31 Versprechen

Nach ein paar Minuten kam Ihvon zurück. »Ihr könnt weitergehen, Frau al'Vere«, war alles, was er sagte, bevor Tomas und er wieder ohne auch nur das geringste Rascheln im Unterholz verschwanden.

»Sie sind sehr gut«, murmelte Gaul, der sich immer noch mißtrauisch umschaute. »Hier drinnen könnte sich auch ein Kind verstecken«, sagte Chiad zu ihm und schob einen Vogelbeerenzweig zur Seite. Aber sie beobachtete ihre Umgebung genauso scharf und eingehend wie Gaul.

Keiner der Aiel schien besonders gern weiterzugehen. Sie zögerten nicht unbedingt und hatten bestimmt auch keine Angst, aber sie schienen auch nicht gerade erpicht darauf. Perrin hoffte eines Tages herauszufinden, was die Aiel den Aes Sedai gegenüber empfanden. Eines Tages. Heute empfand er auch keine große Begeisterung.

»Also gehen wir und lernen Eure Aes Sedai endlich kennen«, sagte er mürrisch zu Frau al'Vere.

Das alte Seuchenhaus war sogar noch heruntergekommener, als er es in Erinnerung hatte. Das breite, windschiefe, einstöckige Gebäude besaß nur noch etwa das halbe Dach. Aus einem der unbedeckten Zimmer ragte sogar ein Baum heraus. Der Wald hatte es von allen Seiten her umzingelt. Die Wände waren von einem dichten Netz von Reben und Dornenranken überzogen, genau wie das übriggebliebene Dach. Er hatte das Gefühl, nur diese Ranken hielten das Dach überhaupt dort oben, ja, vielleicht das ganze Gebäude. Die Vordertür hatte man allerdings gesäubert. Er witterte Pferde und einen schwachen Duft nach Bohnen und Speck, doch seltsamerweise keinen Rauch von einem Holzfeuer.

Sie banden ihre Tiere an niedrigeren Ästen fest und folgten Frau al'Vere nach drinnen. Die von Ranken überwucherten Fenster ließen nur trübes Licht durch. Der Vorraum war groß und leer. Statt Möbel war nur Schmutz in den Ecken zu sehen und ein paar Spinnweben, die eine offensichtlich hastige Reinigung überstanden hatten. Auf dem Fußboden lagen vier Deckenrollen. Sättel und Satteltaschen und ordentlich geschnürte Bündel standen an der Wand, und ein kleiner Kessel auf dem gemauerten Herd verströmte die Speisegerüche, obwohl kein Feuer entzündet worden war. Ein kleinerer Kessel daneben enthielt offensichtlich Teewasser, das beinahe kochte. Zwei Aes Sedai erwarteten sie. Marin al'Vere knickste schnell und begann eine nervöse Tirade über ihr Herkommen, wer sie seien und alles mögliche.

Perrin legte sein Kinn an den Bogen. Er erkannte die Aes Sedai. Verin Mathwin, mollig und mit kantigem Gesicht, graue Strähnen im Haar trotz der Alterslosigkeit der Aes Sedai, kam von den Braunen Ajah und verlor sich wie die meisten Braunen einen großen Teil der Zeit über in der Suche nach Wissen, ob alt oder verschollen oder neu. Aber manchmal glitzerten ihre Augen keineswegs verträumt, sondern hellwach, so wie jetzt, als sie ihn an Marin vorbei scharf anblickten. Sie war eine von zwei Aes Sedai außer Moiraine, bei denen sich Perrin sicher war, daß sie über Rand Bescheid wußten. Er vermutete auch, daß sie über ihn selbst mehr wußte, als sie eingestand. Dann wirkten ihre Augen wieder verträumt und abwesend, und sie lauschte Marins Erklärungen, doch in dem einen Augenblick zuvor hatte sie ihn abgeschätzt und in ihre eigenen Pläne einbezogen. Er würde sich vor ihr sehr in acht nehmen müssen.

Die andere war eine dunkle, schlanke Frau in einem tiefgrünen seidenen Reitkleid, das kraß von Verins einfachem braunen Kleid mit den Tintenflecken an den Manschetten abstach. Er war ihr nie vorgestellt worden und hatte sie nur einmal gesehen. Alanna Mosvani war eine Grüne Ajah, wenn ihn seine Erinnerung nicht trog, eine schöne Frau mit langem, schwarzem Haar und alles durchdringenden dunklen Augen. Auch der Blick aus diesem Augenpaar ruhte auf ihm, während sie Marin lauschte. Er erinnerte sich an etwas, das ihm Egwene gesagt hatte. Einige Aes Sedai, die nichts von Rand wissen sollten, zeigen ein auffälliges Interesse an ihm. Elaida zum Beispiel und Alanna Mosvani. Ich traue keiner von beiden. Vielleicht war es am besten, sich in der Hinsicht an Egwene zu halten, bis er eines Besseren belehrt wurde.

Er spitzte die Ohren, als Marin immer noch mit besorgter Stimme sagte: »Ihr habt mich doch nach ihm gefragt, Verin Sedai. Perrin meine ich. Alle drei Jungen, und Perrin war dabei. Mir schien, der einfachste Weg, um ihn davon abzuhalten, sich umbringen zu lassen, war, ihn zu Euch zu bringen. Ich hatte eben keine Zeit mehr, um Erlaubnis zu bitten. Sagt mir bitte, daß Ihr ver... « »Es ist schon in Ordnung, Frau al'Vere«, unterbrach Verin sie in beruhigendem Tonfall. »Ihr habt genau das Richtige getan. Perrin befindet sich jetzt in den richtigen Händen. Und ich werde auch gern die Gelegenheit wahrnehmen, mehr über die Aiel zu erfahren. Dazu ist es immer ein Vergnügen, sich mit einem Ogier zu unterhalten. Ich werde Euch viel Wissen entlocken, Loial. Ich habe in Ogierbüchern eine Menge faszinierender Angaben gefunden.« Loial lächelte sie erfreut an, denn alles, was mit Büchern zu tun hatte, gefiel ihm ausgesprochen gut. Gaul andererseits tauschte einen reservierten Blick mit Bain und Chiad.

»Es war schon richtig, aber Ihr solltet das nicht noch mal machen«, sagte Alanna streng. »Außer... Seid Ihr allein?« fragte sie Perrin mit einer Stimme, die eine Antwort forderte, und zwar augenblicklich. »Sind die anderen beiden auch mit zurückgekommen?« »Warum seid Ihr hier?« gab er statt einer Antwort zurück.

»Perrin!« sagte Frau al'Vere in scharfem Ton. »Was sind das für Manieren! Du hast draußen in der Welt vielleicht ein paar schlechte Angewohnheiten angenommen, aber jetzt, da du wieder zu Hause bist, solltest du sie dir schnellstens abgewöhnen.« »Bemüht Euch nicht«, sagte Verin zu ihr. »Perrin und ich sind mittlerweile alte Freunde. Ich verstehe ihn.« Einen Augenblick lang funkelten ihre dunklen Augen ihn an.

»Wir werden uns um ihn kümmern.« Alannas kühle Aussage konnte man so oder so auslegen.

Verin lächelte und tätschelte Marins Schulter. »Ihr solltet am besten wieder zum Dorf zurückgehen. Wir wollen doch nicht, daß sich jemand fragt, was Ihr so lange im Wald macht.« Frau al'Vere nickte. Sie blieb neben Perrin noch einmal kurz stehen und legte ihre Hand auf seinen Arm. »Du weißt, daß du all mein Mitgefühl hast«, sagte sie sanft. »Denke nur daran, daß es niemandem hilft, wenn du dich umbringen läßt. Tu, was dir die Aes Sedai sagen.« Er murmelte etwas Nichtssagendes, aber es schien sie zufriedenzustellen.

Als Frau al'Vere weg war, sagte Verin: »Ihr habt auch unser ganzes Mitgefühl, Perrin. Wenn wir irgend etwas hätten tun können, dann wäre es geschehen, darauf könnt Ihr euch verlassen.« Er wollte jetzt nicht an seine Familie denken. »Ihr habt meine Frage noch nicht beantwortet.« »Perrin!« Faile imitierte Frau al'Veres strengen Tonfall genau, aber er beachtete sie nicht.

