58 Die Fallen von Rhuidean

Sobald die Tür verschwunden war, befand er sich in vollkommener Dunkelheit. Die Schwärze erstreckte sich in alle Richtungen, und doch konnte er sehen. Er nahm weder Wärme noch Kälte wahr, obwohl er ja naß war — überhaupt keine Sinneswahrnehmung. Er existierte nur. Einfache, graue Steinstufen erhoben sich vor ihm. Jede Stufe hing frei in der Luft, und so zog sich diese Treppe dahin, bis sie in der Entfernung nicht mehr zu sehen war. Er hatte so etwas schon zuvor gesehen, oder zumindest etwas Ähnliches, und er wußte, sie würde ihn dorthin führen, wo er hinwollte. So lief er die unmögliche Treppe empor, und immer wenn er den Fuß von einer Stufe hob und seinen feuchten Fußabdruck hinterließ, verblaßte diese Stufe hinter ihm und verschwand. Nur vor ihm warteten weitere Stufen und auch nur die, die ihn an sein Ziel führen würden. Auch das war das gleiche wie damals.

Habe ich sie mit Hilfe der Macht erzeugt, oder existieren sie auf irgendeine Weise?

Bei dem Gedanken begann der graue Boden unter seinen Stiefeln zu verblassen, und die anderen vor ihm liegenden Stufen wurden durchscheinend. Verzweifelt konzentrierte er sich auf sie: grauer Stein, ganz wirklich. Real! Das Verschwimmen hielt inne, und die Stufen konkretisierten sich. Nur waren sie jetzt nicht mehr so einfach und roh, sondern glänzten, und die Kanten waren kunstvoll eingefaßt. Er erinnerte sich schwach daran, das schon einmal so gesehen zu haben.

Er wagte nicht mehr, zu lange darüber nachzudenken, und hastete statt dessen achtlos weiter. Drei Stufen nahm er auf einmal, als er so durch die endlose Schwärze jagte. Sie würden ihn an sein Ziel bringen, aber wie lange würde es dauern? Welchen Vorsprung hatte Asmodean? Kannte der Verlorene einen schnelleren Weg? Da war eben wieder das gleiche Problem: Der Verlorene besaß alle notwendigen Kenntnisse, während er nur die Verzweiflung kannte.

Er verzog das Gesicht schmerzhaft, als er wieder nach vom blickte. Die Treppe hatte sich seinen langen Schritten angepaßt. Die Stufen hingen in so weitem Abstand voneinander im Leeren, daß er von einer zur anderen springen mußte. Dazwischen befand sich nur die endlose, schwarze Tiefe, tief wie... Er fand keinen Vergleich. Hier endete ein Sturz vielleicht niemals. Er zwang sich, die klaffenden Lücken zu ignorieren und weiterzulaufen. Die alte, halb verheilte Wunde an seiner Seite begann zu pulsieren. Er war sich dessen nur schwach bewußt. Doch daß er es überhaupt bemerkte, obwohl er in Saidin gehüllt war, zeigte ihm, daß die Wunde beinahe wieder aufgebrochen sein mußte. Beachte es nicht. Der Gedanke schwebte über dem Nichts in seinem Innern. Er wagte nicht, diesen Wettlauf zu verlieren, auch wenn er sich dabei umbrachte. Hörte denn diese Treppe niemals auf? Wie weit war er gekommen?

Plötzlich sah er vor sich in einiger Entfernung und etwas zur Linken eine Gestalt, einen Mann, wie ihm schien, in rotem Mantel und roten Stiefeln, der auf einer silbrig schimmernden Plattform stand und auf ihr durch die Dunkelheit glitt. Rand mußte ihn gar nicht genauer sehen, um zu wissen, daß es Asmodean war. Der Verlorene rannte nicht wie ein ausgepumpter Bauernjunge einher, sondern fuhr auf diesem Was-es-auch-war durch die Schwärze.

Rand blieb unvermittelt auf einer der Stufen stehen. Er hatte keine Ahnung, was das für eine Plattform war, die wie Metall glänzte, doch... Die Stufen vor ihm verschwanden. Die Steinplatte unter seinen Stiefeln begann, immer schneller vorwärts zu gleiten. Er spürte keinen Wind im Gesicht, der ihm gesagt hätte, daß er sich bewegte, sah keinen festen Anhaltspunkt, der ihm überhaupt eine Bewegung hätte deutlich machen können, aber er holte Asmodean gegenüber eindeutig auf. Er wußte nicht einmal, ob er das mit Hilfe der Macht fertigbrachte. Es schien einfach so zu geschehen. Die Steinstufe bebte, und er zwang sich, mit dem Nachdenken darüber aufzuhören. Ich weiß noch nicht genug.

Der dunkelhaarige Mann stand entspannt da, eine Hand in die Hüfte gestützt, und mit der anderen rieb er sich nachdenklich über das Kinn. Weiße Spitzen hingen ihm über den Nacken herunter und verbargen seine Hände fast zur Hälfte. Sein roter Mantel mit dem hohen Kragen schimmerte noch stärker als Satin und war von eigenartigem Schnitt. Rockschöße hingen ihm bis fast auf die Knie. Der Mann hing an etwas, das wie schwarze Fäden wirkte, ähnlich wie Stahldrähte, die sich von ihm in die umgebende Dunkelheit hinauszogen. Die hatte Rand mit Sicherheit bereits einmal gesehen.

Asmodean wandte den Kopf, und Rand schnappte erstmal nach Luft. Die Verlorenen konnten ja ihre Gesichter verändern oder zumindest anderen ein verändertes Gesicht vortäuschen, wie Lanfear es schon öfters gemacht hatte, aber das hier waren die Gesichtszüge von Jasin Natael, dem Gaukler! Er war so sicher gewesen, daß es Kadere sein werde, mit diesen Raubvogelaugen, deren Ausdruck sich nie änderte.

Im gleichen Augenblick bemerkte Asmodean ihn und fuhr zusammen. Die silbrige Platte unter dem Verlorenen schoß vorwärts, und plötzlich raste ein riesiger Feuervorhang, wie ein dünner Ausschnitt aus einer monströsen Flamme, nach hinten auf Rand zu — eine Meile hoch und eine Meile breit.

Er schlug verzweifelt mit der Macht zu, und in dem Augenblick, als die Feuerwand ihn zu erreichen drohte, zerbarst sie in unzählige Funken, die davonflogen und rasch verglimmten. Doch während der Feuervorhang noch verflog, raste bereits ein zweiter auf ihn zu. Er zerschlug ihn und ein dritter wurde sichtbar, und nach dem dritten dann ein vierter. Asmodean entkam mittlerweile, soviel war Rand klar. Wegen der Flammenvorhänge konnte er den Verlorenen nicht mehr sehen. Zorn glitt über die Oberfläche des Nichts, und er raffte soviel der Macht wie möglich zusammen.

Eine Feuerwalze erfaßte den auf ihn zurasenden roten Flammenvorhang und überrollte ihn. Das war nun keine dünne Scheibe mehr, sondern eine wilde, hoch aufragende Feuerwoge, wie vom Sturmwind vorwärtsgetrieben. Er bebte unter dem Ansturm der Macht, die ihn durchtobte. Zorn auf Asmodean krallte sich in die Oberfläche des Nichts.

