehle aus. Auf ein Nicken Amys' hin leerte sie begierig einen weiteren Becher.

Die Menschen in den weißen Gewändern hatten Egwene überrascht. Es war natürlich töricht, trotzdem hatte sie sich die anderen Aiel — außer den Weisen Frauen — immer wie Rhuarc und Aviendha als Krieger vorgestellt. Selbstverständlich hatten sie auch Schmiede und Weber und andere Handwerker; das mußte ja wohl sein. Warum nicht auch Diener? Nur hatte Aviendha die Diener im Stein voller Verachtung zurückgewiesen und sie nichts für sie tun lassen, was sie selbst hatte erledigen können. Diese Leute hier mit ihrem demütigen Verhalten wirkten überhaupt nicht wie Aiel. Sie konnte sich auch nicht erinnern, in den beiden großen Lagern die Farbe Weiß gesehen zu haben. »Haben nur die Weisen Frauen hier Diener?« fragte sie.

Melaine erstickte fast an ihrem Wein. »Diener?« keuchte sie. »Das sind Gai'schain, keine Diener.« Es klang, als sei damit alles erklärt.

Moiraine runzelte über ihrem Weinbecher leicht die Stirn. »Gai'schain? Wie würdet Ihr das übersetzen? ›Die auch in der Schlacht den Frieden gelobt haben‹?« »Es sind einfach Gai'schain«, sagte Amys. Sie schien zu bemerken, daß die beiden nichts verstanden. »Vergebt mir, aber wißt Ihr von Ji'e'toh, Aes Sedai?« »Ehre und Verpflichtung«, antwortete Moiraine sofort. »Oder vielleicht Ehre und Pflicht.« »Das sind die richtigen Worte, ja. Aber die Bedeutung. Wir leben nach Ji'e'toh, Aes Sedai.« »Versuche nicht, ihnen alles auf einmal zu erklären, Amys«, mahnte Bair. »Ich habe einst einen Monat damit verbracht, einer Feuchtlandfrau Ji'e'toh zu erklären, und am Ende hatte sie mehr Fragen als je zuvor.« Amys nickte. »Ich werde mich an das Wesentliche halten. Falls Ihr eine Erklärung wünscht, Moiraine.« Egwene hätte lieber gleich über das Träumen und ihre Ausbildung und alles gesprochen, und deshalb ärgerte sie sich, als die Aes Sedai sagte: »Ja, gern.« Amys nickte Moiraine zu und begann: »Ich werde das mit den Gai'schain einfach zu erklären versuchen. Im Tanz der Speere gewinnt man das meiste Ji, also die meiste Ehre, wenn man den bewaffneten Gegner berührt, ohne ihn irgendwie zu verletzen oder gar zu töten.« »Die größte Ehre, weil es so schwierig ist«, warf Seana mit einem Blinzeln ihrer blaugrauen Augen ein, »und deshalb so selten.« »Die geringste Ehre gewinnt man durch Töten«, fuhr Amys fort. »Jedes Kind und jeder Narr kann töten. Dazwischen liegt noch die Gefangennahme. Wie Ihr seht, vereinfache ich alles. Es gibt viele Abstufungen. Gai'schain sind Aiel, die auf diese Art gefangengenommen wurden. Manchmal allerdings bittet auch ein Krieger darum, als Gai'schain gefangengenommen zu werden, wenn er berührt wurde und die Ehre seines Gegners oder seinen eigenen Verlust in Grenzen halten will.« »Das kennt man vor allem von Töchtern des Speers und Steinhunden«, warf Seana ein, was ihr einen scharfen Blick von Amys einbrachte.

»Bin ich am Erzählen oder du? Also weiter. Es gibt auch welche, die man nicht als Gai'schain gefangennehmen darf: eine Weise Frau zum Beispiel, einen Schmied, ein Kind, eine schwangere Frau oder eine solche, die ein Kind unter zehn Jahren hat. Ein Gai'schain hat Toh gegenüber seinem oder ihrem Gegner. Für den oder die Gai'schain bedeutet das, ein Jahr und einen Tag dienen zu müssen, treu und demütig zu gehorchen, keine Waffe anzurühren und niemandem Gewalt anzutun.« Egwene war trotz ihrer Ungeduld interessiert. »Versuchen sie nicht, zu entfliehen? Ich würde das tun.« Ich werde mich nie mehr von irgend jemanden zur Gefangenen machen lassen!