»Warum seid Ihr hier? Das ist schon ein seltsamer Zufall. Weißmäntel und Trollocs, und zufällig sind zwei von Euch auch noch hier.« »Überhaupt kein Zufall«, gab Verin zu. »Ach, das Teewasser ist fertig.« Die aufbrodelnde Wasseroberfläche im Kessel beruhigte sich, als sie eine Handvoll Teeblätter hineinwarf. Sie gab Faile Anweisungen, aus einem der Bündel an der Wand Blechtassen herauszuholen. Alanna hatte die Arme vor der Brust verschränkt und sah Perrin unverwandt an. Die Hitze am Herd stand in scharfem Kontrast zur Kühle ihres Gesichtsausdrucks. »Jedes Jahr«, fuhr Verin fort, »finden wir weniger Mädchen, die man im Gebrauch der Macht ausbilden kann. Sheriam glaubt, daß wir im Laufe der letzten dreitausend Jahre diese Eigenschaft aus der Menschheit herausgezüchtet haben, weil wir jeden Mann mit dieser Eigenschaft einer Dämpfung unterzogen, den wir nur finden konnten. Beweis dafür ist ihrer Meinung nach die geringe Anzahl von Männern, die heutzutage noch diese Eigenschaft besitzen. Vor noch nicht einmal hundert Jahren, so sagen die Berichte aus, gab es wenigstens zwei oder drei pro Jahr, und vor fünfhundert Jahren... « Alanna räusperte sich. »Was können wir denn sonst tun, Verin? Sie wahnsinnig werden lassen? Den irren Plan der Weißen durchführen?« »Ich glaube nicht«, antwortete Verin ruhig. »Selbst wenn wir Frauen finden, die bereit sind, Kinder von Männern auszutragen, die einer Dämpfung unterzogen wurden, gibt es keine Garantie dafür, daß diese Kinder mit der Macht umgehen können und daß es überhaupt auch Mädchen werden. Ich habe vorgeschlagen, wenn sie mehr solcher Kinder haben wollen, daß es dann die Kinder von Aes Sedai sein sollten. Die sind ja letzten Endes auch auf diese Idee gekommen. Aber Alviarin fand das offensichtlich nicht amüsant.« »Wohl kaum«, lachte Alanna. Die plötzlich bei ihr aufblitzende Heiterkeit im Gegensatz zu dem vorher so eindringlichen Blick aus ihren dunklen Augen überraschte Perrin. »Ich hätte gern ihr Gesicht dabei gesehen.« »Ihr Gesichtsausdruck war... interessant«, sagte die Braune Schwester nachdenklich. »Beruhigt Euch, Perrin. Ich werde Eure Frage schon noch beantworten. Tee?« Er bemühte sich, seine finstere Miene aufzuhellen, und setzte sich auf den Boden, den Bogen neben sich gelegt und eine dampfende Blechtasse mit starkem Tee in der Hand. Alle saßen im Kreis in der Mitte des Raums. Alanna nahm es auf sich, ihre Gegenwart zu erklären, vielleicht auch, um die sprachlichen Ausschweifungen der anderen Aes Sedai von vornherein zu unterbinden.

»Hier an den Zwei Flüssen, wo meiner Vermutung nach seit tausend Jahren keine Aes Sedai mehr aufgetaucht ist, hat Moiraine gleich zwei Frauen aufgespürt, die nicht nur im Gebrauch der Macht ausgebildet werden können, sondern die mit dieser Eigenschaft geboren wurden, und sie hörte von einer weiteren, die gestorben war, weil sie sich nicht selbst ausbilden und auf diese Art retten konnte.« »Ganz zu schweigen von drei TaVeren«, murmelte Verin in ihren Tee hinein.

»Habt Ihr eine Ahnung«, fuhr Alanna fort, »wie viele Städte und Dörfer wir besuchen müssen, um drei Mädchen zu finden, denen diese Fähigkeit angeboren ist? Erstaunlich daran ist nur, daß wir so lange brauchten, um nach hier zu kommen und nach weiteren zu suchen. Das alte Blut ist noch sehr stark hier an den Zwei Flüssen. Wir waren erst eine Woche in Wachhügel, als die Kinder des Lichts auftauchten, und wir hatten uns zum Glück alle Mühe gegeben, niemandem bis auf die Mitglieder der dortigen Frauenversammlung zu enthüllen, wer wir sind. Und selbst unter diesen Umständen fanden wir dort bereits vier Mädchen, bei denen sich eine Ausbildung lohnt, und noch ein weiteres Kind, von dem wir annehmen, es wurde mit der Fähigkeit geboren.« »Man kann das nicht mit letzter Sicherheit sagen«, warf Verin ein. »Sie ist erst zwölf. Keine hat auch nur annähernd das Potential von Egwene oder Nynaeve, aber ihre Anzahl ist trotzdem ganz erstaunlich. Es könnte allein um Wachhügel herum noch zwei oder drei geben. Wir hatten keine Möglichkeit, hier oder weiter im Süden nach geeigneten Mädchen zu suchen. Taren-Fähre allerdings war eine Enttäuschung, muß ich sagen. Ich schätze, dort hat es zuviel Austausch an Erbanlagen mit Leuten von außerhalb gegeben.« Perrin mußte zugeben, daß das einen Sinn ergab. Aber eine befriedigende Antwort auf seine Frage konnte ihm diese Erklärung nicht geben, noch konnte sie seine Zweifel restlos beseitigen. Er bewegte sich und streckte die Beine aus. Die Speerwunde an seinem Oberschenkel schmerzte. »Ich verstehe nicht, warum Ihr euch hier versteckt. Die Weißmäntel setzen unschuldige Leute gefangen, und Ihr hockt hier herum. Trollocs überrennen offensichtlich die Zwei Flüsse, und Ihr hockt hier herum.« Loial knurrte leise etwas. Es klang wie ein gedämpftes Grollen bei ihm. Perrin verstand nur ›Aes Sedai ärgern‹ und ›Hornissennest‹, aber er bearbeitete sie unbeeindruckt weiter. »Warum unternehmt Ihr nichts? Ihr seid schließlich Aes Sedai! Seng mich, warum tut Ihr nichts dagegen?« »Perrin!« zischte ihm Faile zu, bevor sie sich mit einem Verzeihung heischenden Lächeln an Verin und Alanna wandte. »Bitte vergebt ihm. Moiraine Sedai hat ihn verwöhnt. Sie nimmt die Dinge leichter, denke ich, und hat solche Äußerungen durchgehen lassen. Bitte, seid ihm nicht böse. Es wird nicht mehr vorkommen.« Sie warf ihm einen warnenden Blick zu, der ihm sagen sollte, daß ihre Bemerkung sowohl für die Aes Sedai, wie auch für ihn bestimmt gewesen sei. Er funkelte kräftig zurück. Sie hatte kein Recht, sich einzumischen.

»Moiraine sieht die Dinge nicht so eng?« sagte Verin blinzelnd. »Moiraine? Davon habe ich aber noch nichts bemerkt.« Alanna gab Faile einen Wink, den Mund zu halten. »Ihr versteht wirklich einiges nicht«, sagte die Aes Sedai mit gereizter Stimme zu Perrin. »Ihr versteht die Einschränkungen nicht, denen wir bei unserer Arbeit unterliegen. Die Drei Eide sind nicht nur ein Lippenbekenntnis. Ich habe zwei Behüter hierher mitgebracht.« Die Grünen waren die einzigen Ajah, die mehr als einen Behüter durch Eid an sich banden. Er hatte gehört, daß ein paar sogar drei oder vier Behüter hatten. »Die Kinder haben Owein erwischt, als er ein offenes Feld überquerte. Ich habe jeden einzelnen Pfeil gespürt, der ihn durchbohrte, bis er tot war. Ich habe seinen Todeskampf mitgefühlt. Wenn ich dabei gewesen wäre, hätte ich ihn verteidigen können, und mich selbst natürlich auch — mit Hilfe der Macht. Aber ich kann sie nicht dazu benützen, Rache zu nehmen. Die Eide erlauben das nicht. Die Kinder sind mit das Schlimmste, was die Menschheit zu bieten hat, nicht viel besser als Schattenfreunde, aber sie sind keine, und deshalb können wir die Macht nicht gegen sie verwenden, außer zur Selbstverteidigung. Man kann diesen Begriff dehnen, soviel man will, aber irgendwo stößt man an eine Grenze.« »Und was die Trollocs betrifft«, fügte Verin hinzu, »haben wir eine ganze Reihe davon erledigt und auch zwei Myrddraal, aber es gibt eben auch hier Grenzen. Die Halbmenschen können auf gewisse Weise fühlen, wenn man die Macht benützt. Wenn wir es fertig bringen, hundert Trollocs auf unsere Spur zu locken, dann können wir wenig mehr tun, als wegzulaufen.« Perrin kratzte sich im Bart. Er hätte so etwas erwarten, ja wissen müssen. Er hatte ja schon beobachten können, wie Moiraine Trollocs gegenüberstand, und wußte so ungefähr, was sie tun konnte und was nicht. Ihm wurde klar, daß er statt dessen daran gedacht hatte, wie Rand im Stein alle Trollocs getötet hatte, aber Rand war eben stärker als jede dieser Aes Sedai, vielleicht sogar stärker als beide zusammen. Nun, ob sie ihm nun halfen oder nicht, er blieb bei seinem Plan, jeden Trolloc im Bereich der Zwei Flüsse zu erledigen. Nachdem er Mats Familie und die Luhhans befreit hatte. Wenn er sorgfältig genug plante, würde er auch einen Weg finden. Sein Oberschenkel schmerzte ganz erbärmlich.

