Egwene, nur mit ihrem Unterhemd bekleidet, atmete tief ein und legte den Steinring neben ein geöffnetes Buch auf den Nachttisch. Er war fleckig und braun, rot und blau gestreift und etwas zu groß für einen Fingerring. Außerdem hatte er die falsche Form, war flach und verdreht, so daß man mit der Fingerspitze seinen Rand nachfahren konnte und ohne abzusetzen wieder dort ankam, wo man begonnen hatte. Es gab nur eine Kante, auch wenn das unmöglich schien. Sie ließ den Ring deshalb dort liegen, weil sie ohne ihn möglicherweise keinen Erfolg haben würde, weil sie gar keinen haben wollte. Sie mußte es früher oder später auch ohne den Ring ausprobieren, sonst würde sie ewig nur die Zehenspitzen ins Wasser baumeln lassen, obwohl sie eigentlich schwimmen wollte. Warum also nicht jetzt? Das war der einzige Grund. In der Tat der einzige.
Das dicke, ledergebundene Buch war Eine Reise nach Tarabon von Eurian Romavni aus Kandor. Wenn man den Daten gleich in der ersten Zeile glauben konnte, war es vor dreiundfünfzig Jahren verfaßt worden, aber in solch kurzer Zeit würde sich nicht zuviel Wesentliches in Tanchico geändert haben. Außerdem war es das einzige Buch unter den aufgefundenen, das einige nützliche Zeichnungen enthielt. Die meisten dieser Bücher enthielten lediglich die Portraits von Königen oder phantasievolle Schlachtengemälde von Künstlern, die sowieso nicht dabei gewesen waren.
Hinter beiden Fenstern lag Dunkelheit, aber die Lampen warfen genügend Licht in den Raum. Eine hohe Bienenwachskerze brannte in einem vergoldeten Kerzenhalter auf ihrem Nachttisch. Sie hatte Kerze und Halter selbst besorgt. Das war keine Nacht, in der man eine Dienerin nach einer Kerze schickt. Die meisten Angehörigen der Dienerschaft pflegten Verwundete, beweinten geliebte Menschen, die sie verloren hatten oder mußten sich selbst pflegen lassen. Es waren einfach zu viele gewesen, so daß sie nur diejenigen mit Hilfe der Macht hatten heilen können, die ansonsten gestorben wären.
Elayne und Nynaeve hatten ihre hochlehnigen Stühle auf jeder Seite an das Bett mit den hohen, mit Schwalbenschnitzereien verzierten Bettpfosten herangezogen und warteten. Sie bemühten sich, ihre Nervosität mehr oder weniger zu verbergen. Elayne machte äußerlich einen halbwegs ruhigen Eindruck, der nur durch ihre gerunzelte Stirn und das ständige Kauen auf ihrer Unterlippe etwas gestört wurde, obwohl sie das nur tat, wenn sie glaubte, daß Egwene gerade nicht hinsehe. Nynaeve wirkte hellwach und voller Selbstsicherheit. So flößte sie Vertrauen ein, wenn sie jemanden auf dem Krankenbett betreute, aber Egwene sah genauer hin und bemerkte auch ihre Blicke, die aussagten, daß Nynaeve Angst hatte.
Aviendha saß mit übergeschlagenen Beinen neben der Tür. Ihre graubraune Kleidung hob sich deutlich von dem tiefen Blau des Teppichs ab. Diesmal trug die Aielfrau ihr langes Messer an der einen Seite ihres Gürtels. An der anderen hing ein mit Pfeilen gespickter Köcher. Über die Knie hatte sie vier Kurzspeere gelegt. Ihr runder Lederschild lag neben ihr auf einem Hornbogen in einem gehämmerten Lederfutteral mit Riemen, mit denen sie es sich über den Rücken hängen konnte. Nach dem heutigen Abend würde Egwene ihr nie wieder vorwerfen, daß sie immer bewaffnet herumlief. Sie hätte am liebsten selbst noch immer einen Blitz bereitgehalten, um ihn jeden Augenblick auf einen Gegner schleudern zu können.
Licht, was war das, was Rand tat? Seng mich, er hat mir fast ebensoviel Angst eingejagt wie die Blassen. Oder noch mehr. Es ist nicht fair, daß er so etwas fertigbringt und ich noch nicht einmal die Stränge sehen kann.
Sie kletterte auf das Bett und nahm das ledergebundene Buch auf die Knie. Dann blickte sie stirnrunzelnd einen Stich mit einem Stadtplan von Tanchico an. Es war nicht viel Nützliches eingezeichnet. Ein Dutzend Festungen, die den Hafen umstanden und die Stadt auf ihren drei hügeligen Halbinseln schützten — Verana im Osten, Maseta in der Mitte und Calpene dem Meer am nächsten. Ein paar große Plätze, mehrere Flächen, die wohl Parks darstellen sollten und eine Anzahl von Denkmälern von Herrschern, die schon längst zu Staub verfallen waren. Alles nutzlos. Ein paar Schlösser und einige seltsam anmutende Dinge. Der Große Kreis auf Calpene zum Beispiel. Auf der Karte war er einfach als Ring eingezeichnet, aber Meister Romavni beschrieb ihn als riesigen Versammlungsort, an dem sich Tausende einfanden, um Pferderennen zu beobachten oder die Feuerwerke der Gilde zu bestaunen. Es gab auf Maseta auch einen Königskreis, und der war größer als der Große Kreis, und auf Verana gab es den Kreis der Panarchen, der auch nicht viel kleiner war. Das Gildehaus der Feuerwerker war ebenfalls eingezeichnet. Das war alles nutzlos. Und auch im Text fand sich nichts Brauchbares. »Bist du sicher, daß du es ohne den Ring versuchen willst?« fragte Nynaeve leise.
»Ganz sicher«, antwortete Egwene so ruhig sie eben konnte. Ihr Magen flatterte genauso gequält wie heute abend, als sie den ersten Trolloc gesehen hatte, der eine arme Frau am Haarschopf gehalten und ihr die Kehle durchgeschnitten hatte wie bei einem Kaninchen. Die Frau hatte auch wie ein Kaninchen gequiekt. Es hatte nichts gebracht, den Trolloc zu töten; die Frau war genauso tot gewesen. Nur ihr schrilles Schreien ging ihr nicht aus den Ohren. »Wenn es nicht klappt, kann ich es immer noch mit dem Ring probieren.« Sie beugte sich vor und kratzte mit dem Fingernagel eine Markierung in die Kerze. »Weckt mich, wenn sie so weit heruntergebrannt ist. Licht, ich wünschte, wir hätten eine Uhr.« Elayne lachte sie aus. Es klang bei ihr heiter und ungezwungen. Beinahe. »Eine Uhr in einem Schlafzimmer? Meine Mutter hat ein Dutzend Uhren, aber ich habe noch nie von einer Uhr in einem Schlafzimmer gehört.« »Also, mein Vater hat auch eine Uhr«, knurrte Egwene, »die einzige im ganzen Dorf, und ich wünschte, ich hätte sie jetzt hier. Glaubt ihr, sie wird eine Stunde brauchen, bis sie heruntergebrannt ist? Ich will nicht länger schlafen. Ihr müßt mich wecken, sobald die Flamme diese Markierung erreicht. Sofort!« »Das werden wir«, sagte Elayne beruhigend. »Ich verspreche es.« »Der Steinring«, sagte Aviendha plötzlich. »Da du ihn nicht benützt, Egwene, könnte dann nicht jemand — eine von uns — ihn benützen, um mit dir zu kommen?« »Nein«, seufzte Egwene. Licht, ich wünschte, sie würden alle mitkommen. »Aber trotzdem vielen Dank, daß du daran gedacht hast.« »Kannst nur du ihn benützen, Egwene?« fragte die Aielfrau.