Ein Loch öffnete sich in der feurigen Oberfläche. Nein, als Loch durfte man es nicht bezeichnen, denn als es Asmodean auf seiner schimmernden Plattform in Rands Richtung durchgelassen hatte, schloß es sich wieder. Der Verlorene hatte sich wohl mit einer Art Schutzschirm umgeben.

Rand zwang sich dazu, den fernen Zorn außerhalb des Nichts zu ignorieren. Nur in der kalten Ruhe innerhalb konnte er Saidin berühren. Wenn er den Zorn einließ, würde das Nichts zerspringen. Die Feuerwogen hörten zu existieren auf, als er den Strom der von ihm ausgehenden Macht unterbrach. Er wollte den Mann fangen und nicht umbringen.

Noch schneller glitt die Steinplatte durch die Dunkelheit. Er kam Asmodean immer näher. Mit einemmal blieb die Plattform des Verlorenen in der Dunkelheit stehen. Vor ihm entstand eine helle Öffnung, und durch die sprang er. Die silbrige Scheibe verschwand, und die Tür begann sich zu schließen. Rand schlug wild entschlossen mit der Macht zu. Er mußte die Tür offenhalten. Sobald sie geschlossen wäre, hätte er keine Ahnung mehr, wohin Asmodean geflohen war. Das Schrumpfen der Öffnung hielt inne. Ein von blendendem Sonnenschein erfülltes Viereck war geblieben, groß genug, um durchzusteigen. Er mußte es offenhalten und erreichen, bevor Asmodean zu weit weg war...

In dem Augenblick, als er an Anhalten dachte, stand seine Stufe auch schon still. Sie stand still, doch er wurde vorwärtsgeschleudert, direkt durch die Türöffnung hindurch. Sein Stiefel blieb an etwas hängen, doch dann überschlug er sich bereits auf hartem Boden und blieb schließlich atemlos liegen.

Er rang erst einmal nach Luft und richtete sich dann mühsam auf, denn er wagte nicht, auch nur einen Moment länger hilflos liegenzubleiben. Immer noch erfüllte ihn die Eine Macht mit Leben und Verderbnis. Seine Schrammen waren genauso fern von ihm wie sein mühevolles Luftholen, ebenso fern wie der gelbliche Staub, der ihn und seine feuchte Kleidung bedeckte. Und doch war er zur gleichen Zeit jeder winzigen Bewegung der glühendheißen Luft gewahr, jedes noch so kleinen Risses im harten Lehmboden. Schon verdunstete die Feuchtigkeit auf Hemd und Hose im Sonnenschein. Er befand sich in der Wüste, im Tal unterhalb des Chaendaer, keine fünfzig Schritt vom nebelumwallten Rhuidean entfernt. Die Tür war verschwunden.

Er trat einen Schritt auf die Nebelwand zu und blieb mit bereits erhobenem linken Fuß gleich wieder stehen. Der Absatz seines Stiefels war glatt abgeschnitten. Das mußte beim Hängenbleiben an der sich schließenden Tür geschehen sein. Er war sich vage bewußt, daß er trotz der Hitze schauderte. Er hatte nicht gewußt, daß es derart gefährlich war. Der Verlorene besaß all diese Kenntnisse. Asmodean würde ihm nicht entkommen.

Grimmig ordnete er seine Kleidung und steckte die Statuette des kleinen Mannes und sein Schwert entschlossen dorthin zurück, wo sie hingehörten. Dann rannte er auf den Nebel zu und mitten hinein. Graue Blindheit umgab ihn. Hier konnte ihm auch die in ihm angesammelte Macht nicht behilflich sein. Er rannte blindlings weiter.

Dann plötzlich warf er sich zu Boden und wälzte sich den letzten Schritt aus dem Nebel auf die rauhen Pflastersteine. Dort lag er und blickte hoch zu den drei hell leuchtenden Bändern, die im eigenartigen Licht Rhuideans silbrig blau wirkten. Sie schwebten in der Luft und erstreckten sich jeweils ein Stück nach rechts und links. Falls er aufstand, würden sie sich auf Höhe seiner Hüfte, seines Brustkorbs und seines Halses befinden. Sie waren so dünn, daß sie, von der Kante her betrachtet, beinahe nicht mehr zu sehen waren. Ihm war klar, wie sie erzeugt und dort aufgehängt worden waren, auch wenn er es nicht verstand. So hart wie Stahl und so scharf, daß dagegen eine Rasierklinge wie eine Feder gewirkt hätte. Wäre er in sie hineingelaufen, dann hätten sie ihn glatt durchschnitten. Ein kleiner Strom der Macht, und die silbernen Bänder zerfielen zu Staub. Kalter Zorn außerhalb des Nichts; innerhalb: kalte Zielstrebigkeit und die Eine Macht.

Das bläuliche Glühen der Nebelkuppel warf schattenloses Licht auf die halbfertigen, aus großen Platten gebauten Marmor- und Kristallpaläste mit den riesigen Glasflächen und die wolkendurchdringenden, kannelierten oder spiralförmigen Türme. Und auf der breiten Straße vor ihm lief Asmodean vorbei an ausgetrockneten Brunnen in Richtung des großen Platzes im Herz der Stadt.

Rand wollte die Macht gebrauchen, doch es schien auf seltsame Art schwierig geworden zu sein. Er zog an Saidin, riß förmlich daran, bis es in ihn hineintobte. Dann lenkte er die Macht, und mächtige gezackte Blitze schossen aus der Nebelkuppel herab. Er zielte nicht auf Asmodean. Geradewegs vor dem Verlorenen explodierten schimmernde weiße und rote Säulen, fünfzig Fuß dick und hundert Schritt hoch, jahrhundertealt, stürzten in Schutt- und Staubwolken auf die Straße und zerbarsten.

Von riesigen Fenstern aus farbigem Glas aus schienen die Bilder majestätischwürdevoller Männer und Frauen Rand mißbilligend anzublicken. »Ich muß ihn aufhalten«, sagte er zu ihnen. Seine Stimme warf ein Echo in den eigenen Ohren.

Asmodean blieb stehen und sprang vor den zusammenstürzenden Säulen zurück. Die auf ihn zutreibenden Staubwolken berührten seinen glänzend roten Mantel nicht, sondern teilten sich und machten ihm Platz.

Feuer erblühte um Rand, hüllte ihn ein, und die Luft wurde zu Feuer — und dann verschwand alles, bevor ihm überhaupt bewußt war, was er dagegen unternahm. Seine Kleidung war trocken und heiß, das Haar fühlte sich versengt an, und verklebter Staub fiel bei jedem Schritt von ihm ab. Asmodean kletterte über den Schutt auf der Straße. Weitere Blitze zuckten herab und brachten die Pflastersteine ein Stück vor ihm zum Aufbäumen. Steinbrocken flogen durch die Luft. Kristallene Palastwände wurden zerfetzt und verbreiteten Zerstörung vor ihm.