Die Weisen Frauen blickten verstört drein. »Es ist schon vorgekommen«, sagte Seana mit gepreßter Stimme, »aber darin liegt keine Ehre. Ein weggelaufener Gai'schain würde von seiner oder ihrer Septime zurückgeschickt, um das Jahr der Dienerschaft erneut zu beginnen. Doch man verliert dabei soviel Ehre, daß möglicherweise ein Erstbruder oder eine Erstschwester ebenfalls als Gai'schain mitgeht, um das Toh der Septime zu erfüllen. Und wenn der Verlust an Ehre besonders groß ist, gehen vielleicht sogar mehrere mit.« Moiraine schien das alles sehr ruhig aufzunehmen. Sie nippte an ihrem Wasser, Egwene dagegen mußte sich zusammennehmen, um nicht den Kopf zu schütteln. Diese Aiel waren verrückt; anders konnte sie das nicht sehen. Es wurde immer schlimmer.

»Es gibt auch ein paar Gai'schain, die ihre Demut in Arroganz umkehren«, sagte Melaine mißbilligend. »Sie glauben, damit Ehre zu gewinnen, daß sie Gehorsam und Unterwürfigkeit auf die Spitze treiben und zu blankem Hohn werden lassen. Das ist wohl etwas Neues und ziemlich närrisch. So etwas gehört nicht zu Ji'e'toh.«

Bair lachte. Es war ein klangvolles Lachen, ganz unerwartet bei ihrer brüchigen Stimme. »Es hat immer schon Narren gegeben. Als ich ein Mädchen war und die Shaarad und Tomanelle sich gegenseitig jede Nacht Rinder und Ziegen stahlen, wurde eines Nachts Chenda, die Dachherrin des Mainde-Passes, bei einem Überfall von einem jungen Wassersucher der Haido zur Seite gestoßen. Sie kam ins Gekrümmte Tal und verlangte, von dem Jungen zur Gai'schain gemacht zu werden, denn sie gönnte ihm die Ehre nicht, sie im Kampf berührt zu haben, weil sie bei dieser Berührung ein Küchenmesser in der Hand hatte! Ein Küchenmesser! Sie behauptete, auch das sei eine Waffe, als sei sie eine Tochter des Speers! Der Junge hatte keine andere Wahl, als ihr Verlangen zu erfüllen, obwohl man ihn ganz schön auslachte. Man schickt keine Dachherrin barfuß in ihre Festung zurück. Bevor das Jahr und der Tag vorüber waren, tauschten die Haido-Septime und die Jenda-Septime die Speere und der Junge fand sich als Ehemann von Chendas ältester Tochter wieder. Und seine Zweitmutter war immer noch seine Gai'schain! Er versuchte, sie als Teil seines Brautgeschenkes seiner Frau zu übergeben, doch beide Frauen behaupteten, er wolle sie ihrer Ehre berauben. Er mußte fast noch seine eigene Frau zur Gai'schain nehmen. Fast hätten die Haido und die Jenda deshalb wieder zu den Waffen gegriffen, noch bevor das Toh erfüllt war.« Die Aielfrauen bogen sich vor Lachen. Amys und Melaine mußten sich Tränen aus den Augen wischen.

Egwene verstand nicht viel von der Geschichte — vor allem nicht, was daran lustig sein sollte —, aber sie brachte ein höfliches Lachen zustande.