»Jede von uns könnte das«, antwortete Nynaeve, »selbst du, Aviendha. Eine Frau muß dazu nicht die Macht benützen können. Sie muß nur schlafen, und der Ring sollte ihre Haut berühren. Soweit wir wissen, könnte auch ein Mann dasselbe fertigbringen. Aber wir alle kennen Tel'aran'rhiod nicht so gut wie Egwene, genausowenig wie die Naturgesetze dort.« Aviendha nickte. »Das verstehe ich. Eine Frau könnte Fehler begehen, wenn sie sich nicht auskennt, und ihre Fehler könnten sich auch für andere tödlich auswirken.« »Genau«, sagte Nynaeve. »Die Welt der Träume ist ein gefährlicher Ort. Soviel wissen wir.« »Aber Egwene wird vorsichtig sein«, versicherte Elayne. Sie sprach wohl zu Aviendha gewandt, aber offensichtlich waren die Worte für Egwenes Ohren bestimmt. »Sie hat es versprochen. Sie wird sich umsehen — vorsichtig! — und nicht mehr.« Egwene konzentrierte sich auf den Stadtplan. Vorsichtig. Wenn sie ihren verdrehten Steinring nicht so eifersüchtig bewacht hätte — sie betrachtete ihn als ihren Besitz, auch wenn ihr der Saal der Burg da nicht zugestimmt hätte, doch die wußten gar nicht, daß sie ihn hatte — wenn sie zugelassen hätte, daß Elayne und Nynaeve ihn mehr als nur ein- oder zweimal benutzt hätten, dann wüßten sie vielleicht genug, um sie jetzt zu begleiten. Doch es war nicht das Bedauern darüber, das sie die Blicke der anderen Frauen meiden ließ. Sie wollte nicht, daß sie die Furcht in ihren Augen bemerkten.
Tel'aran'rhiod. Die Unsichtbare Welt. Die Welt der Träume. Nicht der Träume gewöhnlicher Menschen, obwohl auch sie manchmal Tel'aran'rhiod für kurze Zeit streiften, wenn ihnen ihre Träume echt erschienen. Sie waren ja auch echt. In der Unsichtbaren Welt war das, was geschah, auf seltsame Art wirklich. Nichts von dem, was dort geschah, beeinflußte die Wirklichkeit an sich. Eine Tür, die man in der Welt der Träume öffnete, blieb in der Welt der Wirklichkeit deshalb immer noch geschlossen, und ein Baum, der dort gefällt wurde, stand hier nach wie vor, doch konnte es passieren, daß eine Frau dort getötet oder durch unglückliche Umstände einer Dämpfung unterzogen wurde. ›Seltsam‹ drückte kaum aus, was sich dort abspielte. In der Unsichtbaren Welt lag die Gesamtheit der Welten offen und vielleicht auch noch andere Welten dazu; man konnte jeden beliebigen Ort erreichen. Oder zumindest dessen Spiegelbild in der Welt der Träume. Dort konnte man das Gewebe des Musters erkennen —Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft — wenn man wußte, wie. Ein Träumer konnte das. Es hatte in der Weißen Burg keinen Träumer seit Coreanin Nedeal vor etwa fünfhundert Jahren mehr gegeben.
Um genau zu sein, vor vierhundertdreiundsiebzig Jahren, dachte Egwene. Oder sind es jetzt schon vierhundertvierundsiebzig? Wann ist Coreanin gestorben? Falls Egwene eine Gelegenheit bekam, ihre Ausbildung in der Burg zu beenden, als Aufgenommene dort weiterzustudieren, würde sie es vielleicht erfahren. Es gab soviel, was sie dann erfahren konnte.
In Egwenes Beutel, in dem sie den Ter'Angreal aufbewahrte, steckte auch eine Liste, klein genug, um sie in jeder Tasche unterzubringen. Darauf stand alles, was die Schwarzen Ajah bei ihrer Flucht aus der Burg gestohlen hatten. Alle drei besaßen sie eine Abschrift davon. Bei dreizehn der gestohlenen Ter'Angreal war ›kein bekannter Zweck‹ eingetragen, und dazu: ›zuletzt von Coreanin Nedeal untersucht‹. Aber wenn Coreanin Sedai schon ihre Anwendung nicht herausbekommen hatte, dann war sich Egwene zumindest in einer Hinsicht sicher. Sie verschafften einem Eintritt in Tel'aran'rhiod; vielleicht nicht so leicht wie ihr Steinring und vielleicht auch nur unter Anwendung der Macht, aber immerhin.
Zwei hatten sie Joiya und Amico wieder abgenommen: eine eiserne Scheibe von einer Handbreit Durchmesser, in die man auf beiden Seiten eine enge Spirale eingraviert hatte, und eine Spange, nicht länger als ihre Hand, die anscheinend aus reinem Bernstein bestand, doch hart genug war, um selbst auf Stahl Kratzer zu hinterlassen. Trotzdem war irgendwie eine schlafende Frau eingraviert worden. Amico hatte sich freimütig dazu geäußert und Joiya schließlich auch, allerdings erst nach einer Sitzung allein in ihrer Zelle mit Moiraine, nach der die Schwarze Schwester blaß und mit beinahe höflichen Umgangsformen zurückgeblieben war. Wenn man ein kleines Rinnsal der Macht in jeden dieser Ter'Angreal lenkte, dann schläferte er einen ein und man befand sich in Tel'aran'rhiod. Elayne hatte beide kurz ausprobiert, und es hatte funktioniert, obwohl sie dort lediglich das Innere des Steins gesehen hatte und Morgases Königspalast in Caemlyn.
Egwene hatte nicht gewollt, daß sie die beiden ausprobierte, und wenn es auch nur für einen kurzen Besuch war, doch nicht aus Eifersucht. Allerdings hatte sie auch nicht sehr eindeutig erklären können, warum sie es nicht wünschte, denn sie fürchtete, Elayne und Nynaeve würden den furchtsamen Unterton in ihrer Stimme bemerken und verstehen.
Zwei zurückgewonnen bedeutete, daß die Schwarzen Ajah immer noch elf in ihrem Besitz hatten. Das war es, was Egwene hatte betonen wollen. Elf Ter'Angreal in der Hand der Schwarzen Schwestern, und jeder davon konnte eine Frau nach Tel'aran'rhiod bringen. Wenn Elayne ihre kurzen Abstecher in die Unsichtbare Welt unternahm, konnte sie durchaus dort Schwarze Ajah antreffen, die auf sie gewartet hatten, oder über eine stolpern, bevor sie es bemerkte. Bei dem Gedanken verkrampfte sich Egwenes Magen. Sie konnten ja auch jetzt auf sie warten. Es war nicht wahrscheinlich, und sicher wäre es auch keine Absicht, denn sie konnten kaum wissen, daß sie kommen werde, doch sie konnten durchaus dasein, wenn sie hindurchtrat. Sie konnte schon mit einer fertigwerden, wenn sie nicht gerade überrascht wurde, und das würde sie zu verhindern wissen. Aber wenn sie wirklich vollkommen überraschend auftauchten? Zwei oder drei zusammen? Liandrin und Rianna, Chesmal Emry und Jeane Caide und all die anderen zugleich?
Sie blickte finster den Stadtplan an und entspannte ihre verkrampften Hände. Die Ereignisse dieses Abends hatten allem noch größere Dringlichkeit verliehen. Wenn Schattenwesen den Stein angriffen, wenn eine der Verlorenen plötzlich mitten unter ihnen auftauchte, dann konnte sie sich nicht ihrer Angst einfach hingeben. Sie mußten erfahren, was zu tun sei. Sie mußten noch weitere Informationen haben außer Amicos vager Erzählung. Irgend etwas. Wenn sie nur erfahren könnte, wo genau sich Mazrim Taim unterwegs nach Tar Valon befand, oder wenn sie nur irgendwie in die Träume der Amyrlin hineinschlüpfen könnte, um mit ihr zu sprechen. Vielleicht war so etwas für einen Träumer möglich. Falls ja, dann wußte sie allerdings nicht, wie. Also mußte sie sich Tanchico widmen.
»Ich muß allein gehen, Aviendha. Ich muß.« Sie hielt ihren Tonfall für ruhig und gleichmäßig, doch Elayne tätschelte ihre Schulter beruhigend.
Egwene wußte nicht, warum sie überhaupt den Stadtplan anstarrte. Sie hatte ihn bereits genau im Kopf, selbst die Größenverhältnisse. Was in dieser Welt existierte, existierte auch in der Welt der Träume. Sie hatte ihr Ziel gewählt. Sie blätterte in dem Buch, bis sie den einzigen Stich vom Innern eines Gebäudes fand, das auf dem Plan als der Palast der Panarchen bezeichnet wurde. Es wäre nicht gut, sich in irgendeinem Saal wiederzufinden, von dessen Lage in der Stadt sie keine Ahnung hatte. Sicher, es konnte sein, daß sowieso alles umsonst war. Doch den Gedanken verdrängte sie schnell wieder. Sie mußte einfach daran glauben, daß etwas dabei herauskommen könne.