Der Verlorene verlangsamte seinen Schritt trotzdem nicht, und als er in den Staubwolken außer Sicht war, zuckten auch Blitze aus den leuchtenden Wolken auf Rand herab, blindlings geschleudert, aber ganz sicher in der Absicht, zu töten. Im Laufen webte Rand eine Abschirmung um sich herum. Steinbrocken prallten davon ab, als er den knisternden, blauen Blitzen auswich und über die Löcher sprang, die sie in das Pflaster rissen. Die Luft selbst sprühte Funken. Die Haare an seinen Armen stellten sich auf, und selbst sein Kopfhaar stand zu Berge.

Irgend etwas war in die Barriere aus zerschmetterten Säulen verwoben. Er festigte den Schutzschild um sich. Große Brocken roter und weißer Steine explodierten, als er sie packen und darüberklettern wollte. Reines, grelles Licht und herumfliegende Steine konnten ihn nicht aufhalten. Sicher in seiner Schutzblase geborgen, rannte er durch die Lücke und war sich des Grollens zusammenbrechender Gebäude nur am Rande bewußt. Er mußte Asmodean aufhalten. Unter großer Anstrengung — es kostete ihn wirklich Mühe — schleuderte er Blitze nach vorn. Feuerkugeln fetzten aus dem Boden empor. Alles, um den Mann im roten Mantel aufzuhalten. Er holte auf. Den großen Platz betrat er nur noch ein Dutzend Schritt hinter ihm. Er versuchte, noch schneller zu laufen, verdoppelte seine Bemühungen, Asmodean am Weiterkommen und der Flucht zu hindern. Asmodean kämpfte und versuchte, ihn zu töten.

Die Ter'Angreal und andere wertvolle Gegenstände, für deren Transport hierher so viele Aiel ihr Leben geopfert hatten, wurden von Blitzen hochgeschleudert, von wirbelnden Flammenrädern umgestürzt. Kunstvoll gefertigte Konstruktionen aus Silber und Kristall zersplitterten, und fremdartig anmutende Metallformen stürzten um, als der Erdboden bebte und breite Spalten aufrissen.

Asmodean suchte verzweifelt und rannte noch immer weiter. Dann warf er sich auf etwas, was inmitten all dieser Trümmer am unauffälligsten schien: eine aus weißem Stein gehauene, vielleicht einen Fuß lange Figur, die auf dem Rücken lag und einen Mann mit einer Kristallkugel in einer hochgereckten Hand darstellte. Asmodean schloß seine Hände mit einem erleichterten Aufschrei um sie.

Einen Herzschlag später ergriffen auch Rands Hände die Figur. Einen winzigen Augenblick lang nur sah er dem Verlorenen ins Gesicht. Er sah genauso aus wie vorher als Gaukler, nur lag in seinen dunklen Augen eine wilde Verzweiflung. Er war ein durchaus gutaussehender Mann von mittleren Jahren, und nichts zeigte, daß er einen der Verlorenen vor sich hatte. Ein winziger Augenblick, und dann griffen sie beide durch die Figur hindurch, den Ter'Angreal, nach einem der beiden mächtigsten Sa'Angreal, die jemals angefertigt worden waren.

Rand nahm undeutlich eine große, halb begrabene Statue im fernen Cairhien wahr, die in der Hand eine enorme Kristallkugel hielt. Sie glühte wie eine Sonne und pulsierte mit der Einen Macht. Und die Macht in ihm selbst wogte auf wie alle Meere der Welt zusammen im Sturm. Damit ließ sich alles vollbringen. Wahrscheinlich hätte er jetzt sogar das tote Kind wiederbeleben können. Die Verderbnis schwoll im gleichen Maße an und verbog jede Faser seines Seins, kroch in jede Ritze, in seine Seele. Er verspürte den Wunsch, aufzuheulen oder zu explodieren. Und doch hatte er nur die Hälfte dessen aufgenommen, was der Sa'Angreal geben konnte. Die andere Hälfte erfüllte Asmodean.

Hin und her zerrten sie die Figur, stolperten über verstreute und zerbrochene Ter'Angreal, stürzten, aber keiner wagte, auch nur einen Finger von der Figur zu lösen, aus Angst, der andere könne sie ihm entreißen. Und doch wurde gleichzeitig, während sie übereinander rollten, gegen einen Türrahmen aus Sandstein prallten, der auf wundersame Weise stehengeblieben war, dann an eine umgefallene aber unbeschädigte Kristallstatue stießen, die eine nackte Frau mit einem an die Brust gedrückten Kind darstellte, während sie also um den Ter'Angreal rangen, der Kampf auch auf einer anderen Ebene ausgetragen.

Hammerschläge aus purer Energie, stark genug, um Berge einzuebnen, prasselten auf Rand hernieder, und Klingen, die das Herz der Erde durchbohren konnten, stachen auf ihn ein. Ungesehene Zangen versuchten, ihm den Verstand aus dem Körper zu reißen, und rissen selbst an seiner Seele. Jeder Fetzen der Macht, den er an sich ziehen konnte, wurde gebraucht, um diese Angriffe abzuwehren. Er war sicher, daß ihn in diesen Momenten jeder vernichten könne, als habe es ihn nie gegeben. Er war dagegen nicht sicher, wohin ihr Kampf sie führte. Der Boden unter ihnen bebte und schüttelte sie bei ihrem Ringkampf durch, ließ sie in ein Wirrwarr überanstrengter Muskeln stürzen. Schwach drang ein allumfassendes Grollen in sein Bewußtsein, ein tausendfaches Baßgesumme wie von einer fremdartigen Musik. Die Glassäulen bebten und vibrierten. Er konnte sich jetzt keine Gedanken über sie machen.

All diese schlaflosen Nächte rächten sich jetzt, und nun noch diese wilde Jagd. Er war müde, und wenn er das sogar im Nichts wahrnahm, dann mußte er dem Zusammenbruch nahe sein. Als er von der sich aufbäumenden Erde durchgeschüttelt wurde, wurde ihm bewußt, daß er nicht mehr versuchte, Asmodean den Ter'Angreal zu entreißen. Er hing nur noch daran und wollte wenigstens nicht loslassen. Bald würde seine Kraft verbraucht sein. Selbst wenn er seinen Griff an der Steinfigur behaupten konnte, würde er doch Saidin aufgeben müssen, oder die Macht würde ihn wegschwemmen und genauso sicher vernichten, wie Asmodean das wollte. Er war nicht mehr in der Lage, auch nur einen einzigen weiteren Strang aus dem Ter'Angreal zu ziehen. Zwischen Asmodean und ihm herrschte Gleichgewicht. Jeder fühlte in sich genau die Hälfte dessen, was der große Sa'Angreal in Cairhien liefern konnte. Asmodean schnaufte ihm ins Gesicht, knurrte. Schweiß rann dem Verlorenen über Stirn und Wangen und tropfte herab. Der Mann war auch müde. Aber genauso müde wie er?