Moiraine stellte ihr Wasser zur Seite und griff nach dem Becher mit Wein. »Ich habe gehört, wie Männer vom Kampf gegen die Aiel erzählten, aber so etwas habe ich noch nie gehört. Vor allem nicht, daß ein Aiel sich ergab, weil er berührt worden war.« »Das ist kein Sich-Ergeben«, sagte Amys entschieden. »Es ist Ji'e'toh.«

»Niemand würde darum bitten, zum Gai'schain eines Feuchtländers gemacht zu werden«, sagte Melaine. »Ausländer wissen nichts von Ji'e'toh.«

Die Aielfrauen blickten sich gegenseitig an. Es war ihnen offensichtlich nicht ganz wohl bei dieser Unterhaltung. Warum? fragte sich Egwene. Oh. Für die Aiel war es höchstwahrscheinlich dasselbe, wenn man Ji'e'toh nicht kannte, als wisse man nichts über Manieren und gutes Benehmen und als kenne man kein Ehrgefühl. »Es gibt auch unter uns ehrenwerte Männer und Frauen«, sagte Egwene daraufhin. »Eigentlich die meisten von uns. Wir wissen auch, gut und böse zu unterscheiden.« »Selbstverständlich«, murmelte Bair in einem Tonfall, der ihr zeigte, daß sie es keineswegs für selbstverständlich hielt.

»Ihr habt mir einen Brief nach Tear geschickt«, sagte Moiraine, »bevor ich überhaupt dort ankam. Ihr habt eine Menge Dinge behauptet, von denen sich einige als wahr herausgestellt haben. Darunter auch, daß ich Euch heute hier antreffen würde — müßte —, und das klang schon beinahe wie ein Befehl. Und doch habt Ihr vorhin gesagt, falls Ihr herkamt‹. Wieviel von dem, was Ihr schriebt, wußtet Ihr wirklich schon vorher?« Amys seufzte und stellte ihren Becher Wein weg. Doch Bair war diejenige, die nun sprach: »Vieles ist unklar, selbst für eine Traumgängerin. Amys und Melaine sind die besten unter uns, aber auch sie können nicht alles vorhersehen, was ist oder was sein kann.« »Selbst in Tel'aran'rhiod ist die Gegenwart viel klarer als die Zukunft«, sagte die Weise Frau mit dem Sonnenhaar. »Was gerade irgendwo geschieht oder beginnt, kann man viel eher erkennen als das, was geschehen wird oder könnte. Wir haben Egwene und Mat Cauthon überhaupt nicht gesehen. Die Chancen, daß der junge Mann, der sich Rand al'Thor nennt, herkommen würde, standen fünfzig zu fünfzig. Falls er aber nicht kommen würde, war er ganz sicher, daß er sterben müßte und die Aiel dazu. Aber er kam, und wenn er Rhuidean überlebt, werden zumindest auch einige Aiel überleben. Soviel wissen wir sicher. Wenn Ihr nicht gekommen wärt, wäre er gestorben. Wenn Aan'allein nicht mitgekommen wäre, wärt Ihr gestorben. Wenn Ihr nicht durch die Ringe geht... « Sie brach ab, als hätte sie sich auf die Zunge gebissen.

Egwene beugte sich aufmerksam vor. Moiraine mußte auch nach Rhuidean gehen? Doch die Aes Sedai schien keine Notiz davon genommen zu haben, und Seana übernahm schnell das Erklären, um Melaines Ausrutscher zu vertuschen.

»Es gibt keinen bestimmten, vorher festgelegten Weg in die Zukunft. Das Muster läßt manchmal das feinste Spitzengewebe wie Sackleinen aussehen oder wie einen verfilzten Faden. In Tel'aran'rhiod ist es möglich, einige der Webarten der Zukunft zu erkennen, aber eben nicht mehr als das.« Moiraine nippte an ihrem Wein. »Die Alte Sprache ist oft schwierig zu übersetzen.« Egwene sah sie verblüfft an. Die Alte Sprache? Was hatte das mit den Ringen, diesem Ter'Angreal zu tun? Aber Moiraine fuhr munter fort: »Tel'aran'rhiod bedeutet Welt der Träume oder auch die Unsichtbare Welt. Keines davon stimmt ganz genau; es ist in Wirklichkeit viel komplexer. Aan'allein: der Eine Mann, aber es heißt auch ›Der Mann, der ein ganzes Volk ist‹. Und man kann es noch auf zwei oder drei andere Arten übersetzen. Und dann all die Worte, die wir zum täglichen Gebrauch in unseren Wortschatz aufgenommen haben und an deren wirkliche Bedeutung in der Alten Sprache wir uns überhaupt nicht mehr erinnern. Behüter nennt man ›Gaidin‹, und das hieß einst ›Brüder der Schlacht‹. Aes Sedai bedeutete ›Diener aller‹. Und ›Aiel‹ hieß in der Alten Sprache ›hingebungsvoll‹. Noch stärker sogar; es schließt einen Eid ein, den man in sich trägt. Ich habe mich oft gefragt, welchem Ziel die Aiel so hingebungsvoll dienen.« Die Gesichter der Weisen Frauen schienen in diesem Augenblick wie aus Stein gemeißelt, aber Moiraine bohrte weiter: »Und dann ›Jenn Aiel‹. ›Die wirklich Hingebungsvollen‹, und wieder wird die ursprüngliche Bedeutung noch verstärkt. Vielleicht muß es heißen: ›Die einzigen wirklich dem Ziel ergebenen‹? Die einzigen echten Aiel?« Sie blickte die Weisen Frauen fragend an, als sei nichts gewesen. Keine sagte ein Wort.