Der Stich zeigte einen großen Saal mit hoher Decke. Ein an hüfthohen Pfosten befestigtes Seil hielt die Menschen davon ab, den Dingen zu nahe zu kommen, die auf Tischchen und in Vitrinen an den Wänden ausgestellt waren. Die meisten Ausstellungsstücke waren nur undeutlich zu erkennen, bis auf das, was sich am hinteren Ende des Saals befand. Der Künstler hatte sich große Mühe gegeben, das massive Skelett, das dort stand, so genau wiederzugeben, als sei der Rest des Geschöpfes erst vor einem Augenblick verschwunden. Es hatte vier Beine mit mächtigen Knochen, doch ansonsten ähnelte es keinem Tier, das Egwene je gesehen hatte. Es mußte unter anderem mindestens zwei Spannen hoch sein, also mehr als doppelt so groß wie sie. Der abgerundete Schädel, der tief zwischen den Schultern lagerte wie bei einem Stier, sah groß genug aus, daß ein Kind hineinklettern konnte, und auf dem Bild schien er vier Augenhöhlen aufzuweisen. Dieses Skelett war ein so deutliches Kennzeichen, daß sie den Saal wohl kaum mit einem anderen verwechseln konnte. Was es auch gewesen sein mochte: falls Eurian Romavni es gekannt hatte, hatte er es in diesem Buch jedenfalls nicht erwähnt.
»Was ist eigentlich ein Panarch?« fragte sie, als sie das Buch zur Seite legte. Sie hatte dieses Bild schon ein dutzendmal betrachtet. »All diese Schreiber scheinen zu glauben, daß jeder darüber Bescheid weiß.« »Die Panarchin von Tanchico ist an Einfluß und Macht dem König gleichgestellt«, zitierte Elayne. »Sie ist dafür verantwortlich, daß Steuern, Zölle und andere Abgaben eingetrieben werden, während er sie ausgeben darf. Sie befehligt die Miliz und die Gerichte, außer dem Höchsten Gerichtshof, der dem König untersteht. Das Heer untersteht natürlich auch ihm, abgesehen von der Legion der Panarchin. Sie... « »Das wollte ich nicht so genau wissen«, seufzte Egwene. Sie hatte einfach nur irgend etwas sagen wollen, noch ein paar Minuten vertrödeln, bevor sie einschlafen mußte. Die Kerze brannte langsam herunter, und sie verschwendete vielleicht wertvolle Zeit. Sie wußte, wie sie aus dem Traum entkommen und sich selbst aufwecken konnte, aber in der Welt der Träume verlief die Zeit eben doch anders, und es konnte leicht passieren, daß man jedes Zeitgefühl verlor. »Sobald sie die Markierung erreicht«, sagte sie noch einmal, und Elayne und Nynaeve murmelten beruhigende Worte.
Sie legte sich auf ihr Federkissen zurück und starrte zuerst nur die Decke an, auf die blauer Himmel mit Wolken und fliegenden Schwalben gemalt war. Die bemerkte sie jedoch gar nicht.
Ihre Träume waren in letzter Zeit schon schlimm genug gewesen. Rand kam natürlich immer wieder darin vor. Rand, so groß wie ein Berg, der durch Städte marschierte, Gebäude unter seinen Füßen zermalmte und vor dem schreiende Menschen von Ameisengröße flohen. Rand in Ketten, und diesmal war er es, der schrie. Rand, der eine Mauer baute. Er befand sich auf der einen und sie auf der anderen Seite, sie und Elayne und andere, die sie nicht erkennen konnte. »Es muß vollbracht werden«, sagte er beim Aufschichten der Steine. »Ich lasse mich jetzt von euch nicht mehr aufhalten.« Doch das waren nicht die einzigen Alpträume. Sie hatte davon geträumt, daß sich die Aiel untereinander bekämpften, sich gegenseitig töteten, und sogar, daß sie ihre Waffen wegwarfen und wie die Wahnsinnigen fortrannten. Mat, wie er mit einer Seanchanfrau rang, die ihn an eine unsichtbare Leine legte. Ein Wolf, von dem sie sicher war, daß Perrin dahintersteckte, der gegen einen Mann mit sich ständig veränderndem Gesicht kämpfte. Galad, der sich ganz in Weiß hüllte, als lege er sein eigenes Leichentuch an, und Gawyn mit einem Blick voller Schmerz und Haß. Ihre Mutter, und sie weinte. Das waren die klaren Träume, von denen sie wußte, daß sie eine Bedeutung hatten. Sie waren schrecklich, und sie wußte von keinem, was er eigentlich bedeuten sollte. Wie konnte sie nur annehmen, sie werde in Tel'aran'rhiod irgendwelche verborgene Bedeutungen oder Hinweise finden und auch erkennen? Doch eine andere Möglichkeit gab es nicht. Höchstens die, eben nichts zu erfahren, und das wollte sie nicht akzeptieren.
Trotz ihrer Ängste fiel ihr das Einschlafen leicht; sie war erschöpft. Sie mußte lediglich die Augen schließen und tief und regelmäßig atmen. Den Raum im Panarchenpalast mit dem riesigen Skelett darin prägte sie sich ganz besonders ein. Tiefe, regelmäßige Atemzüge. Sie erinnerte sich daran, welches Gefühl es war, den Steinring zu benützen und in Tel'aran'rhiod hinauszutreten. Tiefe — gleichmäßige —Atemzüge.
Egwene trat einen Schritt zurück und schnappte nach Luft. Sie legte eine Hand an die Kehle. Aus dieser Nähe wirkte das Skelett noch größer, als sie geglaubt hatte. Die Knochen waren stumpf und trocken und von der Zeit gebleicht. Sie stand direkt davor, noch innerhalb der Seilbarriere. Es war ein weißes Seil, armdick und offensichtlich aus Seide gedreht. Sie hatte keinen Zweifel daran, daß sie sich in Tel'aran'rhiod befand. Alles war ganz real, selbst die Dinge, die sie nur aus den Augenwinkeln erkennen konnte. Daß sie in der Lage war, feine Unterschiede zu einem normalen Traum zu bemerken, zeigte ihr ganz klar, wo sie sich befand. Außerdem war es ein... sicheres Gefühl.
Sie öffnete sich Saidar. Ein Kratzer am Finger, den sie sich in der Welt der Träume zuzog, würde auch beim Erwachen noch vorhanden sein. Sie konnte sich also einem tödlichen Schlag mit Hilfe der Macht oder auch einem Schwerthieb oder einem Knüppelschlag nicht durch eine Flucht ins Erwachen entziehen. Sie hatte nicht vor, sich auch nur einen Augenblick lang eine Blöße zu geben.
Statt ihres Unterhemdes trug sie nun etwas, was der Kleidung der Aiel recht ähnlich sah, nur aus roter, mit Brokat besetzter Seide gefertigt. Selbst ihre bis zum Knie hochgeschnürten weichen Stiefel bestanden aus rotem Leder, das man mit seinen Goldstickereien und dem Spitzenbesatz gut hätte für Handschuhe benützen können. Sie lachte leise in sich hinein. Die Kleidung in Tel'aran'rhiod entsprach dem, was man sich wünschte. Offensichtlich wollte ein Teil ihrer Persönlichkeit beweglich und sprungbereit sein, während ein anderer Teil einen Ballabend bevorzugt hätte. Aber so ging das nicht. Das Rot verblaßte zu Grau- und Brauntönen; Mantel und Hose und Stiefel wurden zu genauen Kopien der Kleidung einer Tochter des Speers. Aber das war auch nicht besser, jedenfalls nicht in einer Stadt. Mit einemmal trug sie die Kopie eines der Kleider, in denen Faile immer herumlief: dunkel, mit einem engen Hosenrock, langen Ärmeln und einem bequemen, hochgeschnürten Oberteil. Dumm, sich darüber Gedanken zu machen. Keiner wird mich sehen, außer im Traum, und hierher reichten wohl nur wenige normale Träume. Es würde überhaupt keinen Unterschied machen, wenn ich nackt wäre.