»Ihr seid verwundet.« Alanna stellte ihre Tasse auf den Boden und kam herüber, wo sie sich neben ihn kniete und seinen Kopf in ihre Hände nahm. Ein Prickeln durchlief ihn. »Ja. So ist das also. Wie es scheint, habt Ihr euch nicht gerade beim Rasieren geschnitten.« »Es waren Trollocs, Aes Sedai«, sagte Bain. »Als wir in den Bergen aus dem Wegetor kamen.« Chiad berührte ihren Arm und sie schwieg wieder.

»Ich habe das Wegetor verschlossen«, fügte Loial schnell hinzu. »Niemand wird es mehr benützen, sofern es nicht von dieser Seite hier geöffnet wird.« »Ich dachte mir, daß sie auf diesem Weg gekommen sein müssen«, murmelte Verin in sich hinein. »Moiraine hat ja gesagt, daß sie die Wege benützen. Früher oder später wird uns das vor ein echtes Problem stellen.« Perrin fragte sich, was sie damit meine.

»Die Wege«, sagte Alanna, die immer noch seinen Kopf hielt. »TaVeren! Junge Helden!« Sie brachte es fertig, ihre Worte gleichzeitig anerkennend und doch wie einen Fluch klingen zu lassen.

»Ich bin kein Held«, sagte er ihr gleichmütig. »Die Wege stellten die schnellste Möglichkeit dar, hierherzukommen. Das ist alles.« Die Grüne Schwester fuhr fort, als habe er gar nichts gesagt: »Ich werde nie verstehen, wieso die Amyrlin Euch drei ziehen ließ. Elaida hat fast Anfälle bekommen wegen Euch, und sie ist nicht die einzige, nur die Auffallendste. Die Siegel werden schwächer, und die Letzte Schlacht kommt näher. Das ist das Allerletzte, was wir brauchen können, eine Gruppe von gleich drei TaVeren, die unkontrolliert herumrennen. Ich hätte jeden von Euch an die Leine gelegt oder vielleicht sogar Aes Sedai als Behüter zugeschworen.« Er versuchte, seinen Kopf ihrem Griff zu entziehen, aber sie griff noch fester zu und lächelte. »Ich habe mich nicht so weit von den alten Sitten entfernt, daß ich mir einen Mann gegen seinen Willen zuschwören lasse. So weit ist es noch nicht.« Er war aber nicht sicher, wie weit sie davon entfernt war. Das Lächeln ihres Mundes erreichte ihre Augen nicht mehr. Sie fühlte nach dem halb abgeheilten Schnitt auf seiner Wange. »Es ist schon zu lange her, daß Ihr diesen Schnitt empfangen habt. Selbst meine Heilkunst wird eine Narbe hinterlassen.« »Ich muß keineswegs hübsch sein«, knurrte er — nur gesund genug, um zu tun, was getan werden mußte — und Faile lachte laut los.

»Wer hat dir das denn gesagt?« fragte sie dann. Überraschenderweise lächelten Alanna und sie sich gegenseitig an.

Perrin runzelte die Stirn und fragte sich, ob sie sich über ihn lustig machten. Aber bevor er etwas sagen konnte, traf ihn der Schock der Heilung, als verwandle er sich in einen Eisblock. Alles, was er fertigbrachte, war, nach Luft zu schnappen. Die wenigen Augenblicke, bis Alanna ihn losließ, schienen ihm endlos.

Als er wieder atmen konnte, hielt die Grüne Schwester Bains flammenhaarigen Kopf in ihren Händen. Verin kümmerte sich um Gaul, und Chiad schwenkte prüfend ihren linken Arm hin und her. Ihr Gesicht drückte Zufriedenheit aus.

Faile nahm Alannas Platz an Perrins Seite ein und strich mit einem Finger über seine Wange, um die Narbe unter seinem Auge nachzufahren. »Ein Schönheitsfleck«, sagte sie leicht lächelnd.

»Ein was?« »Ach, das ist etwas, das man bei den Domani-Frauen antrifft. Es war nur eine unwichtige Bemerkung.« Trotz ihres Lächelns oder vielleicht gerade deswegen verzog er mißtrauisch sein Gesicht. Sie machte sich über ihn lustig, aber er verstand nicht genau, wie sie das anstellte.

Ihvon schlüpfte herein, flüsterte etwas in Alannas Ohr, und nach ihrer ebenfalls geflüsterten Antwort verschwand er wieder lautlos. Ein paar Augenblicke später kündete ein leichtes Stiefelschaben auf den Stufen von Neuankömmlingen.

Perrin sprang auf, als Tam al'Thor und Abell Cauthon plötzlich in der Tür standen. Sie hielten Bögen in der Hand; ihre zerknitterte Kleidung und ihre Zwei-Tage-Bärte zeigten deutlich, daß sie im Freien übernachtet hatten. Sie hatten gejagt. An Tams Gürtel hingen vier Kaninchen und an Abells drei. Es war leicht zu erkennen, daß sie erwarteten, sowohl die Aes Sedai wie auch Besucher hier vorzufinden, aber sie waren doch verblüfft über Loials Anblick: um die Hälfte größer als sie und dazu die behaarten Ohren und die breite Rüsselnase. Als Tam die Aiel erblickte, zeigte der Ausdruck seines derben, zerfurchten Gesichts, daß er sie erkannt hatte.

Doch sein Blick ruhte lediglich einen Augenblick lang nachdenklich auf den Aiel, und dann erfaßte er Perrin. Seine Überraschung war genauso groß wie vorher beim Anblick des Ogiers. Er war ein robuster Mann mit kräftigem Oberkörper, das Haar beinahe vollständig ergraut, doch der Typ von Mann, bei dem schon ein Erdbeben notwendig war, um ihn umzuwerfen, und noch mehr, um ihn aus der Ruhe zu bringen. »Perrin, Junge!« rief er. »Ist Rand auch da?« »Und was ist mit Mat?« rief Abell aufgeregt. Er sah aus wie Mat, nur eben älter und grauhaarig, und seine Augen blickten ernsthafter drein. Er war auch in seinem Alter nicht viel dicker geworden und wirkte immer noch leichtfüßig.

»Es geht ihnen gut«, sagte Perrin und fügte gleich hinzu: »In Tear sind sie.« Aus dem Augenwinkel bemerkte er, daß ihn Verin ansah. Sie wußte wohl, was Tear für Rand bedeutete. Alanna schien kaum auf ihr Gespräch zu achten. »Sie wären mitgekommen, aber wir wußten nicht, wie schlimm die Lage hier wirklich ist.« Das war in jedem Fall die Wahrheit, wie man es auch drehte. »Mat verbringt seine Zeit mit Würfelspielen — er gewinnt meistens — und mit Schmusen. Rand... Als ich Rand das letztemal sah, trug er einen sündhaft teuren Mantel und hatte ein hübsches Mädchen mit goldenen Locken im Arm.« »Das klingt ganz nach meinem Mat«, schmunzelte Abell.