Die aufzuckende Erde wuchtete Rand einen Augenblick lang empor, und gleich war Asmodean ebenso schnell über ihm, doch in diesem einen Moment spürte Rand, wie sich etwas zwischen sie preßte: die kleine Figur des fetten Mannes mit dem Schwert, die immer noch in seinem Hosenbund steckte. Ein unbedeutender Gegenstand, wenn man die ungeheure Machtfülle betrachtete, aus der sie ihre Energie bezogen. Ein Becher Wasser, verglichen mit einem gewaltigen Strom, mit einem Meer. Er wußte nicht einmal, ob er die kleine Figur benützen konnte, während er noch an den großen Sa'Angreal gekettet war. Und wenn es möglich war? Asmodean fletschte die Zähne. Es war keine Grimasse, sondern ein in Erschöpfung erstarrtes Lächeln. Der Mann glaubte, er werde gewinnen. Vielleicht hatte er recht. Rands Finger zitterten. Sein Griff an dem Ter'Angreal wurde schwächer. Trotz der Verbindung mit dem großen Sa'Angreal konnte er sich nur noch mühsam an Saidin klammern.

Er hatte diese eigenartigen Dinge, die wie schwarze Stahldrähte aussahen, nicht mehr an Asmodean erkennen können, seit er diesen Ort der Dunkelheit verlassen hatte, aber selbst im Nichts konnte er sie sich vorstellen und sie im Geist an den Verlorenen anhängen. Tam hatte ihm das mit dem Nichts als Konzentrationshilfe beim Bogenschießen beigebracht, um eins zu werden mit dem Bogen, dem Pfeil, dem Ziel. So wurde er eins mit den vorgestellten schwarzen Drähten. Er bemerkte kaum, wie Asmodean die Stirn runzelte. Der Mann mußte sich fragen, wieso sein Gesichtsausdruck mit einemmal so ruhig geworden war. Diese Ruhe war immer in dem Moment da, bevor er den Pfeil abschoß. Er griff durch den kleinen Angreal in seinem Hosenbund, und noch mehr Macht durchströmte ihn. Er verschwendete keine Zeit damit, sich darüber zu freuen. Es war ja nur ein so kleiner Strom, verglichen mit dem, der ihn bereits erfüllte, und dies war sein letzter Schlag. Er würde das letzte bißchen Kraft in ihm verschlingen. Er formte sie wie ein Schwert der Macht, ein Schwert des Lichts, und stieß zu, eins mit dem Schwert, eins mit den Drähten in seiner Vorstellung.

Asmodean riß die Augen auf, und er schrie, ein Heulen aus den tiefsten Abgründen des Schreckens. Der Verlorene bebte wie ein geschlagener Gong. Einen Augenblick lang schien er zweimal dazusein. Die beiden Asmodeans zitterten auseinander und vereinigten sich wieder. Er kippte nach hinten, breitete die Arme aus und lag schwer atmend da. Sein roter Mantel war nun zerfetzt und verschmutzt. Er sah hoch ins Leere. Seine dunklen Augen blickten verloren.

Als er zusammenbrach, konnte Rand Saidin nicht mehr festhalten, und die Macht verließ ihn. Er hatte kaum mehr genug Kraft, um den Ter'Angreal an seine Brust zu drücken und sich von Asmodean wegzurollen. Er rappelte sich auf die Knie hoch und fühlte sich dabei, als erklimme er einen Berg. Erleichtert drückte er die Figur das Mannes mit der Kristallkugel an sich. Die Erde hatte aufgehört zu beben. Die Glassäulen standen noch, und dafür war er dankbar. Sie zu zerstören wäre einem Auslöschen der Geschichte der Aiel gleichgekommen. Obwohl das Pflaster unter Avendesora mit dreifingrigen Blättern übersät war, hing nur ein Zweig des großen Baumes abgebrochen herab. Doch der Rest von Rhuidean...

Der Platz wirkte, als sei alles von einem wahnsinnigen Riesen aufgehoben und durcheinandergeworfen worden. Die Hälfte der großen Paläste und Türme waren nur noch Schutthaufen. Einiges hatte sich auf den Platz hineingeschoben. Riesige Säulen waren umgestürzt und hatten andere mitgerissen. Wände waren eingestürzt, und Löcher klafften, wo vorher großflächige Fenster aus buntem Glas gewesen waren. Durch die ganze Stadt zog sich ein Riß, eine Bodenspalte, fast fünfzig Fuß breit. Und damit endete die Zerstörung keineswegs. Die Nebelkuppel, die Rhuidean so viele Jahrhunderte lang verborgen hatte, löste sich auf. Die Unterseite leuchtete nicht mehr, und greller Sonnenschein fiel durch große Wolkenlöcher. Jenseits der Stadt schien auch der Gipfel des Chaendaer verändert, niedriger, und auf der gegenüberliegenden Seite des Tals hatten einige der Berge auf jeden Fall von ihrer Höhe verloren. Am Nordende des Tals lag ein riesiger Schuttfächer über dem Land, wo sich vorher ein Berg aufgetürmt hatte.

Ich bringe Zerstörung. Immer zerstöre ich! Licht, hört das denn niemals auf?

Asmodean rollte sich auf den Bauch herum und erhob sich auf Hände und Knie. Sein Blick fand Rand und den Ter'Angreal, und er machte Anstalten, auf sie zuzukriechen.

Rand hätte keinen einzigen Funken mehr mit Hilfe der Macht schlagen können, aber er hatte sich zu wehren gelernt, bevor er noch den ersten Alptraum der Einen Macht wegen erlebt hatte. Er hob drohend eine Faust. »Denkt nicht einmal daran!« Der Verlorene blieb, wo er war, und wankte erschöpft. Sein Gesicht erschlaffte, und doch kämpften sichtlich Verzweiflung und Gier darin. Haß und Furcht glitzerten in seinen Augen.