Einen Augenblick lang war sie nackt. Ihr Gesicht lief vor Verlegenheit rot an. Es befand sich ja niemand hier, der sie unbekleidet wie im Bad sehen konnte, aber sie holte doch ganz schnell ihr Kleid zurück. Sie hätte sich daran erinnern sollen, wie schon flüchtige Gedanken hier die Dinge beeinflussen konnten, besonders wenn man von der Macht erfüllt war. Elayne und Nynaeve hielten sie wohl für allwissend. Sicher, sie kannte ein paar Naturgesetze der Unsichtbaren Welt, doch sie wußte auch, daß es hundert, ja tausend weitere gab, die sie nicht kannte. Das alles mußte sie lernen, falls sie der erste Träumer der Burg seit Coreanin werden wollte.
Sie betrachtete den riesigen Schädel ein wenig genauer. Sie war ja auf dem Land aufgewachsen und wußte, wie Tierknochen aussahen. Es waren doch keine vier Augenhöhlen. Zwei der Löcher schienen statt dessen einst Stoßzähne gehalten zu haben, und zwar auf jeder Seite der Nase einen. Vielleicht war es eine Art ungeheuer großer Keiler gewesen, obwohl das eigentlich nicht wie die Schweineschädel aussah, die sie kannte. Jedenfalls schien das Skelett alt, uralt sogar.
Hier und von der Macht erfüllt war sie in der Lage, so etwas zu spüren. Natürlich waren all ihre Sinne unter dem Einfluß der Macht geschärft. Sie spürte die winzigen Risse in den vergoldeten Gipsplatten an der Decke fünfzig Fuß über ihr genau wie die Glätte des weißen Steinbodens. Auch die Fußbodenplatten wiesen haarfeine, unsichtbare Risse auf.
Der Saal war riesig groß — vielleicht zweihundert Schritt lang und beinahe halb so breit. Reihen schlanker weißer Säulen zogen sich hindurch, und überall war die Außenseite mit diesem weißen Seil abgesperrt, außer dort, wo sich die hohen Doppelbogentüren befanden. Auch im Innern noch zogen sich weitere Seile um Holzregale und Vitrinen mit Ausstellungsstücken. Oben unter der Decke wies der Saal statt Fenstern rundherum kunstvoll durchbrochene Stuckarbeiten auf, die reichlich Licht durchließen. Offensichtlich hatte sie sich in ein Tanchico hineingeträumt, in dem es gerade heller Tag war.
›Eine großartige Ausstellung von Artefakten aus vergangenen Zeitaltern, aus dem Zeitalter der Legenden und noch früheren, für alle, auch für die einfachen Menschen, dreimal im Monat und an Festtagen geöffnet‹, hatte Eurian Romavni geschrieben. Er hatte in glühenden Farben die unglaublich kostbare Sammlung von Cuendillar-Figurinen beschrieben. Es waren sechs, die in einer Glasvitrine genau in der Mitte des Saals aufbewahrt und immer von vier Mann aus der Leibgarde der Panarchin bewacht wurden, wenn der Eintritt gestattet war. Dann hatte er weitere zwei Seiten lang geschwärmt von den Skeletten sagenhafter Tiere, ›die von Menschenaugen niemals lebendig gesehen wurden‹. Egwene konnte nun ein paar davon betrachten. An der einen Seite des Saals stand das Skelett eines Tiers, das ein wenig an einen Bären erinnerte, wenn es auch zwei unterarmlange Schneidezähne aufwies, und gegenüber auf der anderen Seite stand das Knochengerüst eines schlanken vierbeinigen Huftiers, dessen Hals so lang war, daß sich der Schädel oben auf halbem Weg zur Decke befand. Es gab noch mehr in regelmäßigen Abständen an den Wänden des Saals, und die anderen waren genauso phantastisch. Alle verströmten eine derartige Aura des Alters, daß der Stein von Tear dagegen wie ein Neubau wirkte. Sie bückte sich und schlüpfte unter dem Seil durch. Dann schlenderte sie mit großen Augen weiter durch den Saal.
Da stand eine verwitterte kleine Statue einer Frau, anscheinend unbekleidet, doch in langes Haar gehüllt, das ihr bis auf die Knöchel herunter reichte, die sich äußerlich kaum von den anderen in ihrer Vitrine unterschied. Jede war nicht viel größer als ihre Hand. Aber diese eine vermittelte einen Eindruck von sanfter Wärme, den sie erkannte. Es war ein Angreal, da war sie sicher. Sie fragte sich, warum die Burg ihn der Panarchin nicht abgekauft hatte. Ein fein gearbeiteter Halsring und zwei Armringe aus stumpfem schwarzen Metall auf einem eigenen Ständer ließen sie schaudern. Sie spürte, daß Dunkelheit und Schmerz damit verbunden waren — alter, alter und doch scharfer Schmerz. In einem anderen Schaukasten lag ein silbriger Gegenstand wie ein dreizackiger Stern innerhalb eines Rings. Er bestand aus keiner ihr bekannten Substanz, weicher als Metall, verkratzt und mit tiefen Rillen, und er war sogar noch älter als die ältesten der Skelette. Aus zehn Schritt Entfernung konnte sie noch Stolz und Eitelkeit darin fühlen.
Ein Gegenstand kam ihr tatsächlich bekannt vor, obwohl sie nicht wußte, woher. Man hatte ihn in die äußerste Ecke einer Vitrine gesteckt, als sei der, der ihn dorthin gelegt hatte, nicht von seinem Wert überzeugt gewesen. Da lag also die obere Hälfte einer aus glänzend weißem Stein gearbeiteten Frauenfigur, die in einer gehobenen Hand eine Kristallkugel trug. Ihr Gesicht war voller Ruhe, Würde und weiser Autorität. In vollständigem Zustand wäre sie wohl einen Fuß hoch gewesen. Aber warum kam sie ihr so bekannt vor? Sie schien Egwene beinahe zuzurufen, daß sie sie in die Hand nehmen solle.
Erst als Egwenes Hand sich um die zerbrochene Statue schloß, wurde ihr bewußt, daß sie über das Seil geklettert war. So was Dummes, und dabei weiß ich noch nicht einmal, was es ist, sagte sie sich, aber es war bereits zu spät.
Als ihre Hand die Figur ergriff, durchströmte sie die Macht. Sie floß in die Statue und von dort wieder in sie zurück, immer hin und her. Die Kristallkugel flackerte von unregelmäßigen, grellen Lichtblitzen, und bei jedem Aufblitzen stachen Nadeln in ihr Hirn. Mit einem schmerzerfüllten Schluchzen ließ sie los und schloß beide Hände um ihren Kopf.
Die Kristallkugel zersprang, als die Figur auf den Fußboden fiel, und damit verschwanden auch die Nadeln aus ihrem Hirn. Zurück blieb nur eine dumpfe Erinnerung an Schmerzen, und außerdem war ihr so schlecht, daß ihre Knie zitterten. Sie schloß Augen zu, damit sie nicht sehen müßte, wie der ganze Saal zu schwanken schien. Die Statue mußte ein Ter'Angreal gewesen sein, aber warum hatte er ihr so weh getan, als sie ihn lediglich berührte? Vielleicht, weil er zerbrochen war? Möglicherweise konnte er in diesem unvollständigen Zustand nicht vollbringen, wozu er geschaffen worden war. Sie wollte sich gar nicht erst vorstellen, welchem Zweck er gedient hatte. Einen Ter'Angreal zu untersuchen war eine gefährliche Angelegenheit. Nun mußte er allerdings wohl endgültig zerbrochen und außer Gefecht sein. Zumindest hier in dieser Welt. Warum schien er mich zu rufen?
Das Schwindelgefühl verflog, und sie öffnete die Augen. Die Figur stand wieder in der Vitrine, und zwar im gleichen Zustand, in dem sie sie erblickt hatte. Seltsame Sachen passierten in Tel'aran'rhiod, aber das hier war doch noch etwas seltsamer, als ihr lieb war. Und außerdem war sie ja nicht deshalb hergekommen. Zuerst mußte sie aus dem Panarchenpalast herauskommen. Sie kletterte über das Seil zurück und eilte aus dem Saal, wobei sie sich bemühen mußte, nicht zu laufen.