»Vielleicht ist es gut; daß sie nicht mitkamen«, sagte Tam etwas bedächtiger. »Bei den Trollocs, die wir hier haben... und dann die Weißmäntel...« Er zuckte die Achseln. »Du weißt doch, daß die Trollocs zurückgekommen sind, oder?« Perrin nickte. »Hatte diese Aes Sedai recht? Moiraine. Waren sie hinter euch drei Burschen her in dieser Winternacht? Habt ihr jemals herausbekommen, warum sie euch suchten?« Die Braune Schwester warf Perrin einen warnenden Blick zu. Alanna schien darauf konzentriert, in ihren Satteltaschen herumzukramen, aber er bildete sich ein, daß sie trotzdem genau zuhörte. Aber was ihn zum Zögern brachte, war keine der beiden Aes Sedai. Es war einfach unmöglich, Tam zu sagen, daß sein Sohn die Macht gebrauchen konnte, daß Rand der Wiedergeborene Drache sei. Wie konnte er einem Mann so etwas sagen? Statt dessen brachte er heraus: »Da müßt Ihr Moiraine fragen. Die Aes Sedai sagen einem nicht mehr, als unbedingt sein muß.« »Das ist mir auch aufgefallen«, sagte Tam trocken.

Beide Aes Sedai lauschten nun offensichtlich und machten nicht einmal ein großes Geheimnis daraus. Alanna zog in Richtung Tam eine Augenbraue hoch, und Abell trat nervös von einem Fuß auf den anderen, als fürchte er, daß Tam die Geduld der Aes Sedai ein wenig überstrapaziere, aber es war schon etwas mehr notwendig als ein Blick, um Tam aus dem Gleichgewicht zu bringen.

»Können wir uns draußen unterhalten?« fragte Perrin die beiden Männer. »Ich brauche frische Luft.« Er wollte mit ihnen sprechen, ohne daß die Aes Sedai lauschten und sie beobachteten, aber das konnte er schwerlich sagen.

Tam und Abell stimmten zu. Ihnen lag wohl genauso viel daran, Verins und Alannas Beobachtung zu entkommen, wie ihm. Doch zunächst übergaben sie ihre erlegten Kaninchen Alanna.

»Wir wollten an sich zwei für uns behalten, aber nun scheint es, Ihr habt noch mehr hungrige Mägen zu befriedigen«, sagte Abell.

»Das ist aber nicht nötig.« Es klang bei der Grünen Schwester, als habe sie das schon öfters sagen müssen.

»Wir bezahlen gern für das, was wir bekommen«, sagte Tam zu ihr, und auch das klang nach einer Wiederholung. ›Das Geschenk einer Aes Sedai hat immer einen Haken‹, so sagte man. Nun ja, er wußte, wie wahr das war. Aber es spielte eigentlich keine Rolle, ob man es als Geschenk annahm oder dafür bezahlte. Die Aes Sedai hatten einen in jedem Fall am Haken. Verin beobachtete ihn mit einem leichten Lächeln um die Mundwinkel, als wisse sie genau, was er dachte.

Als die drei Männer mit geschulterten Bögen Anstalten machten, hinauszugehen, erhob sich Faile, um ihnen zu folgen. Perrin schüttelte jedoch den Kopf, und überraschenderweise setzte sie sich tatsächlich wieder hin. Er fragte sich, ob sie wohl krank sei.

Nachdem sie kurz stehengeblieben waren, damit Tam und Abell Traber und Schwalbe, Failes Pferd, bewundern konnten, schlenderten sie ein Stück weg unter die Bäume. Die Sonne neigte sich bereits dem Westen zu, und die Schatten wurden länger. Die beiden älteren Männer zogen ihn seines Bartes wegen ein bißchen auf, doch sie erwähnten seine Augen nicht. Er hatte auch wirklich andere Sorgen, als daß er sich Gedanken darüber machen konnte, ob jemand seine Augen sonderbar fand oder nicht.

Er antwortete auf Abells Frage, ob ›das Ding‹ zu irgend etwas gut sei, außer als Suppenfänger, indem er sich über den Bart strich und mit milder Stimme sagte: »Faile gefällt er.« »Oho«, schmunzelte Tam. »Das ist das Mädchen dort drinnen, nicht wahr? Macht einen feurigen Eindruck, Junge. Sie wird dich nächtelang wachhalten, daß du oben und unten nicht mehr unterscheiden kannst.« »Es gibt nur einen Weg, so eine Frau zu behandeln«, sagte Abell mit einem Nicken. »Laß sie glauben, daß sie diejenige ist, die bei euch führt. Und wenn dann etwas wirklich Wichtiges auftaucht und du plötzlich etwas anderes sagst, ist sie so überrascht, daß du Zeit genug hast, alles so durchzuziehen, wie du es willst. Es wird zu spät sein für sie, um dich noch durch langes Herumreden umzustimmen.« Das schien Perrin sehr mit dem übereinzustimmen, was Frau al'Vere Faile in bezug auf die Behandlung von Männern geraten hatte. Er fragte sich, ob Abell und Marin wohl gemeinsam zu dieser Überzeugung gekommen seien. Unwahrscheinlich. Vielleicht sollte er das wirklich bei Faile ausprobieren. Nur daß sie sich eben irgendwie immer durchsetzte.

Er blickte sich nach hinten um. Das Seuchenhaus wurde fast vollständig durch die dichtstehenden Bäume verborgen. Sie mußten hier vor den Ohren der Aes Sedai wohl ziemlich sicher sein. Er lauschte noch einmal konzentriert und atmete tief durch. Irgendwo in einiger Entfernung trommelte ein Specht. In den dicht belaubten Zweigen über ihnen keckerten Eichhörnchen und vor nicht allzu langer Zeit war ein Fuchs mit seiner Beute — einem Kaninchen — hier vorübergezogen. Außer ihrer eigenen konnte er keine Menschenwitterung wahrnehmen, auch nichts, was andeutete, daß einer der Behüter sie belauschte. Vielleicht war er übervorsichtig, aber wie gut auch ihre Gründe sein mochten, er kam einfach nicht über die Tatsache hinweg, daß beide Aes Sedai Frauen waren, die er bereits kannte, die eine, der Egwene mißtraute, und die andere eine Frau, bei der er selbst nicht sicher war, ob man ihr trauen konnte. »Wohnt Ihr hier?« fragte er. »Bei Verin und Alanna?« »Wohl kaum«, antwortete Abell. »Wie kann ein Mann unter dem gleichen Dach mit einer Aes Sedai schlafen? Was von einem Dach übrig ist.« »Wir hatten das hier für ein gutes Versteck gehalten«, sagte Tam, »aber sie waren schneller als wir. Ich glaube fast, die Behüter hätten uns beide getötet, wenn nicht Marin und ein paar andere Frauen aus dem Zirkel hier gewesen wären und sie davon abgehalten hätten.« Abell verzog das Gesicht. »Ich glaube, es waren die Aes Sedai selbst, die sie davon abhielten, als sie erfuhren, wer wir sind. Oder besser, wer unsere Söhne sind. Es paßt mir gar nicht, daß sie zuviel Interesse an euch Jungs zeigen.« Er zögerte und nahm seinen Bogen in die andere Hand. »Diese Alanna hat herausgelassen, daß ihr TaVeren seid. Ihr alle drei. Ich habe gehört, daß die Aes Sedai nicht lügen können.« »Ich habe bei mir selbst keine Anzeichen davon entdeckt«, sagte Perrin trocken, »und bei Mat auch nicht.« Tam warf ihm einen undurchschaubaren Blick zu, als er Rand nicht erwähnte. Er würde besser lügen lernen müssen, um seine Geheimnisse und die anderer zu wahren. Aber der ältere Mann sagte lediglich: »Vielleicht weißt du nur nicht, wonach du sehen mußt. Wie kommst du dazu, mit einem Ogier und drei Aiel herumzuziehen?« »Der letzte fahrende Händler, den ich traf, behauptete, daß sich Aiel auf dieser Seite des Rückgrats der Welt aufhielten«, warf Abell ein, »aber ich habe ihm nicht geglaubt. Er sagte, er habe gehört, daß in Murandy —ausgerechnet — Aiel seien oder vielleicht auch in Altara. Er war sich da nicht ganz sicher, aber das ist in jedem Fall ein großes Stück von der Wüste entfernt.« »Nichts von alledem hat irgend etwas mit TaVeren zu tun«, sagte Perrin. »Loial ist ein Freund, und er kam mit, um mir zu helfen. Auch Gaul ist mein Freund, denke ich. Bain und Chiad kamen mit Faile und nicht mit mir. Es ist alles ziemlich kompliziert, aber so ist es halt. Hat nichts mit TaVeren zu tun.« »Na ja, was auch immer der Grund sein mag«, sagte Abell, »auf jeden Fall haben die Aes Sedai ein starkes Interesse an euch Jungs. Tam und ich sind letztes Jahr den ganzen Weg nach Tar Valon gereist, zur Weißen Burg, um herauszufinden, wo ihr seid. Wir konnten kaum eine dazu bringen, uberhaupt zuzugeben, daß sie eure Namen kennt, aber es war klar, daß sie etwas verbergen. Die Behüterin der Chronik setzte uns auf ein Schiff flußabwärts, steckte uns Gold in die Taschen und fütterte uns mit unklaren Versprechen. Es ging alles so schnell, daß wir kaum Zeit hatten, uns zu verbeugen. Mir gefällt es nicht, daß die Burg Mat auf irgendeine Art benützt.« Perrin hätte Mats Vater so gern gesagt, daß nichts dergleichen geschah, aber er glaubte nicht, daß er eine solche große Lüge herausbrachte, ohne daß man sie ihm ansah. Moiraine beobachtete Mat nicht, weil ihr sein Grinsen so gefiel. Mat war genauso tief wie er selbst in die Intrigen der Burg verstrickt, vielleicht sogar noch tiefer. Alle drei waren sie verstrickt, und die Burg hielt ihre Fäden in der Hand.