Worauf wollte Moiraine hinaus? Egwene hatte nicht vor, ihre Chancen auf eine Ausbildung bei den Weisen Frauen durch die Aes Sedai gefährden zu lassen. »Amys, können wir jetzt über das Träumen sprechen?« »Heute abend ist noch Zeit genug dazu«, sagte Amys. »Aber... « »Heute abend, Egwene. Ihr mögt ja eine Aes Sedai sein, aber hier werdet Ihr wieder zur Schülerin. Ihr könnt im Augenblick noch nicht einmal zu Bett gehen, wenn Ihr es wünscht, und auch nicht leicht genug schlafen, um hinterher noch erzählen zu können, was Ihr gesehen habt. Wenn die Sonne untergeht, werde ich beginnen, Euch zu unterweisen.« Egwene duckte sich und spähte unter der Kante der Zeltplane hindurch. Aus dem tiefen Schatten des Zelts heraus wirkte das Sonnenlicht draußen um so greller. Hitzeschleier flimmerten in der Luft. Die Sonne stand noch nicht einmal auf halber Höhe der Berggipfel.

Plötzlich richtete sich Moiraine auf und griff nach hinten an ihr Kleid. Sie begann, es aufzuknöpfen. »Ich denke, ich muß den gleichen Weg gehen wie Aviendha«, sagte sie, und es war nicht als Frage gemeint.

Bair warf Melaine einen strengen Blick zu. Die junge Frau senkte daraufhin verschämt ihren Blick. Seana aber erwiderte resigniert: »Ihr hättet es nicht hören sollen. Aber nun ist es zu spät. Veränderungen. Einer, der nicht vom Blute ist, ging bereits nach Rhuidean, und nun folgt ihm noch jemand.« Moiraine hielt im Auskleiden inne. »Macht das einen Unterschied, daß es mir gesagt wurde?« »Vielleicht einen großen, vielleicht aber auch gar keinen«, meinte Bair zurückhaltend. »Oft weisen wir einen Weg, aber wir sprechen nicht darüber. Als wir sahen, daß Ihr durch die Ringe gehen würdet, wart immer Ihr es, die zuerst davon sprach, die ein Recht darauf zu haben behauptete, obwohl Ihr nicht vom Blute seid. Nun hat es eine von uns zuerst erwähnt. Dinge, die wir gesehen haben, ändern sich bereits jetzt. Wer weiß, was nun alles geschehen wird?« »Und was habt Ihr für den Fall gesehen, daß ich nicht gehe?« Bairs runzliges Gesicht war nach wie vor ausdruckslos, doch in ihren blaßblauen Augen stand Sympathie. »Wir haben Euch schon zuviel gesagt, Moiraine. Was eine Traumgängerin sieht, wird möglicherweise geschehen, aber es ist nicht sicher. Wer zuviel von der Zukunft weiß, wird in jedem Fall katastrophale Fehler begehen, entweder aus der sicheren Erwartung des Unvermeidlichen heraus, oder weil er mit aller Gewalt versucht, die Zukunft zu ändern.« »Die Ringe sind gnädig, denn die Erinnerungen an die Erlebnisse darin verblassen schnell«, sagte Amys. »Eine Frau erfährt einige Dinge — nur wenige allerdings —, die wirklich geschehen werden. Andere wird sie erst wiedererkennen, wenn sie vor der entsprechenden Entscheidung steht, und vielleicht noch nicht einmal dann. Das Leben besteht aus Unsicherheit und Kampf, Entscheidungen und Veränderungen. Eine Frau, die genau wüßte, wie ihr Leben ins Muster verwoben sein wird, so wie bei dem Teppich, den sie gerade knüpft, müßte das Leben eines Tieres führen. Falls sie nicht wahnsinnig würde. Die Menschheit wurde geschaffen für Unsicherheit und Kampf, für Entscheidungen und Veränderungen.« Moiraine lauschte ohne ein äußeres Anzeichen der Ungeduld, doch Egwene glaubte, die Aes Sedai müsse fast am Platzen sein. Sie war daran gewöhnt, Vorträge zu halten, nicht aber, Lektionen erteilt zu bekommen. Sie schwieg, als Egwene ihr aus dem Kleid half, und sagte auch nichts, bis sie schließlich nackt am Rand der Teppiche kauerte und den Abhang hinunter in Richtung der in Nebel gehüllten Stadt spähte. Dann sagte sie: »Laßt nicht zu, daß Lan mir folgt. Er wird es versuchen, wenn er mich sieht.« »Es wird, wie es wird«, antwortete Bair. Ihre dünne Stimme klang kalt und endgültig.