»Es macht mir Spaß, Männer kämpfen zu sehen, aber Ihr zwei könnt ja noch nicht einmal stehen.« Lanfear kam in Rands Gesichtsfeld und betrachtete kopfschüttelnd die Zerstörungen. »Ihr habt ganze Arbeit geleistet. Könnt Ihr die Spuren noch fühlen? Der Ort war irgendwie abgeschirmt. Ihr habt mir nicht genug übriggelassen, um genau feststellen zu können, auf welche Weise.« Mit plötzlich strahlenden dunklen Augen kniete sie vor Rand nieder und musterte, was er in der Hand hielt. »Also dahinter war er her. Ich glaubte, sie seien alle zerstört worden. Vom einzigen, den ich bisher zu sehen bekam, ist nur die Hälfte übriggeblieben. Eine schöne Falle für eine unvorsichtige Aes Sedai.« Sie streckte eine Hand aus, und er packte den Ter'Angreal noch ein wenig fester. Ihr Lächeln berührte ihre Augen nicht. »Behalte ihn ruhig. Für mich ist das nicht mehr als eine Statuette.« Sie erhob sich und klopfte sich den Staub vom weißen Rock, obwohl das gar nicht nötig war. Als sie bemerkte, daß er sie beobachtete, hörte sie auf, den schuttbedeckten Platz mit Blicken abzusuchen, und lächelte noch etwas strahlender. »Was du benützt hast, war einer der beiden SaAngreal, von denen ich dir erzählt habe. Hast du gespürt, wie unwahrscheinlich mächtig er ist? Ich habe mich schon lange gefragt, wie das ist, wenn man ihn benützt.« Sie schien sich der Gier in ihrem Tonfall nicht bewußt. »Mit den beiden zusammen können wir selbst den Großen Herrn der Dunkelheit verdrängen. Das stimmt, Lews Therin! Gemeinsam!« »Hilf mir!« Asmodean kroch unsicher auf sie zu, Entsetzen auf dem erhobenen Gesicht. »Du weißt nicht, was er getan hat. Du mußt mir helfen. Ich wäre nicht hergekommen, wenn du nicht wärst.« »Was hat er denn getan?« schniefte sie. »Hat dich wie einen Hund geprügelt, und das noch nicht einmal halb so fest, wie du es verdient hättest. Du warst nie für Großes bestimmt, Asmodean, nur, denen zu folgen, die wirklich groß sind.« Rand brachte es fertig, aufzustehen, wobei er immer noch die Figur aus Stein und Kristall an seine Brust drückte. Er wollte in ihrer Gegenwart nicht weiterhin auf den Knien liegen. »Ihr Auserwählten« — er wußte, daß es gefährlich war, sie zu reizen, aber er konnte nicht anders —»habt Eure Seelen dem Dunklen König verschrieben. Ihr habt zugelassen, daß er sich mit Euch verband.« Wie oft hatte er seinen Kampf gegen Ba'alzamon im Geist wiederholt? Wie oft, bevor er zu ahnen begann, was diese schwarzen Drähte zu bedeuten hatten? »Ich habe ihn vom Dunklen König abgeschnitten, Lanfear. Ich habe ihn abgeschnitten!« Sie riß entsetzt die Augen auf und blickte von ihm zu Asmodean und zurück. Der Mann hatte zu weinen begonnen. »Ich habe das nicht für möglich gehalten. Wieso? Hast du vor, ihn zum Licht zu führen? Du hast doch damit nichts in ihm verändert.« »Er ist noch immer der gleiche Mann, der sich einst dem Schatten verschrieben hat«, stimmte ihr Rand zu. »Ihr habt mir ja erzählt, wie wenig Ihr Auserwählten Euch gegenseitig vertraut. Wie lange könnte er es geheimhalten? Wie viele von Euch würden glauben, daß er es nicht irgendwie selbst fertiggebracht habe? Ich bin froh, daß Ihr es für unmöglich gehalten habt. Vielleicht werden es auch die anderen von Euch für unmöglich halten. Ihr habt mich erst darauf gebracht, Lanfear. Ein Mann, der mich im Gebrauch der Macht unterrichten kann. Aber ich lasse mich nicht von einem Mann unterweisen, der mit dem Dunklen König verbunden ist. Nun habe ich dieses Problem nicht mehr. Er mag ja der gleiche Mann sein, aber er hat nun wohl keine Wahl mehr, oder? Er kann bleiben und mich unterrichten und hoffen, daß ich gewinne, und mir zu gewinnen helfen, oder er kann hoffen, daß Ihr anderen das nicht als Ausrede benützt, um ihn fertigzumachen. Wie wird er sich Eurer Meinung nach entscheiden?« Asmodean starrte aus seiner gebückten Haltung Rand wild an. Dann streckte er eine bittende Hand nach Lanfear aus. »Sie werden dir glauben! Du kannst es ihnen sagen! Ich wäre nicht hier, wenn du nicht gewesen wärst! Du mußt es ihnen sagen! Ich bin dem Großen Herrn der Dunkelheit treu!« Auch Lanfear starrte Rand an. Zum erstenmal überhaupt bemerkte er eine Unsicherheit an ihr. »An wieviel kannst du dich wirklich noch erinnern, Lews Therin? Wieviel an dir bist du selbst und wieviel der Schafhirte? Das ist die Art von Plan, den du damals entworfen hättest, als wir... « Sie holte tief Luft und wandte sich Asmodean zu. »Ja, sie werden mir glauben — wenn ich ihnen berichte, daß du zu Lews Therin übergegangen bist. Jeder weiß, daß du grundsätzlich tust, wovon du dir den größten Vorteil versprichst. Ja, so geht das.« Sie nickte befriedigt in sich hinein. »Noch ein kleines Geschenk für dich, Lews Therin. Diese Abschirmung wird ein ganz klein wenig der Macht durchlassen, gerade genug, daß er dich in ihrem Gebrauch unterweisen kann. Sie wird sich mit der Zeit auflösen, aber er wird noch monatelang nicht in der Lage sein, dich zu gefährden, und bis dahin wird ihm überhaupt nichts mehr anderes übrigbleiben, als bei dir zu bleiben. Er war noch nie sehr geschickt darin, eine Abschirmung zu durchbrechen. Dazu muß man gewillt sein, Schmerzen zu ertragen, und das hat er nie gekonnt.« »Neeeein!« Asmodean kroch zu ihr hin. »Das kannst du mir doch nicht antun! Bitte, Mierin! Bitte!« »Ich heiße Lanfear!« Im Zorn verzerrte sich ihr Gesicht so, daß es plötzlich häßlich wirkte, und der Mann schwebte mit ausgebreiteten Armen und Beinen in die Luft. Die Kleider wurden an seinen Körper gepreßt und die Gesichtshaut verzogen, als laste ein großes Gewicht darauf.

Rand konnte nicht zulassen, daß sie den Mann tötete, aber er war zu müde, um die Wahre Quelle ohne Hilfe zu berühren. Er konnte sie kaum fühlen — wie ein fernes Glühen, gerade außer Sichtweite. Einen Moment lang verkrampften sich seine Hände um den Steinmann mit der Kristallkugel. Wenn er jetzt wieder hindurch und nach dem riesigen SaAngreal in Cairhien griff, würde ihn diese Machtfülle möglicherweise zerstören. Statt dessen griff er durch die Steinfigur in seinem Hosenbund. Mit Hilfe dieses Angreals brachte er nur einen schwachen Strom zustande, ein haarfeines Gerinnsel im Vergleich zu dem anderen, aber er war zu müde, um mehr Macht an sich zu ziehen. Er schleuderte sie zwischen die beiden Verlorenen und hoffte, sie wenigstens damit abzulenken.

Ein weißglühender, zehn Fuß hoher Lichtstrahl stand plötzlich zwischen dem Paar. Seine Ränder verschwammen, und eine blau sprühende Entladung brannte eine schrittbreite Rinne in das Pflaster des Platzes, einen glatten Schnitt, an dessen Außenseiten geschmolzene Erde und Steine glühten. Dann schlug der Feuerstrahl in eine grüngemaserte Palastwand ein, und sie explodierte. Der nachhallende Donner wurde vom Lärm des Einsturzes übertönt. Auf der einen Seite des klaffenden Spalts ließ sich Asmodean schaudernd auf den Boden sinken, wobei ihm Blut aus Nase und Ohren rann, und auf der anderen Seite taumelte Lanfear wie geschlagen nach hinten, und dann fuhr sie zu Rand herum. Er wankte nach der kräftezehrenden Anstrengung und verlor den Zugriff auf Saidin wieder.