Schweigen senkte sich über sie, bis schließlich Tam sagte: »Junge, ich habe traurige Nachrichten, was deine Familie betrifft.« »Ich weiß schon«, sagte Perrin schnell, und wieder wurden sie still. Jeder blickte auf die eigenen Stiefelspitzen hinunter. Das Schweigen tat ihm gut. Es gab ihm ein paar Augenblicke Zeit, um seinen Schmerz hinunterzuschlucken und auch die Verlegenheit, weil man ihm diesen Schmerz nur zu deutlich angesehen hatte.

Ein Flattern ließ Perrin aufblicken. Ein großer Rabe setzte sich auf eine Eiche in ungefähr fünfzig Schritt Entfernung. Die schwarzen Knopfaugen beobachteten die drei Männer. Seine Hand griff nach dem Köcher, aber in dem Augenblick, als er die Sehne an die Wange zog, rissen bereits zwei Pfeile den Raben von seinem Ast. Tam und Abell legten schon wieder neu auf und beobachteten den Himmel, ob weitere schwarze Vögel dort auftauchten. Es kamen aber keine.

Tams Schuß hatte den Raben in den Kopf getroffen, und das war weder eine Überraschung noch Zufall. Perrin hatte nicht gelogen, als er Faile gesagt hatte, diese beiden Männer könnten besser mit dem Bogen umgehen als er. Keiner im Gebiet der Zwei Flüsse schoß auch nur annähernd so gut wie Tam.

»Schmutzige Viecher«, knurrte Abell, stellte einen Fuß auf den Vogelkadaver und zog seinen Pfeil heraus. Er putzte ihn auf der Erde ab und steckte ihn in den Köcher zurück. »Man findet sie heutzutage überall.« »Die Aes Sedai haben uns von ihnen berichtet«, sagte Tam, »und daß sie für die Blassen spionieren. Wir sagen seither allen Leuten Bescheid darüber. Die Versammlung der Frauen hat diese Kunde auch verbreitet. Niemand hat sehr viel darauf gegeben, bis sie anfingen, Schafe anzugreifen. Sie hackten ihnen die Augen aus und töteten sogar einige. Die Schur wird ohnehin dieses Jahr schon schlecht genug. Nicht, daß es noch eine große Rolle spielt, schätze ich. Aufgerieben zwischen den Weißmänteln und den Trollocs, werden wir wahrscheinlich dieses Jahr kaum einen Händler zu Gesicht bekommen, der uns die Wolle abkauft.« »Und dazu hat irgendein Narr vollkommen durchgedreht«, fügte Abell hinzu. »Vielleicht auch mehr als einer. Wir haben alle Arten von Tierkadavern gefunden. Kaninchen, Hirsche, Füchse, sogar einen Bären. Sie wurden getötet und einfach liegengelassen. Die meisten waren noch nicht einmal abgehäutet. Es muß ein Mensch sein und kein Trolloc. Ich habe Stiefelabdrücke von einem Menschen gefunden — zu klein für einen Trolloc. Es ist eine Schande und schade um das Jagdwild.« Der Schlächter. Der Schlächter war hier und nicht nur im Wolfstraum. Der Schlächter und die Trollocs. Der Mann im Traum war ihm bekannt vorgekommen. Perrin schaufelte mit dem Stiefel lose Erde und Blätter über den Vogelkadaver. Später war noch genug Zeit, sich um die Trollocs zu kümmern. Wenn nötig, Zeit seines Lebens. »Ich habe Mat versprochen, daß ich mich um Bode und Eldrin kümmern werde, Meister Cauthon. Wie schwer wird es, sie und die andern zu befreien?« »Sehr schwer«, seufzte Abell mit traurigem Gesicht. Mit einemmal sah man ihm sein Alter an. »Unheimlich schwer. Ich kam nahe genug heran, um Natti zu sehen, nachdem sie sie gefangen hatten, wie sie um das Zelt herumspazierte, in dem sie alle gefangengehalten werden. Ich konnte sie sehen, aber zwischen uns befanden sich ein paar hundert Weißmäntel. Ich war ein wenig unvorsichtig, und einer hat mich mit seinem Pfeil getroffen. Wenn mich Tam nicht zurück zu den Aes Sedai geschleift hätte... « »Es ist ein ziemlich großes Lager«, sagte Tam, »direkt unterhalb von Wachhügel. Sieben- oder achthundert Mann. Tag und Nacht Patrouillen, am häufigsten in Richtung Emondsfeld. Wenn sie mehr nach allen Seiten ausschwärmten, würde uns das die Sache erleichtern, aber abgesehen von hundert Mann oder so in Taren-Fähre haben sie praktisch den Rest der Zwei Flüsse den Trollocs überlassen. Wie ich hörte, ist es besonders schlimm unten in der Gegend von Devenritt. Fast jede Nacht wird wieder ein Bauernhof niedergebrannt. Das gleiche spielt sich zwischen Wachhügel und dem Taren ab. Natti und die anderen herauszuholen wird schwer genug. Danach — nun, hoffen wir, daß die Aes Sedai sie hier beherbergen werden. Die beiden haben es ja nicht gerade gern, wenn jemand weiß, wo sie sich aufhalten.« »Es wird sie doch sicher irgend jemand verstecken«, widersprach Perrin. »Ihr könnt mir doch nicht weismachen, daß sich alle von Euch abgewandt hätten. Sie glauben doch nicht wirklich, Ihr wärt Schattenfreunde?« Im Augenblick, als er das aussprach, mußte er an Cenn Buie denken.

»Nein, das nicht«, sagte Tam. »Höchstens ein paar Narren. Viele Leute würden uns etwas zu essen geben oder uns eine Nacht in der Scheune schlafen lassen, vielleicht sogar in einem Bett, aber du mußt auch verstehen, daß sie nicht gern Leuten helfen, die von den Weißmänteln gesucht werden. Man kann ihnen das nicht vorwerfen. Die Lage ist mehr als schlimm, und die meisten Männer bemühen sich, zunächst einmal die eigene Familie zu schützen, so gut es eben geht. Jemanden unter diesen Umständen zu bitten, Natti und die Mädchen, dazu Haral und Alsbet aufzunehmen... Na ja, das könnte doch zuviel verlangt sein.« »Ich habe von den Menschen der Zwei Flüsse aber mehr erwartet als das«, murrte Perrin.

Abell brachte ein schwaches Lächeln zuwege. »Die meisten Leute haben das Gefühl, zwischen zwei Mahlsteinen zerrieben zu werden, Perrin. Sie hoffen jedenfalls nur noch, nicht irgendwo zwischen Weißmänteln und Trollocs auf der Strecke zu bleiben.« »Sie sollten mit dem Hoffen aufhören und statt dessen etwas unternehmen!« Einen Augenblick später schämte sich Perrin dieser Bemerkung. Er hatte ja nicht hier gelebt und wußte nicht, wie sich das alles auswirkte. Aber trotzdem hatte auch er recht. Solange sich die Menschen hinter den Kindern des Lichts versteckten, mußten sie sich damit abfinden, daß man mit ihnen machte, was man wollte, ob sie ihnen nun Bücher klauten oder Frauen und Mädchen gefangennahmen. »Morgen sehe ich mir dieses Weißmantellager an. Es muß einen Weg geben, sie zu befreien. Und sobald sie frei sind, können wir uns endlich mit den Trollocs beschäftigen. Ein Behüter hat mir mal gesagt, die Trollocs nennen die Aiel-Wüste auch den ›Sterbeort‹. Ich werde dafür sorgen, daß sie künftig auch die Zwei Flüsse so nennen!« »Perrin«, begann Tam, aber dann hielt er inne und blickte lediglich besorgt drein.