Nach einem Augenblick des Zögerns nickte Moiraine unwillig und schlüpfte aus dem Zelt, hinein in den gleißenden Sonnenschein. Sie fing sofort zu rennen an, barfuß den heißen Abhang hinunter.

Egwene verzog das Gesicht. Rand und Mat, Aviendha, jetzt auch Moiraine, und alle unterwegs nach Rhuidean. »Wird sie es... überleben? Wenn Ihr davon geträumt habt, müßt Ihr es doch wissen.« »Es gibt ein paar Orte in Tel'aran'rhiod, die man nicht betreten kann«, sagte Seana. »Rhuidean. Ein Ogier-Stedding. Und noch ein paar. Was dort geschieht, ist vor den Augen einer Traumgängerin verborgen.« Das war natürlich keine Antwort, denn sie konnten ja beobachtet haben, ob sie aus Rhuidean wieder zurückkam oder nicht. Aber eine bessere Antwort würde sie wohl nicht erhalten. »Also gut. Soll ich auch gehen?« Der Gedanke, das zu erleben, was hinter den Ringen lag, behagte ihr überhaupt nicht. Es wäre, als müsse sie noch einmal ihre Prüfung zur Aufgenommenen ablegen. Doch wenn die anderen alle gingen...

»Seid keine Närrin«, sagte Amys energisch.

»Wir haben dazu nichts vorhergesehen, was Euch betraf«, fügte Bair in milderem Tonfall hinzu. »Genauer gesagt, haben wir Euch überhaupt nicht gesehen.« »Und ich würde auch nicht zustimmen, wenn Ihr darum bittet«, ergänzte Amys. »Vier sind notwendig, um die erforderliche Genehmigung zu erteilen, und ich wäre dagegen. Ihr seid hier, um das Traumgehen richtig zu erlernen.« »Wenn das so ist«, sagte Egwene und lehnte sich bequem an ihr Kissen, »dann fangt an. Es muß doch etwas geben, was Ihr mir beibringen könnt, bevor die Sonne untergeht.« Melaine runzelte die Stirn, doch Bair schmunzelte. »Sie ist genauso eifrig und ungeduldig wie du, als du dich einmal zum Lernen entschlossen hattest, Amys.« Amys nickte. »Ich hoffe, der Eifer wird anhalten, aber die Ungeduld verschwinden — in ihrem eigenen Interesse. Hört mal, Egwene. Es wird vielleicht schwer für Euch, aber Ihr müßt vergessen, daß Ihr eine Aes Sedai seid, wenn Ihr —ach, Ihr seid nun unsere Schülerin —, wenn du richtig lernen willst. Du mußt zuhören, dich erinnern und das tun, was man dir aufträgt. Und was am wichtigsten ist: Du darfst Tel'aran'rhiod nicht mehr betreten, bis eine von uns dir die Erlaubnis gibt. Kannst du das akzeptieren?« Es würde ihr natürlich nicht schwerfallen, zu vergessen, daß sie eine Aes Sedai war, weil sie ja gar keine war. Ansonsten klang es ganz danach, wieder Novizin zu werden. »Ich kann es akzeptieren.« Sie hoffte, es habe nicht so geklungen, als hege sie Zweifel.