Einen Augenblick lang verzerrte abgrundtiefe Wut ihr Gesicht, wie zuvor Asmodean gegenüber. Diesen einen Moment über stand Rand am Abgrund des Todes. Dann verschwand die Wut genauso schnell, wie sie gekommen war, und wurde hinter einem verführerischen Lächeln verborgen. »Nein, ich darf ihn nicht töten. Nicht nach all der Mühe, die wir uns gegeben haben.« Sie kam zu ihm herüber und streichelte über die Seite seines Halses, wo sie ihn in seinem Traum gebissen hatte. Die Wunde heilte gerade. Moiraine hatte er nichts davon erzählt. »Du trägst noch immer mein Zeichen. Soll ich es endgültig haltbar machen?« »Habt Ihr jemandem im Alcair Dal oder in den Lagern etwas angetan?« Sie hörte nicht auf zu lächeln, aber ihre Geste änderte sich. Die Finger krallten plötzlich, als wolle sie ihm den Kehlkopf ausreißen. »Wen zum Beispiel? Ich glaubte, du hättest eingesehen, daß du dieses kleine Bauernmädchen gar nicht liebst? Oder liegt es an der Aielschlampe?« Eine Viper. Eine tödliche Viper, die ihn liebte. Licht, hilf mir! Er wußte nicht, wie er sie daran hindern konnte, falls sie zubeißen wollte, gleich, ob ihn oder jemanden anders.

»Ich will nicht, daß jemand verletzt wird. Ich brauche sie noch. Ich kann sie benutzen.« Es schmerzte, so etwas zu sagen, besonders, weil es auch einen Anteil an Wahrheit enthielt. Aber Lanfears Giftzahn von Egwene und Moiraine, von Aviendha und anderen fernzuhalten, die ihm nahestanden, war ein wenig Schmerz wert.

Sie warf den schönen Kopf zurück und lachte herzlich. Es klang wie Glockengeläut. »Ich kann mich an Zeiten erinnern, da hattest du ein zu weiches Herz, um irgend jemanden zu benutzen. Raffiniert im Kampf, hart wie Stein und überheblich wie ein ganzes Gebirge, und doch mit dem weichen Herz eines kleinen Mädchens. Nein, ich habe keiner von deinen kostbaren Aes Sedai etwas getan, noch deiner kostbaren Aielfrau. Ich töte nicht ohne die Notwendigkeit dazu, Lews Therin. Ich verletze noch nicht einmal jemanden ohne Grund.« Er vermied es betont, Asmodean direkt anzusehen. Der Mann war leichenblaß, atmete rauh und unregelmäßig, hatte sich auf eine Hand gestützt, und mit der anderen wischte er sich das Blut von Mund und Kinn.

Lanfear drehte sich langsam um und betrachtete noch einmal den großen Platz. »Ihr habt diese Stadt genauso gründlich zerstört, wie es ein ganzes Heer vermocht hätte.« Aber sie betrachtete nicht wirklich, wie sie vorgab, die Ruinen der Paläste, sondern den Schutt und die Überreste der Ter'Angreal und was sonst noch hier gestanden hatte. Ihre Mundwinkel waren straff gespannt, als sie sich wieder Rand zuwandte, und in ihren dunklen Augen stand auch etwas an unterdrücktem Ärger. »Gebrauche das, was er dich lehrt, weise, Lews Therin. Die anderen warten immer noch dort draußen: Sammael, der dich so beneidet, Demandred mit seinem Haß, Rahvin und sein Machthunger. Falls — wenn — sie erfahren, daß du dies in Händen hältst, werden sie ihre Anstrengungen, dich zu stürzen, noch verstärken!« Ihr Blick huschte zu der fußhohen Figur in seinen Händen, und einen Moment lang hatte er das Gefühl, sie erwäge, sie ihm zu entreißen. Nicht, um ihm den Rücken den anderen gegenüber freizuhalten, sondern weil sie fürchtete, er könne zu stark für sie werden. Jetzt gerade war er wahrscheinlich zu schwach, um ihre Hände abzuwehren. Im einen Augenblick überlegte sie, ob sie ihm den Ter'Angreal überlassen solle, und im nächsten schätzte sie den Grad seiner Erschöpfung ab. So oft sie auch von ihrer Liebe zu ihm sprach, wollte sie doch möglichst weit weg sein, wenn er sich erholt hatte und das Ding benützt. Ihr Blick wanderte noch einmal kurz über den Platz. Sie schürzte die Lippen. Doch dann öffnete sich neben ihr eine Tür, aber keine in die Dunkelheit, sondern in etwas, das wie ein Raum in einem Palast aussah — alles in weißem Marmor gehalten und mit seidenen Wandbehängen.

»Welche von ihnen wart Ihr?« fragte er, als sie darauf zutrat, und sie blieb stehen und sah sich nach hinten zu ihm um. Ihr Lächeln wirkte nun geradezu kokett.

»Glaubst du, ich könne es ertragen, die fette, häßliche Keille zu sein?« Sie strich mit den Hände über ihren schlanken Körper, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. »Isendre dagegen... Die schlanke, schöne Isendre. Ich dachte mir, wenn du einen Verdacht hättest, würde der Isendre gelten. Aber mein Stolz ist ausgeprägt genug, um, wenn es notwendig ist, auch ein wenig Fett zu ertragen.« Das Lächeln entblößte nun ihre Zähne. »Isendre glaubte, sie habe es mit einfachen Schattenfreunden zu tun. Ich wäre nicht überrascht, wenn sie gerade dabei wäre, einigen zornigen Aielfrauen verzweifelt zu erklären, warum eine Menge von ihren goldenen Halsketten und Armreifen am Grund ihrer Truhe entdeckt wurde. Sie hat auch tatsächlich einige davon gestohlen.« »Ich habe mich wohl verhört, als Ihr sagtet, Ihr hättet niemandem etwas angetan?« »Jetzt kommt wohl wieder dein weiches Herz zum Vorschein. Ich kann auch ein zartes Frauenherz heraushängen, wenn ich will. Ich glaube nicht, daß du sie vor einer Prügelstrafe bewahren kannst, und das verdient sie auch, wenn ich bedenke, welche Blicke sie mir zugeworfen hat, aber wenn du schnell zurückkehrst, kannst du die anderen daran hindern, sie mit nur einem Wasserschlauch ausgerüstet zu Fuß durch dieses glühende Land zurückzuschicken. Wie es scheint, sind diese Aiel recht streng, was Diebe betrifft.« Sie lachte erheitert und schüttelte den Kopf. »So anders, als sie einmal waren. Man konnte einem Da'schain ins Gesicht schlagen, und er fragte lediglich, was er getan habe. Und wenn man noch mal zuschlug, fragte er höchstens, ob er provoziert habe. Das änderte sich nicht, und wenn man den ganzen Tag so weitermachte.« Sie warf Asmodean einen verächtlichen Seitenblick zu und fügte hinzu: »Lerne nur schnell und gut, Lews Therin. Ich will, daß wir gemeinsam regieren, und deshalb will ich auch nicht erleben, wie Sammael dich tötet oder Graendal dich ihrer Sammlung schöner junger Männer einverleibt. Lerne gut und schnell.« Sie trat in den mit weißem Marmor und Seide ausgestatteten Raum, und die Tür schien sich zur Seite zu drehen, zu verengen, und verschwand.