Perrin wußte, wie sich das Licht hier im Schatten unter den Eichen in seinen Augen spiegeln mußte. Sein Gesicht war wie aus Stein gehauen und fühlte sich auch so an.

Tam seufzte. »Zuerst kümmern wir uns mal um Natti und die anderen. Dann können wir immer noch entscheiden, wie wir das mit den Trollocs anstellen.« »Nimm das alles nicht zu schwer, Junge«, sagte Abell leise. »Der Haß könnte in dir wachsen, bis er dich vollkommen ausbrennt.« »Nichts brennt mich aus«, sagte Perrin mit äußerlich fester Stimme. »Ich habe lediglich vor, das zu tun, was vollbracht werden muß.« Er fuhr mit dem Daumen die Schneide seiner Axt nach. Was vollbracht werden mußte.

Dain Bornhald saß ganz gerade im Sattel, als er sich mit seiner Hundertschaft nach dem Patrouillenritt wie der Wachhügel näherte. Nein, es waren mittlerweile keine hundert mehr. Auf elf Sätteln waren in ihre Umhänge gehüllte Leichen festgebunden, und weitere dreiundzwanzig seiner Männer waren verwundet. Die Trollocs hatten sie in einen cleveren Hinterhalt gelockt. Bei weniger gut ausgebildeten und unerfahreneren Soldaten hätten sie womöglich die gesamte Patrouille vernichtet, doch dazu waren die Kinder einfach zu harte Kämpfer. Was ihm zu schaffen machte, war die Tatsache, daß nun schon zum drittenmal eine Patrouille offen angegriffen worden war.

Nicht irgendein zufälliges Aufeinandertreffen, nicht, daß sie zufällig auf mordende und plündernde Trollocs getroffen wären, nein, es waren strategisch geplante Angriffe gewesen. Und alles auf Patrouillen, die er persönlich leitete. Die Trollocs mieden alle anderen bis auf ihn. Das warf natürlich unangenehme Fragen auf, und die Antworten, die ihm in den Sinn kamen, konnten keine befriedigenden Lösungen liefern.

Die Sonne sank. In dem Dorf, das den ganzen Hügel von oben bis unten mit seinen strohgedeckten Dächern bedeckte, waren die ersten Lichter zu sehen. Auf dem Hügelkamm oben stand das einzige Haus mit einem Ziegeldach, der Weiße Keiler, die Dorfschenke. An einem anderen Abend wäre er vielleicht auf einen Becher Wein dorthin geritten, und das trotz des nervösen Schweigens, das sich immer beim Anblick eines weißen Umhangs mit dem goldenen Sonnenbanner ausbreitete. Er trank selten, doch manchmal war er froh, mit anderen Menschen zusammensein zu können und nicht immer nur mit den Kindern des Lichts. Nach einer Weile vergaßen die Menschen gewöhnlich seine Anwesenheit und begannen wieder zu schwatzen und zu lachen. An einem anderen Abend. Heute wollte er allein sein, spazierengehen und nachdenken.

Zwischen den ungefähr hundert buntbemalten Wohnwagen, die etwa eine halbe Meile vom Fuß des Hügels entfernt standen, herrschte geschäftiges Treiben. Männer und Frauen, deren Kleidung noch bunter war als die Wagen, überprüften Pferde und Geschirre und luden Sachen auf, die wochenlang im Lager nur herumgelegen hatten. Es schien, das Fahrende Volk wolle seinem Namen Ehre machen und möglicherweise beim ersten Tageslicht aufbrechen.

»Farran!« Der kräftige Hundertschaftsführer lenkte sein Pferd näher heran, und Bornhald nickte in Richtung des Lagers der Tuatha'an. »Informiere den Sucher, daß sie nach Süden fahren sollen, falls er mit seinen Leuten weiterziehen will.« Seinen Landkarten nach gab es keinen Übergang über den Taren außer bei Taren-Fähre, aber hatte ja schon erfahren müssen, wie alt diese Karten waren, seit er den Fluß überquert hatte. Jedenfalls würde niemand die Zwei Flüsse verlassen und seine Truppe vielleicht in einer Falle zurücklassen, solange er das verhindern konnte. »Und noch etwas, Farran. Es ist nicht notwendig, die Stiefel oder die Fäuste zu benützen, ja? Worte reichen aus. Dieser Raen hat Ohren.« »Wie Ihr befehlt, Lord Bornhald.« Es klang nur ein klein wenig enttäuscht. Der Hundertschaftsführer berührte mit der im Kampfhandschuh steckenden Faust seine Herzgegend, riß sein Pferd herum und galoppierte in Richtung des Tuatha'an-Lagers. Es gefiel ihm bestimmt nicht, aber er würde gehorchen. Und wenn er das Fahrende Volk noch so verachtete, so war er doch ein guter Soldat.

Der Anblick seines eigenen Lagers erfüllte Bornhald wenigstens einen Augenblick lang mit Stolz: die langen, schnurgerade Reihen von weißen Satteldachzelten... selbst die Haltepfosten für die Pferde standen sauber in Reih und Glied ausgerichtet. Auch hier in dieser lichtverlassenen Ecke der Welt blieben sich die Kinder des Lichts selbst treu. Die Disziplin ließ nicht nach. Es war wirklich eine lichtverlassene Gegend. Die Trollocs waren der beste Beweis dafür. Wenn sie Bauernhöfe niederbrannten, war das auch der Beweis dafür, daß einige der Leute hier noch rein waren und im Licht wandelten. Einige. Der Rest verbeugte sich und sagte »Ja, mein Lord« und »Wie Ihr wünscht, mein Lord«, und kaum wandte er ihnen den Rücken zu, machten sie alles genau wie vorher. Und außerdem verbargen sie irgendwo eine Aes Sedai. An ihrem zweiten Tag südlich des Taren hatten sie einen Behüter getötet. Der farbverändernde Umhang des Mannes war der Beweis für seine Stellung gewesen. Bornhald haßte die Aes Sedai. Sie pfuschten mit der Einen Macht herum, als sei eine Zerstörung der Welt noch nicht genug gewesen. Wenn man sie nicht aufhielt, würden sie das gleiche wieder anstellen. Seine augenblickliche gute Laune schmolz wie Schnee unter der Frühlingssonne bei diesem Gedanken.

Er suchte nach dem Zelt, in dem man die Gefangenen hielt. Nur einzeln durften sie einmal am Tag kurz an die frische Luft kommen. Keiner davon würde weglaufen, denn das hätte bedeutet, die anderen im Stich zu lassen. Außerdem würden sie höchstens ein Dutzend Schritte weit kommen. An jedem Ende des Zelts stand ein Soldat Wache, und dazu würde man nach einem Dutzend Schritten noch auf mindestens zwanzig weitere Kinder des Lichts stoßen. Aber er wollte natürlich so wenig Probleme wie möglich haben. Ein Problem führte gewöhnlich zum nächsten. Falls man die Gefangenen grob behandeln mußte, würde das möglicherweise die Stimmung im Dorf soweit anheizen, daß er dort auch eingreifen müßte. Byar war ein Narr. Er — und auch andere, besonders Farran — wollte die Gefangenen unter Folter verhören. Bornhald gehörte nicht zu den Zweiflern, und er ahmte nicht gern ihre Methoden nach. Außerdem hatte er nicht vor, Farran auf diese Mädchen loszulassen, selbst wenn sie zu den Schattenfreunden gehörten, wie Ordeith behauptete.

Schattenfreunde oder nicht, ihm wurde immer deutlicher, daß er eigentlich nur einen einzigen Schattenfreund haben wollte. Mehr als die Trollocs, mehr als irgendwelche Aes Sedai wollte er Perrin Aybara fangen. Er konnte wohl Byars Geschichte kaum glauben, daß dieser Mann mit den Wölfen im Rudel laufe, aber Byar hatte ihm zumindest klar gemacht, daß Aybara Bornhalds Vater in eine Falle der Schattenfreunde gelockt hatte, daß er Geofram Bornhald auf der Toman-Halbinsel in den Tod von Händen der Seanchan-Schattenfreunde und ihrer Aes-Sedai-Verbündeten führte. Vielleicht würde er den Schmied wirklich Byars Folterkünsten überlassen, falls keiner der Luhhans in nächster Zeit gestand. Entweder würde dann der Mann aufgeben, oder die Frau beim Zuschauen. Einer von ihnen würde ihm den Schlüssel zur Gefangennahme Perrin Aybaras liefern.