Der Palast war natürlich gänzlich unbelebt. Jedenfalls war kein menschliches Leben darin festzustellen. In großen Brunnenbecken schwammen farbenprächtige Fische herum. Die Brunnen plätscherten in Innenhöfen, die von schlanken Säulengängen umsäumt waren, und über denen Balkone hingen, deren Steingeländer so fein gearbeitet waren, daß sie wie geklöppelte Spitzen wirkten. Auf dem Wasser trieben Wasserlilien und weiße Blumen von mehr als Tellergröße. In der Welt der Träume waren die Gebäude und Orte genauso wie in Wirklichkeit. Nur eben die Menschen nicht. In den Fluren standen wundervoll verzierte goldene Lampenhalter. Die Dochte waren neu und hatten noch nie gebrannt, doch sie konnte das parfümierte Öl der Lampen riechen. Ihre Schritte wirbelten kein bißchen Staub von den bunten Teppichen auf, die man doch hier sicherlich nicht ausgeklopft hatte.
Einmal sah sie eine andere Person, die ein Stück vor ihr herschritt. Es war ein Mann in einem vergoldeten und kunstvoll verzierten Schuppenpanzer, der einen spitzen, goldenen Helm mit weißen Reiherfedern unter dem Arm trug. »Aeldra?« rief er lächelnd. »Aeldra, komm, schau mich an. Ich bin zum Lordhauptmann der Legion der Panarchin ernannt worden. Aeldra?« Er ging noch einen Schritt weiter, rief noch einmal und war plötzlich nicht mehr da. Kein Träumer. Noch nicht einmal jemand, der einen Ter'Angreal benützte wie ihren Steinring oder Amicos Eisenscheibe. Nur ein Mann, dessen Traum einen Ort berührt hatte, von dem er überhaupt nichts wußte und der Gefahren enthielt, von denen er keine Ahnung hatte. Menschen, die unerwartet im Schlaf starben, hatten sich oft nach Tel'aran'rhiod hineingeträumt und waren in Wirklichkeit hier gestorben. Er war aber wieder draußen und in einen normalen Traum zurückgekehrt.
Neben ihrem Bett in Tear brannte die Kerze immer weiter herunter. Ihre Zeit in Tel'aran'rhiod verrann.
Sie beschleunigte ihre Schritte und kam an eine hohe geschnitzte Tür, die nach draußen führte auf breite weiße Treppen und weiter zu einem riesigen, leeren Vorplatz. Tanchico erstreckte sich in allen Richtungen über steil ansteigende Hügel. Überall glänzten weiße Gebäude im Sonnenschein, dazu Hunderte von schlanken Türmchen und beinahe genauso viele spitz zulaufende Kuppeln, von denen einige vergoldet waren. Der Kreis der Panarchin, eine hohe, rund verlaufende weiße Steinmauer, war von hier aus gut zu sehen. Er befand sich vielleicht eine halbe Meile entfernt und war ein wenig niedriger als der Palast. Der Panarchenpalast erhob sich auf einem der höchsten Hügel. Vom oberen Ende der breiten Treppe aus, hoch auf der Hügelkuppe, konnte sie im Westen Wasser glänzen sehen, wo tief eingeschnittene Buchten sie von den anderen hügligen Landfingern trennten, auf denen die übrige Stadt lag. Tanchico war größer als Tear, vielleicht sogar größer als Caemlyn.
So vieles, was sie alles absuchen mußte, und dabei wußte sie noch nicht einmal, wonach sie suchte. Nach irgend etwas, das auf die Gegenwart der Schwarzen Ajah hinwies oder irgendeine Gefahr für Rand anzeigte, falls die hier existierte. Wäre sie bereits ein echter Träumer und im Gebrauch ihres Talents geschult, dann hätte sie bestimmt gewußt, wonach sie suchen mußte oder wie sie das Gesehene auslegen konnte. Aber es gab niemanden mehr, die sie darin unterrichten konnte. Die Weisen Frauen der Aiel konnten dem Hörensagen nach Träume deuten. Aviendha hatte so sehr gezögert, ihnen etwas über die Weisen Frauen zu erzählen, daß sie erst gar keine andere Aielfrau danach gefragt hatte. Vielleicht könnte ihr eine Weise Frau das Notwendige beibringen. Falls sie eine fand.
Sie tat einen Schritt auf den Vorplatz zu und befand sich mit einemmal woanders.
Um sie herum erhoben sich hohe Felsnadeln, und die Hitze sog jedes bißchen Feuchtigkeit aus ihrem Atem. Die Sonne schien sie durch ihr Kleid hindurch rösten zu wollen, und der Wind, der ihr Gesicht streichelte, kam wohl aus einem Backofen. Geduckte Bäume standen hier und da in einer Landschaft, die sonst kaum noch Pflanzenwuchs aufwies. Nur an ein paar Stellen hielt sich noch etwas zähes Gras und dazu einige wenige stachlige Pflanzen, die sie nicht kannte. Den Löwen allerdings erkannte sie, obgleich sie noch nie einen gesehen hatte. Er lag in einer Felsspalte keine zwanzig Schritt entfernt. Der Schwanz mit der schwarzen Quaste am Ende zuckte lässig, als das Tier nicht sie, sondern etwas anderes beobachtete, was sich hundert Schritt weiter entfernt befand. Der große, mit borstigem Haar bedeckte Keiler schnüffelte und grub an der Wurzel eines Dornbusches und bemerkte die Aielfrau gar nicht, die sich mit stoßbereitem Speer anschlich. Sie war wie die Aiel im Stein gekleidet, hatte die Schufa um den Kopf gewickelt, das Gesicht aber nicht bedeckt.
Die Wüste, staunte Egwene ungläubig. Ich bin in die Aiel-Wüste gesprungen! Wann lerne ich endlich, auf das achtzugeben, was ich hier denke?
Die Aielfrau erstarrte. Ihr Blick war nun auf Egwene gerichtet und nicht mehr auf den Keiler. Falls es ein Keiler war; irgendwie erschien ihr seine Gestalt nicht ganz richtig geformt.
Egwene war sicher, daß die Frau keine Weise Frau war. Sie war auch nicht wie eine Tochter des Speers gekleidet, die eine Weise Frau werden wollte und dafür ›den Speer aufgab‹, wie man es Egwene geschildert hatte. Das mußte also lediglich eine Aielfrau sein, die ihren Weg im Traum nach Tel'aran'rhiod gefunden hatte, genau wie dieser Bursche im Palast. Er hätte sie auch gesehen, wenn er sich umgedreht hätte. Egwene schloß die Augen und konzentrierte sich auf den einzigen klaren und deutlichen Eindruck aus Tanchico, den sie im Gedächtnis hatte: dieses riesige Skelett im großen Saal.
Als sie die Augen wieder öffnete, fiel ihr Blick direkt auf das mächtige Knochengerüst. Man hatte die Knochen mit Draht aneinander befestigt. Diesmal bemerkte sie eine solche Einzelheit. Es war sehr geschickt gemacht, so daß man die Drähte kaum sah. Die halbe Statue mit ihrer Kristallkugel lag immer noch in ihrer Vitrine. Sie ging nicht in ihre Nähe und wagte sich auch nicht näher an den schwarzen Halsring mit den beiden Armbändern heran, von denen soviel Schmerz und Leid ausstrahlte. Der Angreal, diese Frauenfigur, stellte eine Versuchung dar. Und was fängst du damit an? Licht, du bist hergekommen, um dich umzusehen und zu suchen! Nicht mehr als das. Mach endlich weiter damit, Frau!
Diesmal fand sie schnell wieder auf den Vorplatz hinaus. Hier verging die Zeit anders als in der Welt der Wirklichkeit; Elayne und Nynaeve würden sie bald aufwecken, und sie hatte noch nicht einmal angefangen. Sie durfte keine Minute mehr verschwenden. Und sie mußte sich in acht nehmen, damit sie nicht wieder etwas dachte, was sie an einen anderen Ort beförderte. Nicht mehr an die Weisen Frauen denken. Selbst dieser Gedanke ließ die Welt um sie herum bereits wieder erzittern. Konzentriere dich auf das, was zu tun ist, sagte sie sich entschlossen.