Rand atmete zum erstenmal seit ihrem Auftauchen richtig tief ein. Mierin. Eine Name, an den er sich von den Glassäulen her erinnerte. Die Frau, die im Zeitalter der Legenden das Gefängnis des Dunklen Königs gefunden und sich einen Weg hineingebahnt hatte. Hatte sie damals gewußt, was es war? Wie war sie diesem feurigen Verderben entronnen, das er gesehen hatte? Hatte sie sich sogar damals schon dem Dunklen König hingegeben?

Asmodean rappelte sich mühsam hoch. Er stand unsicher da und stürzte beinahe wieder. Er blutete nicht mehr, aber dünne Blutgerinnsel zogen sich immer noch von den Ohren an den Seiten seines Halses entlang nach unten, und Mund und Kinn waren blutverschmiert. Sein schmutziger roter Mantel war zerrissen, die weißen Spitzen verfilzt und zerfetzt. »Es war meine Verbindung zum Großen Herrn, die mir ermöglicht hat, Saidin zu berühren, ohne wahnsinnig zu werden«, sagte er heiser. »Alles, was Ihr fertiggebracht habt, war, mich genauso verwundbar zu machen, wie Ihr es seid. Ihr könnt mich genausogut laufen lassen. Ich bin kein sehr guter Lehrer. Sie hat mich nur deshalb dafür ausgewählt, weil... « Seine Lippen verzogen sich, als wolle er seine Worte zurückholen.

»Weil es niemand anderen dafür gibt«, beendete Rand den Satz und wandte sich ab.

Auf zittrigen Beinen überquerte Rand den breiten Platz, wobei er sich den Weg durch den Schutt bahnen mußte. Er und Asmodean waren von Avendesora aus halb um den Wald aus Glassäulen herumgeschleudert worden. Kristallsockel lagen zwischen umgestürzten Statuen von Männern und Frauen. Einige waren zu Bruchstücken zerbrochen, andere wiesen noch nicht einmal Scharten auf. Ein großer, abgeflachter Ring aus silbrigem Metall lag schief über aus Metall und Stein gefertigten Stühlen, anderen eigenartigen Gegenständen aus Metall und Kristall und Glas, alles in einem Schutthaufen unter zerschmetterten Brocken begraben. Obenauf stand ein schwarzer Metallschaft vollkommen aufrecht in unmöglich scheinendem Gleichgewicht. Aber so ähnlich sah es auf dem ganzen Platz aus.

Er suchte vom großen Baum aus ein wenig herum und hatte auch schnell gefunden, wonach er gesucht hatte. Er trat Bruchstücke von spiralförmigen Glasrohren aus dem Weg, schob einen einfachen, aus rotem Kristall geschnittenen Stuhl zur Seite und nahm eine fußhohe, weiße Steinfigur in die Hand, eine Frau mit ernstem, würdigem Gesicht in einer langen Robe. Sie hielt eine durchsichtige Kugel in einer Hand. Und die war noch ganz. Für ihn, wie für jeden Mann, war sie genauso nutzlos wie ihr männlicher Zwilling für Lanfear. Er überlegte, ob er sie zerbrechen solle. Wenn er diese Figur auf die Pflastersteine schmetterte, würde die Kristallkugel bestimmt zerplatzen.

»Danach hat sie gesucht.« Er hatte nicht bemerkt, daß ihm Asmodean gefolgt war. Wankend rieb sich der Mann über den blutverschmierten Mund. »Sie wird Euch das Herz aus dem Leib reißen, um das in die Hand zu bekommen.« »Oder Eures, weil Ihr es vor ihr geheimgehalten habt.

Sie liebt mich.« Licht, hilf mir. Als würde man von einer tollwütigen Wölfin geliebt.

Nach einem Augenblick der Überlegung nahm er die weibliche Statuette neben die männliche in seine Armbeuge. Er konnte sie vielleicht doch einmal gebrauchen. Und ich will nicht noch mehr zerstören. Doch als er sich umsah, entdeckte er außer Zerstörung noch etwas. Der Nebel war fast ganz von der Ruinenstadt gewichen. Nur ein paar hauchdünne Nebelschleier schwebten noch zwischen den Gebäuden, die unter der sinkenden Sonne noch immer aufrechtstanden. Der Boden des Tals senkte sich jetzt steil nach Süden zu, und aus dem großen Spalt quer durch die Stadt quoll Wasser! Die Spalte mußte tief sein und bis auf den großen, verborgenen Ozean hinabreichen, der sich dort unten befand. Jetzt lief bereits das untere Ende des Tals voll. Ein See. Er würde sich vielleicht einmal bis zur Stadt hin erstrecken. Ein möglicherweise drei Meilen langer See in einem Land, wo die Menschen schon über ein Wasserloch von zehn Fuß Durchmesser staunten. Menschen würden in dieses Tal ziehen und sich hier ansiedeln. Er sah schon die umgebenden Berge vor sich, wie man an den Hängen Terrassenfelder angelegt hatte, auf denen es grün sproß. Sie würden Avendesora pflegen, den letzten Chorabaum. Vielleicht würden sie sogar Rhuidean neu erbauen. Dann hatte auch die Wüste ihre Stadt. Ob er wohl lange genug leben würde, um das noch zu erleben?

Mit Hilfe des Angreals, des runden, kleinen Mannes mit dem Schwert, war er in der Lage, eine Tür in die Schwärze zu öffnen. Asmodean trat zögernd mit ihm zusammen hindurch, wobei er das Gesicht ein wenig verächtlich verzog, als lediglich eine einzelne verzierte Steinstufe erschien, gerade breit genug für beide. Immer noch der gleiche Mann, der sich dem Dunklen König verschrieben hatte. Seine berechnenden Seitenblicke erinnerten Rand ständig daran, soweit er daran überhaupt erinnert werden mußte. Sie sprachen nur zweimal miteinander, während die Stufe durch die Dunkelheit glitt.

Einmal sagte Rand: »Ich kann Euch nicht mit Asmodean ansprechen.« Der Mann schauderte. »Ich hieß einst Joar Addam Nesossin«, sagte er schließlich. Es klang, als habe er sich entkleidet oder etwas verloren.

»So kann ich Euch auch nicht ansprechen. Wer weiß schon, wo dieser Name einst niedergeschrieben wurde? Schließlich muß ich Euch davor bewahren, als einer der Verlorenen getötet zu werden.« Und niemanden wissen zu lassen, daß er einen Verlorenen zum Lehrer hatte. »Ich glaube, Ihr müßt weiterhin als Jasin Natael auftreten, der Gaukler des Wiedergeborenen Drachen. Das ist doch eine gute Ausrede, um Euch bei mir zu behalten.« Natael verzog das Gesicht, sagte aber nichts.