Als er vor seinem Zelt abstieg, wartete Byar schon auf ihn. Er stand stocksteif und hager wie eine Vogelscheuche vor ihm. Bornhald warf einen angeekelten Blick hinüber auf eine viel kleinere Gruppe von Zelten, die etwas abseits der anderen stand. Der Wind kam von dieser Richtung her, und er roch das andere Lager deutlich. Sie hielten weder ihre Pferdekoppeln noch sich selbst sauber. »Ordeith ist zurück, wie es scheint, oder?« »Ja, Lord Bornhald.« Byar redete nicht weiter, und Bornhald blickte ihn fragend an. »Sie berichteten von einem Scharmützel mit Trollocs im Süden. Zwei Tote, sechs Verwundete, behaupten sie.« »Und wer sind die Toten?« fragte Bornhald leise.

»Kind Joelin und Kind Gomanes, Lord Bornhald.« Byars Gesichtsausdruck änderte sich nicht. Die hohlen Wangen blieben unverändert, und der Mund verzog sich kein bißchen.

Bornhald zog sich langsam die mit Stahlplatten verstärkten Kampfhandschuhe aus. Gerade die zwei hatte er Ordeith zur Begleitung mitgegeben, um aufzupassen und ihm zu berichten, was der geheimnisvolle Mann auf seinen Ausritten nach Süden eigentlich machte. Vorsichtshalber bemühte Bornhald sich, nicht lauter zu sprechen als vorher: »Meine Grüße an Meister Ordeith, Byar, und — Nein! Keine Grüße. Sage ihm, und zwar wörtlich, daß ich seine mageren Knochen augenblicklich vor mir sehen will. Sag es ihm, Byar, und bringe ihn her, selbst wenn du ihn und diese schmutzigen Kreaturen festnehmen mußt, die den Kindern des Lichts solche Schande bereiten. Geh!« Bornhald hielt seinen Zorn zurück, bis er sich im Zelt befand. Dann fegte er knurrend Landkarten und Schreibutensilien von seinem Klapptisch. Ordeith mußte ihn für einen kompletten Idioten halten. Zweimal hatte er dem Kerl Männer mitgegeben, und beide Male waren gerade sie die einzigen Toten in einem ›Scharmützel mit Trollocs‹ gewesen. Es hatte keine Verwundeten unter den anderen gegeben. Es war immer im Süden geschehen. Der Mann war von diesem Emondsfeld besessen. Gut, er hätte vielleicht selbst ihr Lager dorthin verlegt, wenn nicht... Das war jetzt unwichtig. Er hatte ja die Luhhans hier. Sie würden ihn auf die eine oder andere Art zu Perrin Aybara führen. Wachhügel war ein viel besserer Lagerplatz, falls er plötzlich nach Taren-Fähre mußte. Militärische Überlegungen hatten Vorrang vor den persönlichen.

Zum tausendsten Mal fragte er sich, warum ihn der kommandierende Lordhauptmann hierhergeschickt hatte. Die Menschen waren auch nicht anders als an hundert anderen Orten. Allerdings zeigten nur die Bewohner von Taren-Fähre ein Interesse daran, die Schattenfreunde in den eigenen Reihen zu bekämpfen. Der Rest schaute mürrisch und ohne innere Beteiligung zu, wenn der Drachenzahn auf eine Tür gemalt wurde. In einem Dorf wußte man immer genau, wer unter den Bewohnern unerwünscht war. Wenn man sie ein wenig ermutigte, waren sie immer bereit zu einer Reinigung, und mit den Unerwünschten, die man gern gehen sah, erwischte man todsicher auch die Schattenfreunde. Aber hier nicht. Der schwarze Umriß eines spitzen Zahns auf einer Tür könnte hier genausogut ein neuer Anstrich sein. Jedenfalls zeigte er die gleiche Wirkung. Und dann die Trollocs. Hatte Pedron Niall gewußt, daß die Trollocs dieses Gebiet überfallen würden, als er den Befehl ausgab? Wie konnte er das gewußt haben? Aber wenn nicht, warum hatte er dann so viele der Kinder hergeschickt, daß sie ausreichten, um einen kleineren Aufstand niederzuschlagen? Und wieso beim Licht hatte ihm der kommandierende Lordhauptmann diesen mordlustigen Wahnsinnigen mitgegeben?

Die Zeltklappe öffnete sich, und Ordeith stolzierte herein. Sein feines graues Wams war mit Silber verziert, wies aber große Flecken auf. Auch sein magerer Hals war schmutzig. Er ragte aus seinem Kragen hoch wie der Hals einer Schildkröte aus dem Panzer. »Guten Abend, Lord Bornhald. Einen schönen und prächtigen Abend wünsche ich Euch.« Sein Lugarder Dialekt kam heute abend besonders stark durch.

»Was ist mit Kind Joelin und Kind Gomanes geschehen, Ordeith?« »Eine schreckliche Sache, mein Lord. Als wir auf die Trollocs stießen, hat Kind Gomanes tapfer... « Bornhald schlug ihm mit seinen Handschuhen ins Gesicht. Taumelnd faßte sich der knochige Mann an die aufgeplatzte Lippe und betrachtete die Röte an seinen Fingern. Das Lächeln auf seinem Gesicht wirkte nicht mehr spöttisch. Es wirkte nun eher wie das Lächeln einer Viper. »Vergeßt Ihr nun plötzlich, wer meine Ernennung unterschrieb, kleiner Lord? Pedron Niall hängt Euch an den Eingeweiden Eurer Mutter auf, wenn ich nur ein Wort sage, aber das, nachdem er Euch beiden die Haut bei lebendigem Leib abziehen ließ.« »Falls Ihr am Leben seid und dieses Wort noch aussprechen könnt, oder?« Ordeith knurrte und krümmte sich wie eine wilde Kreatur. Auf seinen Lippen stand Schaum. Langsam schüttelte er jedoch seine Wut ab und richtete sich wieder auf. »Wir müssen zusammenarbeiten.« Der Lugarder Dialekt war wie weggeblasen, und die Stimme klang kräftiger, befehlsgewohnter. Bornhald zog dennoch die spöttische Lugarder Stimme der etwas schmierig klingenden vor, in deren Tonfall kaum verhüllte Verachtung mitschwang. »Der Schatten umgibt uns auf allen Seiten. Nicht nur die Trollocs und die Myrddraal. Das ist noch das wenigste. Drei wurden hier gezeugt, drei Schattenfreunde, die eine Welt erschüttern sollen, deren Geburt tausend Jahre lang vom Dunklen König vorbereitet wurde. Rand al'Thor. Mat Cauthon. Perrin Aybara. Ihr kennt ihre Namen. An diesem Ort wurden Kräfte auf die Welt losgelassen, die sie in Not bringen werden. Kreaturen des Schattens bevölkern die Nacht, beflecken die reinen Herzen der Menschen, verderben ihre Träume. Reinigt dieses Land. Reinigt es, und sie werden kommen. Rand al'Thor. Mat Cauthon. Perrin Aybara.« Er sprach diesen letzten Namen beinahe liebevoll aus.

Bornhald atmete schwer durch. Er war nicht sicher, wie Ordeith herausbekommen hatte, wen er hier suchte. Eines Tages hatte er ihm das ganz selbstverständlich eröffnet. »Ich habe Eure Spuren auf dem Hof der Aybaras verwischt, nachdem Ihr ihn... « »Reinigt die Zwei Flüsse.« In dieser volltönenden Stimme lag ein Hauch von Wahnsinn. Auf Ordeiths Stirn stand Schweiß. »Zieht ihnen die Haut ab, und die drei werden kommen.« Bornhald erhob seine Stimme: »Ich habe Eure Spuren verwischt, weil ich es mußte.« Er hatte keine andere Wahl gehabt. Falls die Wahrheit herausgekommen wäre, hätte er es nicht mehr nur mit mürrischen Einwohnern zu tun gehabt. Das letzte, was er gebrauchen konnte, war ein Aufstand zusätzlich zu den Trollocs.