Sie machte sich auf den Weg durch die menschenleere Stadt, schritt schnell aus und manchmal lief sie beinahe. Die gewundenen Pflasterstraßen zogen sich die Abhänge hoch und wieder herunter, kurvten einmal nach rechts und dann wieder nach links, und die einzigen Lebewesen, die sich ihr dort zeigten, waren Tauben mit grünen Schwanzfedern und blaßgraue Möwen, die sich bei jeder Annäherung in ganzen Schwärmen unter hallendem Flügelschlag in die Luft erhoben. Warum Vögel, aber keine Menschen? Fliegen summten vorbei, und im Schatten sah sie Asseln und Käfer herumkriechen. Ein Rudel abgemagerter Hunde, alle verschiedenfarbig, rannte ein Stück vor ihr über die Straße. Warum Hunde?
Sie riß sich zusammen und dachte wieder an den eigentlichen Zweck ihres Kommens. Was wäre wohl ein Anzeichen für die Anwesenheit Schwarzer Ajah? Oder eines für diese Gefahr, die Rand angeblich bedrohte? Die meisten der weißen Gebäude waren verputzt, doch der Putz war rissig und abgesprungen, und es zeigten sich an vielen Stellen verwittertes Holz oder blaßbraune Backsteine darunter. Nur die Türme und die größeren Bauwerke, die sie für Paläste hielt, bestanden aus Stein und waren ebenfalls weiß. Aber selbst ihre Steine zeigten bereits winzige Risse, wohl noch zu klein, um mit bloßem Auge erkennbar zu sein, doch mit Hilfe der Macht spürte sie alle auf. Wie Spinnweben überzogen sie Kuppeln und Türme. Vielleicht hatte das etwas zu bedeuten. Vielleicht bedeutete es, daß die Einwohner Tanchicos sich nicht genug um ihre Stadt kümmerten. Das war genauso wahrscheinlich wie jede andere Deutung. Sie fuhr mächtig zusammen, als plötzlich ein schreiender Mann direkt vor ihr vom Himmel fiel. Sie hatte gerade noch genug Zeit, um seine weißen Pumphosen und den dicken, von einem Haarnetz festgehaltenen Schnurrbart zu bemerken, und dann verschwand er wieder, nur einen Schritt über dem Straßenpflaster. Wäre er hier in Tel'aran'rhiod auf dem Pflaster aufgeschlagen, hätte man ihn zu Hause tot im Bett aufgefunden.
Der hat wahrscheinlich genausoviel mit dem allem zu tun wie die Käfer, sagte sie sich.
Vielleicht fand sie etwas innerhalb der Gebäude. Die Chance war nur gering, die Hoffnung schwach, doch sie war verzweifelt genug, um alles zu versuchen. Fast alles. Zeit. Wie lange hatte sie noch? Sie fing an, von Tür zu Tür zu rennen, und steckte den Kopf in sämtliche Läden und Schenken und Wohnhäuser.
Tische und Bänke standen in den Schankräumen und warteten auf Gäste. Alles stand bereit — auch die Zinnkrüge und Teller auf ihren Regalen. Die Läden waren so ordentlich aufgeräumt, als hätten die Inhaber gerade erst frühmorgens ihre Geschäfte geöffnet, doch während auf den Tischen eines Schneiders Tuchballen lagen und bei einem Eisenwarengeschäft Messer und Scheren ausgelegt waren, hingen bei einem Metzger keinerlei Fleischstücke an den Haken, und der Ladentisch war leer. Wenn sie mit dem Finger irgendwo entlangfuhr, blieb allerdings kein Staubkörnchen daran hängen. Es war überall so sauber, daß selbst ihre Mutter zufrieden gewesen wäre. An den engeren Gassen standen die Wohnhäuser, kleine, einfache, weißgetünchte Gebäude mit flachen Dächern. Zur Straße zu hatten sie keine Fenster. Alles war bereit, daß nur noch die Familien eintreten mußten und sich auf die Bänke an den erkalteten Kaminen oder an die schmalen Tische mit den geschnitzten Beinen setzen, auf denen das beste Geschirr der Hausfrau stand. Kleider hingen an ihren Haken, Töpfe waren an den Decken der Küchen aufgehängt, und auf Bänken lagen Werkzeuge bereit und warteten.
Einmal hatte sie das Gefühl, zurückgehen und nochmals nachsehen zu müssen. Also schritt sie ein Dutzend Türen entlang den gleichen Weg zurück und blickte ein zweites Mal in ein Haus hinein, das in der wirklichen Welt wohl einer Frau gehörte. Alles war fast genauso wie vorher. Fast. Wo vorher auf dem Tisch eine rotgestreifte Schüssel gestanden hatte, befand sich jetzt eine schlanke blaue Vase. Auf einer der Bänke in der Nähe des Kamins hatten zuvor ein kaputtes Kummet und einige Werkzeuge zur Reparatur bereitgelegen, doch nun stand sie an der Tür und darauf lagen ein Handarbeitskörbchen und ein Kinderkleid mit schönen Stickereien.
Warum hat es sich geändert? fragte sie sich. Aber andererseits, warum sollte es unverändert bleiben? Licht, ich weiß wirklich gar nichts!
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand sich ein Stall. Der weiße Verputz hatte große Lücken, durch die Backsteinmauern sichtbar waren. Sie schlenderte hinüber und öffnete einen der breiten Türflügel. Der ansonsten blanke Erdboden war von Stroh bedeckt, genau wie in jedem anderen Stall, aber die Boxen standen leer. Keine Pferde. Warum? Etwas raschelte im Stroh, und ihr wurde klar, daß die Boxen doch nicht gänzlich leer waren. Ratten. Dutzende von Ratten blickten sie furchtlos an und streckten die Schnauzen schnuppernd in die Luft. Keine einzige Ratte rannte fort oder scheute auch nur vor ihr zurück. Sie verhielten sich, als hätten sie hier mehr Rechte als sie. Unwillkürlich trat sie einen Schritt zurück. Tauben und Möwen und Hände, Fliegen und Ratten. Vielleicht wüßte eine Weise Frau, was das alles zu bedeuten hat.
Und bei diesem Gedanken war sie plötzlich wieder in der Wüste. Mit einem Schrei fiel sie platt auf den Rücken, denn diese borstige, keilerähnliche Kreatur rannte plötzlich geradewegs auf sie zu. Sie war so groß wie ein kleines Pferd. Es war doch kein Schwein. Sie wußte das in dem Moment, als das Tier geschickt über sie hinwegsprang. Die Schnauze war zu lang und voller spitzer Zähne, und es hatte vier Zehen an jedem Fuß. In Gedanken war sie ganz ruhig, doch sie schauderte noch, während das Tier zwischen den Felsen hindurch davonrannte. Es war groß genug gewesen, um sie zu zertrampeln, um ihre Knochen zu brechen oder, noch schlimmer, um sie mit diesen Zähnen zu zerreißen, wie es auch ein Wolf nicht besser hätte fertigbringen können. Sie wäre dann mit Wunden bedeckt aufgewacht. Falls sie überhaupt noch einmal erwacht wäre.
Der bröcklige Felsboden unter ihrem Hinterteil war heiß wie eine Herdplatte. Sie rappelte sich hoch, wobei sie sich über sich selbst ärgerte. Wenn sie sich nicht auf das konzentrieren konnte, was sie gerade tat, würde sie nie etwas erreichen. Sie sollte sich in Tanchico befinden, und nur das durfte sie im Kopf haben. Sonst nichts.
Sie hörte auf, ihr Kleid auszuklopfen, als sie bemerkte, daß die Aielfrau sie aus zehn Schritt Entfernung mit ihren scharfen blauen Augen beobachtete. Die Frau war etwa genauso alt wie Aviendha und damit nicht älter als sie selbst. Die Haarsträhnen, die unter ihrer Schufa hervorschauten, waren allerdings bleich, beinahe weiß. Den Speer hielt sie wurfbereit in der Hand, und Egwene glaubte nicht, daß sie ihr Ziel auf so kurze Entfernung verfehlen würde.
Man sagte den Aiel nach, daß sie mit denjenigen kurzen Prozeß machten, die ohne Erlaubnis ihre Wüste betraten. Egwene wußte, daß sie wohl Frau und Speer in verfestigte Luft einschließen und dort festhalten konnte, aber würden die Stränge lang genug halten, wenn sie sich hier aufzulösen begann, um den Rückweg nach Tanchico anzutreten? Oder würde ihr Manöver die Frau so wütend machen, daß sie ihren Speer im ersten möglichen Augenblick warf, vielleicht, bevor sie vollends verschwunden war? Das müßte ja ein ganz tolles Gefühl sein, von einem Aielspeer durchbohrt nach Tanchico zurückzukehren! Doch wenn sie die Stränge abnabelte, wäre die Frau in Tel'aran'rhiod gefangen, bis sie sie wieder befreite. Sie wäre hilflos, falls der Löwe oder die keilerähnliche Kreatur zurückkämen.