Ein bißchen später sagte Rand: »Das erste, was Ihr mir zeigen sollt, ist, meine Träume zu schützen, damit niemand in sie eindringen kann.« Der Mann nickte nur mürrisch. Er würde noch Probleme machen, aber sicherlich nicht solch große wie die, die seinem eigenen Unwissen entsprangen.

Die Stufe glitt langsamer und blieb in der Dunkelheit stehen. Rand faltete wieder die Wirklichkeit, und die Tür öffnete sich auf dem Felsvorsprung im Alcair Dal.

Es hatte zu regnen aufgehört, doch der von den abendlichen Schatten verdunkelte Talboden war noch klitschnaß. Die Aielfüße hatten ihn zu Schlamm aufgewühlt. Es waren nun weniger Aiel als vorher, vielleicht um ein Viertel weniger. Aber sie kämpften nicht gegeneinander. Sie starrten zu der Felsplatte hoch, wo sich Moiraine und Egwene, Aviendha und die Weisen Frauen zu den Clanhäuptlingen gesellt hatten. Die wiederum unterhielten sich mit Lan. Mat hockte ein wenig abseits von ihnen, die Hutkrempe heruntergezogen und den Speer mit dem schwarzen Schaft an die Schulter gelehnt. Adelin und die Töchter des Speers standen um ihn herum. Sie rissen Augen und Münder auf, als Rand aus der Tür trat, und noch mehr, als ihm Natael in seinem zerfledderten, glänzend roten und mit Spitzen besetzten Mantel folgte. Mat sprang grinsend auf, und Aviendha hob eine Hand in seine Richtung. Die Aiel im Tal blickten schweigend.

Bevor jemand etwas sagen konnte, bemerkte Rand: »Adelin, würdet Ihr bitte jemanden zum Markt schicken und ihnen sagen, sie sollten aufhören, Isendre zu verprügeln? Sie ist keine solche Diebin, wie man dort glaubt.« Die blonde Frau blickte überrascht drein, sprach aber sofort mit einer der Töchter, die daraufhin davonlief.

»Woher wußtest du das?« rief Egwene, und gleichzeitig wollte Moiraine wissen: »Wo seid Ihr gewesen? Wie?« Der Blick aus ihren großen, dunklen Augen huschte von ihm zu Natael. Von ihrer typischen Aes-Sedai-Gelassenheit war diesmal nichts zu bemerken. Und die Weisen Frauen? Die blonde Melaine sah aus, als wolle sie die Antworten aus ihm herausprügeln. Bair blickte finster drein, bereit, ihn auszupeitschen, um Antworten zu erhalten. Amys rückte ihren Schal zurecht und fuhr sich unentschlossen mit den Fingern durchs Haar. Sie wußte wohl nicht, ob sie besorgt oder erleichtert sein solle.

Adelin reichte ihm sein immer noch feuchtes Wams. Er wickelte es um die beiden Steinfiguren. Auch Moiraine hatte sie genau gemustert. Er wußte nicht, ob sie eine Ahnung hatte, was sie bedeuteten, aber er hatte vor, sie so gut wie möglich vor allen zu verbergen. Wenn er sich selbst schon den Umgang mit Callandor nicht zutraute, um wieviel weniger konnte er sich dann die Beherrschung des großen SaAngreal zutrauen? Er mußte zuerst noch viel mehr darüber lernen, wie er die Macht und sich selbst beherrschen könne.

»Was ist hier geschehen?« fragte er, und der Mund der Aes Sedai verzog sich ärgerlich, weil er sie nicht weiter beachtete. Egwene wirkte auch nicht gerade erfreut.

»Die Shaido sind weg — mit Sevanna und Couladin an der Spitze abgezogen«, sagte Rhuarc. »Alle Übriggebliebenen erkennen Euch als den Car'a'carn an.« »Die Shaido waren nicht die einzigen, die geflohen sind.« Hans ledriges Gesicht verzog sich säuerlich. »Auch ein paar von meinen Tomanelle sind mitgekommen. Und einige Goshien und Shaarad und Chareen.« Jheran und Erim nickten genauso unwillig wie Han.

»Nicht unbedingt mit den Shaido«, grollte der hochgewachsene Bael, »aber sie gingen. Sie werden verbreiten, was sich hier abgespielt hat und was Ihr uns enthüllt habt. Das war nicht gut. Ich sah, wie Männer ihre Speere wegwarfen und fortrannten!«

Er wird Euch zusammenfügen und vernichten.

»Es sind keine Taardad mitgegangen«, warf Rhuarc ein, nicht stolz, sondern als nüchterne Feststellung. »Wir sind bereit, Euch zu folgen, wohin Ihr uns führt.« Wohin er sie führte. Er war mit den Shaido, mit Couladin oder Sevanna, noch nicht fertig. Als er sich im Tal unter den Aiel umblickte, sah er viel Erschütterung auf den Mienen, obwohl sie doch geblieben waren. Wie ging es wohl jenen, die weggelaufen waren? Doch die Aiel waren nur ein Mittel zum Zweck. Daran mußte er immer denken. Ich muß noch härter sein als sie.

Jeade'en wartete zusammen mit Mats Wallach unterhalb der Felsplatte. Rand bedeutete Natael, in seiner Nähe zu bleiben, und stieg in den Sattel, das in sein Wams gewickelte Bündel sicher unter dem Arm. Mit verzogenem Mund kam der ehemalige Verlorene heran und stellte sich neben den linken Steigbügel. Adelin und ihre verbliebenen Töchter des Speers sprangen herab und formierten sich um sie, und zu seiner Überraschung kam auch Aviendha herunter und nahm ihren angestammten Platz zu seiner Rechten ein. Mat sprang mit einem Satz in Pips' Sattel.

Rand warf einen Blick zurück zu den Menschen auf der Felsplatte, die ihn alle beobachteten und warteten. »Es wird ein langer Weg zurück.« Bael wandte sein Gesicht ab. »Lang und blutig.« Die Mienen der Aiel änderten sich nicht. Egwene streckte eine Hand ein Stückchen nach ihm aus. In ihren Augen stand Schmerz, doch er beachtete sie nicht. »Es beginnt, wenn der Rest der Clanhäuptlinge ankommt.« »Es hat schon vor langer Zeit begonnen«, sagte Rhuarc leise. »Die Frage ist nur, wo und wie es endet.« Darauf hatte Rand keine Antwort. Er ließ den Apfelschimmel wenden und ritt langsam durch das Tal, von seinem eigenartig zusammengesetzten Gefolge umgeben. Die Aiel vor ihm machten ihm Platz, blickten ihn an und warteten. Die Kühle der Nacht war bereits spürbar.


Und als das Blut auf den Boden geträufelt wurde, wo nichts wachsen konnte, erhoben sich daraus die Kinder des Drachen, das Volk des Drachen, dafür gerüstet, mit dem Tod zu tanzen. Und er rief sie herbei aus den verwüsteten Ländern, und sie überzogen die Welt mit Krieg.

- aus Das Rad der Zeit

von Sulamein so Bhagad

Chefhistoriker am Hof der Sonne,

im Vierten Zeitalter

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