»Aber ich werde keinen Mord an den Kindern dulden. Hört Ihr das? Was macht Ihr, das Ihr vor den Kindern verbergen müßt?« »Zweifelt Ihr daran, daß der Schatten alles unternehmen wird, um mich aufzuhalten?« »Was?« »Zweifelt Ihr daran?« Ordeith beugte sich in plötzlicher Eindringlichkeit vor. »Ihr habt doch die Grauen Männer gesehen.« Bornhald zögerte. Fünfzig Soldaten der Kinder um ihn herum, mitten in Wachhügel, und keiner von ihnen hatte die beiden Männer mit ihren Dolchen bemerkt. Er selbst hatte sie geradewegs angesehen und doch nicht wahrgenommen. Bis Ordeith die beiden getötet hatte. Der magere kleine Bursche war dadurch sehr in der Achtung seiner Männer gestiegen. Später hatte Bornhald die Dolche tief in der Erde vergraben. Die Klingen sahen aus wie Stahl, man verbrannte sich aber daran wie an geschmolzenem Metall. Die Erdbrocken, die er in der Grube darauf geschaufelt hatte, hatten gezischt, und Dampfwölkchen waren davon aufgestiegen. »Glaubt Ihr, sie waren hinter Euch her?« »O ja, Lord Bornhald. Hinter mir her. Was auch notwendig sein mag, um mich aufzuhalten. Der Schatten selbst will mich zur Strecke bringen.« »Das sagt aber immer noch nichts aus in bezug auf ermordete... « »Ich muß meine Aufgabe im geheimen erfüllen.« Er flüsterte, ja, zischte diese Worte. »Der Schatten kann in die Gehirne von Menschen eindringen, um mich zu suchen, kann die Träume und Gedanken von Menschen beeinflussen. Würdet Ihr gern im Traum sterben? Das kann passieren.« »Ihr seid... wahnsinnig.« »Gebt mir freie Hand, und ich bringe Euch Perrin Aybara. Das verlangen Pedron Nialls Befehle. Freie Hand für mich und ich liefere Euch Perrin Aybara aus.« Bornhald schwieg eine ganze Weile lang. »Ich will Euch nicht sehen«, sagte er schließlich. »Geht mir aus den Augen.« Als Ordeith weg war, schauderte Bornhald. Was hatte der kommandierende Lordhauptmann mit diesem Mann hier im Sinn? Andererseits, wenn er ihm Aybara auslieferte... Er warf die Handschuhe zur Seite und begann, in seinem Gepäck herumzukramen. Irgendwo mußte eine Flasche Schnaps stecken.

Der Mann, der sich Ordeith nannte, der sogar manchmal von sich selbst als Ordeith dachte, schlich zwischen den Zelten der Kinder des Lichts umher und beobachtete die Männer mit den weißen Umhängen mißtrauisch. Nützliche Werkzeuge, ignorante Werkzeuge, aber nicht vertrauenswürdig. Besonders Bornhald nicht. Den mußte man möglicherweise beseitigen, falls er zu viele Schwierigkeiten machte. Byar ließ sich da schon viel leichter beeinflussen. Aber jetzt noch nicht. Es gab wichtigere Dinge zu erledigen. Einige der Soldaten nickten ihm respektvoll zu, als er vorbeiging. Er zeigte ihnen die Zähne, und sie betrachteten es als freundliches Lächeln. Werkzeuge und Narren zugleich.

Sein Blick huschte hungrig zu dem Zelt mit den Gefangenen hinüber. Sie konnten warten. Wenigstens noch eine Weile. Ein kleines bißchen länger. Sie waren sowieso nur kleine Appetithappen. Köder. Er hätte sich auf dem Hof der Aybaras besser beherrschen sollen, aber Con Aybara hatte ihm ins Gesicht gelacht, und Joslyn hatte ihn als kleinen Narren mit einer schmutzigen Phantasie bezeichnet, weil er ihren Sohn einen Schattenfreund genannt hatte. Nun, sie hatten etwas gelernt daraus —schreiend und brennend. Unwillkürlich mußte er leise kichern. Appetithappen.

Er spürte deutlich, daß einer von denen, die er so haßte, dort draußen war, irgendwo südlich in Richtung Emondsfeld. Welcher von ihnen? Es spielte keine Rolle. Rand al'Thor war der einzig wichtige unter ihnen. Er hätte es gespürt, wenn es al'Thor gewesen wäre. Die Gerüchte hatten ihn noch nicht hergelockt, aber das würde bestimmt geschehen. Ordeith schauderte vor Lust. Es mußte einfach so kommen. Man mußte noch mehr Erzählungen und Gerüchte an Bornhalds Wachen in Taren-Fähre vorbeischmuggeln, weitere Berichte über Reinigungsaktionen an den Zwei Flüssen, damit sie Rand al'Thors Ohren erreichten und sich tief in sein Hirn einbrannten. Zuerst al'Thor und dann die Weiße Burg, als Rache für all das, was sie ihm genommen hatten. Er würde alles in Besitz nehmen, was ihm von Rechts wegen zustand.

Alles war wie ein Uhrwerk abgelaufen, trotz Bornhalds Zwangsmaßnahmen, bis dieser Neue mit seinen Grauen Männern auftauchte. Ordeith fuhr sich mit den knochigen Fingern durch das fettige Haar. Warum konnten nicht wenigstens seine Träume ihm allein gehören? Er war keine Marionette mehr, die, vom Dunklen König selbst geführt, um die Myrddraal und die Verlorenen herumtanzte. Er selbst führte nun die Fäden. Sie konnten ihn nicht aufhalten und nicht töten.

»Nichts kann mich töten«, knurrte er mit finsterer Miene. »Mich nicht. Ich habe seit den Trolloc-Kriegen überlebt.« Nun ja, zumindest ein Teil von ihm. Er lachte schrill auf, hörte den Wahnsinn in diesem Gelächter, kannte seine Bedeutung, aber es kümmerte ihn nicht.

Ein junger Offizier der Weißmäntel runzelte ob des Gelächters die Stirn. Diesmal lag keine Andeutung eines Lächelns in Ordeiths gefletschten Zähnen, und der Junge mit dem Flaum auf den Wangen zuckte zurück. Ordeith hastete mit schleppenden, schleichenden Schritten weiter.

Fliegen summten um seine eigenen Zelte herum, und mürrische, mißtrauische Blicke wichen den seinen aus. Hier waren die weißen Umhänge verschmutzt. Aber die Schwerter waren scharf, der Gehorsam augenblicklich und blind. Bornhald glaubte, diese Männer unterständen ihm immer noch. Auch Pedron Niall glaubte das und hielt Ordeith für seine zahme Kreatur. Narren.

Er schob seine Zeltklappe beiseite und ging hinein, um nach seinem Gefangenen zu sehen, der zwischen dicken Pflöcken gefesselt lag. Diese Pflöcke hätten auch ein ganzes Pferdegespann festgehalten. Die starke Stahlkette vibrierte, als er ihren Sitz überprüfte, aber er hatte genau ausgerechnet, wieviel er brauchte, und dann die Länge verdoppelt. Und das war auch gut so gewesen. Eine Windung weniger, und die massiven Stahlglieder wären zerbrochen. Seufzend setzte er sich auf die Bettkante. Die Lampen waren bereits entzündet. Mehr als ein Dutzend von ihnen ließen nirgends mehr eine Spur von Schatten übrig. Hier im Zelt war es so hell wie draußen in der Mittagssonne. »Habt Ihr meinen Vorschlag überdacht? Nehmt an, und Ihr seid frei und könnt gehen. Weigert Euch... Ich weiß, wie man Eurer Art Schmerzen zufügt. Ich kann Euch einen endlosen Tod sterben lassen. Ihr werdet schreien und schreien. Ewig sterben und ewig schreien.« Die Ketten summten, als ein scharfer Ruck sie erschütterte. Die tief in den Boden hineingetriebenen Pfähle knarrten. »Also gut.« Die Stimme des Myrddraal klang, als zerbröckle getrocknete Schlangenhaut. »Ich nehme Euer Angebot an. Laßt mich frei.« Ordeith lächelte. Es hielt ihn bestimmt für einen Narren. Na gut. Es würde lernen müssen. Alle würden sie lernen müssen. »Zuerst sprechen wir einmal über die Fragen... sagen wir mal, von Vereinbarungen und Übereinstimmungen.« Als er weitersprach und seine Vorstellungen schilderte, begann der Myrddraal zu schwitzen.

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