Nein. Es war einfach notwendig, daß die Frau ihren Speer senkte, wenigstens lang genug, daß sie mit gutem Gewissen die Augen schließen konnte, um sich nach Tanchico zurückzuträumen. Zurück an ihre eigentliche Aufgabe. Sie hatte für solche Ausflüge einfach keine Zeit mehr. Sie war sich nicht einmal ganz sicher, ob ein Mensch, der genau wie sie selbst durch einen Traum den Weg nach Tel'aran'rhiod gefunden hatte, ihr genauso gefährlich werden konnte wie die anderen Dinge der Welt der Träume, aber sie wollte lieber jetzt nicht das Risiko eingehen, das mit Hilfe einer Aiel-Speerspitze herauszufinden. Die Aielfrau sollte eigentlich in wenigen Augenblicken wieder verschwinden. Also mußte sie sie bis dahin ablenken.
Ihre Kleidung zu wechseln war leicht. Sobald sie daran dachte, trug sie auch schon die gleichen Grau- und Brauntöne wie die andere Frau. »Ich will Euch nichts antun«, sagte sie äußerlich gelassen.
Die Frau senkte ihre Waffe keineswegs. Statt dessen runzelte sie die Stirn und sagte: »Ihr habt kein Recht, Cadin'sor zu tragen, Mädchen.« Und dann stand Egwene mit einemmal nackt da. Die Sonne brannte von oben auf sie herab, und der Boden versengte ihre bloßen Fußsohlen.
Einen Augenblick lang stand sie mit offenem Mund völlig ungläubig da und tanzte von einem Fuß auf den anderen. Sie hatte es nicht für möglich gehalten, daß man bei jemand anderem Änderungen vornehmen könne. Es gab so viele Möglichkeiten, so viele Regeln, die sie noch nicht kannte. In hektischer Eile dachte sie sich feste Schuhe und das dunkle Kleid mit dem Hosenrock an den Körper und ließ gleichzeitig die Kleider der Aielfrau verschwinden. Um das fertigzubringen, mußte sie Saidar benützen. Die Frau hatte sich wohl ganz darauf konzentriert, Egwene nackt zu halten. Nun hielt sie einen Strang der Macht bereit, um den Speer im Notfall zu packen, falls die andere Frau Anstalten machte, ihn zu werfen.
Nun war die Aielfrau mit dem Staunen an der Reihe. Sie ließ den Speer zur Seite sinken, und den Augenblick nützte Egwene, um die Augen zu schließen und sich nach Tanchico zurückzuträumen, zu dem riesigen Skelett im großen Saal. Diesmal schaute sie gar nicht mehr weiter hin. Sie hatte Dinge langsam satt, die zuerst wie Keiler aussahen und dann doch wieder nicht. Wie hat sie das fertiggebracht? Nein! Ich komme immer wieder vom Weg ab, weil ich mir über das Wie und Warum Gedanken mache. Diesmal gehe ich einfach weiter.
Und trotzdem zögerte sie. In dem Moment, als sie die Augen geschlossen hatte, schien es ihr, als habe sie eine andere Frau hinter der Aielfrau bemerkt, die sie beide beobachtete. Ein Frau mit goldenem Haar, die einen silbernen Bogen in der Hand hielt. Jetzt läßt du aber deine Phantasie mit dir durchgehen. Du hast dir wohl schon zu viele von Thoms Legenden angehört. Birgitte war schon lange tot. Sie konnte nicht wiederkehren, bis das Horn von Valere sie aus dem Grab zurückrief. Tote Frauen, selbst wenn sie legendäre Heldinnen gewesen waren, konnten sich nicht in Tel'aran'rhiod hineinträumen.
Die Unterbrechung dauerte allerdings wirklich nur einen Augenblick. Dann beendete sie diese nutzlose Spekulation und rannte zum Vorplatz zurück. Wieviel Zeit hatte sie noch übrig? Die ganze Stadt mußte sie absuchen, die Zeit verrann ihr unter den Fingern, und sie wußte immer noch nicht mehr als zu Beginn. Wenn sie nur einen blassen Schimmer davon hätte, wonach sie suchen mußte. Oder wo. Hier in der Welt der Träume schien das Laufen sie nicht soviel Kraft zu kosten wie zu Hause, doch so schnell sie auch lief, sie würde niemals die ganze Stadt durchforschen können, bevor Elayne und Nynaeve sie wieder aufweckten. Sie wollte auch möglichst nicht wieder hierher zurückkehren müssen.
Plötzlich erschien eine Frau mitten in dem Taubenschwarm, der sich auf dem Vorplatz versammelt hatte. Ihr Gewand war blaßgrün, dünn und so eng anliegend, daß sich Berelain wohl auch darin wohlgefühlt hätte. Das dunkle Haar hatte sie zu Dutzenden von dünnen Zöpfen zusammengeflochten, und ihr Gesicht war bis zu den Augen von einem durchsichtigen Schleier verdeckt, dem Haarnetz ähnlich, das der fallende Mann getragen hatte. Die Tauben flatterten auf, und die Frau flog mit ihnen hoch über die Hausdächer, bevor sie mit einem Schlag verschwand.
Egwene lächelte. Sie träumte die ganze Zeit davon, wie ein Vogel fliegen zu können, und das hier war ja schließlich ein Traum. Sie sprang in die Luft und flog weiter hoch auf die Dächer zu. Erst schwankte sie bei dem Gedanken daran, wie lächerlich das war — fliegen? Menschen können nicht fliegen! —, doch dann stabilisierte sich ihr Flug wieder, als sie sich zu mehr Selbstvertrauen zwang. Sie hatte es geschafft, und mehr war nicht zu sagen. Es war ein Traum, und sie konnte fliegen. Der Wind kühlte ihr Gesicht, und sie hätte am liebsten vor Begeisterung laut gelacht.
Sie überflog den Kreis der Panarchen. Von der Mauerkrone aus zogen sich Reihen von Steinbänken herunter bis zu einer breiten Manege im Mittelpunkt. Sie stellte sich das von Menschen gefüllt vor, wie sie ein Feuerwerk bestaunten, das die Gilde der Feuerwerker dort veranstaltete. Zu Hause waren Feuerwerke ein höchst seltenes Vergnügen. Sie erinnerte sich an die wenigen, die sie in ihrem Leben in Emondsfeld gesehen hatte. Die Erwachsenen hatten genauso aufgeregt gestaunt wie die Kinder.
Sie segelte wie ein Falke über die Dächer, über Paläste und Herrenhäuser, über einfache Wohnhäuser und Geschäfte, Lagergebäude und Stallungen. Sie glitt an Kuppeln mit goldenen Spitzen und bronzenen Wetterhähnen vorbei, an Türmen mit beinahe freischwebenden Steinbalkonen. Auf den Stellplätzen warteten die Planwagen abfahrbereit. Schiffe drängten sich im großen Hafen und in den Wasserfingern, die sich zwischen die Halbinseln der Stadt schoben. Sie lagen vertäut an den Kaimauern. Alles schien in ziemlich schlechtem Zustand, von den Planwagen angefangen bis zu den Schiffen. Doch nichts von dem Gesehenen deutete irgendwie auf die Schwarzen Ajah hin. Jedenfalls, soweit sie es erkennen konnte.
Sie überlegte, ob sie sich Liandrin vorstellen solle. Sie kannte dieses Puppengesicht nur zu gut, mit der Unzahl goldener Zöpfe, den selbstzufrieden dreinblickenden braunen Augen und dem spöttisch verzogenen Rosenknospenmund. Wenn sie sich die Schwarze vorstellte, würde sie vielleicht dorthin gezogen, wo diese sich befand. Aber wenn es klappte, fand sie vielleicht Liandrin und die anderen ebenfalls in Tel'aran'rhiod vor. Darauf war sie noch nicht vorbereitet.