»Gut«, sagte Bair. »Ich werde dir jetzt einiges über die Traumgänger und Tel'aran'rhiod erklären, und zwar sehr allgemein. Wenn ich fertig bin, wirst du alles wiederholen, was du erfahren hast. Wenn du nicht alle Tatsachen wiederholen kannst, wirst du heute abend anstelle der Gai'schain das Geschirr abwaschen. Falls dein Gedächtnis so schlecht ist, daß du auch nach einer Wiederholung durch mich nicht alles aufsagen kannst... Nun ja, darüber reden wir, falls es passiert. Hör zu.

Beinahe jede kann Tel'aran'rhiod berühren, aber nur wenige können diese Welt wirklich betreten. Von allen Weisen Frauen sind es nur wir vier, die sich hineinträumen können, und eure Weiße Burg hat fünfhundert Jahre lang keinen Träumer mehr hervorgebracht. Es hat nichts mit der Einen Macht zu tun, auch wenn das die Aes Sedai glauben. Ich kann die Macht nicht benützen, genausowenig wie Seana, aber wir sind genauso gute Träumgängerinnen wie Amys und Melaine. Viele Menschen streifen die Welt der Träume im Schlaf. Weil sie sie nur streifen, erwachen sie mit Gliederreißen oder Schmerzen, wo sie eigentlich Brüche oder sogar tödliche Verletzungen aufweisen sollten. Eine Traumgängerin jedoch geht vollständig in die Traumwelt hinein, und deshalb sind ihre Verletzungen beim Erwachen auch realer Art. Für eine, die sich ganz in jener Welt befindet, ob sie nun eine Traumgängerin ist oder nicht, bedeutet der Tod dort auch den Tod hier. Zu vollständig in den Traum einzugehen bedeutet aber, den Kontakt mit dem Körper hier in der wirklichen Welt zu verlieren. Es gibt dann keinen Weg zurück, und der Körper stirbt. Man erzählt, daß es einst Menschen gab, die körperlich in die Traumwelt gehen konnten und sich überhaupt nicht mehr hier befanden. Das war eine schlimme Sache, denn sie taten Unrecht dort. Niemand darf das wieder tun. Selbst wenn du glauben solltest, daß es dir möglich ist, darfst du es nicht tun, denn jedesmal verlierst du einen Teil deiner Menschlichkeit. Du mußt lernen, nach Tel'aran'rhiod zu gehen, wann du es wünscht und in dem von dir gewünschten Maß. Du mußt lernen, dort aufzuspüren, was du suchst, und zu interpretieren, was du siehst, in die Träume eines anderen Menschen deiner Nähe einzudringen, um eine Heilung zu beschleunigen, die zu erkennen, die sich soweit im Traum befinden, daß sie dir schaden können... « Egwene lauschte aufmerksam. Das faszinierte sie, wenn sie diese Andeutungen auf Dinge hörte, die sie niemals für möglich gehalten hätte, nun, und außerdem hatte sie nicht die Absicht, Geschirr abzuwaschen. Irgendwie war das alles nicht gerecht. Was Rand und Mat und die anderen auch in Rhuidean erwarten mochte, zumindest schickte man sie nicht in die Küche zum Geschirrabwaschen. Und ich war auch noch einverstanden! Es war einfach ungerecht. Aber andererseits bezweifelte sie, daß die anderen in Rhuidean mehr erfahren würden als sie hier von diesen Frauen.

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