Mit einemmal wurde ihr klar, daß sie ja die Schwarzen Ajah, falls sich eine davon im Tanchico von Tel'aran'rhiod aufhielt, geradezu auf sich aufmerksam machte. Jeder, der auch nur einen Moment lang zum Himmel aufblickte, würde eine fliegende Frau entdecken, und noch dazu eine, die nicht nach ein paar Augenblicken wieder verschwand. Ihr flüssiges Dahinschweben stockte, und sie flog niedriger, unter der Dachgrenze, langsamer als vorher, aber immer noch schneller, als ein Pferd galoppieren konnte. Vielleicht flog sie ihnen nun direkt in die Arme, aber nur dasitzen und auf sie warten konnte sie nicht.
Dumme Gans! ging sie mit sich selbst zornig ins Gericht. Närrin! Mittlerweile wissen sie vielleicht, daß ich hier bin. Möglich, daß die Falle für mich schon bereit ist. Sie überlegte, ob sie einfach aus dem Traum aussteigen und zu ihrem Bett in Tear zurückkehren sollte, aber sie hatte ja immer noch nichts gefunden. Falls es überhaupt etwas zu finden gab.
Plötzlich stand eine hochgewachsene Frau vor ihr auf der Straße. Sie war schlank, obwohl sie einen bauschigen braunen Rock trug und darüber eine lose hängende weiße Bluse. Um die Schultern lag eine braune Stola, und um die Stirn hatte sie einen Schal gewickelt, der das weiße Haar zurückhielt, das ihr bis zur Taille hinunterreichte. Zu dieser einfachen Kleidung trug sie jedoch eine Menge Halsketten und Armreifen aus Gold oder Elfenbein oder beidem. Sie stemmte die Fäuste in die Hüften und sah Egwene mit gerunzelter Stirn an.
Noch so eine närrische Frau, die sich an einen Ort geträumt hat, wo sie gar nicht sein sollte, und die nun ihren Augen nicht traut, dachte Egwene. Sie hatte Beschreibungen aller Frauen, die mit Liandrin gegangen waren, und diese Frau entsprach keiner davon. Doch sie verschwand nicht einfach wieder, sondern blieb stehen, als Egwene schnell näher kam. Warum verschwindet sie nicht? Warum...? O Licht! Das ist ja...! Sie griff überhastet nach Strängen der Macht, um Blitze daraus zu weben oder die Frau mit verfestigter Luft zu fesseln, aber in ihrer Eile und Überraschung verhedderte sie sich selbst darin.
»Stellt Eure Füße endlich auf den Boden, Mädchen«, kommandierte die Frau. »Ich hatte schon genug Schwierigkeiten damit, Euch wiederzufinden, ohne daß Ihr auch noch wie ein Vogel wegflattern müßt, wenn ich es endlich geschafft habe.« Plötzlich endete Egwenes Flug. Ihre Füße schlugen hart auf dem Pflaster auf, und sie kam ins Taumeln. Es war die Stimme der Aielfrau, doch dies hier war eine ältere Frau. Nicht ganz so alt, wie Egwene zuerst geglaubt hatte, da sie viel jünger aussah, als ihr weißes Haar andeutete, aber bei der Stimme und diesen scharf blickenden blauen Augen war sie sicher, daß es sich um dieselbe Frau handelte. »Ihr seid... anders«, sagte sie.
»Hier könnt Ihr sein, was Ihr wollt.« Die Frau klang verlegen, wenn auch nur ein wenig. »Manchmal erinnere ich mich gern... Aber das ist unwichtig. Ihr kommt von der Weißen Burg? Es ist schon lange her, daß sie eine Traumgängerin hatten. Sehr lange. Ich bin Amys von der Neun-Täler-Septime der Taardad Aiel.« »Ihr seid eine Weise Frau? Tatsächlich! Und Ihr kennt Euch mit Träumen aus, kennt Tel'aran'rhiod! Ihr könnt... Ich heiße Egwene. Egwene al'Vere. Ich...« Sie holte tief Luft. Amys wirkte nicht wie eine Frau, die man anlügen sollte. »Ich bin eine Aes Sedai. Von den Grünen Ajah.« Amys Gesichtsausdruck änderte sich nicht. Höchstens vertieften sich die Fältchen um ihre Augen ein wenig. Sie war wohl doch etwas skeptisch. Egwene sah kaum alt genug aus, um bereits zur Aes Sedai erhoben worden zu sein. Sie sagte dann aber nur: »Ich wollte Euch eigentlich nur in Eurer Haut stehenlassen, bis Ihr mich um angemessene Kleidung bittet. Einfach Cadin'sor anzuziehen, als wärt Ihr... Ihr habt mich damit überrascht, daß Ihr euch losreißen und meinen Speer gegen mich selbst wenden konntet. Aber Ihr seid noch ungeschult, nicht wahr, wenn auch sehr stark. Sonst wärt Ihr nicht so plötzlich in meine Jagd hineingeplatzt, wo Ihr offensichtlich gar nicht landen wolltet. Und diese Herumfliegerei? Seid Ihr nach Tel'aran'rhiod gekommen, wirklich nach Tel'aran'rhiod! —, um diese Stadt zu besichtigen, wie sie auch heißen mag?« »Das ist Tanchico«, sagte Egwene mit schwacher Stimme. Sie wußte es nicht! Aber wie war Amys ihr dann überhaupt gefolgt und hatte sie gefunden? Es war klar, daß sie bei weitem mehr über die Welt der Träume wußte als sie. »Ihr könnt mir helfen. Ich versuche, Frauen aufzuspüren, die zu den Schwarzen Ajah gehören. Schattenfreunde. Ich glaube, daß sie hier sind, und falls das stimmt, muß ich sie finden.« »Dann existiert sie also wirklich.« Amys flüsterte diese Worte fast. »Eine Ajah von Schattenläufern in der Weißen Burg.« Sie schüttelte den Kopf. »Ihr seid wie ein Mädchen, das gerade dem Speer angetraut wurde, und das nun glaubt, sie müßte mit Männern ringen und Berge überspringen. Für sie bedeutet das lediglich ein paar Schrammen und eine wertvolle Lektion, was Demut bedeutet. Für Euch könnte es den Tod bedeutet.« Amys sah sich unter den weißen Gebäuden in ihrer Nachbarschaft um und verzog das Gesicht. »Tanchico? In... Tarabon? Diese Stadt liegt im Sterben. Sie frißt sich selbst auf. Es gibt eine Dunkelheit hier, etwas Böses. Schlimmer, als Männer anrichten können. Oder auch Frauen.« Sie blickte Egwene forschend an. »Ihr könnt es nicht sehen oder fühlen, ja? Und Ihr wollt Schattenläufer in Tel'aran'rhiod jagen.« »Etwas Böses?« fragte Egwene schnell. »Das könnten sie sein. Seid Ihr sicher? Wenn ich Euch sage, wie sie aussehen, könnt Ihr dann sicher sein, daß es sie waren? Ich kann sie beschreiben. Eine kann ich Euch sogar bis hin zum kleinsten Zopf beschreiben.« »Ein Kind«, murmelte Amys, »das von seinem Vater unbedingt jetzt gleich einen silbernen Armreif haben möchte, obwohl es weder vom Handel noch von der Anfertigung von Armreifen etwas versteht. Ihr müßt noch soviel lernen. Viel mehr, als ich jetzt auch nur beginnen kann, Euch beizubringen. Kommt ins Dreifache Land. Ich werde unter den Clans die Weisung verbreiten, daß man eine Aes Sedai namens Egwene al'Vere zu mir in die Kaltfelsenfestung bringt. Gebt Euren Namen an und zeigt Euren Ring mit der Großen Schlange, dann läßt man Euch sicher durch. Ich bin jetzt nicht dort, aber ich werde aus Rhuidean zurückkehren, bevor Ihr ankommt.« »Bitte, Ihr müßt mir helfen. Ich muß einfach wissen, ob sie hier sind. Ich muß es wissen.« »Aber ich kann es Euch nicht sagen. Ich kenne weder sie noch diesen Ort, dieses Tanchico. Ihr müßt zu mir kommen. Was Ihr tut, ist gefährlich, viel gefährlicher, als Ihr annehmt. Ihr müßt... Wohin wollt Ihr? Bleibt!« Irgend etwas schien Egwene zu packen und sie in die Dunkelheit hineinzuziehen.
Amys Stimme folgte ihr, hohl und immer leiser: »Ihr müßt zu mir kommen und lernen. Ihr müßt... «